Cover

Buch

Als Ehefrau von Don Massimo Torricelli, einem der gefährlichsten Mafiabosse Siziliens, ist Lauras Leben alles andere als geruhsam. Denn Massimo hat Feinde, die keine Skrupel kennen. Nach einem Anschlag auf Lauras Leben liegen dunkle Schatten auf ihrer von Leidenschaft geprägten Beziehung. Die große Anziehungskraft, die sie und Massimo füreinander empfinden, gerät in Gefahr, als der attraktive Marcelo Matos, ein Mitglied der spanischen Unterwelt, ihren Weg kreuzt, und Laura muss sich entscheiden: Ist ihre Liebe zu Massimo stark genug, um alle Widrigkeiten zu überwinden?

Autorin

Blanka Lipińska ist eine der beliebtesten Autorinnen und einflussreichsten Frauen in Polen. Schriftstellerin ist sie aus Leidenschaft, nicht aus Notwendigkeit, sie liebt Tätowierungen, legt Wert auf Ehrlichkeit und schätzt selbstloses Denken und Handeln. Genervt vom Mangel an Offenheit in Bezug auf Sex hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, die vielen verschiedenen Seiten der Liebe ins Gespräch zu bringen. Sie sagt, über Sex zu sprechen, ist genauso einfach, wie ein Abendessen vorzubereiten.Ihre Bestseller-Trilogie verkaufte sich in Polen über 1,5 Millionen Mal. 2020 wurde sie vom Magazin »Wprost« in die Liste der einflussreichsten Frauen Polens aufgenommen, und »Forbes Women« zählte sie zu den persönlichen weiblichen Top-Marken. Ihr Bestseller »365 Tage« ist die Romanvorlage für einen der weltweit erfolgreichsten Filme auf Netflix im Jahr 2020. Der Film stand zehn Tage lang auf Platz 1, die zweitbeste Platzierung in der Geschichte der Netflix-Charts.

Von Blanka Lipińska erschienen

Die Geschichte von Laura & Massimo:
Band 1: 365 Tage
Band 2: 365 Tage – Dieser Tag

Band 3: 365 Tage mehr

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlag und www.facebook.com/blanvalet.

365 Tage
mehr

ROMAN

Deutsch von Marlena Breuer
und Saskia Herklotz

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Kolejne 365 dni« bei Agora, Warschau.


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Copyright der Originalausgabe © 2019 Blanka Lipińska

Published by Arrangement with BLANKA LIPIŃSKA

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2021 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Susann Rehlein

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de nach einer Originalvorlage von Agora

Umschlagmotiv: Dragosh Co/Shutterstock.com; SHIRYU

WR · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-28162-5
V001

www.blanvalet.de

KAPITEL 1

Der heiße Wind wehte mir ins Gesicht und spielte in meinem Haar, als ich im Cabrio die Strandpromenade entlangfuhr. Aus den Boxen dröhnte Break Free von Ariana Grande – auf der ganzen Welt gab es keinen Song, der in diesem Moment besser gepasst hätte. If you want it, take it, sang Ariana, und ich nickte und drehte die Lautstärke noch höher.

Heute war mein Geburtstag, heute wurde ich wieder ein Jahr älter und hätte eigentlich in tiefste Depressionen versinken müssen, aber die Wahrheit war: Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so lebendig gefühlt. Gerade als ich an einer roten Ampel hielt, begann der Refrain. Die Bässe explodierten um mich herum.

This is … the part … when I say I don’t want ya … I’m stronger than I’ve been before sang ich laut und schwenkte die Arme durch die Luft. Der junge Mann im Auto neben meinem grinste anzüglich und trommelte im Rhythmus des Songs auf sein Lenkrad. Vermutlich hatte nicht nur die Musik seine Aufmerksamkeit erregt, sondern auch mein Outfit – denn sonderlich viel trug ich an diesem Tag nicht. Der schwarze Bikini passte ideal zu meinem violetten Plymouth Prowler, und dieses wunderschöne, außergewöhnliche Auto hatte ich zum Geburtstag bekommen.

Vor genau einem Monat hatte es angefangen – seitdem bekam ich jeden Tag ein Geschenk. Ich wurde dreißig, also bekam ich dreißig Geschenke – so machte meine große Liebe das nämlich. Bei dem Gedanken daran verdrehte ich die Augen, dann schaltete die Ampel auf Grün, und ich gab Gas.

Ich parkte, schnappte mir meine Tasche und ging an den Strand. Es war ein heißer Sommertag, und ich war entschlossen, so viel Sonne zu tanken wie möglich. Ich trank einen Schluck Eistee und grub meine Füße in den warmen Sand.

»Alles Gute, du alte Schachtel!«, rief der Mann meines Lebens hinter mir, und als ich mich umdrehte, schoss mir eine Fontäne Moët Rosé ins Gesicht.

»Hilfe!«, kreischte ich lachend und versuchte, aus der Schusslinie zu gelangen – leider erfolglos. Präzise wie mit einem Feuerwehrschlauch wurde ich von allen Seiten komplett durchnässt. Als die Flasche leer war, warf sich mein Lieblingsmann auf mich, und wir fielen zusammen in den Sand.

»Alles, alles Gute!«, flüsterte er. »Ich liebe dich.«

Nach diesen Worten schob sich seine Zunge zwischen meine Lippen und begann dort einen gemächlichen Tanz. Dann drängte er sich mit kreisenden Hüften zwischen meine weit gespreizten Beine. Ich stöhnte und verschränkte die Hände in seinem Nacken. Seine Hände ergriffen meine, schoben sie über meinen Kopf und pressten sie in den weichen Sand. Er hob den Kopf und schaute mir tief in die Augen.

»Ich hab was für dich.« Mit diesen Worten stand er auf und zog mich hinter sich her.

»Was denn nun schon wieder …«, murmelte ich.

Sein Gesicht war plötzlich ernst. »Ich wollte … ich möchte … ich würde …«, stotterte er, und ich schaute ihn belustigt an. Da holte er tief Luft, sank auf ein Knie und streckte mir ein kleines Schächtelchen entgegen. »Heirate mich!«, sagte Marcelo mit einem breiten Lächeln, das seine weißen Zähne zeigte. »Ich würde ja gern was Schlaues oder was Romantisches sagen, aber eigentlich will ich ganz einfach nur das Richtige sagen, damit du meinen Antrag annimmst.«

Ich holte Luft, doch er hob die Hand.

»Warte kurz, Laura. Ein Antrag ist noch keine Hochzeit, und eine Hochzeit heißt nicht unbedingt für immer und ewig.« Er stupste mir mit dem Schächtelchen an den Bauch. »Denk dran, ich werde dich zu nichts zwingen, ich werde dir nichts befehlen. Du sagst nur dann Ja, wenn du es willst.«

Er schwieg einen Moment und wartete, doch als er keine Antwort bekam, schüttelte er den Kopf und fuhr fort: »Aber wenn du Nein sagst, dann hetze ich Amelia auf dich, und sie wird dich zu Tode plaudern.«

Ich schaute ihn an, ergriffen, erschrocken und glücklich zugleich.

Wenn mir an Silvester jemand vorhergesagt hätte, dass ich heute, wenige Monate später, freiwillig hier sein würde, ich hätte ihm einen Vogel gezeigt. Und hätte mir vor einem Jahr, als Massimo mich auf Sizilien entführt hatte, jemand vorhergesagt, dass ein Jahr später am Strand von Teneriffa ein ganzkörpertätowierter Surfweltmeister vor mir knien würde, ich hätte ihn einen Psycho genannt und meine Hand dafür ins Feuer gelegt, dass dieser Fall niemals eintrat. Da hätte ich mir aber gehörig die Finger verbrannt! Bei dem Gedanken an das, was vor acht Monaten passiert war, gefror mir noch immer das Blut in den Adern, doch Gott und meinem Therapeuten sei Dank schlief ich inzwischen wieder viel besser. Mit solcher Gesellschaft im Bett war alles andere auch ausgeschlossen.

KAPITEL 2

Als ich das erste Mal wieder die Augen öffnete, nachdem ich im Schloss von Fernando Matos bewusstlos zusammengebrochen war, standen Dutzende Geräte und mehrere Bildschirme mit Kurven und Zahlen drauf neben meinem Bett. Es piepste und summte unablässig. Mein Körper war von einem Gewirr aus Schläuchen und Kabeln umgeben. Ich versuchte zu schlucken, aber selbst in der Kehle hatte ich einen Schlauch. Ich hatte Angst, mich zu übergeben. Nebel verschleierte meinen Blick, und ich fühlte Panik in mir aufsteigen. In diesem Moment begann eine der Maschinen durchdringend zu piepsen. Die Tür ging auf, und Massimo stürzte atemlos ins Zimmer, setzte sich neben mein Bett und griff meine Hand. »Liebling«, seine Augen wurden feucht. »Gott sei Dank!«

Massimos Gesicht war müde und eingefallen, und er war viel dünner, als ich ihn in Erinnerung hatte. Er holte tief Luft und streichelte meine Wange. Sein Anblick machte den Schlauch in meiner Kehle sofort vergessen. Tränen liefen mir aus den Augen, und er wischte mir jede einzelne von der Wange. Plötzlich stand eine Krankenschwester im Zimmer und schaltete die unerträglich piepsende Maschine aus, hinter ihr traten mehrere Ärzte ein.

»Herr Torricelli, bitte verlassen Sie für eine Weile das Zimmer. Wir kümmern uns um Ihre Frau«, sagte einer. Als Massimo nicht reagierte, wiederholte er seine Anweisung lauter.

Massimo erhob sich und überragte den Mann nun deutlich. Er setzte die allerfinsterste Miene auf, die man sich nur vorstellen konnte, und presste mit zusammengebissenen Zähnen auf Englisch hervor: »Meine Frau hat gerade zum ersten Mal seit zwei Wochen die Augen geöffnet, und wenn Sie denken, dass ich in diesem Moment das Zimmer verlasse, dann irren Sie sich gewaltig.« Der Arzt winkte bloß ab.

Nachdem mir die Krankenschwestern den Schlauch, der dick war wie ein Staubsaugerrohr, aus der Kehle gezogen hatten, war sogar ich der Meinung, es wäre besser gewesen, Massimo hätte das Zimmer verlassen, damit er mich nicht in diesem Zustand sah. Aber das war nun nicht mehr zu ändern. Schon kurze Zeit später zogen Ärztekarawanen unterschiedlichster Fachrichtungen durch mein Zimmer, und ich ließ unzählige endlose Untersuchungen über mich ergehen.

Nicht eine Sekunde lang wich Massimo von meiner Seite, und die ganze Zeit hielt er meine Hand. Mehrere Male wäre es mir lieber gewesen, er wäre nicht im Zimmer gewesen, doch selbst ich war nicht in der Lage, ihn wegzuschicken oder ihn auch nur dazu zu bewegen, einen Zentimeter zur Seite zu rücken und den Medizinern ein wenig Platz zu machen. Irgendwann ließen die Ärzte uns allein, und ich wollte Massimo fragen, was geschehen war. Doch in dem Bemühen, etwas zu sagen, schnappte ich nur nach Luft und röchelte unverständlich vor mich hin.

»Sag nichts!«, seufzte Massimo und presste meine Hand an seine Lippen. »Bevor du anfängst zu fragen …« Er seufzte und zwinkerte nervös, versuchte, die Tränen zurückzuhalten. »Du hast mich gerettet, Laura«, stöhnte er, und mir wurde heiß. »Es war alles ganz genau so wie in meinen Visionen: Du hast mich gerettet, Liebling. Aber …« Massimo versuchte weiterzusprechen, mehrmals setzte er an, doch er brachte kein Wort heraus. Da erst wurde mir klar, was er meinen könnte. Mit zitternden Händen schob ich die Bettdecke zur Seite. Massimo versuchte, meine Hände festzuhalten, schließlich gab er nach und ließ meine Handgelenke los.

»Luca …«, flüsterte ich tonlos, als ich die Verbände an meinem Körper sah. »Wo ist unser Sohn?«

Meine Stimme war kaum hörbar, und jedes Wort tat mir weh. Ich wollte schreien, aufspringen und diese eine Frage herausschreien, wollte Massimo zwingen, mir endlich die Wahrheit zu sagen. Er erhob sich, griff nach der Bettdecke und zog sie langsam wieder über meinen geschundenen Körper. Seine Augen waren wie tot, und je länger ich ihn anschaute, desto unaufhaltsamer machten sich Erschrecken und Verzweiflung in mir breit.

»Er ist gestorben«, sagte Massimo, atmete tief ein und drehte sich zum Fenster um. »Der Einschuss war zu nah … Er war zu klein … Er hatte keine Chance …« Massimos Stimme brach.

Es gab keine Worte für das, was ich fühlte. Mir war, als hätte mir jemand bei lebendigem Leib das Herz herausgerissen. Die Weinkrämpfe, die im Sekundentakt meinen Körper schüttelten, brachten mich in Atemnot. Ich schloss die Augen und versuchte, die bittere Galle hinunterzuschlucken, die mir die Kehle hochstieg. Mein Kind, mein Glück, Zeugnis der Liebe zwischen mir und meinem geliebten Mann – es war fort.

Unbeweglich wie eine Statue stand Massimo am Fenster. Dann rieb er sich die Augen und drehte sich zu mir um.

»Aber du bist Gott sei Dank am Leben.« Er versuchte zu lächeln. »Schlaf jetzt, die Ärzte sagen, du brauchst viel Ruhe.« Er trat zu mir, strich mir über den Kopf und wischte mir die nassen Wangen trocken. »Wir werden sehr viele Kinder haben, versprochen.«

Als ich das hörte, schüttelte mich ein noch stärkerer Weinkrampf. Resigniert stand Massimo neben dem Bett. Dann verließ er, ohne mich noch einmal anzuschauen, das Zimmer. Kurz darauf kam er mit einem Arzt zurück.

»Frau Torricelli, ich gebe Ihnen ein Beruhigungsmittel.« Sprechen konnte ich nicht, schüttelte aber den Kopf. »Doch, doch, Sie müssen es langsam angehen. Für heute ist es genug.« Er warf Massimo einen missbilligenden Blick zu, dann leerte er eine Spritze in einen der Infusionsbehälter neben meinem Bett, und ich fühlte, wie mein Körper bleischwer wurde und versank.

»Ich werde hier sein.« Massimo setzte sich wieder auf den Stuhl neben dem Bett und hielt meine Hand. »Ich werde hier sein, wenn du aufwachst.«

Er war da, als ich aufwachte, am nächsten Tag und auch an jedem weiteren Tag – jedes Mal, wenn ich einschlief, und jedes Mal, wenn ich die Augen öffnete. Er wich mir nicht von der Seite. Er las mir vor, er brachte mir Filme, er kämmte mir die Haare, er wusch mich. Zu meinem Schrecken fand ich heraus, dass er mich auch gewaschen hatte, als ich bewusstlos gewesen war, er hatte den Krankenschwestern nicht gestattet, mir nahezukommen. Ich fragte mich, wie er es hatte ertragen können, dass die Ärzte, die mich operiert hatten, Männer gewesen waren.

Offenbar hatte der Schuss meinen unteren Rücken getroffen. Eine Niere war nicht zu retten gewesen, aber Gott sei Dank hat der Mensch ja zwei davon, und auch mit einer alleine lässt es sich lange leben – vorausgesetzt, die Niere ist gesund. Während der Operation hatte mein Herz ausgesetzt, aber das verwunderte mich kaum – eher schon die Tatsache, dass die Ärzte es hatten reparieren können. Schließlich war ich lange Jahre herzkrank gewesen. Sie hatten eine Verengung beseitigt, hier etwas eingenäht und dort etwas weggeschnitten – und angeblich funktionierte das nun. Etwa eine Stunde lang erzählte mir der Arzt, der die Operation vorgenommen hatte, bis ins kleinste Detail, was er gemacht hatte, zeigte mir auf einem Tablet Tabellen, Grafiken und Kurven. Aber so gut war mein Englisch dann doch nicht, dass ich ihm in allen Einzelheiten hätte folgen können – und in meiner Verfassung war mir sowieso alles egal. Immerhin würde ich in Kürze das Krankenhaus verlassen können. Und tatsächlich fühlte ich mich von Tag zu Tag besser, mein Körper wurde erstaunlich schnell gesund. Nur meine Seele war wie tot. In unserem Wortschatz war das Wort »Baby« nicht mehr enthalten, und den Namen »Luca« hatte es nie gegeben. Schon die beiläufige Erwähnung eines Kindes, und sei es im Fernsehen oder im Internet, reichte aus, um mich in Tränen ausbrechen zu lassen.

Massimo öffnete sich mir in dieser Zeit mehr als jemals zuvor. Aber um keinen Preis wollte er auf Silvester zu sprechen kommen. Das machte mich zunehmend wütend, und zwei Tage vor meiner geplanten Entlassung aus dem Krankenhaus hielt ich es nicht mehr aus.

Massimo hatte gerade ein Tablett mit Essen vor mir abgestellt und krempelte sich die Ärmel hoch. »Ich esse nicht einen Bissen«, fauchte ich und verschränkte die Arme auf der Bettdecke. »Irgendwann müssen wir darüber sprechen. Und du kannst dich nicht bis in alle Ewigkeit mit meinem Gesundheitszustand herausreden – ich fühle mich wunderbar!« Ich verdrehte die Augen. »Verdammt noch mal, Massimo, ich habe ein Recht zu wissen, was im Schloss von Fernando Matos passiert ist!«

Unwirsch ließ Massimo den Löffel, den er in der Hand hielt, auf den Teller sinken, holte tief Luft und stand dann hastig auf.

»Himmelherrgott, Laura, warum bist du nur so stur?« Er barg das Gesicht in den Händen und seufzte. »Also gut. An was kannst du dich erinnern?«

Ich durchwühlte die dunkelsten Ecken meines Gedächtnisses, bis mir plötzlich Marcelo vor Augen stand. Ich erstarrte, schluckte laut und atmete dann langsam aus.

»Ich weiß noch, wie Flavio, dieser Hurensohn, mich verprügelt hat.« Massimo biss die Zähne zusammen, während ich sprach, seine Kiefermuskeln traten hervor. »Dann warst du plötzlich da.« Ich schloss die Augen, in der Hoffnung, vor meinem inneren Auge die Geschehnisse zu sehen. »Es gab ein großes Durcheinander, dann sind alle gegangen und haben uns allein gelassen.« Ich machte eine Pause, unsicher, ob ich meinen Erinnerungen trauen konnte. »Ich bin zu dir gegangen … und ich weiß noch, dass mein Kopf fürchterlich wehtat … das ist alles.« Entschuldigend zuckte ich mit den Schultern und schaute Massimo an. Offenbar bereitete ihm die Erinnerung an diese Ereignisse Schuldgefühle, mit denen er überhaupt nicht umgehen konnte. Wutschnaubend lief er im Zimmer auf und ab und ballte immer wieder die Hände zu Fäusten.

»Flavio, dieser … Er hat Fernando getötet, und dann hat er auf Marcelo geschossen.« Bei diesen Worten blieb mir die Luft weg. »Aber er hat ihn nicht getroffen«, fuhr Massimo fort, und ich stöhnte erleichtert auf. Als ich Massimos überraschten Blick bemerkte, rieb ich mir die Rippen auf der linken Seite, in Höhe des Herzens, und gab meinem Mann ein Zeichen fortzufahren.

»Dann hat der Glatzkopf seinen Schwager erschossen – oder zumindest hat er gedacht, dass er ihn erschossen hat, denn Flavio ist hinter dem Schreibtisch in einer riesigen Blutlache zusammengesackt. Du drohtest ohnmächtig zu werden.« Er brach ab, die Finger in seinen geballten Fäusten waren blutleer und weiß.

»Ich wollte dich stützen, da hat er noch einmal geschossen, diesmal auf dich.«

Ich riss die Augen auf, mein Atem stockte, und ich brachte kein Wort heraus. Offenbar sah ich furchtbar aus, denn Massimo eilte zu mir, strich mir über den Kopf und prüfte die Werte auf einem der Monitore. Ich war schockiert. Wie hatte Marcelo auf mich schießen können? Das war mir absolut unverständlich.

»Das regt dich zu sehr auf«, murmelte Massimo, als eine der Maschinen zu piepsen begann. Im nächsten Moment kamen eine Krankenschwester und mehrere Ärzte ins Zimmer geeilt und drängten sich um mein Bett, aber eine weitere Spritze in einen der zahlreichen Zugänge an meinem Arm löste die Aufregung alsbald in Wohlgefallen auf. Diesmal wurde ich ruhiger, schlief aber nicht ein. Mein Kopf war wie Watte. Zwar bekam ich weiterhin alles mit, was um mich herum geschah, aber nur aus der Ferne. Ich bin eine Seerose auf der silbernen Wasseroberfläche – dieser Vergleich ging mir durch den Kopf, während ich im Bett lag und zuschaute, wie Massimo dem Arzt wild gestikulierend erklärte, was vorgefallen war. Ach, du kleiner Halbgott in Weiß, wenn du wüsstest, wer mein Mann ist, du würdest drei Meter Sicherheitsabstand halten, dachte ich und lächelte selig. Die Männer diskutierten weiter, bis Massimo irgendwann nachgab, nickte und schuldbewusst den Kopf senkte. Kurz darauf waren wir wieder allein.

»Und dann?«, fragte ich ein wenig lallend.

Massimo schwieg einen Moment und musterte mich aufmerksam, und als ich ihm ein leicht narkotisiertes Lächeln schenkte, schüttelte er den Kopf. »Flavio war doch nicht tot und hat noch einmal auf dich geschossen.«

Flavio, wiederholte ich in Gedanken, und eine unkontrollierbare Erleichterung tanzte auf meinem Gesicht. Offenbar schob Massimo das auf die Wirkung der Medikamente, denn er fuhr unbeeindruckt fort.

»Marcelo hat ihn kaltgemacht, er hat ihm das gesamte Magazin in den Körper gejagt und ihn regelrecht massakriert.« Massimo schnaubte verächtlich und schüttelte den Kopf. »Ich hab mich dann um dich gekümmert. Domenico hat Hilfe geholt, denn der Raum, in dem wir uns befanden, war schallisoliert, und niemand hatte etwas von der Schießerei mitbekommen. Marcelo hat einen Verbandskasten gefunden, dann ist endlich der Rettungswagen gekommen. Du hast sehr viel Blut verloren.« Er erhob sich erneut.

»Und jetzt? Was wird jetzt?«, fragte ich und blinzelte müde.

»Jetzt fahren wir nach Hause.« Zum ersten Mal an diesem Tag erschien ein Lächeln auf Massimos Gesicht.

»Ich meine die Spanier … eure Geschäfte«, murmelte ich und ließ mich in mein Kissen sinken.

Massimo schaute mich argwöhnisch an, und ich suchte in Gedanken bereits nach einer guten Rechtfertigung für meine Frage. Als Massimo beharrlich schwieg, schaute ich ihm direkt in die Augen.

»Bin ich sicher, oder wird mich wieder jemand entführen?«, fragte ich und tat, als wäre ich ängstlich.

»Sagen wir es mal so: Ich habe mich mit Marcelo geeinigt. Das Haus seines Vaters ist bis unters Dach vollgestopft mit Elektronik, genau wie unseres. Es gibt Überwachungskameras und Abhörsysteme.« Er schloss die Augen und senkte den Kopf. »Ich habe mir die Aufnahmen angesehen und habe gehört, was Flavio gesagt hat. Er hat die Familie Matos gegen deren Willen in die Sache reingezogen, das weiß ich jetzt, Fernando Matos hatte keine Ahnung von Flavios wahren Absichten. Marcelo hat einen furchtbaren Fehler gemacht, als er dich entführte.« Wut blitzte in Massimos Augen auf. »Aber ich weiß auch, dass er sich um dich gekümmert und dir das Leben gerettet hat.« Unvermittelt begann er zu zittern und zu keuchen. »Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass …«, er brach ab. »Es wird niemals Frieden zwischen uns geben!«, rief Massimo aus, stand auf und schleuderte seinen Stuhl an die Wand. »Dieser Mann ist schuld daran, dass mein Sohn tot ist und das Leben meiner Frau am seidenen Faden hing.« Sein Atem ging schnell und flach. »Ich habe die Aufnahmen gesehen, wie dieser Hurensohn dich misshandelt hat, und ich schwöre dir, wenn ich könnte, würde ich ihn jeden Tag, den ich lebe, aufs Neue umbringen!« Mitten im Zimmer fiel Massimo auf die Knie. »Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass ich dich nicht beschützt habe, dass ich zugelassen habe, dass dieser glatzköpfige Hurensohn dich entführt und an den Ort gebracht hat, wo dieser verfickte Psychopath dich in die Finger gekriegt hat!«

»Aber er hatte keine Ahnung«, flüsterte ich unter Tränen. »Marcelo wusste nicht, warum er mich entführen sollte.«

»Verteidigst du ihn etwa?« Massimo riss sich vom Boden hoch und kam die drei Schritte bis zu meinem Bett. »Nach all dem, was du seinetwegen durchgemacht hast, verteidigst du ihn noch?« Schwer atmend stand er über mir, und mit den geweiteten Pupillen wirkten seine Augen komplett schwarz. Ich schaute ihn an und stellte zu meiner Überraschung fest, dass ich überhaupt nichts fühlte: weder Wut noch Ärger. Die Beruhigungsmittel, die ich bekommen hatte, hatten sämtliche Gefühle aus meinem Körper geschwemmt, deshalb erstaunten mich die Tränen, die mir über die Wangen rannen.

»Ich will ganz einfach nicht, dass du Feinde hast, das wirkt sich nämlich auch auf mich aus«, sagte ich leise und bereute meine Worte sofort. Dieser Satz war ein indirekter Vorwurf. Ohne es zu wollen, hatte ich Massimo die Verantwortung für meinen Zustand gegeben.

Massimo seufzte. Er grub die Zähne so fest in seine Unterlippe, dass schon das Zusehen wehtat. Dann erhob er sich und ging langsam zur Tür. »Ich kümmere mich um deine Entlassungsunterlagen«, flüsterte er und verließ mit gesenktem Kopf das Zimmer.

Ich wollte ihn zurückrufen, ihn bitten zu bleiben, wollte mich entschuldigen und erklären, dass ich ihm keine Vorwürfe hatte machen wollen – aber die Worte blieben mir in der Kehle stecken. Als die Tür leise ins Schloss fiel, blieb ich auf dem Rücken liegen und starrte die Decke an, bis ich irgendwann einschlief.

Meine Blase weckte mich. Erst seit Kurzem wusste ich dieses Gefühl wieder zu schätzen, ebenso wie die Tatsache, dass ich inzwischen allein auf die Toilette gehen konnte. Ich genoss jeden Ausflug ins Bad. Nur wenige Tage zuvor war mir endlich der Blasenkatheter entfernt worden, außerdem hatte der Arzt gesagt, dass ich anfangen sollte zu laufen. Seit einigen Tagen machte ich also in ständiger Begleitung meines Infusionsständers kurze Spaziergänge auf dem Stationsflur.

Für meinen Toilettengang brauchte ich eine ganze Weile, pinkeln mit Infusionsständer bedurfte einiger Geschicklichkeit. Zumal ich heute auf mich allein gestellt war, denn zu meiner Überraschung hatte ich feststellen müssen, dass Massimo nicht wie sonst immer an meinem Bett saß, als ich erwachte. Noch am ersten Tag meines Krankenhausaufenthalts hatte er ein zweites Bett in meinem Zimmer aufstellen lassen und schlief seitdem neben mir. Geld vollbrachte bekanntlich Wunder. Wenn Massimo antike Möbel und einen Zimmerspringbrunnen gewollt hätte, die Ärzte wären auch diesem Wunsch nachgekommen. Doch Massimos Bett war unberührt, was nur bedeuten konnte, dass er vergangene Nacht Wichtigeres zu tun hatte, als auf mich aufzupassen.

Nachdem ich den ganzen Tag verschlafen hatte, war ich kein bisschen müde und beschloss, mir ein kleines Abenteuer zu gönnen. Ich trat auf den Korridor hinaus, hielt mich mit einer Hand am Laufgriff an der Wand fest und beobachtete belustigt, wie zwei mächtige Securitytypen bei meinem Anblick von ihren Stühlen aufsprangen. Ich gab ihnen ein Zeichen, sitzen zu bleiben, und ging, meinen Infusionsständer hinter mir herziehend, langsam den Gang entlang. Natürlich folgten mir die beiden. Als ich mir vor Augen führte, was für ein Bild wir abgaben, musste ich wider Willen lachen. Da schlich ich, in meinem hellen Bademantel und mit rosa Emu-Stiefeln an den Füßen, mit zerzaustem Haar und auf den Metallständer gestützt, an der Wand entlang, verfolgt von zwei Gorillas in schwarzen Anzügen und mit gegelten Frisuren. Da ich nicht unbedingt in Lichtgeschwindigkeit unterwegs war, kam unser kleiner Umzug nur im Schneckentempo vorwärts.

Mein Körper war solche Anstrengungen noch nicht wieder gewohnt, zwischendurch musste ich eine Pause machen und mich kurz hinsetzen. Meine Bewacher blieben in einigen Metern Entfernung ebenfalls stehen und scannten die Umgebung. Als sie nichts Bedrohliches finden konnten, fingen sie an, sich zu unterhalten. Selbst jetzt, um kurz vor Mitternacht, war auf den Krankenhausfluren noch ziemlich Betrieb. Eine Schwester kam zu mir und fragte, ob alles okay sei, ich sagte, dass ich mich nur ein wenig ausruhte, und sie eilte weiter.

Schließlich stand ich auf und wollte schon in mein Zimmer zurückkehren, da entdeckte ich plötzlich am anderen Ende des Flurs vor einer großen Glasscheibe eine bekannte Gestalt.

»Unmöglich«, flüsterte ich und zerrte meinen Infusionsständer in ihre Richtung. »Amelia?«

Sie drehte sich zu mir um, und ein Lächeln flog über ihr Gesicht.

»Was machst du denn hier?«, fragte ich verwundert.

»Ich warte«, antwortete Amelia und wies mit dem Kopf auf etwas hinter der Scheibe. Ich folgte ihrem Blick und sah einen Saal mit Inkubatoren, in denen, von Schläuchen und Kabeln umgeben, winzige Babys lagen. Sie sahen aus wie Puppen, manche waren kaum größer als eine Packung Zucker. Bei diesem Anblick war mir ganz elend zumute. Luca war noch so klein gewesen. Tränen traten mir in die Augen, und ich hatte einen Kloß in der Kehle. Fest presste ich die Lider zusammen, und als ich sie wieder öffnete, schaute ich Amelia aufmerksamer an. Sie trug einen Bademantel, sie war also ebenfalls Patientin.

»Pablo ist zu früh gekommen«, erklärte sie und wischte sich mit dem Ärmel die Nase ab. Tränenspuren glitzerten auf ihren Wangen. »Als ich erfahren habe, was passiert ist, dass mein Vater und …« Sie brach ab, und ich wusste, was sie mir zu sagen versuchte. Ich streckte die Hand aus und zog sie in meine Arme. In diesem Moment wusste ich selbst nicht, ob ich eher ihr Trost spenden wollte oder vielmehr selbst welchen suchte. Meine beiden Bewacher traten ein paar Schritte zurück, um uns nicht zu stören. Amelia ließ ihren Kopf gegen meine Schulter sinken und schluchzte. Ich konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob sie wusste, dass der Vater ihres Kindes versucht hatte, mich umzubringen, aber vermutlich hatte ihr Bruder ihr eine geschönte Version mitgeteilt.

»Es tut mir leid, was mit deinem Mann passiert ist.« Diese Worte kamen mir nur schwer über die Lippen. Schließlich tat es mir um Flavio überhaupt nicht leid, im Gegenteil, ich war froh, dass Marcelo ihn erschossen hatte.

»In Wahrheit war er gar nicht mein Ehemann«, flüsterte Amelia. »Ich habe ihn nur immer so genannt. Ich hätte ihn gerne geheiratet.« Sie schniefte und richtete sich auf. »Aber wie geht es dir?« Sie schaute an mir herunter und auf meinen Bauch, ihr Blick war warm und voller Fürsorge.

»Laura!« Der alarmierte Aufschrei in meinem Rücken verhieß nichts Gutes. Ich schaute hinter mich und sah Massimo wutentbrannt in langen Sätzen den Korridor herunter auf mich zueilen.

»Ich muss los, ich finde dich«, flüsterte ich, drehte mich um und ging meinem Mann entgegen.

»Was machst du hier, was soll das?«, fragte Massimo verärgert und setzte mich umstandslos in einen an der Wand stehenden Rollstuhl. An die beiden Gorillas gerichtet, presste er durch die zusammengebissenen Zähne mehrere Sätze auf Italienisch hervor; offenbar wusch er ihnen ordentlich den Kopf. Dann schob er mich behutsam zu meinem Zimmer zurück.

Dort angekommen, hob er mich aus dem Rollstuhl, legte mich ins Bett und zog mir die Decke bis zum Kinn. Massimo wäre nicht Massimo gewesen, wenn er mir nicht den ganzen Weg Vorhaltungen über meinen Leichtsinn und mein unverantwortliches Verhalten gemacht hätte.

»Wer war die Frau?«, fragte er und hängte sein Jackett über die Stuhllehne.

»Die Mutter von einem der Frühgeborenen«, wisperte ich und wandte den Kopf ab. »Die Ärzte wissen noch nicht, ob es durchkommt.« Ich wusste genau, dieses Thema würde Massimo nicht weiter verfolgen.

»Ich verstehe nicht, was du überhaupt auf dieser Station zu suchen hattest«, sagte er vorwurfsvoll. Eine bedrohliche Stille trat ein, in der nur Massimos tiefe Atemzüge zu hören waren.

»Du musst dich ausruhen«, sagte er dann. »Morgen fahren wir nach Hause.«

In dieser Nacht schlief ich schlecht. Ich träumte von Babys, Brutkästen und schwangeren Frauen und wachte ständig auf; aber ich hoffte, diesen quälenden Gedanken zu Hause auf Sizilien endlich entkommen zu können. Am nächsten Morgen wartete ich ungeduldig darauf, dass Massimo mich endlich für einen Moment allein ließ. Er hatte einen Termin mit dem medizinischen Konsilium, das angesichts meiner bevorstehenden Entlassung einberufen worden war. Meine behandelnden Ärzte waren ganz und gar nicht einverstanden damit, dass ich das Krankenhaus verließ; ihrer Meinung nach war ich weiterhin behandlungsbedürftig. Da sie meiner Entlassung nur unter der Bedingung zugestimmt hatten, dass ihre umfangreichen und ausführlichen Therapieanweisungen genauestens eingehalten würden, hatte Massimo mehrere Ärzte aus Sizilien einfliegen lassen.

Ich war bei diesem wichtigen Termin nicht dabei und wollte die Gelegenheit nutzen, um Amelia zu besuchen. Ich zog einen Jogginganzug an, schlüpfte in meine Schuhe, streckte vorsichtig den Kopf durch die Tür und schaute mich um. Meine beiden Bodyguards waren nirgendwo zu sehen. Im ersten Moment war ich geradezu erschrocken – ich war überzeugt, irgendjemand hätte sie ausgeschaltet und würde im nächsten Augenblick zurückkommen, um sich mit mir zu befassen. Aber dann fiel mir wieder ein, dass mir keine Gefahr mehr drohte, und ich ging langsam den Korridor entlang.

»Ich suche meine Schwester«, sagte ich zu der Frau hinter dem Empfangstresen der Neugeborenenstation. Die ältere Krankenschwester blaffte ein paar Worte auf Spanisch und verdrehte die Augen, dann stand sie auf und ging los, um eine Kollegin zu holen, die Englisch sprach. Wenige Minuten später kam sie in Begleitung einer lächelnden jungen Frau zurück.

»Wie kann ich helfen?«

»Ich suche meine Schwester, Amelia Matos. Sie liegt bei Ihnen auf der Station, sie hatte eine Frühgeburt.«

Die Frau tippte einige Daten in den Computer und schaute auf dem Monitor nach, dann nannte sie mir die Zimmernummer und wies mir die Richtung.

Vor der Tür hatte ich die Hand schon erhoben und wollte eben anklopfen, als ich plötzlich erstarrte. Was zum Teufel mache ich hier?, fragte ich mich. Ich gehe zur Schwester des Auftragsmörders, der mich entführt hat, und will sie fragen, wie es ihr nach dem Tod ihres Mannes geht, wobei ihr Mann mich wohlgemerkt fast zu Tode geprügelt hat. Die ganze Situation war so surreal, dass ich selbst kaum glauben konnte, was ich da tat.

»Laura?«, hörte ich plötzlich eine Stimme hinter meinem Rücken und drehte mich um. Neben mir stand Amelia, eine Wasserflasche in der Hand. »Ich wollte sehen, wie es dir geht«, brachte ich mühsam hervor.

Amelia öffnete die Tür und zog mich hinter sich her ins Zimmer. Ihr Zimmer war noch größer als meines und bestand aus einem Wohnbereich und einem abgetrennten Schlafzimmer. Überall standen Liliensträuße, ihr schwerer Duft erfüllte den Raum.

»Mein Bruder kommt jeden Tag und bringt mir einen frischen Strauß«, seufzte Amelia und setzte sich aufs Sofa. Ich erstarrte. Panisch schaute ich mich um und zog mich langsam in Richtung Tür zurück.

»Keine Sorge, heute kommt er nicht, er musste wegfahren«, sie schaute mich an, als könnte sie meine Gedanken lesen. »Er hat mir alles erzählt.«

»Was genau?«, fragte ich und ließ mich in einen Sessel sinken.

Amelia senkte den Kopf und rang die Hände. Sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Von der atemberaubend schönen, offenherzigen Frau, die ich kennengelernt hatte, war nichts geblieben.

»Ich weiß, dass ihr kein Paar wart, dass mein Vater deine Entführung befohlen hat und dass Marcelo den Auftrag hatte, sich um dich zu kümmern.« Sie rückte näher an mich heran. »Laura, ich bin nicht dumm. Ich weiß, in was für eine Familie ich hineingeboren bin und womit Fernando Matos sein Geld verdient hat.« Sie seufzte. »Aber dass Flavio hinter all dem stand …« Sie brach ab, als ihr Blick auf meinen Bauch fiel. »Wie geht es deinem …« Sie schwieg, als sie sah, dass ich mechanisch den Kopf schüttelte und mir die Tränen übers Gesicht liefen. Sie schloss die Augen, und Sekunden später kullerten auch über ihre Wangen dicke Tropfen. »Es tut mir so leid«, flüsterte sie. »Wegen meiner Familie hast du dein Kind verloren.«

»Es ist nicht deine Schuld, Amelia. Du musst dich für nichts entschuldigen«, sagte ich so fest wie möglich; meine Stimme zitterte nur ganz leicht. »Dafür haben wir den Männern zu danken, mit denen das Schicksal uns zusammengeführt hat. Du kannst deinem Mann dafür danken, dass Pablo um sein Leben kämpft, und ich meinem dafür, dass ich überhaupt jemals einen Fuß auf diese Insel gesetzt habe.« Es war das erste Mal, dass ich diesen Gedanken laut aussprach, und beim Klang meiner Worte fühlte ich einen Stich im Herzen. Nie zuvor hatte ich meine Vorwürfe an Massimo so eindeutig formuliert. Dabei war ich Amelia gegenüber nicht vollkommen ehrlich, schließlich war Flavio der Hauptschuldige … aber ich wollte sie schonen.

»Wie geht es deinem Sohn?«, fragte ich und unterdrückte ein Schluchzen. Ich wünschte dem Kleinen und seiner Mutter von Herzen alles Gute, aber trotzdem kamen mir diese Worte nur schwer über die Lippen.

»Besser, glaube ich.« Sie lächelte schwach. »Wie du siehst, kümmert sich mein Bruder um alles.« Mit der Hand wies sie in den Raum. »Entweder hat er die Ärzte bestochen oder fürchterlich terrorisiert, jedenfalls behandeln mich alle wie eine Königin. Pablo bekommt die bestmögliche Betreuung, er macht Fortschritte.« Wir sprachen noch ein paar Minuten, dann fiel mir siedend heiß ein, dass ich in echte Schwierigkeiten kommen würde, wenn Massimo mich bei seiner Rückkehr nicht im Zimmer antraf.

»Amelia, ich muss los. Heute kehre ich nach Sizilien zurück.«

Leise stöhnend erhob ich mich und stützte mich auf der Rückenlehne des Sessels ab.

»Laura, warte. Da ist noch eine Sache …« Fragend schaute ich Amelia an. »Marcelo … Ich wollte mit dir über meinen Bruder reden.« Amelia senkte verlegen den Blick, dann begann sie stockend zu sprechen. »Ich möchte nicht, dass du meinen Bruder hasst, vor allem, weil er dich, glaube ich …«

»Ich mache deinem Bruder keinen Vorwurf«, unterbrach ich sie, denn ich hatte Angst vor dem, was sie sagen wollte. »Ehrlich, grüß ihn von mir. Ich muss jetzt los«, warf ich noch über die Schulter, küsste Amelia auf beide Wangen und umarmte sie sanft, dann eilte ich, so schnell ich konnte, aus dem Zimmer.

Auf dem Korridor lehnte ich mich mit dem Rücken gegen die Wand und atmete tief durch. Mir war ein wenig übel, und ich verspürte ein leichtes Brennen hinter dem Brustbein, aber eigenartigerweise hörte ich mein eigenes Herz nicht. Das unerträgliche Dröhnen, das sonst bei jeder Panik-Attacke meinen Kopf zum Bersten gebrachte hatte, war einfach weg. Kurz überlegte ich, ins Zimmer zurückzugehen und Amelia zu bitten, ihren Satz zu Ende zu bringen, aber dann besann ich mich eines Besseren und trat den Rückweg an.