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Impressum

Alle Rechte der Verbreitung vorbehalten.

Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist nicht gestattet,

dieses Werk oder Teile daraus auf fotomechanischem Weg zu vervielfältigen

oder in Datenbanken aufzunehmen.

Fotos von Ben Montaser, Ulf Büschleb, Jörg Kempf, Rave the Planet und Matthias Kaminsky

Verlag Neues Leben –

eine Marke der Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage

ISBN E-Book 978-3-355-50066-1

ISBN Print 978-3-355-01900-2

1. Auflage 2021

© Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: Ben Montaser/Verlag,

unter Verwendung eines Fotos von Adrian Sereni

www.eulenspiegel.com

»Do. Or do not. There is no try.« Herr Yoda

»Das kann nur schiefgehen.« Herr Kaminsky

»Wenn schon Scheiße, dann mit Schwung.« Frau Kaden

Inhalt

Vorwort von Thomas Brussig

Ein Prolog oder: Der Parkplatz der Kanzlerin

Alles was Krach macht

Familienbande

»Matthias!!!«

Wir Kinder von der LPG

Die Gretchenfrage der DDR

Mit der Disko über die Dörfer

Was ist denn da los?

Im Ernst ohne Ernst

Wie baut man einen Jugendklub?

Mehr als ein fahrbarer Untersatz

Kurz, knapp und konspirativ

Meine erste Love Parade

Wo warst du?

Die Erfindung des Wortes Fremdschämen

Alles OKAY oder was?

Es regnet Geld!

Total vermessen

Zurück zu den Anfängen

Mausepiepchen und der Hoppelfrosch

Jetzt aber raus aus dem Kleiderschrank!

Ausgemustert

Time to Say Goodbye

Geliebte Mammutelfe

Glamour-Zeiten

Ich beiß dir die Eier ab!

Apropos Autos …

Ein Elefant in der Kneipe

Breaking Bad

Voll in love

Aktion Monica

Bye bye, Love!

Ne richtig coole Agentur-Butze

Ein Dickschiff namens Triad

Brille schief, Frisur wild

Die Streifen, die die Sportwelt bedeuten

Heim ins Reich oder reich daheim?

Die rasende Rita und der rauchende Rudi

Drei besonders fiese Buchstaben

Jetzt erst recht!

Wieso eigentlich FTW?

Wilde Zeiten

Das Leben und nichts anderes – oder so

Wer ist hier pervers?

Und die Taschen voller Geld …

So, und jetzt wird’s GEARig

Du hast ja’n Stich!

Autos und ihre Hinterlassenschaften

Endlich: Angie!

Auftritt Porno-Porsche im Konrad-Adenauer-Haus!

Seehofers Talfahrt

Wie trocknet man eine Kanzlerin ab?

Wir haben die Wahl … oder: Ein Blowjob in Düsseldorf

Wunder dauern etwas länger

Ich will raus!

Ein Knie am Boden

Mit beiden Knien am Boden

Hier hast du einen Grundriss!

Die Rechnung der Wirtin

Ich krieg die Motten und mach mich vom Acker

Gibt es Matthias Kaminsky wirklich, und wenn ja, warum soll ich seine Biografie lesen?

Thomas Brussig

Dieses Vorwort möchte ich mit einem Geständnis beginnen: Ich lese gern Biografien. Das ist für einen Schriftsteller deshalb ein Geständnis, weil Biografien gemeinhin als literarisch minderwertig gelten, als Trash. Und zwar, weil in ihnen keine Handlung gestaltet ist, weil in ihnen, im Gegensatz zu Shakespeare, nicht das Eine aus dem Anderen hervorgeht und dem Geschehen jegliche Folgerichtigkeit abgeht. (Wenn doch, hat der Verfasser nachgeholfen und eine Lebensgeschichte konstruiert; dann handelt es sich erst recht um Trash.) Nein, das wahre Leben gibt eine ziemlich unliterarische Form vor: ein unablässiges »und dann und dann und dann«. Und das prägende Stilmittel: Zufälle.

Nun ist es aber so, dass ich nur in Biografien dem Leben beim Walten zuschauen kann. Das wahre Leben bietet Zufälle und Episoden, die so irre sind, dass kein Autor es wagen würde, sie zu erfinden. Mit anderen Worten: Biografien wohnt eine Wahrheit über das Leben inne, die die hohe Literatur längst weggekärchert hat.

Gut, nun wissen wir, warum wir überhaupt Biografien lesen sollten. Aber wieso ausgerechnet die von Matthias Kaminsky?

Die kurze Antwort lautet: Weil das ein faszinierender Zeitgenosse ist. Halb Unternehmer, halb Künstler, mit einer gehörigen Portion Schlawinertum und kleinkriminellen Spurenelementen, sowohl Organisations- wie Desorganisationstalent. Matthias Kaminsky hat so viel erlebt, dass sogar Rapper vor Neid sprachlos werden. Irgendwann beim Lesen habe ich begonnen, all die armen Vorstandsvorsitzenden, Mandatsträger und Talkshowgäste zu bedauern. Wenn man niemals so gelebt hat wie Kaminsky, wozu lebt man dann überhaupt? Und all die Mütter, die schlaflose Nächte durchmachen, weil ihre Söhne oder Töchter vor oder nach dem Abi keinen Plan haben, können sich beim Lesen dieses Buches beruhigen, und begreifen: Es geht auch ohne Plan und ohne Abi. Matthias Kaminsky hat das Leben ohne Plan vielleicht zum Prinzip erhoben, auf jeden Fall zur Perfektion gebracht. Er versteht es, Chancen zu erkennen und am Schopfe zu packen. Er hat ein Gespür für den Moment, in dem er einen Neuanfang wagen oder Gewohntes hinter sich lassen sollte. Irgendeine Tür öffnet sich ihm immer. Nicht selten ist es eine Tapetentür. Doch in verborgenen Räumen finden sich bekanntlich oft die interessantesten Dinge.

Es gibt einiges, was sich von Kaminsky abzugucken lohnt: Sein Optimismus. Die Antennen für den richtigen Moment. Die Fähigkeit, Rückschläge wegzustecken und mit ollen Kamellen abzuschließen. Seine Gabe, immer mit nur einem blauen Auge davonzukommen. Und das Talent, sich neu zu erfinden. Nennen wir das alles der Einfachheit halber »Kaminsky-Methode«.

Natürlich war es nicht Matthias Kaminskys Idee, sein Leben aufzuschreiben. Der Einfall kam von Martina Kaden, die als ehemalige B.Z.-Kulturredakteurin jahraus, jahrein all die schrägen Vögel traf, die sich in Berlins Kulturszene tummeln, und die dank ihres geschulten Blickes sofort erkannte, auf welches Juwel sie gestoßen war, als ihre Wege sich mit denen Kaminskys kreuzten. Es ist vielleicht das größte Wunder dieses an Wundern nicht armen Buches, dass ausgerechnet eine Redakteurin eines großen Boulevardblattes sich die Demut bewahren konnte, die für eine solche Erzählung Voraussetzung sein muss. Ob Matthias Kaminsky weiß, was er mal wieder für ein Glück hatte, dass er jemanden traf, der sein Leben in ein Nonstop-Lesevergnügen verwandeln konnte?

Und wie es bei ihm gar nicht anders sein kann, wird sich aus diesem Buch bestimmt etwas Neues ergeben, das nie so geplant war. Zum Beispiel eine Netflix-Serie. Es handelt sich immerhin um eine Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Geschichte, die in der DDR beginnt, den Wende- und Nachwendeirrsinn aber so richtig mitnimmt, sich der Schwulenszene widmet, und die nicht nur von der DDR-Provinz, sondern auch vom heutigen Berlin klug und genau erzählt. Kaminskys Erfolge lösen sich mit Schicksalsschlägen ab, es gibt jede Menge Glück und jede Menge Verlust, Unfälle, Krankheiten, Insolvenzen, es gibt Containerladungen an filmreifen Momenten … Warum ich ausgerechnet auf eine Netflix-Serie komme? Nun, es gibt dort bereits eine Serie mit dem Titel »Die Kominsky-Methode«, mit o. Es will wohl was bedeuten, dass der Titel »Die Kaminsky-Methode« noch zu haben ist.

Ein Prolog oder: Der Parkplatz der Kanzlerin

»Tut mir leid, Matthias, aber du bist ein Buch!«

»Hä? Wie kommste denn darauf?«

»Na, entschuldige bitte! Schließlich erzählst du mir hier eine heiße Story nach der anderen aus deinem aberwitzigen Leben, ich falle von einem Staunen ins nächste. Das wird doch garantiert nicht nur mir so gehen!«

Wir stehen in unserer Schöneberger Stammkneipe, in der wir uns vor zwei Jahren kennenlernten. Naja, eigentlich haben wir uns zunächst nur so ein bisschen beäugt, von Tresenecke zu Tresenecke. Erst nach dieser 30-Jahre-Love-Parade-Pressekonferenz mit DJ Dr. Motte im Nineties Berlin wird aus dem Äugen ein Quatschen. Matthias Kaminsky segelt auf mich zu: »Wir kennen uns, wir trinken am selben Ort!«

So kommt der Stein ins Rollen. Seither trinken wir gemeinsam. Und reden. Vielmehr, er erzählt, ich höre zu, lache und staune.

Und habe jetzt diese Buchidee.

»Wie soll denn das gehen?« Er guckt missmutig.

Ich: »Na, ungefähr so …«

»Tach, Kaminsky!«

Es knackt im Lautsprecher. »Guten Tag, Herr Kaminsky. Sie werden bereits erwartet.«

»Wo kann ich’n hier parken?« – »Ah, Sie sind mit dem Wagen gekommen …« (Die Untertreibung des Jahrhunderts. Ich stehe mit meinem derzeitigen Porno-Porsche vor dem Konrad-Adenauer-Haus.) »Fahren Sie bitte in die Tiefgarage und stellen Sie Ihr Fahrzeug auf den Platz von Frau Dr. Merkel.«

Halt, halt, halt!

Wie kommt ein tätowierter Irokesenträger mit Nasenring im Porno-Porsche auf Angies Parkplatz im Konrad-Adenauer-Haus? Und sitzt wenig später bei ihr im Büro?

Tja, liebe Leute, das gehört so zu dem großartigen Unsinn, mit dem ich es eigentlich die ganze Zeit zu tun habe. Manchmal stelle ich mich neben mich, verschränke die Arme, die tätowierten, und denke: Was war denn das jetzt schon wieder?

Also, noch mal ne ordentliche Vorstellung: Gestatten, Kaminsky, Matthias Kaminsky, Designer mit Händchen für Kreativ-Organisation. Museen, Ausstellungen, Messen, Firmen- und Polit-Events … Eigentlich ist nichts vor mir sicher. Ich hab aber auch schon Partys organisiert, Diskotheken und Motorräder gebaut, diverse Sachen mit Vollstoff an die Wand gefahren und betreibe einen Fetisch-Laden in Berlin-Schöneberg.

So weit, so normal. Alles dazwischen ist chaotisch, strange, verrückt. Großartiger Unsinn eben.

Seid Ihr bei mir? Habt Ihr Lust? Wollt Ihr mich kennenlernen? Müsst Ihr wohl, sonst würdet Ihr das hier nicht lesen. Also schnallt Euch an, Ihr werdet mich kennenlernen! Und das mit der Merkel klären wir später.

»Spinnst du?« Matthias fährt mir voll in die Parade, als ich ihm diesen Einstieg ins Buch skizziere. »Wenn du denkst, du kannst so tun, als ob ich das alles selbst schreibe, hast du dich geschnitten! Ich schmücke mich nicht mit fremden Federn! Ist ja schließlich deine Idee! Also komm mal schön raus aus deiner Schreibecke, Schätzelein!«

»Was? Ich? Neeneenee! Ich bin Journalistin, das macht man nicht. Ich bin dein Geist!«

»Dann machen wir’s eben nicht!« Er verschränkt die Arme.

»Das wäre aber echt schade!« Ich verlege mich aufs Jammern.

»Na, dann bist du mit drin!« Er grinst.

Okay, das geht jetzt ein bisschen so hin und her. Aber der Kerl lässt nicht locker. Dann versuche ich’s eben.

Guten Tag, Martina Kaden hier. Journalistin. Nach einigen »Wossi«-Jahren als Super-Illu-Reporterin und vielen, vielen Jahren Kulturjournalismus bei der Berliner B.Z. (gefühlt 300 Interviews mit Claus Peymann und 1000 Rettet-die-Kudamm-Bühnen-Geschichten) bin ich letztens in die Altersteilzeit gesegelt. Und anstatt die Nase in die Sonne zu halten (ich krieg eh immer nur Sonnenbrand), nerve ich Herrn Kaminsky mit ausufernden Recording-Sessions. (Er nennt das Diktat! Dass ich nicht lache!) Jetzt sitze ich im selbst gewählten Homeoffice und schreibe dieses Buch. Soll eine Biografie werden. Hab ich noch nie gemacht. Keine Ahnung, ob ich das kann.

Aber versuchen wir’s mal. Und meine Kommentare setze ich einfach kursiv. Mit Sternchen.

***Ungefähr so: Also, der Kerl ist Ossi. Baujahr 1969, geboren in Querfurt/Sachsen-Anhalt. Guter Name, passt zu ihm. Matthias: »Wenn du jetzt was vom Querkopf aus Querfurt schreibst, bin ich raus.« Ich: »Na gut, dann sprechen wir eben von einer Art selbsterfüllenden Prophezeiung? Ist das genehm?« Gebrummte Zustimmung.***

Alles was Krach macht

***Also zurück nach Querfurt. Bisschen ruhig, 11000 Einwohner, Mittelalter-Idyll zwischen Burg und Stadtmauer. Da wächst man zwar recht behütet auf, aber für Flausen ist jede Menge Platz. Und jede Menge Infrastruktur. Heute veröden kleine Städte, in Querfurt gibt’s alles – Werkstätten, Läden, ziemlich pittoresk mit einer 1100 Jahre alten Burg mittendrin. Jetzt du, Matthias!***

Okay, und ganz da oben, auf dem Turm der Burg, auf den man hinaufklettern kann, prangt diese Schieferplakette mit dem Namen meines Vaters »Walter Kaminsky«. Der hat als Dachdeckerlehrling an dem Zwiebeldach des Turms mitgedeckt. Und ich bin als Dreikäsehoch natürlich stolz wie Bolle. »Da steht Papa!«, erkläre ich jedem, den ich da hoch schleppe.

Aber noch mehr interessiere ich mich für alles, was Krach macht, zischt und bollert und rollt und fliegt …

Weihnachten, Anfang der siebziger Jahre: Die ganze Landschaft tief verschneit, das ist, anders als heute, an der Wintertagesordnung. Kaminskys zu Besuch bei Opa und Oma Hartinger in Esperstedt. Anfahrt per Bummelbahn, drangehängt an diese riesige Dampflok. Dicker weißer Rauch, rußgeschwängert, und all das im tiefen Schnee. ***Herrlich! Ich sehe es vor mir! Ein echtes Kleinejungswintermärchen!***

Dieser kleine Junge ist jedoch ein bisschen ängstlich, weil die Dampflok so riesig vor ihm steht. Aber auch schon fasziniert.

Die Fahrt geht durch verschneite Landschaft und tiefe Täler, die wir auf riesigen Stahlbrücken überqueren. Den Duft der grünen Kunstledersitze der Reichsbahnwaggons habe ich immer noch in der Nase. Angekommen in Esperstedt, geht mein erster Weg zu dem Signalhäuschen, wo die Weichen noch mit großen mechanischen Wippen gestellt werden.

Opa Hartinger ist ja Gleisbauer, der kann alles prima erklären. Und vor allem hat er als Mitarbeiter der Reichsbahn einen Freifahrtschein, der kommt immer dann zum Einsatz, wenn der Vorrat aus Eberswalder Würstchen – Mangelware in der DDR und total lecker! – zur Neige geht. Ich mit Opa auf großer Hamsterfahrt! Und hinterher bepackt mit Wurstdosen. Ein Spaß!

Zu Weihnachten wird auch immer die große Modelleisenbahn Marke Piko Spurweite TT ausgepackt, denn dazu gibt es jedes Mal neue Waggons und anderes Zubehör. Die Bahn steckt in einem riesigen Klappkoffer, der sich auf 2 x 1,50 Meter öffnen lässt. Das Scharnier in der Mitte ist als Autobahnbrücke getarnt und hat zwei Tunnel, durch die das Bähnchen schnurrt. Natürlich werden mir die drei Meter schnell zu klein, aber zum Glück gibt es die Weiche 4, die im Koffer-Nichts endet. Und die wird dazu genutzt, die Bahn kreuz und quer durch Hartingers Wohnzimmer zu verlegen. Was immer dann in großem Geschimpfe endet, wenn Mutter Gretelchen beim Essenauftragen über die Gleise stolpert.

Die Eisenbahn, riesig groß und kofferklein, ist jedenfalls der Anfang meiner Technikbegeisterung. Heute sind es schnelle Autos (neben den Porno-Porsches fahre ich mit Vorliebe AMG oder meine hochgetunte Rennpappe – Trabant, mit 100 PS) und Motorräder von Aprilia und Ducati. Hab ich erwähnt, dass fünf davon in meiner Küche stehen? Nee? Okay, jetzt wisst Ihr Bescheid.

Als kleiner Junge entwickle ich jedenfalls eine Leidenschaft fürs Auseinandernehmen und Neuzusammenbauen. Kein Spielzeugauto ist vor mir sicher. Da wird erst das Dach abgesägt, dann das Fahrwerk tiefergelegt. Und schließlich muss das Ding selbstverständlich auch noch neu lackiert werden. Das versuche ich mit Filzstiften. Was leider schiefgeht. Beim Staubwischen nimmt Gretelchen das vor sich hin trocknende (so hoffe ich) Auto hoch und hat die ganze blaue Farbe an den Fingern. Da hält sie bombenfest, leider nicht an meinen Spielzeug-Cabrios. Den Schrei »Matthias!!!« höre ich da nicht zum ersten und letzten Mal.

Meine nächste große Liebe entdecke ich mit 12/13, als mich mein Bruder Thomas – elf Jahre älter als ich, aber genauso technikverrückt – in die AG Flugmodellbau mitnimmt. Da konstruieren wir nicht etwa kleinklein, sondern richtig große Modellflugzeuge aus ultraleichtem Balsaholz, zwei Meter Spannweite. Ausgestattet mit elektrischen Stellmotoren, Höhenrudern, Seitenrudern, Querrudern und Funkfernsteuerungen, wie man sie heute von Drohnen kennt. Und alles von Grund auf: erst je nach Auf- und Abtrieb-Anforderung das Profil für die Tragflächen bestimmen, dann ein Musterprofil bauen, einzelne Rippenbögen schleifen und die Flügel mit Spezialpapier und Folien bespannen. Zum Schluss alles laminieren.

Richtig aufregend wird es, wenn wir von Vattern, der inzwischen vom Dach runtergeklettert und zum Busfahrer mutiert ist, zu den Wettkämpfen kutschiert werden. Im 23 Kilometer entfernten Laucha liegt mitten im Weinbaugebiet des Unstruttals ein Sportflugplatz, der noch aus Nazizeiten stammt. Für uns Jungs ein Riesen-Abenteuerspielplatz, der Lust macht auf Luftfahrt, Sportfliegerei und Fallschirmsprung. Alles für umme und gesponsert von der Gesellschaft für Sport und Technik – selbstverständlich mit Hinblick auf eine Zukunft bei der NVA ***für ganz Junge: Nationale Volksarmee***. Unsere Flugmodellbau-AG ist da nur das erste Rädchen im allumfassenden Bürgerbespaßungsunterfangen.

Familienbande

Weihnachten bei Hartingers wird in den Siebzigern abgelöst durch Weihnachten bei meinen Eltern. Später dann bei meinem Bruder Thomas. Der ist wie gesagt elf Jahre voraus, ich bezeichne mich immer gern als Betriebsunfall, was Gretelchen jedes Mal ärgert. Im letzten Jahr ist die Tradition übergesprungen auf Thomas’ Tochter Nicole, die ihn 1997 mit 39 Jahren zum Opa macht. Die größte Krise seines Lebens! Bisher … Denn Nicoles Sohn Philipp ist auch schon über 20. Wäre doch witzig, wenn mein Großneffe meinen Bruder, der heute als Prüfingenieur bei der Dekra arbeitet, noch vor Renteneintritt zum Urgroßvater machen würde. Wäre dann noch so ein Betriebsunfall. Was ja auch ne schöne Familientradition ist. Ich muss Philipp mal anrufen, ich höre, der hat eine Freundin. Hehehe!

Mutter Gretel (eigentlich Margarete, aber so nennt sie keiner) ist die Tochter von Opa Hartinger. Der heißt Michel und stammt wie Oma Maria aus Siebenbürgen. Während der Nazizeit muss die Oma mit Gretelchen und Brüderchen Josef auf den Treck erst nach Polen (Motto: Hier habt ihr Land, macht was draus!) und später, als sich die 1000 Jahre nach zwölf Jahren dem Ende zuneigen, Richtung Westen. In Esperstedt gelten sie als Polen, obwohl sie doch diesen österreichisch klingenden k.u.k.-Zungenschlag aus Siebenbürgen sprechen.

Während sich Oma Maria also mit Kindern und Bollerwagen durch Europa schlägt, macht sich Opa Michel bei der SS in Norwegen einen lauen Lenz. Als ich später mal in einer Schublade krame und seinen alten Wehrpass zutage fördere, ist er stinksauer. Sollte ein Geheimnis bleiben. Aber wenn Jugend forscht, dann forscht sie eben. Tut mir auch nicht wirklich leid. Auch wenn es erst ne Tracht Prügel setzt und er sich dann einen Kümmel genehmigen muss.

Opa Michel ist der Drache in der Großelterngeneration, Gretelchen hat das stürmische Temperament in der Elterngeneration. Im Moment versucht sie gerade, die Macht im Altersheim an sich zu reißen. Böse Zungen behaupten, dass ich diese Tradition heute fortführe. Immer wenn ich mal in der Firma vor mich hin gifte, heißt es: »Reiß dich zusammen, Gretelchen!«

Jedenfalls ist diese ganze krumme bucklige Mischpoke technikverrückt. Manchmal auch nur verrückt. Opa Hartinger zum Beispiel spürt immer wieder einen Forscherdrang mit fatalen Konsequenzen. So, als er die Kaffeemühle bei laufendem Motor aufschraubt, um zu sehen, wie der Betrieb von innen aussieht. Oma Maria, sonst die Langmut in Person, kriecht danach zeternd über den Küchenboden, um das kostbare Mahlgut wieder einzusammeln. Denn Kaffee – Mangelware und sündteuer in der DDR – verplempert man nicht!

Oder noch schlimmer: In einem Winter muss ich das Bett erkältungsbedingt hüten. Opa Michel soll Fieber messen. Er ist sich nicht sicher, ob das alte Thermometer noch funktioniert. Und will es in einem der Wassertöpfe austesten, die Oma Maria immer heiß auf dem Herd stehen hat. Er steckt das Ding also ins heiße Wasser, und es kommt, wie es muss: Das Quecksilber schießt hoch, das Glas zerbricht. Überall kullern diese winzigen Quecksilberkügelchen durch Marias Küche. Sogar in der Suppe schwimmen sie. Oma Maria ist not amused und fegt das flutschige Zeug zusammen.

Ist aber nicht giftig, neenee. Auch das Asbest, das mein Vater und ich für den Ausbau unserer Garage zusammensägen – frag nicht nach Sonnenschein! –, ist in den siebziger/achtziger Jahren komplett ungefährlich. Wir machen uns jedenfalls keinen Kopf. Und zeigen bisher auch keine sonderlichen Spätschäden.

Der andere Opa, Willy Kaminsky, Vater von Walterchen, Onkel Heinz und Tante Rosi, geht in die Familien-Annalen auch mit einem großen Bumm ein. Willy wohnt bei Onkel Heinz und ist quietschvergnügt, aber schon ein bisschen weich in der Birne, als er beschließt, einen Kuchen zu backen. Kriegt er auch ganz gut hin, rührt den Teig mustergültig mit dem Mixer zusammen. Nur vergisst er, den Ofen auch anzuzünden, als er das Gas aufdreht. Jedenfalls tut es einen riesigen Schlag, den die gesamte LPG ***für ganz Junge: Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft*** hört. Alle Fenster und Türen fliegen raus, Möbel gehen kaputt, und Opa Willy wird in die Ecke gedrückt. Der hat ein paar Platzwunden, ist aber immer noch quietschvergnügt, steht da und lacht.

»Matthias!!!«

Das mit dem Krachbummpeng ist beim Enkel natürlich auch extrem ausgeprägt. So muss die AG Flugzeugmodellbau auch zu Hause weitergebastelt werden. Was Gretelchen hasst wie die Pest. Denn nicht nur, dass das Kind mit stinkenden Spraydosen hantiert, Bauteile klebt und lackiert, es nimmt auch mal einen Motor mit nach Hause, um den Vergaser einzustellen. Man muss wissen: Diese Modellflugzeugmotoren sind höllenlaut. Meine Mutter kommt ins Kinderzimmer gefegt, reißt den Mund auf, man hört sie nicht. Der Motor ist lauter. Aber ich weiß, was sie da schreit: »Matthias!!!«

Klar, sie wäre viel glücklicher, wenn ich ein Fußballjunge wäre und den ganzen Tag auf dem Bolzplatz rumtobte. Aber damit kann ich nicht dienen. Ich bin Tüftler.

Einen Höllenlärm macht auch die alte Schulklingel, die ich beim Ferien-Aufräumkommando in der POS ***das steht für Polytechnische Oberschule*** entdecke. Doch zuerst muss ich mit dem Hausmeister den alten Chemiegiftschrank entsorgen. Der ist von den Chemikalien der vergangenen Jahrzehnte so morsch, dass wir ihn nicht durchs Treppenhaus schleppen wollen. »Am Ende bricht das Ding uns noch unterwegs zusammen«, sage ich. »Warum schmeißen wir es nicht aus dem Fenster?« Ist ja keiner in der Schule, denken wir. Falsch gedacht. Der Schrank schlägt auf dem Hof auf. Ein bösartiger Schrei von unten. Der Schuldirektor will sich gerade auf den Heimweg machen, als ihm das Ding vor die Füße rauscht. Verheerende Staubwolke, Direx stocksauer. Natürlich auf den Hausmeister. Dabei hab ich das Unheil ausgeheckt.

Wo war ich?

Ach ja, die Schulklingel. Die soll ich ordnungsgemäß entsorgen. Mach ich natürlich nicht, sondern nehme das Ding mit nach Hause. Ein Riesen-Oschi, 40 Zentimeter Durchmesser, mit so einem Arm mit Schlegel dran, der die Klingel betätigt. Und, viel wichtiger: mit ordentlich 220 Volt betrieben! Zu Hause in unseren 50 Platte-Quadratmetern schraube ich das Ding an meine Zimmerwand, biege zwei Blechwinkel und baue sie zu Türkontakten um. Und dann das Ganze unter Strom gesetzt. Ich rufe: »Mutti, komm doch mal!« ***Böses Kind!***

Gretelchen kommt ins Zimmer gerauscht, löst den Türkontakt aus, der mit den 220 Volt einen richtigen Lichtbogen zieht. Und dann geht diese Schulklingel los. Aberwitzig laut. In einer Plattenbauwohnung. Gretel steht fassungslos in der Tür, brüllt aus Leibeskräften, und man kann sie wieder mal einfach nicht hören. Wieso bloß?

Bei all dem Ungemach ist es nur folgerichtig, dass ich wenig später mittels eines kleinen Elektromotors, den ich für die Flugzeug-AG etwas tunen will, aus der Steckdose einen Lichtbogen zaubere, der einen solchen Stromschlag fabriziert, dass im ganzen Wohnblock die Lichter ausgehen. Ich bin immer noch ziemlich froh, dass meine Eltern an diesem Samstagnachmittag im Garten rumwerkeln und das nicht mitkriegen. Der Motor ist jedenfalls zu einem kleinen, undefinierbaren Klumpen zerschmolzen.

Ganz und gar unschuldig bin ich aber an der Trabi-Tragödie, die sich in den Siebzigern ereignet. Nach gefühlt hundert Jahren Wartezeit dürfen wir im Jahr 1976 endlich den ersehnten fabrikneuen Trabant in Empfang nehmen ***für den sie später die Garage mit Asbest verkleiden***. Wir fahren also im feinsten Sonntagsstaat ins 26 Kilometer entfernte Artern, um das Schätzchen beim Auslieferer abzuholen.

Da stehen zwei nagelneue Wagen – ein langweiliger weißer und ein toller giftigblauer. Ich bin sieben Jahre alt und will partout nicht einsehen, wieso wir dieses beschissene weiße Modell mit nach Hause nehmen sollen. Das blaue ist doch viel besser! Großes Durcheinander im Autohaus. Doch ich kann mich leider nicht durchsetzen.

Der Trabant ist natürlich ein Heiligtum, das gepflegt werden muss. Gretelchen herrscht Walterchen an, er soll das Prachtstück von innen säubern. Walter tut, wie ihm geheißen. Der Trabant steht vor dem Wohnblock in einer Parklücke, die Türen sperrangelweit offen. Die Sitze, die Gretelchen schon mit viel Lauge schamponiert hat, trocknen auf dem Rasen vor sich hin. Walterchen hantiert mit Scheuerbürste im Inneren der Familienkutsche, während Gretelchen die Arbeiten im dritten Stock am Küchenfenster überwacht. Inzwischen spielen die Nachbarskinder ***Matthias schwört, er ist nicht dabei. Wer’s glaubt, wird selig!*** mit Pfeil und Bogen. Das Unglück nimmt seinen Lauf, es macht plopp … Und ein Pfeil – Holz mit Metallspitze – steckt zitternd in der kostbaren Trabi-Rücklehne. Riesiges Gezeter aus der Küche. Die Nachbarskinder fliehen. Großartiges Chaos. Alle, auch ich, stehen fassungslos vor dem Pfeil in der Rückenlehne.

Es wird natürlich sofort angeordnet, am nächsten Montag Schonbezüge zu kaufen, die das Schandloch verdecken sollen. Der Trabant muss aber auch bewegt werden. Zum Beispiel nach Zeuthen im Süden von Berlin. Dort unterhält Walterchens Betrieb eine Datsche, und wir sind im Sommer 78 oder 79 mal wieder dran. Klar, dass man in Berlin dann auch den neuen Palast der Republik besichtigen muss. ***Erichs Lampenladen eröffnete im April 1976.*** Ich steh also an Mutter Gretels Hand staunend in der großen Halle: So viel Marmor, all die Leuchten, imposanten Gemälde von Willi Sitte, und dann noch diese gläserne Blume!

Wir gehen Eis essen in dem Café, in dem man auf Wasserhöhe die Schiffe über die Spree tuckern sehen kann. Spektakulär! Aber noch begeisterter bin ich von dem Palast-Shop im Erdgeschoss. Da gibt es nämlich neben den Tassen mit goldenem PdR-Monogramm auch einen Formo-Bausatz des Palasts ***Formo ist baugleich mit Lego***, aus weißem Baustein mit goldenen Glasbausteinen für die Fassade des Palasts. Den muss ich haben. Unbedingt! Sofort! ***Er will natürlich den größeren der beiden Bausätze, logisch!***

Schon im Laden selbst gibt es Stress. Ich bettle. Mutter will nicht, partout nicht. Das Ding ist auch echt teuer. Gretelchen herrscht das Kind an. »Matthias!!!« Noch geflüstert. Man will ja keine Szene machen. Sie zerrt mich raus aus dem Laden, ich folge missmutig. Doch in der großen Halle schlägt meine Stunde: Neben der gläsernen Blume und den roten Ledersitzelementen, inmitten all des weißen Marmors, fange ich an zu toben. Aber richtig. Und alle um uns herum drehen sich um und hören staunend zu. Bis Gretelchen mich am Schlafittchen packt und in den Laden zerrt. Wo sie mir wutentbrannt diesen Bausatz kauft. »Hier! Und vielen Dank für die Szene, die du mir mitten im Palast gemacht hast!«

Ich grinse selig. Wir trotten raus, und Walterchen ebenfalls grinsend hinterher.

Mein Grinsen ist auch heute noch nicht weg. Denn um den Original-Marmor streite ich mich gerade mit meiner Museums-Konkurrenz aus dem Humboldt Forum. Was ich 1978 so bewunderte, lagert in der Halle einer Verwaltungsbehörde in Spandau. Ich will den Marmor für unser DDR-Museum am Spreeufer gegenüber vom Berliner Dom. ***Da ist Matthias heute Kreativ-Direktor.*** Wetten, dass ich den kriege? Aber eins hat unser Museum bereits: den Original-Formo-Bausatz des Palasts der Republik, um dessentwillen ich meiner Mutter so eine Szene machte. ***Und dass er 40 Jahre später dafür sorgen wird, dass im Nachfolge-Bau des Palasts nicht nur ein, sondern zwei Shops die Besucher begeistern sollen, konnten weder Gretelchen noch Walterchen geschweige denn der Sohn ahnen. Aber dazu später …***

Als der junge Formo-Bauherr eines Tages verkündet, dass er gern ein Tier hätte, ist Gretelchen halb erfreut. Vielleicht lernt das Kind, also ich, durch ein Tier ein bisschen Verantwortung. Und vielleicht lenkt ein Tier das Kind, also mich, auch etwas von den nervenzersägenden Krachbummpeng-Experimenten ab.

Gesagt, getan. Ich kriege einen – och Mensch, nur einen Goldhamster. Ist ja nicht gerade aufregend, nicht mal ein Kaninchen. Was ich zu Anfang gar nicht vermute: Nicki – so heißt er – hat es in sich. Ich zimmere ihm in der AG Modellflugbau schnell ein schickes Häuschen aus Sperrholzplatten für sein Glasterrarium zusammen, dann noch ein Laufrad, er lebt ja nachtaktiv und muss dann rennen können.

Das Vieh ist aber auch echt geschickt. Und das Laufrad nutzt es bald nur noch, um es so zu verkeilen, dass es daran hochklettern kann, um über den Rand seines Terrariums zu kommen. Und so geschieht es, dass ich wieder das gellende »Matthias!!!« höre. Der Hamster hat sich selbstständig gemacht.

Erste Szene:

Familie Kaminsky samstagabends vor der Glotze, guckt »Wetten, dass..?« oder den Blauen Bock ***natürlich muss es Westfernsehen sein!***, weiß nicht mehr. Plötzlich kippt die riesige Zimmerpflanze um und fällt ins Bild. Wir alle fassungslos. Gretelchen: »Was war denn das?« Ich gucke nach … In dem Topf, in dem das grüne Monster bis eben noch stand, ist die Wurzel komplett vom Hamster ausgehöhlt. Jetzt liegt das Ding mitten im Wohnzimmer, elend viel Dreck drumherum, und das zur besten Sendezeit! Also raus mit dem Staubsauger und Großangriff mit sämtlichen Reinigungsgeräten!

Zweite Szene:

Der Hamster veranstaltet solche Eskapaden immer wieder, er rennt rum und erschreckt Muttern in der Küche, die beinahe das Essen fallen lässt. Fast hat man sich schon dran gewöhnt, als es wieder mal an einem Samstagabend raschelt. Mutter: »Ist der Hamster draußen?« – »Ich geh gleich mal nachgucken …« Es läuft gerade eine spannende Stelle bei Helga Hahnemann im »Kessel Buntes«. ***Wie, ihr guckt auch Ost-TV?*** Da flitzt plötzlich dieses kleine Mistvieh über den Fernseher in der Schrankwand. Familie Kaminsky fassungslos. Wie kommt der Hamster da hin? Wir recherchieren: Der ist quasi hinter der Schrankwand hochgeklettert, da sind ein paar Zentimeter Luft zwischen Schrank und Wand, wo er sich wie ein GSG-9-Mann hochgearbeitet und es durch die Kabellöcher geschafft hat. Und so erscheint er dann zur Samstagabendshow. Ein Kessel Goldenes also.

Dritte Szene:

Wieder ist die Familie vor dem TV versammelt, Matthias in dem einen Sessel, Vater Walter in dem anderen, Mutti Gretel auf dem Sofa. Plötzlich zuckt sie zusammen: »Unter mir bewegt sich was!« Mein Vater: »Gretel, du spinnst!« Sie hüpft wieder: »Unter mir bewegt sich was!« Ich: »Was soll sich da bewegen, du sitzt auf dem Sofa!« Das geht noch ein paarmal so, bis ich auf den Trichter komme: Mal gucken, ob der Hamster im Häuschen ist. Nee, Haus verkeilt mit dem Laufrad, das an der Terrariumwand lehnt. Hamster on tour. Meine Mutter hüpft immer noch: »Da krabbelt schon wieder was. Walter, fühl doch mal!« Walter: »Da bewegt sich wirklich was.« Ich gestehe: »Der Hamster ist draußen.« Sie: »Ist der Hamster etwa im Sofa?«

Und in der Tat: In den Couchkasten hat das Tier ein Loch gefressen und sich in den Sofapolstern seine Gänge gegraben. Was tun? In extremer Alarmbereitschaft verlegen wir Leckerlis, um ihn aus dem Sofa zu locken. Vergebens. Die Leckerlis holt er sich und verschwindet sofort wieder im Sofa. Nicki hat seinen Spaß, und wir kriegen ein bisschen TV-Gymnastik zur besten Samstagabend-Sendezeit.

Wir Kinder von der LPG

Der Hamster bekommt irgendwann ein neues, größeres Terrarium, das seinem Treiben als Ausbrecherkönig ein Ende bereitet. Meine Mutter kann also aufhören zu drohen, dass sie »das Vieh im Klo runterspülen« wird. Tut sie auch nicht, Nicki segnet ganz normal das Zeitliche. Und ich verlege meine tierischen Aktivitäten nach außen.

Mit 11/12 nämlich verbringe ich die Sommerferien bei Tante Rosi und Onkel Paul auf der LPG, 15 Trabi-Minuten von unserer Neubauplatte entfernt. Rosi und Paul haben zwei Schweine, Hühner, Enten, Tauben, Hund und Katze, ein echtes Idyll, in dem ich mich austoben kann. ***Vor dem geistigen Auge der West-TV-geprägten Co-Autorin entsteht ein Bullerbü in Querfurt …***

Onkel Paul kümmert sich in der LPG um die Landmaschinen. Und für mich ist es das größte Abenteuer, wenn ich mitdarf auf den Mähdrescher. Eine Monster-Maschine mit einem Mähwerk von sechs Metern Breite und einem Rüssel, über den das Getreide in den parallel fahrenden Lkw geschüttet wird. Wir drehen also ein paar Runden, ich total begeistert. Irgendwann sagt Paul: »Ich will dann mal eine rauchen. Setz du dich mal da hin, halt das Lenkrad fest, schau da in den Spiegel und achte drauf, dass du schön in der Spur bleibst und das Getreide nicht verkleckerst.«

Spricht’s, steht auf, übergibt mir das Steuer und stellt sich in die Tür des Mähdreschers. Er raucht. Bei 30 Grad, auf einem furztrockenen Kornfeld. ***Man befürchtet schon verheerende Feuersbrünste, aber nix da …*** Und ich throne auf dem Fahrersitz dieses Monster-Gefährts, das so hoch reicht, dass rechts und links Leitern angebracht sind. Paul steht lässig im Türrahmen, gibt Kommandos. »Fahr mal’n bissel mehr links, bissel mehr rechts, machste ganz gut, kann ich ja auch noch ne zweite rauchen.« Und schnipst seine Asche munter ins trockene Kornfeld.

Eines Tages braucht Onkel Paul ein bisschen Getreide für seine Viecher. Das will er natürlich abzweigen, wie man das im Sozialismus so macht. Also sagt er zu meinem Cousin Frank und mir: »Heute bin ich auf dem Feld hinterm Haus. Ihr nehmt euch den alten Zwillingskinderwagen und kommt gegen elf Uhr an den Feldrand. Ich halte da kurz an, ihr schiebt den Wagen unter den Rüssel, ich drücke auf den Knopf, und ihr fangt das Getreide mit dem Kinderwagen auf.« ***Tja, der Mensch und seine Pläne … Der alte Brecht, er hatte echt recht!***

Wir rumpeln also 500 Meter mit dem ollen Kinderwagen bis zur verabredeten Stelle über den Feldweg, ist schon mal keine so tolle Idee. Kurz darauf kommt Paul mit dem Mähdrescher angedrescht. Er drückt auf den Knopf. Es macht wrusch! Staubwolke. Wir stehen hüfthoch im Getreide. Der Kinderwagen ist nicht mehr zu sehen. Onkel Paul: »Scheiße, da kommt der LKW! Macht ihr mal, ich muss weiter!«

Sehr witzig!

Wir wühlen in diesem Getreidehaufen das Korn breit, um den Kinderwagen überhaupt freizubekommen. Der ist unter der Last des Getreides natürlich komplett kollabiert. Wir bringen nicht einen Krümel Getreide mit nach Hause und schmeißen den Kinderwagen als Ruine in den Straßengraben. ***Du Umweltsünder! – Matthias: Das Wort gibt es in der DDR gar nicht!***

Ähnlich spektakulär ist die abendliche Säuberung unter großem Gezeter, nachdem Frank und ich an einem anderen Tag auf den Hänger eines alten Treckers geklettert waren, um den Inhalt eines Fasses zu inspizieren. Frank macht die Luke auf, guckt rein. Ich setz mich an den Rand und rutsche natürlich mit dem Arsch ab. Schon stehe ich bis zur Brust in zähem, dreckigem, stinkendem Altöl. Harzig. Kaum flüssig. Nur mit Franks Hilfe schaffe ich es aus dem Fass heraus. Alles trieft an mir herunter. Tante Rosi schlägt die Hände über dem Kopf zusammen.

Was mich nicht davon abhält, am nächsten Tag mit dem Fahrrad über die Seuchenschutzwannen zu brettern, die am Eingang der LPG dafür sorgen sollen, dass die LKWs keine Keime nach draußen schleppen. Wenn die da ein paarmal durch sind, sind diese Wannen die reinste Schlammgrube. Und uns macht es diebischen Spaß, es den LKWs mit den Rädern nachzumachen. Immer wieder. Und immer wieder. Bis wir komplett schwarz-grün verschlammt sind. Stolz und stinkend nach allen Düften einer LPG stehen wir Stunden später vor Tante Rosi und grinsen.

Einmal im Jahr gibt’s Hausschlachtung bei Tante Rosi und Onkel Paul. Die züchten ja auch Schweine und verkaufen die gewinnbringend an den Großhandel. Ein Schwein behalten sie dabei für den Eigenbedarf, und im November wird dann der Schlachter bestellt.

Morgens früh um sechs geht’s los. Alle stehen dick angezogen um das Schwein herum. Ist ja auch echt ein Mordsunternehmen, so ein Zwei-Zentner-Schwein zu verarbeiten. Also Schussbolzen angesetzt. Knall, quiek, bumm. Da liegt es. Alle Mann packen an und hängen das Tier kopfunter an die Leiter. Wanne unters Tier stellen, aufschlitzen, alles Blut fließt hinein. Daraus wird Blutwurst gekocht. Schon zum Frühstück gibt es die ersten frischen Schnitzel und das erste Mett. Solch einen frischen Geschmack kenne ich nur aus diesen Tagen.

Die ganze Familie ist bis zum Abend beschäftigt, die riesigen Fleischmengen zu verarbeiten. Unter anderem zu allen Formen von Würsten, die abends im großen Waschkessel schwimmen. Aus diesem Sud kocht Tante Rosi eine Wurstsuppe mit hohem Fettgehalt und verteilt das, was sie nicht einfriert, an Nachbarn, Freunde und Verwandte.

Cousin Frank soll zwei Blechkannen Wurstsuppe zu Onkel Heinz und Opa Willy bringen, die wohnen 300 Meter entfernt auf der LPG. Und da geschieht’s: Die Fahrrinnen der Genossenschaft sind schlammig, Frank schlägt hin, die Kannen knallen auf den Boden, die Deckel fliegen ab, und er landet mit der Hand in einer der Blechkannen bei der schweineheißen Wurstsuppe, die sich dann irgendwie auch über die andere Hand ergießt. Jetzt ist er die arme Sau. Die nächsten zwei Wochen rennt er mit verbundenen Händen rum. Gibt zum Glück keine bleibenden Schäden. Aber jede Menge Spott.