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Das Neue Berlin –
eine Marke der Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage
ISBN E-Book 978-3-360-50180-6
ISBN Print 978-3-360-01375-0
1. Auflage 2021
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Die Feierlichkeiten zum Jahrestag der deutschen Einheit ließen, trotz einiger Zwischentöne, keinen Zweifel: »Wir Deutschen sind ein Volk!« Doch 30 Jahre, nachdem über Nacht aus der sozialen Losung »Wir sind das Volk« die nationale »Wir sind ein Volk« geworden war, scheinen wir kaum einen Schritt weiter zu sein. Matthias Krauß stellt die notwendigen Fragen. Sind Ost- und Westdeutsche wirklich ein Volk? Werden wir so regiert, dass ein Einheitsgefühl entstehen kann? Kann man von Gleichheit vor dem Gesetz sprechen? Lassen sich kulturelle Entwicklungen zu einer inneren Einheit erkennen? Diese Fragen haben Anspruch auf eine sachliche Betrachtung. Der Autor zeigt, wie schwierig es ist, von der Einheit der Deutschen zu reden, wenn die Gesellschaft insgesamt auf Ungleichheit beruht.
Matthias Krauß, geboren 1960 in Hennigsdorf, studierte an der Leipziger Karl-Marx-Universität Journalistik und arbeitete bis 1989 als Redakteur der Märkischen Volksstimme Potsdam. Seit 1990 ist er als freier Journalist für verschiedene Blätter und Agenturen tätig sowie als Buchautor. Zuletzt erschienen: »Wem nützt die ›Aufarbeitung‹? – Die institutionalisierte Abrechnung« (2016), »Die große Freiheit ist es nicht geworden. Was sich für die Ostdeutschen seit der Wende verschlechtert hat« (2019).
König Claudius: »Doch nun, mein Vetter Hamlet und mein Sohn …«
Hamlet: »Mehr als befreundet, weniger als Freund.«
William Shakespeare, »Hamlet, Prinz von Dänemark«
»Wir sind ein Volk, ein Volk«
Theodor Herzl, »Der Judenstaat«
Vorwort
Die Deutsche Einheit – ein Zufallsprodukt?
Kein Empfang – aber viel Abstand
Das Fest zum 30. Jahrestag war ein Schatten seiner selbst
Unter den Augen Draculas
Mein schönstes Wessi-Erlebnis war gleich das erste
Drachenbrut und Drachenblut
Einheitsfeier wird eine Spalter-Show
Albtraum in Leipzig
Dresen-Film setzt den Verlierern der Wende ein Denkmal
Sein Reich war eine Katastrophe
Geschichtlich spricht wenig bis nichts für die deutsche Einheit
Der betonierte Blick auf die Mauer
Alle hatten die Absicht, eine Mauer zu errichten
Der alte Dreh
Kennzeichen dieser Demokratie ist die in ihr herrschende Verantwortungslosigkeit
Die Anstalt
Heruntergewirtschaftet wurde der Osten – in besonderer Weise nach 1990
Das Land blieb in Genossenhand
Der Agrarsektor als letztes DDR-Refugium
»Fuck the EU«
Das Scheitern der europäischen Einheit als Scheitern des Primats einer Doppelmoral
Eine formale Frage
Die nationale Einheit leitet sich nicht aus demokratischen oder diktatorischen Verhältnissen ab
Die Krone der Schöpfung
Eine politische Psychologie des Wessis: Kritische Annäherung an einen unvermeidlichen Zeitgenossen
Traditionelle und eingeübte Irrationalität
Der siebenfach betonierte Russenhass der Westdeutschen
Der Strom versiegte
Mit der Deutschen Einheit ist der Ostdeutsche in den Bereichen Kunst und Journalismus in eine substanzielle Nachteilslage geraten
Bürgerkrieg als angemessene Lösung?
Das Buch »Wohin treibt die Bundesrepublik?« von Karl Jaspers war eine Absage an die deutsche Wiedervereinigung
Biermannwolf auf der Schaukel der Moral
Der Narr und seine Freiheit
Willys Phantomsatz
Katzenjammer im »glücklichsten Volk der Welt«
Die Deutsche Einheit – ein Zufallsprodukt?
»Wahnsinn« »Wahnsinn« »Wahnsinn«
Häufig dokumentierter Volkskommentar zur politischen Wende in der DDR
»Die Einheit ist auf bestem Wege,
von Einigung war nie die Rede.«
aus dem Gedicht »Happy End?«
»Ein Volk, dem einmal eine Revolution
geglückt ist, das ist für die nächsten
hundert Jahre unregierbar geworden.«
Napoleon Bonaparte
»Je größer die Worte, desto eher kann sich Fremdes in ihnen verstecken«, schrieb der Philosoph Ernst Bloch einmal. Er hat diese Erkenntnis auf den Freiheits-Begriff gemünzt, aber der Begriff der Einheit ließe sich hier ebenfalls zuordnen. Wie auch »Freiheit« scheint dass Schlüsselwort »Einheit« in erster Linie positiv besetzt, es verbinden sich zumeist angenehme Vorstellungen damit. Das ist in der Geschichte fleißig ausgebeutet worden, und zwar von allen nur denkbaren Seiten. »Nimmer wird das Reich zerstöret, wenn ihr einig seid und treu« – diese Kriegspropaganda-Parole aus dem kaiserlichen Deutschland ließen die Nazis 1933 auf ihre Wahlplakate drucken. Die Einigkeit hat viel für sich und gibt auch was her: Einheitswert, Einheitsfront, Einheitspartei und nun eben auch die Deutsche Einheit.
Dieser Tage macht sie in besonderem Maße von sich reden, die staatliche Einheit der Deutschen ist Tatsache und ein Feiergrund. Am 3. Oktober 2020 wurde sie 30 Jahre alt, der nationale Budenzauber muss darum – Corona hin oder her – ein besonders gewaltiger sein. Im Zentrum stehen die 1990 aufgenommenen Bilder vom Tanz auf der Mauer wie auf den Wällen einer eroberten Festung. Und es war dieses Wort, das den erschütternden Vorgang auf seinen Punkt brachte: »Wahnsinn!«
Die politische Wende, die 1989/90 Europa heimsuchte, hat in erster Linie neue Grenzen geschaffen und nicht etwa alte beseitigt. Neue Staatsgrenzen erhoben sich zwischen Tschechien und der Slowakei, zwischen den Nachfolgestaaten Jugoslawiens, zwischen den einstigen Sowjetrepubliken. Dieser schwerwiegende Umstand spielt in der deutschen Debatte so gut wie keine Rolle, weil Deutschland selbst die Ausnahme von der Regel war: Hier ist in der Tat eine Staatsgrenze gefallen, mit großem Getöse und gewaltigem Vorschusslorbeer. Dass die Deutschen deshalb »das glücklichste Volk« unter allen anderen seien, wurde von einem Berliner Lokalpolitiker behauptet. Lässt sich das mit Blick auf die Ereignisse in den vergangenen 30 Jahren aufrechthalten? Haben diese Jahre diese Annahme bestätigt? Oder verhält es sich nicht vielmehr so, dass auch heute noch Misstrauen und Reserviertheit dominieren, dass die Sprache im Osten wie im Westen eine andere ist oder Schlüsselbegriffe in einem anderen Sinn gebraucht werden? Warum etwa verfangen in Ostdeutschland Inhalt und Sprache des westdominierten politischen Journalismus nach wie vor wenig und stoßen oft weder auf Gehör noch auf Glauben? Warum fühlen sich Ostdeutsche nach wie vor bei Ostdeutschen wohler und vor allem: sicherer? Und warum sind diese Differenzen in den arrivierten Schichten, in der Politik, unter den Ärzten oder in der Beamtenschaft nicht vorhanden oder jedenfalls viel weniger ausgeprägt? Weil sie die besseren oder klügeren Deutschen sind? Oder weil das Sein (der Geld-Schein) eben auch hier das Bewusstsein bestimmt?
Natürlich hat der einzelne Mensch auch auf die Entwicklung hin zur staatlichen Einheit der Deutschen keinen oder nur einen minimalen Einfluss gehabt, er wird vom Orkan der Geschichte hin und her gewirbelt und kann froh sein, wenn ihm gelingt, die Nase halbwegs aus dem Wasser zu halten. Ihm bleibt, die Dinge hinzunehmen, sie um Weniges zu beeinflussen und das Beste daraus zu machen.
Mit rasender Geschwindigkeit zuweilen ändert der Zug der Zeit seine Destination. Als im Sommer 1989 in der DDR die Umwälzungen begannen, war von einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten überhaupt keine Rede. Ein knappes Jahr später schien das der einzige Inhalt des gesamten Vorgangs gewesen zu sein. Und auch in Westdeutschland verhielt es sich kaum anders. Eine deutsche Einheit war längst außer Betracht, man schaue bloß auf den 1. August 1989. An diesem Tage gab der Springer-Konzern bekannt, künftig auf die relativierenden, ironisierenden, distanzierenden (oder wie auch immer) Anführungsstriche um die Angabe DDR verzichten zu wollen. Vierzig Jahre lang hatte es für die Druckerzeugnisse dieses Konzerns nur die »DDR« gegeben, und nun die DDR. Das kann nicht anders denn als Anerkennung verstanden werden. Mit Blick auf die späteren Ereignisse wurde dies die faktische Anerkennung durch ihren größten medialen Gegner »im letzten, schlechten, leeren Augenblick«, um es mit Goethe zu sagen. Aber zugegeben – dass es dieser Augenblick war, wusste zu diesem Zeitpunkt niemand, weder in Ost noch in West. Die Redaktionsleitung muss sich danach vor Wut in den Hintern gebissen haben. Wie gern wohl würde die Bild-Zeitung heute sagen können: »Seht, niemals haben wir dieses Gebilde anerkannt, und die Geschichte gab uns recht.«
So stand Springer doch etwas bedeppert da. (Witze auf ihre Kosten mögen unserer westdeutschen Mitbürger eher nicht, während die Ossis hier zwangsläufig gut trainiert sind.) Wenige Monate später beschloss die Volkskammer mehrheitlich den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der BRD, und es ist müßig oder nur noch historisch interessant zu fragen, inwieweit die Wähler dieses Parlaments mit ihrer Stimme für die Parteien auch dem Ende der DDR zugestimmt haben. Eine Volksabstimmung gab es nicht, gleichwohl hat die Wahl jenen Parteien das Heft des Handelns in die Hand gedrückt, die im Wahlkampf eine rasche Vereinigung beider Staaten befürwortet hatten. Die meisten Ostdeutschen stellten sich damals nicht in den Weg; an einen Fortbestand der DDR glaubten zu den Zeitpunkt wohl selbst die meisten Anhänger der SED-Nachfolgepartei PDS nicht mehr. Dass in den Monaten und Jahren danach Millionen ganz anders dachten und aus diesem Grund nur sehr selten mediale Aufmerksamkeit erhielten, steht auf einem anderen Blatt. Aber dieses Blatt ist von Belang für die Frage, inwiefern die innere Einheit vollzogen wurde.
Die damals siegreiche AfD (»Allianz für Deutschland«) setzte im Wahlkampf zweifellos auf die Wiedervereinigung, doch konnte man das in dieser Zeit wirklich ernst nehmen? An den Gedanken musste sich eine ganze Nation erst einmal gewöhnen. Es bleibt umstritten, ob dieser Nacht-und-Nebel-Beschluss der Volkskammer zum Beitritt der neuen Länder nach Artikel 23 des GG dem Willen der Mehrheit entsprach, aber Passivität ist ja auch eine Art politische Bekundung. Geschichtliche Umbrüche wurden meistens von entschlossenen Minderheiten gegen eine zuschauende, eher ratlose Mehrheit durchgesetzt. Die Dinge in der DDR änderten sich damals von Woche zu Woche. An den Umfrageergebnissen kann man diese Entwicklung verfolgen. Zunächst war eine Mehrheit der DDR-Bürger für die Fortexistenz des Staates. Der Aufruf »Für unser Land« erhielt rund 1,17 Millionen Unterschriften, so viele, wie niemals zuvor oder danach eine Petition in Ostdeutschland erhalten hatte. Das kippte mit dem Jahreswechsel 1989/90. Aus »Wir sind das Volk« wurde »Wir sind ein Volk«. Es mag hier eine Rolle gespielt haben, dass auch der gutwillige DDR-Bürger keine Grundlage für die Fortexistenz einer wie auch immer gearteten demokratischen DDR noch erkennen konnte. Womit er vermutlich richtig lag. Es ist aber auch so, dass ihm hier Dinge vorgespiegelt wurden, die nicht real waren, doch die Stimmung enorm beeinflussten und den Zug zur staatlichen Einheit antrieben. Im Zentrum standen dabei die Panikzahlen zur angeblichen Verschuldung der DDR, die, wie wir heute wissen, den realen Schuldenstand dieses Staates einfach mal verdreifachten. In den Sommermonaten zuvor hatte bereits die Flucht einiger Hundert oder einiger Tausend DDR-Bürger über Ungarn die Stimmung gestaltet. Ungarn verstieß, indem es die Grenzen öffnete, gegen seine Abkommen mit der DDR, und das offenkundig konzertiert mit der Bundesrepublik. Mag es auch lange her sein: Ob die Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands auf Lügen, Vertragsbruch und Bestechung basierte oder nicht, sollte schon betrachtet werden. Ereignisse in Gründungsphasen sind keineswegs unbeachtlich, obwohl es gern so scheint. Diese Dinge haben meist langfristig eine Wirkung.
Genug, man legte den Hebel um, und da liegt er heute noch. Es war die Stunde des Rollback, der Zipfel vom Mantel der Geschichte wurde ergriffen. Und wiederum gar nicht so überraschend. Die DDR-Volkswirtschaft starrte dem Ruin in die Pupille, nicht so sehr, weil sie selbst wenig leistungsfähig gewesen wäre, mehr schon, weil es die herkömmlichen Bedingungen in den »Bruderländern« nicht mehr gab. Oder genauer: Weil die traditionellen Kunden in Osteuropa keine mehr waren. Die vorgeschaltete Währungsunion hat die DDR über Nacht um 75 Prozent ihres Außenhandels beraubt, denn nun mussten die ostdeutschen Betriebe Valuta, Devisen, eben Westgeld für ihre Waren verlangen, und dazu war Osteuropa nicht imstande. Die staatliche Einheit der Deutschen begann – das wissen wir heute, damals wussten es die Menschen nicht – mit der Zerstörung einer Wirtschaft, wie es das in dem Ausmaß seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben hatte. Und wie – Corona lässt eine Ahnung davon aufscheinen – würde es im heutigen Deutschland aussehen, wenn binnen kürzester Zeit zwei Drittel des Außenhandels wegbrächen?
Die staatliche Einheit wurde vollzogen zu Bedingungen, die der stärkere Teil diktierte. So gesehen sind wir natürlich »ein Volk«, die Gesetze der Bundesrepublik galten von da an auch für den Osten Deutschlands, der Geltungsbereich des Grundgesetzes wurde auf die neuen Bundesländer ausgedehnt. Wehe den Besiegten? Sicher wäre das zu einfach, das Bild ist widersprüchlich. Dass der dann einsetzende Vorgang seinen Preis hatte, der vom einen Ostdeutschen zu zahlen war, vom anderen nicht so sehr, ist auch eine Binsenweisheit. Zweifellos leben im Osten viele Menschen, denen es heute materiell gut geht, die Vermögen angehäuft haben, ihren Kindern ordentlich was vererben und/oder staatliche Versorgungssysteme zum eigenen Nutzen anzapfen können. Wie viel dennoch seinerzeit daneben ging und was aus hochfliegenden Plänen wurde, habe ich in meinem Buch »Die große Freiheit ist es nicht geworden« (2019) dargelegt. Von wie vielen positiven Dingen sich die DDR-Bürger im Zuge der Wende verabschieden mussten, darüber handelte davor schon mein Buch »Die Partei hatte manchmal Recht« (2009). Und inwieweit diese Menschen heute einer geistig-ideologischen Bearbeitung ausgesetzt sind, die ihnen ein offiziell genehmes Welt- und Geschichtsbild aufdrängen will, habe ich in »Wem nützt die Aufarbeitung?« (2016) selbst einmal aufgearbeitet.
Wir Ostdeutschen kamen aus der sozialistischen DDR in die kapitalistische BRD, wo eine vergleichsweise stabile bürgerliche Demokratie seit vier Jahrzehnten funktionierte. Wo die einen alles besitzen und die anderen nichts. Wo die einen Rechte genießen und Privilegien und die anderen das nicht können. Wo die einen die Kassen füllen müssen und die anderen sie plündern dürfen. Sind wir vor dem Hintergrund der Realitäten tatsächlich ein Volk? Können wir das überhaupt sein? Es wäre also neben dem Ost-West-Verhältnis auch das zwischen Oben und Unten zu untersuchen. Was würde eine sachliche Betrachtung und Bewertung der wiederhergestellten staatlichen deutschen Einheit erfordern? Zunächst müsste man die Fragen beantworten: Wem nützt sie? Wem dient sie? Wozu dient sie? Wie weit geht sie?
Aus diesen Grundfragen ergibt sich ein ganzer Katalog:
Welche geschichtlichen Voraussetzungen unterstützen den Gedanken einer deutschen Einheit? Welche nicht?
Liegen wirtschaftliche Gegebenheiten vor, die von einer Einheit der Deutschen sprechen lassen?
Belegen die politischen Karrieren von Angela Merkel und Joachim Gauck oder die TV-Karrieren von Susanne Daubner, Jens Riewa oder Kristin Otto, dass den Ostdeutschen im heutigen Deutschland alle Türen offenstehen? Oder handelt es sich um Ausnahmeerscheinungen und letztlich nur um den kontrollierenden Griff zum Gesicht, ob die Maske auch gut sitze? Haben Ostdeutsche und ihre Kinder ähnlich gute Aufstiegschancen? Oder muss man dem Historiker Jürgen Angelow recht geben, der in seinem Buch »Entsorgt und ausgeblendet« nachwies, dass die Karriereaussichten Ostdeutscher sogar im Osten schlechter sind, immer schlechter werden und sich dieser Nachteil auf die nachfolgende Generation vererbt?
Gewähren die realen Machtbeziehungen im Land eine Gleichberechtigung, die eine wirkliche Einheit ermöglicht?
Ist die soziale Situation Anlass, die Deutsche Einheit zu feiern?
Welche Mentalitäten bilden sich auf diesen Grundlagen, in welche Richtung prägen sie sich weiter aus, was hat das mit innerer Einheit zu tun?
Ist die Einstellung der Deutschen zu europäischen Nachbarn gleich oder auch nur ähnlich? Was gilt an dieser Stelle für die Haltung gegenüber den Großmächten?
Gibt es den halbwegs gemeinsamen Blick auf die Vergangenheit, gar auf die jüngste Vergangenheit? Lässt der Umgang mit ihr Versöhnung zu, oder ist sogar das Gegenteil wahr?
Werden wir so regiert, dass ein Einheitsgefühl entstehen oder bestimmend sein kann?
Lässt sich von Gleichheit vor dem Gesetz, vor dem Recht sprechen?
Sind kulturelle Entwicklungen gegeben, die zu einer inneren Einheit weisen?
Dies vorweg: Nicht jede der aufgeworfenen Fragen kann dieses Buch erschöpfend beantworten. Wenn man aber den Versuch ernsthaft unternimmt, bleibt von der Feierlaune nicht mehr viel übrig.
Das Fest zum 30. Jahrestag war ein Schatten seiner selbst
»Zweifel ist kein angenehmer Zustand.
Gewissheit aber ein lächerlicher.«
Voltaire
Der 3. Oktober 2020 ging als kräftiger Morgen über Potsdam auf. Eine leicht vernebelte Sonne beleuchtete Gerechte und Ungerechte in einer Stadt, die die Ehre hatte, das große Fest zum 30. Jahrestag der Deutschen Einheit auszurichten.
»Ja, mach nur einen Plan. / Sei nur ein großes Licht. / Und mach dann noch ’nen zweiten Plan / Gehn tun sie beide nicht«, heißt es in Brechts »Dreigroschenoper«. Was als rauschendes Fest auf allen Zentrumsstraßen Potsdams vorgesehen war, geriet – bedingt durch die Corona-Schutzmaßnahmen – zu einem Schatten seiner selbst. Rasch hatten die Verantwortlichen eine »EinheitsExpo« erfunden, mit Schaukästen in der ganzen Stadt verteilt. Einheitsfeier im Glasboxformat sozusagen. Ein Radiosender fühlte sich an eine »Reisemesse« erinnert. Vier Wochen vor dem 3. Oktober wurde diese Expo eröffnet mit dem Ziel räumlicher und zeitlicher Entzerrung.
An diesem 3. Oktober, also am Feiertag selbst, galt im Potsdamer Stadtzentrum die Maskenpflicht im öffentlichen Bereich, auch unter freiem Himmel. Die meisten Besucher hielten sich daran. Nur 130 Personen durften den zentralen, den ökumenischen Gottesdienst in der katholischen Peter-und-Paul-Kirche besuchen. Nicht 3000 Ehrengäste, sondern lediglich 230 nahmen dann an der großen Feierzeremonie, am Staatsakt in der Metropolis-Halle neben dem Babelsberger Filmgelände teil. Die Einladungen beschränkten sich auf den engsten Regierungs- und Parlamentskreis. Normalerweise wäre der ganze Bundestag unter den Angefragten gewesen, nun bekamen lediglich die Fraktionsvorsitzenden eine Zutrittsgenehmigung. Allein die Spitzen der allerhöchsten Bundesbehörden wurden um die Teilnahme gebeten, das sonst übliche Gefolge musste zu Hause bleiben. Dem Protokollchef in der Potsdamer Staatskanzlei war es eine Bemerkung wert, dass nicht einmal Roland Jahn, der Chef der Stasi-Unterlagenbehörde, eine Einladung in die Metropolis-Halle erhalten habe. Um überhaupt so etwas wie Volksbeteiligung anzudeuten, sollte jedes Bundesland fünf »Bürgervertreter« entsenden, Menschen, die nach dem Plan der Veranstalter durch ihr Ehrenamt geadelt und daher einer solchen Auszeichnung würdig seien.
Mit dem Song »Startschuss« stimmte Sängerin und Moderatorin Anna Loos die rund 230 Gäste auf den Festakt ein, und zwischen den Reden führten Roland Kaiser (»Alles was Du willst«), MiA. (»Tanz der Moleküle«) und Mark Forster (»Übermorgen«) die Zuhörer musikalisch durch die vorangegangenen drei Jahrzehnte. Auf einer Videowand leuchteten Bilder mit Szenen aus den drei Dekaden auf. Zu sehen: Bundeskanzler Helmut Kohl mit dem sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow, das »Fußball-Sommermärchen« 2006, der »deutsche Papst« Joseph Ratzinger, Kanzler Gerhard Schröder und seine Nachfolgerin Angela Merkel.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zeigte sich überzeugt: »Ja, wir leben heute in dem besten Deutschland, das es jemals gegeben hat.« Sein Aufruf: »Beseitigen wir Missstände, wo sie noch bestehen, hören wir vor allen Dingen uns gegenseitig zu, lernen wir voneinander, egal ob im Osten oder Westen, im Norden oder im Süden.« Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) empfahl beim Festakt, Ostdeutschland auch als Vorbild zu sehen. »Vom Osten kann man viel lernen«, sagte der amtierende Bundesratspräsident. »Eine selbstbewusste Frauenpolitik, Betriebskindergärten oder Polikliniken als Gesundheitszentren sind nur einige wenige Beispiele.« Bundeskanzlerin Angela Merkel tat, was sie immer tut, sie mahnte: »Wir wissen, wir müssen heute wieder mutig sein«, sagte sie. »Mutig, neue Wege zu gehen angesichts einer Pandemie, mutig, die noch bestehenden Unterschiede zwischen Ost und West auch wirklich zu überwinden, aber auch mutig, den Zusammenhalt unserer ganzen Gesellschaft immer wieder einzufordern und dafür zu arbeiten.« Es seien mutige Menschen in der DDR gewesen, die die »friedliche Revolution« 1989 in Gang gesetzt haben. Ebenso die Westdeutschen, als sie sich auf den Weg der Einheit einließen. Und Deutschlands Partner, indem sie Deutschland vertrauten. Über altbackene Reden dieser Art hinaus unterschied sich die Feier von den vorangegangenen tatsächlich dadurch, dass die nachdenklichen Passagen etwas länger waren. Unter den Umständen der Pandemie lassen sich allzu schlichte Arien vom Kampf zum Sieg, von Nacht zum Lichte nicht unbefangen anstimmen.
Einen Empfang für die auf einen winzigen Rest zusammengeschmolzene Gästeschar gab es nicht. Der dafür eigentlich vorgesehene Bereich der riesigen Hallen musste als Corona-gerechter Aufenthaltsraum für die auftretenden Künstler dienen. Mit anderen Worten: Alles war einfach nur Sparflamme, Einschränkung, Abriegelung. In vielem: ein Krampf.
Aber vielleicht auch ein Sinnbild.
Mein schönstes Wessi-Erlebnis war gleich das erste
»(…) todsicher machte er sich über die bemerkenswerte Auffassung dieses komischen Volkes Gedanken, das angeblich das seine sein sollte«.
Jurek Becker, »Jakob der Lügner«
Ich habe die Weltminute verschlafen. So bleibt mir nur neidisches Zuhören, wenn sich Akteure und Beteiligte jener Tage des Septembers und Oktobers 1989 erinnern, als in Leipzig, Dresden, Berlin das Eis brach. Das hab ich alles verpasst, und wo bloß hätte man diesen politischen Herbststurm tiefer verschlafen können als in Rumänien?
Vom blutigen Taumel, der wenige Wochen später dieses Land mit sich reißen sollte, war nichts zu ahnen – alles sah nach »1000 Jahre Ceaușescu« aus, als Turnerfreund Lars und ich Anfang Oktober in DDR-Tramper-Manier zu zweit das Făgăraș-Gebirge durchstiefelten. Auf den Kämmen lag der erste Schnee, es war nasskalt, und die Herren der Berghütten, der Cabañas, ließen sich nur mit ungemahlenem, also garantiert ungestrecktem Rondo-Kaffee oder Pfeffertütchen überreden, ein paar Kohlen in den Ofen zu werfen. Kaffee und Pfeffer hatten wir ausreichend in der »Kraxe«; sie bildeten die harte Währung im sozialistischen Rumänien dieser Tage. Die Leute konnten sich damit zum Beispiel eine Betäubungsspritze beim Zahnarzt erkaufen. Oder den Lehrer dazu bewegen, das Kind in einer der vorderen Reihen zu platzieren, damit es tatsächlich unterrichtet werde. An Kaffee und Pfeffer herrschte in der DDR kein Mangel, das kam uns auf dem Balkan immer zustatten.
Gemeinsam mit Lars wanderte ich also durch den Karpaten-Ausläufer, mit wildgewachsenem Bart, durchnässten Schuhen und ausgebeulter hellblauer Trainingshose (»Sporett zieht sportlich an«). Bevor wir uns in die Berge aufmachten, hatten wir bei Bekannten in Brașov gewohnt, dem früheren Kronstadt, wo da schon niemand mehr ein Wort Deutsch verstand außer der Großmutter. Nachts schlichen wir zu Freunden unserer Freunde; die Staatsorgane mochten nicht dulden, dass Ausländer privat unterkommen – der Staat bzw. seine Hotels sollten Geschäft machen. Dort, in der Illegalität sozusagen, nahmen wir einmal teil am üblichen Fernsehabend. Der dauerte immer nur zwei Stunden, weil der Sender aufgrund der Energiepolitik nicht länger ausstrahlen durfte. Nach der gewohnt-ermutigenden Ansprache des Präsidenten sahen wir den DDR-Lustspielfilm »Hallo Taxi« mit rumänischen Untertiteln. Unsere Gesellschaft muss selbst ein komisches Bild abgegeben haben unter dem Kronleuchter, in dem eine einzige schwacheLampe glomm: Bei jedem Witz lachten erst wir über die Pointen, und ein paar Sekunden später die Rumänen, weil sie sich die Untertitel erst noch durchlesen mussten.
Ein paar Tage später stapften wir durch bunte Wälder. Ein streunender Hund hatte sich uns angeschlossen, der die Wurstkonservenbüchsen ausleckte und dankbar für jeden Brotkanten war.
Unser Ziel hieß Bran, die berühmte historische Dracula-Burg. Sie enttäuschte aber. Der kindisch dargebotene Horror des originalen Dracula konnte in Ceaușescus eigenem Land nicht so recht erschrecken, und japanische Touristen vor Ort verschärfen den Grusel auch nicht unbedingt. Wir durchstiegen ein wenig die unbeheizten Gänge der, man würde heute sagen: Fantasy-Anlage. Bemerkten durchaus, wie vieles hier rekonstruiert und baulich in Schuss war. Dann aber, während wir im Burgvorhof vor einigen Buden lungerten, in denen gelangweilte Verkäuferinnen in dicken feuchten Wattejacken Volkskunst feilboten, geschah es. Vor der Burg des blutrünstigen Grafen im nasskalten Wind hatte ich mein erstes, mein Schlüsselerlebnis mit Menschen, von denen ich erst später erfuhr, dass man sie Wessis nennt.
Da rauschte ein Reisebus aus Aachen vor – in die Tristesse hinein wie ein UFO. Funkelnd die Farbe, blitzend das Chrom, sanft schnurrend der Motor. Die Tür, nein: Sesam öffnete sich, automatisch und leise, entließ zwei Dutzend Touristen, die sich in den wilden Osten gewagt hatten. Und da war diese Familie, wie entsprungen aus der Werbung. Die Frau und Mutter hielt ihren gebräunten Teint genießerisch in die Luft, die sie vermutlich als angenehm frisch empfand. Zwei allerliebst blonde Kinder, was sag ich: Engel, kunterbunt angezogen, tollten respektlos heraus und herum. Er, der Familienvater, suchte gemessen einen Ort, um das ganze mit der Videokamera festzuhalten. Wir standen wie erstarrt in unseren Lumpen, regelrecht sprachlos zunächst, als sich ein Herr aus der Reisegesellschaft gebrochen erkundigte, ob wir Deutsch verstehen. Ja, nein, sicher doch, also gelegentlich verständigen wir uns in dieser Sprache. »Ach, aus der DDR sind Sie! Na da können Sie doch jetzt nach Wien.« Wie bitte? »Wissen Sie denn nicht, dass die Ungarn die Grenze aufgemacht haben?« Ratlos starrten wir den Aachener Herrn an. »Ja, der Weg ist frei.«
Das war überfallartig, aber es bereitete uns immerhin vor. Der Schaffner im Zug nach Budapest, der uns ungefragt den Weg zu den Wiener Taxis wies, brachte uns nicht in Verlegenheit. Bei Freunden im nordungarischen Lábatlan sahen wir dann im Fernsehen die unglaublichen Bilder aus Leipzig. Wir wunderten uns bloß bei der Rückfahrt in Prag noch etwas, weit und breit keinen DDR-Touristen zu sehen. Denn dass inzwischen niemand aus der DDR in die ČSSR einreisen durfte, erfuhren wir wiederum erst in Dresden, wo wir einen sonst völlig leeren Zug verließen. »Vopo schlägt. Honecker lacht. Wie lange noch«, titelte die Bild-Zeitung, die wir am 9. Oktober in Budapest gekauft hatten.
Das alles lag noch vor uns, als der freundliche Herr aus Aachen vor dem Horst des schrecklichen Grafen die Einreise in den goldenen Westen anpries. Doch waren wir – warum eigentlich? – nicht so leicht zu überreden. Wir suchten nach Einwänden, die auch einen Aachener überzeugen könnten. Lars fand einen. Er sei promovierter Indologe, verriet er dem Mann aus dem Westen. Da werde es vermutlich äußerst kompliziert, in der Bundesrepublik eine adäquate Arbeit zu finden. Und dann kam, was ich unbedingt mein erstes Wessi-Erlebnis nenne. Der Aachener kannte sich offenbar aus und bestätigte, dass für DDR-Indienwissenschaftler die Arbeitsmöglichkeiten in der Bundesrepublik nicht reichlich gesät sind. »Aber wenn Sie aus der DDR kommen, dann haben Sie doch einen Beruf«, gab er zu bedenken. Lars: »Ja, ich bin Chemiefacharbeiter.« Der Wessi, glücklich: »Na, dann kommen Sie doch als Chemiefacharbeiter.«
Seither sind viele Jahre vergangen, und wir sind nicht mehr so empfindlich. Die Westberliner, die von mir Bedauern einfordern, weil sie seinerzeit doch vor einem Besuch im Ostteil der Stadt 25 Mark bezahlen mussten, ich ertrage sie inzwischen. Und versuche nicht mehr, ihnen zu erklären, dass wir damals 500 Mark bezahlt hätten (und zwar wirklich bezahlt und nicht, wie sie, umgetauscht), um mal einen Nachmittag durch Westberlin gehen zu können. Das ist der deutsche Teil der Geschichte. Zu unseren Freunden in Rumänien, mit denen wir die Securitate ausgetrickst hatten, halten wir keine Verbindung mehr. Unsere Freunde in Ungarn haben wir seither nicht wieder besucht. Wenn wir heute die Welt durchmessen, und zwar die andere Seite, dann müssen wir uns den Einheimischen nicht wieder so nähern, so von gleich zu gleich. Wir sitzen mit im Aachener Reisebus.
Der Epilog zu jenem Nachmittag vor der Burg des Blutsaugers, wo unser freundlicher Landsmann so ganz selbstverständlich den Doktor der Indienwissenschaft als Chemiefacharbeiter anheuern wollte, ist übrigens recht durchschnittlich. Lars wurde natürlich arbeitslos. Dass er in die DDR zurückkehrte, deren Tage damals schon gezählt waren, hat ihm nichts genützt. Heute hätte er wohl nicht einmal als Chemiefacharbeiter in den alten Ländern eine Chance. Und insofern möchte ich dem Herrn aus Aachen gegenüber sogar Abbitte leisten. Ja, eben – hat er nicht alles nur vorausgesehen?