Die Originalausgabe von «The World of Sex» veröffentlichte Ben Abramson, The Argus Bookshop, Chicago, im Jahre 1940. Die revidierte Fassung kam 1959 im Verlag Olympia Press, Paris, heraus.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2020
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«The World of Sex» Copyright © 1940, 1959 by Henry Miller
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ISBN 978-3-644-00663-8
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
ISBN 978-3-644-00663-8
Zuerst veröffentlicht in Max and the White Phagocytes, Obelisk Press, Paris 1938
Siehe Hinweise auf diese und andere «nicht dazu gehörige Stellen» in Big Sur und die Orangen des Hieronymus Bosch (Rowohlt Verlag, Hamburg 1958)
«Dieu est le grand solitaire qui ne parle qu'aux solitaires et qui ne fait participer à sa puissance, à sa sagesse, à sa félicité que ceux qui participent, en quelque manière, à son éternelle solitude.» Léon Bloy
Caliban parle von Jean Guéhenno, Editions Grasset, Paris
Dieses Buch hat im Kanon Henry Millers einen Stellenwert, der ungefähr dem der Apokalypse im Werk des D.H. Lawrence entspricht: es gibt dem Leser den Schlüssel zum Universum Millers. Es ist nicht eben ein Essay und auch keine Kurzgeschichte, doch hat es etwas von beidem – ich möchte es ein Aquarell in Prosa nennen. Im 18. Jahrhundert hätte es wahrscheinlich den Titel Eine Vision von der Natur des Menschen bekommen. In diesem Buch macht der Autor Miller dem Visionär Miller Platz, wiewohl natürlich unser unvergleichlicher Amerikaner selbst bei all seinen Visionen noch seinen charakteristischen Sinn für Humor behält – diese Gabe, die ihn von Lawrence unterscheidet und in die Nähe Rabelais' rückt.
Ich denke, es ist angebracht, die «Botschaft» in Millers Werk zu erörtern, um herauszustellen, wie sehr sie jener Botschaft gleicht, die der gute Doktor Rabelais in seiner Vision von der Abtei Thélème uns hinterließ - jener idealen Welt, in der der Mensch sein ungeschmälertes Erbe antreten kann. Für Miller ist das Wort «Sexus» dasselbe wie für Rabelais «la Dive Bouteille». Er setzt es für alles, was unsere Kultur, unsere Methode des Selbst-Erkennens speist. Die moderne Zivilisation löst den Menschen aus seinem Boden, trennt ihn von seinen Wurzeln und läuft so Gefahr, die Gans zu töten, die das goldene Ei der Selbst-Bewußtheit, des Selbst-Begreifens legt. Millers ganzer langer Kampf inmitten der sogenannten Obszönitäten war ein Versuch, die Berührung mit dem Boden wiederherzustellen, das zu finden, war er den «prä-adamitischen» Menschen nennt – die verlorene Unschuld wiederzufinden, die dem Menschen vermutlich entglitt, als sich die Pforten von Eden hinter ihm schlossen. Um dies zu erreichen, hielt er es für notwendig, das Tabu ans Licht zu heben, das die menschliche Psyche deformiert und entstellt hat – ein Tabu, das die sexuellen Beziehungen bestimmte. Die Heftigkeit und das zornige Ungestüm seiner Attacke mußten schon ihrem Wesen nach viele Leute beleidigen, die nicht die Absicht erfaßten, welche dahinterstand; das liegt in der Natur der Dinge. Doch jene, die ihn mit ganz offenen Augen lasen, konnten mühelos erkennen, daß eine befruchtende und befreiende Gewalt von seinem Werk ausging. Es war keine Zertrümmerung um der Zertrümmerung willen. Es war ein Versuch, der Psyche des Menschen die ihr eigenen Kräfte zurückzugeben - die Kräfte der Selbst-Erkenntnis. Für Miller steht am Anfang und Ende der psychischen Erkenntnis die sexuelle. Er möchte die Schrecken bannen, die den Menschen daran hindern, zu seiner vollen Größe emporzuwachsen. Als Künstler vermochte er das am besten dadurch zuwege zu bringen, daß er seine eigenen Wurzeln aufspürte, daß er auf den Grund seiner eigenen psychischen Dissonanz tauchte. Seine Autobiographie stellt daher eine lange Suche nach dem prä-adamitischen Menschen in ihm selbst dar. Wenn er uns oft vor den Kopf stößt, uns oft verletzt, so nur deshalb, weil er uns zum Selbst-Verstehen aufrufen will, weil er uns zu unserer Reife drängen möchte.
In der Welt unserer Zeit, in der der Mensch in zunehmendem Maß eine soziologische Gleichung geworden ist, mehr eine Recheneinheit ist denn eine Seele, ist es wichtig, daß der Künstler auf der poetischen Schau der Dinge besteht, darauf besteht, daß wir das Unsterbliche an uns pflegen. In einer Welt steriler Gehirnkonstruktionen und eines so schweren Mißbrauchs der analytischen Fähigkeiten bedürfen wir mehr denn je des Gegengewichts der mystischen Schau. Die psychische Gesundheit des Menschen steht auf dem Spiel.
Dies also lese ich aus Millers Buch; doch ich werde hoffentlich nicht so verstanden, als ob es sich hier um eine wissenschaftliche Arbeit handele, um eine gelehrte Abhandlung – es ist nichts davon. Es ist wie ein Tanz, ein Gedicht in Prosa, in dem sich all seine großen Eigenschaften vereinen: dahinströmende Sprache, Offenheit und sprühendes Gelächter. Dieser große, unanfechtbare Schriftsteller ist sogar noch in seinen Sechzigern ein Schelm, ein Kind. Alle, die seine Eigenschaften lieben, werden sich der Bedeutung dieses Buches nicht verschließen.
Die ursprüngliche Fassung dieses Buches wurde von einem Mann, der jetzt tot ist, als Privatdruck herausgegeben. Wie viele Exemplare gedruckt und verkauft wurden, konnte ich nie feststellen. Das Buch wurde unter dem Ladentisch gehandelt, und über die Anzahl der verkauften Exemplare wurden keine Aufzeichnungen gemacht. Wenigstens habe ich nie eine Aufstellung darüber erhalten.
Seit dem Tode des Verlegers war das Buch vergriffen. Da es nur eine beschränkte Verbreitung gefunden hatte und da wahrscheinlich kein englischer oder amerikanischer Verleger es wieder drucken würde, entschloß ich mich, eine neue Ausgabe in Frankreich herauszubringen, wo alle verbotenen Bücher, die meinen Namen tragen, erschienen sind und noch erscheinen.
Bevor ich es jedoch der Post anvertraute, hielt ich es für ratsam, noch einmal durchzulesen, was ich vor so langer Zeit (1940) geschrieben hatte. Während der Lektüre begann ich (ganz unwillkürlich) Änderungen und Verbesserungen anzubringen, ohne daß ich mir träumen ließ, auf was ich mich da eingelassen hatte. Wenn der Leser die beigegebenen Korrekturseiten aufschlagen will, wird er selbst sehen, mit welcher fast diabolischen Begeisterung ich mich über diese Umarbeitung hergemacht habe.
Als ich mit ihr fast fertig war, kam mir der Gedanke, es möchte vielleicht, besonders für solche Leser, die von der mühseligen Arbeit eines Schriftstellers mehr kennen wollen als den fertigen Text, interessant sein, die beiden Fassungen vergleichen zu können.
Da die neuen und die korrigierten Seiten beträchtlich voneinander abweichen, muß ich auch erwähnen, daß ich noch eine weitere vollständige Revision vornahm, die hier nicht gezeigt wird, von der jedoch die vorgelegte Fassung herstammt. Die bei der zweiten Revision aufgewandte Mühe war noch größer und noch aufregender als die mit dem ersten Versuch verbundene.
Ich möchte auch betonen, daß ich bei der Revision des ursprünglichen Textes nicht die Absicht hatte, den Gedanken zu ändern, sondern ihn klarer hervorzuheben. Ich hoffe, daß ist mir nicht mißlungen.
Die Mehrzahl meiner Leser zerfällt, wie ich oft festgestellt habe, in zwei deutlich unterschiedene Gruppen. Zu der einen gehören jene, die behaupten, durch die reichliche Dosierung sexueller Schilderungen abgestoßen oder angeekelt zu werden, zu der anderen jene, die darüber höchst erfreut sind, daß dieses Element einen so großen Anteil hat. Zu der ersten Gruppe zählen viele, die meine Studien und Essays nicht nur lobenswert, sondern ihrem Geschmack besonders angemessen finden und die sich deshalb nur schwer erklären können, wie ein und derselbe Verfasser so stark voneinander abweichende Werke hervorbringen kann. In der zweiten Gruppe sind manche, die mit meiner sogenannten ernsten Seite höchst unzufrieden sind und denen es daher Spaß macht, alles, was darin zum Vorschein kommt, als dummes Zeug, Quatsch und Mystizismus zu bezeichnen. Nur ein paar einsichtige Seelen können anscheinend die angeblich widerspruchsvollen Seiten eines Menschen in Einklang bringen, der sich bemüht hat, keinen Teil seines Wesens zu unterdrücken.
Andererseits habe ich häufig genug erfahren, daß ein Leser, mit wie heftiger Ablehnung er auch auf mein Werk reagieren mag, mich schließlich von ganzem Herzen akzeptiert, sobald wir uns von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Aus den vielen Begegnungen, die ich mit meinen Lesern gehabt habe, geht hervor, daß Antipathien gegen einen Schriftsteller schnell verschwinden, wenn man ihn persönlich kennenlernt. Wiederholte Erlebnisse dieser Art ließen mich schließlich glauben, daß jeder Widerspruch zwischen dem Menschen und dem Schriftsteller, zwischen dem, was ich bin und dem, was ich tue oder sage, sich auflöst, wenn ich durch das geschriebene Wort die Wahrheit und Aufrichtigkeit meiner Gedanken in vollem Umfang vermitteln kann. Dies ist meiner bescheidenen Meinung nach das höchste Ziel, das sich ein Schriftsteller setzen kann. Dasselbe Ziel – das einigende Band zu finden – liegt allem religiösen Streben zugrunde. Da ich das weiß, bin ich immer ein religiöser Mensch gewesen. Auf die Frage, ob das Sexuelle und das Religiöse im Gegensatz stehen, möchte ich folgende Antwort geben: jedes Element oder jede Seite des Lebens, wie naturnotwendig oder wie fragwürdig sie auch (für uns) sei, ist einer Umwandlung zugänglich und muß unserer Entwicklung und unserem wachsenden Verständnis gemäß durch Verwandlung auf andere Ebenen erhoben werden. Die Bemühung, die «abstoßenden» Seiten des Daseins auszuschalten, was die fixe Idee der Moralisten ist, halte ich nicht nur für töricht, sondern auch für vergeblich. Es mag einem gelingen, häßliche «sündige» Gedanken und Wünsche, Regungen und Triebe zurückzudrängen, aber das Ergebnis ist sichtlich katastrophal. (Es bleibt fast nur die Wahl zwischen dem Heiligen und dem Verbrecher.) Seine Wünsche auszuleben und dadurch unmerklich ihre Natur zu ändern, ist das Ziel eines jeden Menschen, der nach Weiterentwicklung strebt. Aber das Verlangen selbst ist unüberwindlich und unausrottbar, selbst wenn es, wie die Buddhisten es ausdrücken, in sein Gegenteil umschlägt. Es muß einen danach verlangen, sich vom Verlangen zu befreien.
Dieses Thema hat mich immer stark interessiert. In meiner Jugend und noch lange nachher war ich heftigen Trieben ausgesetzt, die gänzlich unbezähmbar waren. In der letzten Zeit bin ich nach intensiver schöpferischer Tätigkeit mehr als je über den Gedankensumpf verblüfft, in dem die unaufhörliche Behandlung des Themas festgefahren ist.
Es war im Jahre 1935, als ich durch einen Freund, einen Okkultisten, das Buch Seraphita in die Hände bekam. Seraphita ist heute noch einer der Gipfel meiner Forschungen im Reich des Denkens. Es ist mehr als ein Buch, es ist eine Erfahrung, die der Autor in Worten verewigte. Von diesem Werk ging ich zum Studium jenes anderen denkwürdigen Balzacschen Werkes über, Louis Lambert, und untersuchte dann Balzacs Leben. Die Ergebnisse dieser Studien kristallisierten sich in der Form einer Abhandlung «Balzac und sein Double»[*]. Bei ihrer Niederschrift löste sich der Konflikt auf, der mich geplagt hatte.
Wenige wissen, wie inbrünstig Balzac mit dem Problem des Engels im Menschen gerungen hat. Ich sage dies, um zu bekennen, daß eben dieses Problem auf eine leicht verschiedene Art mich mein ganzes Leben lang hartnäckig verfolgt hat. In gewissem Sinn glaube ich, daß es jeden schöpferischen Menschen fast bis zur Ausschließlichkeit beschäftigt hat. Ob er es zugibt oder nicht, der Künstler ist von dem Gedanken besessen, die Welt noch einmal zu erschaffen, um die ursprüngliche Unschuld des Menschen wiederherzustellen. Er weiß überdies, daß der Mensch seine Unschuld nur durch Wiedergewinnung seiner Freiheit zurückerlangen kann. Unter Freiheit verstehe ich hier den Tod des Automaten.