Auch wenn das Jahr 1918 für viele Nationen – nicht zuletzt angesichts von 10 Millionen Kriegstoten - zum Schicksalsjahr wurde – für die einen, Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland, als Abschluss eines monarchischen Systems, für andere zum Beginn einer (kurzen) Unabhängigkeit – bleibt die literarische und wissenschaftliche Aufarbeitung relativ spärlich. Daher soll diese Broschüre einige Mosaiksteine zum komplexen Bild dieses Schicksalsjahres beitragen, die über kriegsbezogene Daten und politische Ereignisse hinausgehen.
Als fiktive Rahmengeschichte, die die Dokumente in die Gegenwart
holt, fungiert ein Gesprächskreis in einer Kirchengemeinde, der
regelmäßig über historische, theologische, philosophische,
literarische und künstlerische Themen diskutiert und sich für 2018
den Rückblick auf 1918 vorgenommen hat.
In diese Rahmenerzählung eingefügt sind Originaldokumente aus der Zeit, die von mehreren Generationen kommentiert werden.
In den Schlussbetrachtungen werden Anregungen gegeben, wie die Texte und Dokumente gemeindepädagogisch genutzt werden können
Als erstes traf Susanne Müller ein. Als Leiterin der Gemeindebibliothek war sie immer auf dem neuesten Stand und hatte auch einen Stapel Bücher mitgebracht.
Nach und nach kamen auch die anderen: Zunächst der ehemalige Militärpfarrer Stefan Schulz, der in der Gemeinde als Küster aushalf und sich sehr für die Rolle der Kirche in der Gesellschaft früher und heute interessierte. Ihm folgte Dr. Otto Meyer, pensionierter Arzt und Psychologe, der sich intensiv mit Kriegskindern bzw. Kriegsenkeln und ihren Traumatisierungen befasst hatte.
Als nächste kam der ehemalige Geschichtslehrer und ehrenamtliche Archivar der Gemeinde, Edgar Bürger, der bereits die Reise der Gemeinde im kommenden Herbst in die baltischen Länder organisierte. Zuletzt kam Silke Schmidt durch die Tür, die jüngste im Kreis, Studentin und in der Jugend- und in Flüchtlingsarbeit der Gemeinde engagiert.
Kaum saßen alle, erhob Susanne Müller, die den Kreis initiiert hatte und zumeist auch moderierte, ihre Stimme:
„Da wir uns für dieses Jahr 1918 vorgenommen haben, habe ich einige Bücher herausgesucht, die uns noch weiter motivieren sollen.
Da ist zunächst“ – und sie hob ein Buch vom Stapel – „Daniel Schönpflug, der über „Die Kometenjahre 1918 und die Welt im Aufbruch“ geschrieben hat. Er macht Mut, sich mit Biografien zu befassen, so wie er es mit Käthe Kollwitz oder Virginia Woolf, Rudolf Höß, Walter Gropius und Luise Weiss tut. Er zeichnet auf diese Weise ein Bild davon, wie Menschen unter dem Eindruck epochaler Umwälzungen geformt werden – was unserem Anliegen nahekommt.“
Dann nahm sie ein weiteres Buch vom Stapel:
„Die von Gerhard Hirschfeld und anderen herausgegebene Sammlung 1918. „Die Deutschen zwischen Weltkrieg und Revolution“ versammelt weniger prominente Zeitzeugen Soldaten und Schriftsteller, Politiker und Pfarrer, Schüler und Studenten, die das Ende des Ersten Weltkrieges, den Untergang des deutschen Kaiserreichs und die demokratische Revolution Ende 1918 aus ihrer Sicht schildern.“
Sie griff zu einem dritten Buch:
„Unsere Auffassung von 1918 als einem europäischen Schicksalsjahr findet sich auch im Titel beim ARD-Redakteur Kersten Knipp, der die „Welt (damals) im Taumel“ sieht und die Folgen für Polen, Tschechen, Franzosen und Deutsche aufzeigt, wobei Versailles im Fokus ist. Ebenso sieht es Andreas Platthaus, der vom „Krieg nach dem Krieg“ spricht und Waffenstillstand, Novemberrevolution, Republikgründung, Münchner Räterepublik und Versailles zusammen in den Blick nimmt.Neben Versailles ist für die Journalisten, die sich diesem Jahr widmen, vor allem die gescheiterte Revolution in Deutschland wichtig.“
Mit diesen Worten zog sie ein weiteres Buch aus dem Stapel:
Alexander Gallus hat einige Aufsätze zur Revolution von 1918 versammelt und reißt diese „vergessene Revolution“ aus der Nische ins Bewusstsein – auch motivierend. Von 1918/19. Ein ähnliches Anliegen hat auch Joachim Käppner, der die Revolution als „Aufstand für die Freiheit“ ansieht, deren Potenzial nicht genutzt wurde.
Ich könnte sicherlich noch andere Bücher finden, aber diese zeigen, wie aktuell wir sind.
Fragt sich, welche Aspekte wir uns aussuchen aus der unübersehbaren Fülle.“
Da meldete sich Stefan Schulz zu Wort:
„Ich könnte aufgrund meiner langen Erfahrung die Rolle und Bedeutung von Feldpredigern in beiden Weltkriegen, anhand biografischer Aufzeichnungen aufzeigen“.
Als nächstes bot Dr. Meyer an, in das Thema Traumaverarbeitung durch Inszenierung einzuführen, ausgehend von den Beispielen des deutschen Kaisers im Exil und der russischen Zarenfamilie vor ihrer Ermordung durch Bolschewiki.
Das dritte Angebot kam von Edgar Bürger, der angesichts der bevorstehenden Reise die Situation der baltischen Länder, vor allem Lettlands vor und nach 1918, und die Erinnerungskultur darstellen wollte, die sich auf die erste Unabhängigkeit Lettlands bezieht.
Alle Vorschläge stießen auf große Zustimmung. Silke Schmidt schwieg etwas verlegen.
Dann meinte sie: „Das Thema Revolution erinnert mich an meine Jugendlichen und vor allem an die Geflüchteten, die aus revolutionären Bewegungen Kraft geschöpft haben und das Desaster totalitärer Regime erleben mussten. Ich könnte mir vorstellen, da Querverbindungen zu ziehen.“
„Prima“, äußerten sich alle und Dr. Meyer überlegte laut:
„Eigentlich haben unsere Vorschläge alles etwas mit Resilienz zu tun, mit der Kraft von Menschen, mit Ausnahme- und Extremsituationen zurecht zu kommen. Vielleicht sollten wir diese Fähigkeit als roten Faden nehmen.“
„Das wäre auch mein Vorschlag“ stimmte Susanne Müller zu. „Ich habe beim Zuhören schon mitgeschrieben. Was haltet ihr von diesem Programm:
1. Resilienz durch Transzendenz, also: Glaube im Krieg
2. Resilienz durch Alltagsinszenierung z. B. im Exil
3. Resilienz durch Neubeginn, wie z. B. in Lettland
4. Resilienz durch Widerstand, wie bei den Spartakisten oder bei Jugendlichen.
Ich selbst würde gern den Aspekt „Resilienz durch Interpretation“ als Zusammenfassung übernehmen und ein paar zeitgenössische Kommentare von Ernst Bloch, Thomas Mann, Paul Klee und andern mitbringen.“
Alle stimmten zu und Stefan Schulz legte noch nach:
„Ich könnte nicht nur über einen damaligen Kollegen als Feldprediger berichten, der wie mein Vater 1940-44 in Osteuropa unterwegs war, sondern auch über die Rolle der Kirche nach 1918 – das würde gut als Pendant zu den Revolutionären passen, da meine Brüder auch da noch sehr staatstragend und sogar reaktionär waren, aber auch zu den übrigen Aspekten. Wenn alle einverstanden sind, könnten wir die Treffen gemeinsam bestreiten und zeigen, wie Menschen, Gruppen und Institutionen, wie die Kirche sich im Spannungsfeld zwischen Anpassung und Widerstand balancieren.“
Die Gesprächskreisteilnehmer lächelten und nickten froh über dieses Angebot und so konnten alle zum informellen Teil des Abends übergehen.
Beim Folgetreffen brachte Stefan Schulz einen ganzen Ordner mit Dokumenten mit.
„Ich bin bei meinen Recherchen auf einen Kollegen von meinem Vater und mir aus dem Ersten Weltkrieg gestoßen,1 der in der Südarmee in Südosteuropa als Regimentsgeistlicher tätig war. Er schildert die russische Sommeroffensive, die sie zusammen mit österreichisch-ungarischen Truppen zurückzuschlagen hatten, aber fand immer noch Zeit und Ausgleich an der wunderschönen Landschaft der Karpaten und des Vorlandes mit zahlreichen Flüssen. Das wollte ich euch nicht vorenthalten.“ Und er verteilte die Kopien:
Etwa 80 Klm. südlich der neuen Stellung konnte man bei klarem Wetter deutlich den zackigen Höhenkamm der Waldkarpathen sehen. Ihm von Nordost nach Südwest parallellaufend, fließt der Dniester durch das fruchtbare Galizien. Die zahlreichen Nebenflüsse auf seiner linken Seite haben fast durchweg nord-südlichen Lauf. Bei Halicz mündet die Gnila-Lipa. Etwas nördlich von Halicz bei dem Städtchen Bolszowze nimmt die Gnila-Lipa die Narajowka auf, und diese einige Kilometer nördlich den Sarnkibach.
Der Kollege hatte sogar sich sogar die vielen Dorfnamen in der Gegend eingeprägt, was sicherlich auch für euch sehr beeindruckend ist. Hier ist der Text:
Im Tale dieses Baches liegen die Dörfer Buscow, Kunaszow und Zelibory, hinter welchen unser Frontabschnitt der Narajowka entlang lief von Bolszowze bis Skomorochy-Nowe. Der Divisionsstab lag in Bursztin an der Gnila-Lipa. Zur Front kam man von da aus über Ludwikowka oder Kurostowice, Stasiowowola, Vorwerk Kurow nach Zelibory. In diesem von genannten Orten umschriebenen Bezirk lag die Division von November 1916 bis Ende März 1917. Den Grund für die Muße lieferte mein Kollege gleich mit: Die Gefechtstätigkeit war in der ersten Zeit ganz gering. Auf beiden Seiten hatte man genug zu tun, um die infolge des Regens einstürzenden Gräben wieder einigermaßen in Ordnung zu bringen.
Vielleicht lag es daran, dass die Landschaft ihn und andere immer wieder an die Heimat erinnerte“ – hier begann eine angeregte Unterhaltung zum Thema Heimat und mithilfe einer Landkarte gelang es auch, die Gegend noch genauer vorstellbar zu machen.
Dazwischen schob Stefan Schulz noch einen Text ein: „Lest selbst!“:
Wir lagen ja jetzt nicht mehr in sandiger Ebene wie in Wolhynien, sondern in einem Hügelland, das mich oft an unser Kraichgauer Hügelland erinnerte. Nur der Boden war anders, ganz schwarz und fett. Der Humus lief bis auf zwei Meter hinunter. Unsere Gräben gingen oft durch lauter Humus. Wie oft haben mir meine Kameraden gesagt :
„Herr Pfarrer, wenn wir den Boden daheim hätten, was wollten wir daraus machen! — Kartoffeln wie Kindsköpfe und Maiskolben wie Granaten wollten wir heranziehen“. Der galizische Bauer braucht nicht zu misten, nur zu pflügen und Saat hineinzustecken, es gedeiht alles aufs üppigste. – Aber jetzt war alles unter dem anhaltenden Regen ein riesiger Schlamm geworden. Zehn Gäule brauchte man für ein einziges Geschütz, um in Stellung zu kommen. Unsere Gäule blieben stecken, und Mann und Roß brachten den Dreck überhaupt nicht mehr los. Da hörten alle Kampfhandlungen von selber auf. Denn bei den Russen auf der anderen Seite der Narajowka war es gerade so. Bald kam zwar der Schnee, aber er wurde doch nicht so recht Herr über Dreck und Sumpf.
So war's den ganzen Winter über verhältnismäßig ruhig, und das war unseren Leuten von Herzen zu gönnen nach den heißen wolhynischen Kampftagen.
„Aber er hat sicherlich auch die dunklen Seiten erlebt und beschrieben“, vermutete Dr. Meyer. „Genau. Selbst im vermeintlichen Frieden für einen Augenblick gab es weiterhin den Kampf gegen Kälte und Hunger, wie ihr hier lesen könnt:“
Um so mehr wurden die Stellungen ausgebaut und wohnhaft gemacht. Die Dörfer Kurow, Herbutow und teilweise Kunaszow verschwanden immer mehr, aber weniger unter Artilleriefeuer als unter dem Baueifer der Kameraden, die Balken brauchten für ihre Unterstände, auch hin und wieder ein Fensterlein. Und diese ruthenischen Lehmhäuser hatten wenig Balken. Deshalb war so ein Haus rasch abgetragen. Anfang November steckten noch die meisten Kartoffeln im Boden; die Bewohner waren ja aus dem Kampfgebiet entfernt und weiter rückwärts untergebracht. Die guten Kartoffeln ließen aber die Truppenkommandeure nicht stecken, sondern jedes Regiment stellte Kartoffelkommandos, welche die feinen Wintervorräte in gewaltigen Mieten bargen. Auch viel Mais wurde noch eingeerntet, was unseren angestrengten Pferden sehr zugute kam. Wir haben diesen Narajowka-Winter alle in guter Erinnerung.
„Dennoch nahmen er und andere das erstaunlich humorvoll. Das war für die Gesprächskreis-teilnehmer das Stichwort für eine kontroverse Diskussion über die beiden Fragen, in welcher Weise Humor und Resilienz zusammengehören? und welche Rolle der Glaube dabei spielt?
Wieder hatte Stefan Schulz noch einen weiteren Text parat, der diese Diskussion vertiefte:
„Was Wunder, dass ein dichterisch begabter Musketier von 7/251 folgenden Vers in großen Lettern an seinen Narajowka-Unterstand hing:“
Achtung! Der Stollen ist ein Zufluchtsort, Wann die Geschosse krachen;
Drum hat man, wo kein Stollen ist, Auch sicher nichts zu lachen.
Kost' er auch manchen Tropfen Schweiß und manchen müden Knochen,
So können, wenn es trommeln tut, die „Schweren“ doch drauf pochen.
Er rüttelt und er rührt sich nicht, Er steht wie eine Mauer.
Am Eingang rechts und links, da steht Der zweite Zug auf Lauer.
„Von Galizien aus war mein Kollege über Litauen nach Lettland gekommen. Zu seinen Aufgaben gehörte auch die Seelsorge für das Generalkommando sowie für sein Regiment. Da unsere Zeit allerdings schon weit fortgeschritten ist, schlage ich vor, dass – wenn Edgar Bürger einverstanden ist – ich diese Abschnitte erläutere, wenn wir uns über Lettland unterhalten – ich habe sie euch aber bereits mitgebracht, denn das Material ist zu umfangreich für einen Abend.“
Als der Angesprochene zustimmend nickte and auch die anderen einverstanden waren, ging man zum informellen Teil des Abends über.
1D. W. Ziegler, Frieden im Krieg 1936.
Am nächsten Treffen übernahm Dr. Meyer die Moderation. Er hatte Texte mitgebracht und ein Doppelbild, dass auf die Leinwand projeziert wurde. Es zeigte auf der einen Seite den ehemaligen Kaiser Wilhelm II in seinem holländischen Exil beim Holzhacken – auf der anderen Seite war der ehemalige Zar Nikolaus mit seinem Sohn beim Holzsägen zu sehen.
„Bevor wir auf diese beiden Szenen zu sprechen kommen“, begann Dr. Meyer, „noch ein kurzer Rückblick. Vielen Dank lieber Stefan, dass du mir letztes Mal schon einen großen Teil meiner heutigen Ausführungen vorweg genommen hast“ – beide schmunzeln – „denn in der Tat spielt für die Resilienz gerade in traumatischen Situationen der Glaube bzw. religiöse oder weltanschauliche Prägung eine nicht zu unterschätzende Rolle; da haben deine Kollegen und die deines Vaters in den verschiedenen Kriegen schon gute Dienste geleistet. Gott sei Dank ist dir und uns der Ernstfall erspart geblieben. Auch die vielen Hinweise auf die jeweilige Landschaft passt zu meinen Forschungen. Was uns in harmloser Form vom Urlaub vertraut ist, ist für Traumapatienten besonders wichtig: Ein Kraftort, eine vertraute, anregende Umgebung zum Abschalten, Umschalten und Auftanken; dabei hat dein Kollege, lieber Stefan, sehr recht, dass Reminiszenzen an die Heimat dabei zu berücksichtigen sind, weil sie entweder ermutigen oder betrüben können. Was für den einen sehr hilfreich ist, um sich zu verwurzeln und Kraft zu schöpfen im Vertrauten und in der Erinnerung, kann einen anderen stark belasten; er braucht ganz neue, anregende Abenteuerumgebung um Kraft und Zuversicht zu spüren.