Wendekreis des Steinbocks

Cover

Impressum

Neu durchgesehene Ausgabe

Die Originalausgabe erschien erstmalig im Jahre 1939 unter dem Titel «Tropic of Capricorn» bei The Obelisk Press, Paris

 

Das Motto auf Seite 6 wurde entnommen aus P. Abaelard, Die Leidensgeschichte und der Briefwechsel mit Heloisa, übertragen und herausgegeben von Eberhard Brost, Lambert Schneider Verlag, Heidelberg

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2020

Copyright © 1953 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Copyright © 1964 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Tropic of Capricorn» Copyright © Henry Miller, Big Sur, Cal., USA

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Umschlag-Konzept: any.way, Hamburg Barbara Hanke/Heidi Sorg/Cordula Schmidt

Coverabbildung Gettyimages/Thoth_Adan

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-00627-0

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-00627-0

Fußnoten

«Was immer an sich in seine Selbstheit, nämlich in sein eigenes Lubet, eintritt …»

Für sie

Ein Menschenherz leidenschaftlicher schlagen zu lassen oder es ganz still zu machen, beides gelingt dem Beispiel oft besser als dem Wort: mündlich hatte ich Dich schon etwas aufrichten können; den vollen Trost will ich Dir in der Ferne mit einer Schilderung meiner eigenen Leiden geben; ein vergleichender Blick auf sie muß Dir zeigen, daß Deine Heimsuchungen ein Nichts oder doch nur ein kleines Etwas sind, und Du lernst Dich fassen.

Abaelard

Am lästigsten war, daß mich die Menschen auf den ersten Blick gewöhnlich für gut, freundlich, großzügig, treu und zuverlässig hielten. Vielleicht besaß ich diese Tugenden wirklich; aber dann nur, weil ich gleichgültig war: ich konnte es mir leisten, gut, freundlich, großzügig, treu und so weiter zu sein, da ich frei von Neid war. Gerade dem Neid fiel ich nie zum Opfer. Nie war ich auf irgend jemanden oder irgend etwas neidisch. Im Gegenteil, für alle und alles empfand ich nur Mitleid.

Von allem Anfang an muß ich mich dazu geschult haben, mir nichts allzu heftig zu wünschen. Von allem Anfang an war ich unabhängig, freilich auf falsche Weise. Ich brauchte niemanden, weil ich frei sein wollte, frei, zu tun und zu geben, was mir meine Launen diktierten. In dem Augenblick, wo etwas von mir erwartet oder verlangt wurde, begehrte ich auf. So äußerte sich meine Unabhängigkeit. Mit anderen Worten, ich war verdorben – verdorben von Anfang an. Es ist, als habe meine Mutter mich mit einem Gift genährt, und obwohl ich früh entwöhnt wurde, blieb mir das Gift im Blut. Sogar als sie mich entwöhnte, ließ mich das anscheinend völlig gleichgültig; die meisten Kinder rebellieren oder fühlen sich wenigstens berechtigt zu rebellieren, aber ich scherte mich nicht drum. Schon in den Windeln war ich Philosoph. Aus Prinzip war ich gegen das Leben. Aus welchem Prinzip? Dem Prinzip der Zwecklosigkeit. Alle um mich herum kämpften. Ich strengte mich nie an. Gab ich mir den Anschein, mich anzustrengen, dann nur jemand anders zuliebe; im Grunde war es mir schnuppe. Und welche Erklärung Sie mir dafür auch geben könnten, ich muß sie ablehnen, denn die Wurstigkeit ist mir angeboren, und daran ist nichts zu ändern. Später, als ich erwachsen war, hörte ich, daß man elende Mühe gehabt hatte, mich aus dem Mutterleib herauszubringen. Das kann ich sehr gut verstehen. Warum sich von der Stelle rühren? Warum aus einem wohligen, warmen Ort hervorkommen, einer behaglichen Zuflucht, wo einem alles gratis geboten wird? Die früheste Erinnerung, die ich habe, ist die an die Kälte, den Schnee und das Eis im Rinnstein, den Reif an den Fensterscheiben, den frostigen Hauch der feuchten, grünen Küchenwände. Warum leben Menschen in fremdartigen Klimata, in den sogenannten gemäßigten Zonen, wie sie fälschlich

In meiner Verbitterung suche ich oft nach Gründen, sie zu verurteilen, um mich selbst desto mehr zu verurteilen. Denn auch ich bin in vieler Hinsicht wie sie. Lange glaubte ich, ich sei ihnen entronnen, aber mit der Zeit merke ich, daß ich nicht besser, ja, daß ich sogar ein wenig schlechter bin, denn ich sah klarer, als sie das jemals taten, und hatte doch nicht die Kraft, mein Leben zu ändern. Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, ist mir, als hätte ich nie etwas aus eigenem Entschluß, sondern immer nur unter dem Druck anderer getan. Die Leute halten mich oft für einen abenteuerlustigen Burschen; nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Meine Abenteuer waren stets zufällig, stets mir aufgezwungen, stets mehr erduldet als unternommen. Ich bin ganz aus dem Stoff der stolzen, ruhmredigen nordischen Rasse, die nie den geringsten Abenteurergeist besessen, aber dennoch die Erde durchwühlt, sie auf den Kopf gestellt und überall ihre Spuren und Ruinen hinterlassen hat. Ruhelose Geister, aber keine Abenteurer. Gequälte Geister, unfähig, in der Gegenwart zu leben. Elende Feiglinge alle, mich nicht ausgenommen. Denn es gibt

Alle paar Jahre war ich dieser Entdeckung ganz nahe, aber – und das war für mich bezeichnend – es gelang mir immer, der Entscheidung auszuweichen. Wenn ich nach einer guten Entschuldigung suche, fällt mir nur meine Umgebung ein, die Straßen, die ich kannte, und die Menschen, die in ihnen wohnten. Ich wüßte in Amerika weder eine Straße noch in ihr wohnende Menschen, die einen zu dieser Entdeckung des Selbst hinführen könnten. Ich bin über die Straßen vieler Länder gewandert, aber nirgendwo habe ich mich so gedemütigt und erniedrigt gefühlt wie in Amerika. Ich denke an all die Straßen Amerikas, die zusammen eine riesige Senkgrube bilden, eine Senkgrube des Geistes, von der alles verschlungen und weggeschwemmt wird zur ewigen Scheiße. Über dieser Senkgrube schwingt der Geist der Arbeit seinen Zauberstab: Paläste und Fabriken schießen nebeneinander in die Höhe und Munitionsfabriken und chemische Werke und Stahlwerke und Sanatorien und Gefängnisse und Irrenhäuser. Der ganze Kontinent ist ein einziger Albtraum, der das größte Elend für die größte Zahl produziert. Ich war auch eine Zahl, eine Nummer mitten im größten Rummel von Reichtum und Glück (statistischem Reichtum, statistischem Glück), doch nie begegnete ich einem Menschen, der wirklich reich oder wirklich glücklich gewesen wäre. Ich wußte wenigstens, daß ich unglücklich und arm war und nicht aus der Reihe tanzte. Das war mein einziger Trost, meine einzige Freude. Aber das reichte kaum aus. Es wäre für meinen inneren Frieden, für meine Seele besser gewesen, wenn ich meiner Auflehnung offen Ausdruck gegeben hätte, wenn ich für sie ins Gefängnis gegangen und dort verdorben und gestorben wäre. Besser wäre es gewesen, wenn ich wie dieser verrückte Czolgosz irgendeinen braven Präsidenten Mc-Kinley, eine sanfte, unbedeutende Seele, die nie jemandem das geringste zuleide getan, erschossen hätte. Denn in der Tiefe meines Herzens war Mord: ich wollte Amerika zerstört, dem Boden gleichgemacht sehen. Aus reiner Rachsucht wollte ich, daß dies geschähe, als Sühne für die Verbrechen, begangen an mir und all denen, die nie ihre Stimme erheben und ihrem Haß, ihrer Auflehnung, ihrer berechtigten Blutgier Ausdruck verleihen konnten.

Ich war das schlechte Produkt eines schlechten Bodens. Wenn

 

Nun zu dem, was geschehen ist … 

 

Jedes Ereignis, dem Bedeutung zukommt, ist seiner Natur nach ein Widerspruch. Bis zu meiner Begegnung mit ihr, für die dieses Buch geschrieben ist, glaubte ich, daß irgendwo außerhalb, im Leben, wie man so sagt, die Lösung aller Probleme liege. Als ich ihr begegnete, wähnte ich, das Leben zu greifen, etwas festzuhalten, in das ich hineinbeißen könnte. Statt dessen entglitt mir das Leben ganz. Ich streckte die Hand aus, um mich an etwas zu klammern – und fand nichts. Aber als ich die Hand ausstreckte, um etwas zu fassen, mich anzuklammern, fand ich, völlig auf dem trocknen gelassen, etwas, was ich nicht gesucht hatte – mich selbst. Ich entdeckte, daß ich mich zeit meines Lebens nicht danach gesehnt hatte, zu leben – wenn man das, was andere treiben, leben nennen kann –, sondern mich selbst auszudrücken. Mir wurde bewußt, daß ich nicht das geringste Interesse am Leben hatte, sondern nur an dem, was ich jetzt tue, etwas, was neben dem Leben herläuft, zugleich zu ihm gehört und darüber hinausreicht. Das Wahre interessiert mich kaum, auch nicht, was wirklich ist: mich interessiert nur, was ich mir als vorhanden vorstelle, was ich Tag für Tag erstickt hatte, um zu leben. Ob ich heute oder morgen sterbe, hat für mich keinerlei Bedeutung, hat nie eine gehabt; aber daß ich sogar heute noch, nach Jahren der Mühsal, nicht sagen kann, was ich denke und fühle – das schmerzt mich, das nagt an mir. Von den Tagen meiner Kindheit an kann ich mich auf der Jagd nach diesem Hirngespinst sehen, nichts freut mich, nichts ersehne ich als diese Macht, diese Gabe. Alles andere ist Lüge – alles, was ich je getan oder gesagt habe, was nicht darauf abzielte. Und das ist genau besehen der größte Teil meines Lebens.

 

Ich erinnere mich, daß sich diese übertriebene Anteilnahme in mir erst entwickelte, als ich mich zum erstenmal verliebte. Hätte ich wirklich Anteil genommen, säße ich heute nicht hier und schriebe darüber: ich wäre an gebrochenem Herzen gestorben oder hätte mich aufgehängt. Es war ein schlimmes Erlebnis, denn es lehrte mich, wie man eine Lüge leben kann. Es lehrte mich zu lächeln, wenn ich nicht lächeln wollte, zu arbeiten, wo ich nicht an Arbeit glaubte, zu leben, wo ich keinen Grund hatte, weiterzuleben. Sogar als ich das Mädchen vergessen hatte, behielt ich den Dreh bei, zu tun, woran ich nicht glaubte.

Es war alles von Anfang an Chaos, wie ich gesagt habe. Dennoch kam ich manchmal dem Zentrum, dem Kern der Wirrnis so nahe, daß es ein Wunder ist, wieso nicht alles rings um mich explodierte.

Es ist üblich, alles auf den Krieg zu schieben. Ich behaupte, daß der Krieg nichts mit mir, mit meinem Leben zu tun hatte. Zu einer Zeit, als andere sich ein bequemes Nest bauten, nahm ich eine elende Arbeit nach der anderen an, und nie kam soviel dabei heraus, daß es Leib und Seele zusammenhielt. Ich wurde

Das ging so fort von der Mitte des Krieges bis … nun, bis ich eines Tages in der Falle saß. Schließlich kam der Tag, an dem ich verzweifelt Arbeit haben wollte. Ich brauchte sie dringend. Da ich keine Minute mehr zu verlieren hatte, beschloß ich, den schäbigsten Job auf Erden anzunehmen, den eines Telegrammboten. Gegen Abend ging ich in das Personalbüro der Telegrafengesellschaft – der Kosmodämonischen Telegrafen-Gesellschaft von Nordamerika –, gewillt, es hinter mich zu bringen. Ich war gerade aus der Stadtbibliothek gekommen und trug unter dem Arm einige dicke Bücher über Volkswirtschaft und Metaphysik. Zu meinem großen Erstaunen bekam ich den Job nicht.

Der Kerl, der mich abwimmelte, war ein kleiner Knirps, der den Klappenschrank bediente. Er schien mich für einen Studenten zu halten, obwohl aus meiner Bewerbung deutlich genug hervorging, daß ich mein Studium längst beendet hatte. Ich hatte mich auf der Bewerbung sogar mit einem von der Columbia University verliehenen philosophischen Doktorgrad geschmückt. Offenbar wurde das übersehen oder von dem Knirps, der mich hatte abfahren lassen, als verdächtig vermerkt. Ich war wütend, um so mehr, als ich es zum erstenmal in meinem Leben ernst meinte. Und nicht nur das, sondern ich hatte meinen Stolz heruntergeschluckt, der auf seine seltsam verdrehte Art recht groß ist. Meine Frau ließ es natürlich nicht an dem

Als er den Hörer abhob und den Hauptabteilungsleiter verlangte, hielt ich das für einen Trick und glaubte, man würde mich von einem zum andern schicken, bis ich die Sache satt hätte. Aber sobald ich ihn sprechen hörte, änderte ich meine Ansicht. Im Büro des Hauptabteilungsleiters, das in einem anderen Gebäude am anderen Ende der Stadt lag, wurde ich erwartet. Ich setzte mich in einen bequemen Ledersessel und nahm eine der dicken Zigarren, die mir unter die Nase gehalten wurden. Dieses Individuum schien die Sache für hochwichtig zu halten. Ich mußte ihm alles darüber erzählen, bis in die letzten Einzelheiten. Er spitzte seine großen behaarten Ohren, um sich kein Krümchen Information entgehen zu lassen, das etwas, was in seinem großen Schädel Form annahm, rechtfertigen könnte. Ich merkte, daß ich ihm zufällig einen Dienst erwiesen hatte. Ich ließ ihn mich nach Herzenslust ausholen und achtete die ganze Zeit darauf, woher der Wind wehte. Und im Laufe des Gesprächs merkte ich, daß er sich immer mehr für mich erwärmte. Endlich brachte mir jemand ein wenig Vertrauen entgegen! Das war

Vielleicht war Hymie, ‹der dreckige, kleine Stänken›, verantwortlich für den hohen Prozentsatz an Juden unter dem Botenpersonal. Vielleicht war es in Wirklichkeit Hymie, der im Personalbüro – am Sunset Place, wie sie es nannten – die Leute einstellte. Es war, so verstand ich, für Mr. Clancy, den Hauptabteilungsleiter, eine glänzende Gelegenheit, einen gewissen Mr. Burns herunterzuputzen, der, wie er mich belehrte, jetzt schon seit dreißig Jahren Personalchef war und sich offenbar auf seinem Posten ausruhte.

Die Besprechung dauerte mehrere Stunden. Gegen Schluß nahm mich Mr. Clancy beiseite und sagte mir, er wolle mich zum Boss für Neueinstellungen machen. Bevor er mich aber in mein Amt einsetze, bitte er mich, als besonderes Entgegenkommen und auch als eine Art Lehrzeit, die mir sehr nützlich sein würde, als Sonderbote tätig zu sein. Ich würde das Gehalt eines Personalchefs erhalten, aber es würde mir aus einem Sonderkonto gezahlt werden. Kurzum, ich sollte von Büro zu Büro schweben und feststellen, wie die verschiedenen Leute ihre Aufgaben erledigten. Ich sollte von Zeit zu Zeit einen kleinen Bericht erstatten, wie die Dinge liefen. Und hin und wieder, schlug er vor, sollte ich ihn ‹auf die stille› in seiner Wohnung aufsuchen und mit ihm ein wenig über die Verhältnisse in den hundertundein New Yorker Zweigstellen der Kosmodämonischen Telegrafen-Gesellschaft plaudern. Mit anderen Worten, ich sollte ein paar Monate lang den Spitzel machen und dann den Laden schmeißen. Vielleicht würde man mich auch eines Tages zum Hauptabteilungsleiter oder Vizepräsidenten machen. Es war ein

Nach ein paar Monaten saß ich am Sunset Place und heuerte und feuerte wie der Teufel. Es war ein Schlachthaus, so wahr mir Gott helfe. Die Sache war von Grund auf sinnlos. Ein Verschleiß von Menschen, Material und Arbeit. Eine abscheuliche Farce vor einem Hintergrund von Schweiß und Elend. Aber genauso, wie ich mich zum Spitzel hergegeben hatte, gab ich mich zum Heuern und Feuern her und zu allem, was damit zusammenhing. Ich sagte zu allem ja. Wenn der Vizepräsident bestimmte, daß keine Körperbehinderten eingestellt werden sollten, stellte ich keine Körperbehinderten ein. Wenn der Vizepräsident sagte, daß alle über fünfundvierzig Jahre alten Boten ohne vorherige Kündigung zu feuern seien, feuerte ich sie ohne vorherige Kündigung. Ich tat alles, was man von mir verlangte, aber auf eine Weise, die ihnen teuer zu stehen kam. Gab es einen Streik, verschränkte ich die Arme und wartete, bis er vorüber war. Aber zuerst sorgte ich dafür, daß er sie eine schöne Stange Geld kostete. Das ganze System war so faul, so unmenschlich, so gemein, so hoffnungslos verderbt und kompliziert, daß es eines Genies bedurft hätte, Sinn oder Ordnung hineinzubringen, ganz zu schweigen von menschlicher Güte oder Rücksichtnahme. Ich rannte gegen das ganze amerikanische Arbeitssystem an, das von A bis Z faul ist. Ich war das fünfte Rad am Wagen, und keine der beiden Seiten wußte etwas mit mir anzufangen, sie nutzten mich nur aus. Praktisch wurde jeder ausgenutzt – der Präsident und seine Bande von den unsichtbaren Mächten, die Angestellten von den Vorgesetzten und so weiter und so fort, drinnen und draußen in dem ganzen Laden. Von meiner kleinen Hühnerstange am Sunset Place aus sah ich die ganze amerikanische Gesellschaft aus der Vogelschau. Es war wie eine Seite aus dem Telefonbuch. Alphabetisch, numerisch, statistisch ergab sie einen Sinn. Wenn man sie aber aus der Nähe betrachtete, wenn man die Seiten oder die Teile für sich betrachtete, wenn man das einzelne Individuum ansah und was es ausmachte, die Luft, die es atmete, das Leben, das es führte, das Risiko, das es einging, dann sah man etwas so Widerwärtiges und Entwürdigendes, so Niedriges, so Elendes, etwas so völlig Hoffnungsloses und Sinnloses, das schlimmer war als in einen Vulkan zu blicken. Man sah das ganze amerikanische Leben – wirtschaftlich, politisch, moralisch, geistig, künstlerisch,

Bis Valeska auf der Bildfläche erschien, hatte ich mehrere Armeekorps von Boten engagiert. Mein Büro am Sunset Place war wie ein offener Abzugskanal und stank auch so. Ich hatte mich bis zum vordersten Graben vorgearbeitet, und es hagelte gleichzeitig aus allen Richtungen auf mich herab. Zunächst einmal starb der Mann, den ich von seinem Posten vertrieben hatte, ein paar Wochen nach meinem Eintritt an gebrochenem Herzen. Er hielt gerade lange genug aus, um mich anzulernen, dann kratzte er ab. Alles ging so schnell, daß ich keine Möglichkeit hatte, mich schuldig zu fühlen. In dem Augenblick, da ich das Büro betrat, begann ein langer, ununterbrochener Höllentanz. Eine Stunde vor meinem Eintreffen – ich kam immer zu spät – drängten sich bereits die Bewerber. Ich mußte mir mit den Ellbogen den Weg die Treppe hinauf bahnen und mir buchstäblich den Zugang zu meinem Schreibtisch erkämpfen. Noch ehe ich meinen Hut abnehmen konnte, mußte ich ein Dutzend Telefongespräche führen. Auf meinem Schreibtisch standen drei Telefone, die alle gleichzeitig läuteten. Sie belferten mir die Pisse aus dem Leib, ehe ich mich auch nur zum Arbeiten hingesetzt hatte. Bis fünf oder sechs Uhr nachmittags war nicht einmal Zeit, einen Kaktus zu pflanzen. Hymie war schlechter dran als ich, denn er war an den Klappenschrank gefesselt. Er saß dort von acht Uhr morgens bis sechs Uhr abends und hielt die ‹Wanderbriefe› in Trab. Ein ‹Wanderbrief› war ein Bote, den ein Büro einem anderen für einen Tag oder ein paar Stunden auslieh. Keines der hundertundein Büros war je vollbesetzt; Hymie hatte die ‹Wanderbriefe› wie Schachfiguren herumzuschieben, während ich wie ein Verrückter arbeitete, um die Vakanzen zu füllen. Wenn es mir an einem Tag durch ein Wunder gelang, alle Vakanzen zu füllen, so war

Hätte ich mich streng an den Buchstaben gehalten, wäre nie jemand eingestellt worden. Ich mußte schnell zulernen, und zwar nicht aus den Folianten oder von anderen, sondern durch Erfahrung. Es gab tausendundein Details, nach denen ein Bewerber beurteilt werden konnte: ich mußte alle auf einmal

Wenn Hymie morgens kam, spitzte er erst einmal seine Schreibstifte; er tat das andächtig, ganz gleich, wie viele Anrufe auf ihn einstürmten; spitzte er nicht schleunigst, wie er mir später erklärte, als erstes die Schreibstifte, würden sie niemals gespitzt. Als nächstes warf er einen Blick aus dem Fenster, um nachzusehen, wie das Wetter war. Dann trug er mit einem frischgespitzten Stift auf die neben ihm liegende Schiefertafel oben in ein Kästchen die Wetterlage ein. Das erwies sich oft als nützliches Alibi, erklärte er mir. Wenn der Schnee dreißig Zentimeter hoch auf dem mit Glatteis bedeckten Boden lag, dann war sogar der Teufel selbst zu entschuldigen, wenn er die ‹Wanderbriefe› nicht rascher herumdirigierte, und der Personalchef war auch zu entschuldigen, wenn er an solchen Tagen die Vakanzen nicht aufzufüllen vermochte – nicht wahr? Aber warum der gute Mann nicht zuerst seinen Kaktus pflanzte, statt an dem Klappenschrank herumzustöpseln, sobald seine Stifte gespitzt waren, blieb mir ein Rätsel. Auch das erklärte er mir später. Jedenfalls begann der Tag immer mit Durcheinander, Beschwerden, Verstopfungen und Vakanzen. Er begann auch mit lauten, stinkenden Fürzen, schlechtem Atem, zerfetzten Nerven, mit Epilepsie, Hirnhautentzündung, niedrigen Löhnen, überfälligen Nachzahlungen, mit ausgetretenen Schuhen, Hühneraugen und entzündeten Ballen, mit Platt- und Senkfüßen, mit verlegten Notizbüchern und verlorenen oder gestohlenen Füllfederhaltern, mit Telegrammen, die in der Kloake schwammen, mit Drohungen des Vizepräsidenten und guten Ratschlägen der

Der Christliche Verein Junger Männer, darauf versessen, die Moral der jungen Arbeitnehmer in ganz Amerika zu heben, hielt in den Mittagsstunden Versammlungen ab: Wollte ich nicht vielleicht ein paar adrett aussehende Burschen hinbeordern, damit sie sich William Carnegie Asterbilt junior anhörten, der fünf Minuten über ‹Kundendienst› spräche? Mr. Mallory von der Öffentlichen Wohlfahrt wollte gern wissen, ob ich nicht gelegentlich ein paar Minuten dafür erübrigen könnte, mit ihm über die Musterstrafgefangenen zu sprechen, die bedingt entlassen waren und gerne jede Arbeit, sogar die eines Boten, annehmen würden. Mrs. Gugenhoffer von der Jüdischen Armenpflege wäre sehr dankbar, wenn ich ihr helfen würde, einige ins Elend geratene Familien zu unterstützen – ins Elend geraten, weil jedes Familienmitglied entweder verkrüppelt, körperbehindert oder sonst invalide war. Mr. Haggerty vom Heim für verwahrloste Knaben war sicher, daß er genau die richtigen Jungen für mich hatte, wenn ich ihnen nur eine Chance geben wollte; sie alle seien von ihren Stiefvätern oder -müttern schlecht behandelt worden. Der Bürgermeister von New York würde es zu schätzen wissen, wenn ich dem Überbringer des Briefes, für den er sich in jeder Weise verbürgen könne, meine besondere Aufmerksamkeit schenken wolle – aber warum zum Teufel er besagtem Überbringer nicht selbst eine Anstellung gab, blieb ein Rätsel. Ein Mann beugt sich über meine Schulter und drückt mir ein Stück Papier in die Hand, auf das er soeben geschrieben hat: «Ich verstehen alles, aber nicht hören Stimmen.» Neben mir steht Luther Winifred, seine verschlissene Jacke wird von Sicherheitsnadeln zusammengehalten. Luther ist zu zwei Siebteln reinblütiger Indianer und zu fünf Siebteln Deutschamerikaner, wie er mir erklärt. Von der indianischen Seite her gehört er zu den ‹Krähen›, den ‹Krähen› aus Montana. Zuletzt hat er Fensterladen eingehängt;

Anfangs war ich begeistert, trotz der Dämpfer von oben und der Drängelei von unten. Es fehlte mir nicht an Einfällen, und ich verwirklichte sie, ob es nun dem Vizepräsidenten gefiel oder nicht. Etwa alle zehn Tage wurde ich vorgeladen und getadelt, weil ich ‹zu gutherzig› sei. Ich hatte nie selbst Geld in der Tasche, verfügte aber freigebig über das anderer. Solange ich der Boss war, hatte ich Kredit. Ich gab das Geld mit vollen Händen aus; ich verschenkte meine Kleider und meine Wäsche, meine Bücher, alles, was überflüssig war. Hätte es in meiner Macht gestanden, dann hätte ich den armen Hunden, die mir in den Ohren lagen, die Gesellschaft geschenkt. Wenn man mich um einen Nickel bat, gab ich einen halben Dollar; wurde ich um einen Dollar gebeten, gab ich fünf. Ich kümmerte mich einen Dreck darum, wieviel ich weggab, denn es fiel mir leichter, zu borgen und zu geben, als die armen Teufel abzuweisen. Nie in meinem Leben sah ich eine solche Anhäufung von Elend, und ich hoffe, sie nie wieder sehen zu müssen. Es gibt überall Arme, es gab immer welche und wird immer welche geben. Und unter dieser schrecklichen Armut brennt eine Flamme, doch gewöhnlich so niedrig, daß sie fast unsichtbar ist. Aber sie ist da, und wenn man den Mut hat, sie anzufachen, kann eine Feuersbrunst daraus entstehen. Unaufhörlich wurde ich gedrängt, nicht zu nachsichtig, nicht zu gefühlvoll, nicht zu mitfühlend zu sein. Bleiben Sie fest! Bleiben Sie hart! ermahnte man mich. Scheiß drauf! sagte ich mir, ich will freigebig, nachgiebig, verständnisvoll, duldsam und mitfühlend sein. Anfangs hörte ich jeden bis zu Ende an. Wenn ich ihm keine Arbeit geben konnte, gab ich ihm Geld, und wenn ich kein Geld hatte, gab ich ihm Zigaretten oder gab ihm Mut. Aber ich gab! Die Wirkung war schwindelerregend. Niemand kann die Ergebnisse einer guten Tat, eines gütigen Wortes abschätzen. Ich wurde überschwemmt mit Dankbarkeit, guten Wünschen, Einladungen, rührenden, gutgemeinten kleinen Geschenken. Wenn ich wirkliche Macht besessen hätte, statt das fünfte Rad am Wagen zu sein, hätte ich vielleicht