Neu durchgesehene Ausgabe
Die Originalausgabe erschien erstmalig im Jahre 1939 unter dem Titel «Tropic of Capricorn» bei The Obelisk Press, Paris
Das Motto auf Seite 6 wurde entnommen aus P. Abaelard, Die Leidensgeschichte und der Briefwechsel mit Heloisa, übertragen und herausgegeben von Eberhard Brost, Lambert Schneider Verlag, Heidelberg
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2020
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«Tropic of Capricorn» Copyright © Henry Miller, Big Sur, Cal., USA
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ISBN 978-3-644-00627-0
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
ISBN 978-3-644-00627-0
«Was immer an sich in seine Selbstheit, nämlich in sein eigenes Lubet, eintritt …»
Für sie
Ein Menschenherz leidenschaftlicher schlagen zu lassen oder es ganz still zu machen, beides gelingt dem Beispiel oft besser als dem Wort: mündlich hatte ich Dich schon etwas aufrichten können; den vollen Trost will ich Dir in der Ferne mit einer Schilderung meiner eigenen Leiden geben; ein vergleichender Blick auf sie muß Dir zeigen, daß Deine Heimsuchungen ein Nichts oder doch nur ein kleines Etwas sind, und Du lernst Dich fassen.
Abaelard
Hat man erst einmal den Geist aufgegeben, folgt alles andere mit tödlicher Sicherheit, sogar mitten im Chaos. Von Anfang an war nichts anderes als Chaos: ein Fluidum, das mich einhüllte, das ich durch die Kiemen einatmete. In den unteren Schichten, wo der Mond ruhig und verschleiert schien, war es mild und fruchtbar, weiter oben Dissonanz und Mißhelligkeit. In allem sah ich rasch den Gegensatz, den Widerspruch – zwischen dem Wirklichen und dem Unwirklichen die Ironie, das Paradox. Ich selbst war mein schlimmster Feind. Alles, was ich zu tun begehrte, hätte ich ebensogut lassen können. Schon als Kind, als es mir an nichts fehlte, wollte ich sterben: Ich wollte aufgeben, weil kämpfen mir sinnlos schien. Ich fühlte, daß nichts bewiesen, nichts verwirklicht, hinzugewonnen oder verloren würde, wenn ich ein Dasein weiterführte, wonach ich nicht verlangt hatte. Jeder in meiner Umgebung war ein Versager oder, wenn er kein Versager war, lächerlich. Besonders die Erfolgreichen. Die Erfolgreichen langweilten mich zu Tode. Für Versager hatte ich etwas übrig, aber nicht Mitgefühl ließ mich so empfinden, sondern eine rein negative Eigenschaft, eine Schwäche, die sich beim bloßen Anblick menschlichen Elends regte. Nie half ich einem Menschen in der Erwartung, daß es zu etwas gut sein könne; ich half, weil ich außerstande war, anders zu handeln. Den Zustand der Dinge ändern zu wollen, schien mir zwecklos; ich war überzeugt, daß nichts wirklich geändert würde, es sei denn durch eine Wandlung des Herzens, und wer vermöchte schon die Herzen der Menschen zu wandeln? Dann und wann wurde ein Freund bekehrt: so etwas konnte mich zum Kotzen bringen. Ich hatte Gott nicht nötiger als Er mich, und wenn es einen gäbe, sagte ich mir oft, würde ich Ihm ruhig entgegegentreten und Ihm ins Gesicht spucken.
Am lästigsten war, daß mich die Menschen auf den ersten Blick gewöhnlich für gut, freundlich, großzügig, treu und zuverlässig hielten. Vielleicht besaß ich diese Tugenden wirklich; aber dann nur, weil ich gleichgültig war: ich konnte es mir leisten, gut, freundlich, großzügig, treu und so weiter zu sein, da ich frei von Neid war. Gerade dem Neid fiel ich nie zum Opfer. Nie war ich auf irgend jemanden oder irgend etwas neidisch. Im Gegenteil, für alle und alles empfand ich nur Mitleid.
Von allem Anfang an muß ich mich dazu geschult haben, mir nichts allzu heftig zu wünschen. Von allem Anfang an war ich unabhängig, freilich auf falsche Weise. Ich brauchte niemanden, weil ich frei sein wollte, frei, zu tun und zu geben, was mir meine Launen diktierten. In dem Augenblick, wo etwas von mir erwartet oder verlangt wurde, begehrte ich auf. So äußerte sich meine Unabhängigkeit. Mit anderen Worten, ich war verdorben – verdorben von Anfang an. Es ist, als habe meine Mutter mich mit einem Gift genährt, und obwohl ich früh entwöhnt wurde, blieb mir das Gift im Blut. Sogar als sie mich entwöhnte, ließ mich das anscheinend völlig gleichgültig; die meisten Kinder rebellieren oder fühlen sich wenigstens berechtigt zu rebellieren, aber ich scherte mich nicht drum. Schon in den Windeln war ich Philosoph. Aus Prinzip war ich gegen das Leben. Aus welchem Prinzip? Dem Prinzip der Zwecklosigkeit. Alle um mich herum kämpften. Ich strengte mich nie an. Gab ich mir den Anschein, mich anzustrengen, dann nur jemand anders zuliebe; im Grunde war es mir schnuppe. Und welche Erklärung Sie mir dafür auch geben könnten, ich muß sie ablehnen, denn die Wurstigkeit ist mir angeboren, und daran ist nichts zu ändern. Später, als ich erwachsen war, hörte ich, daß man elende Mühe gehabt hatte, mich aus dem Mutterleib herauszubringen. Das kann ich sehr gut verstehen. Warum sich von der Stelle rühren? Warum aus einem wohligen, warmen Ort hervorkommen, einer behaglichen Zuflucht, wo einem alles gratis geboten wird? Die früheste Erinnerung, die ich habe, ist die an die Kälte, den Schnee und das Eis im Rinnstein, den Reif an den Fensterscheiben, den frostigen Hauch der feuchten, grünen Küchenwände. Warum leben Menschen in fremdartigen Klimata, in den sogenannten gemäßigten Zonen, wie sie fälschlich bezeichnet werden? Weil die Menschen von Natur Dummköpfe, Faulpelze und Feiglinge sind. Bis zu meinem zehnten Lebensjahr wurde mir nie bewußt, daß es ‹warme› Länder gab, Orte, wo man nicht für seinen Lebensunterhalt schuften, auch nicht frieren und vorgeben mußte, das sei gesund und erhalte frisch. Überall, wo es kalt ist, gibt es Menschen, die sich schinden, und wenn sie Kinder in die Welt setzen, predigen sie den Kindern das Evangelium der Arbeit – das im Grunde nichts anderes ist als die Lehre von der Trägheit. Meine Leute waren alle nordischer Abkunft, mit anderen Worten: Idioten. Allen Blödsinn, der je verkündet wurde, machten sie sich zu eigen. Darunter die Lehre von der Sauberkeit, von der Rechtschaffenheit ganz zu schweigen. Sie waren peinlich sauber. Aber innen stanken sie. Kein einziges Mal hatten sie die Tür zur Seele aufgetan. Kein einziges Mal fiel es ihnen ein, blindlings einen Sprung ins Dunkle zu tun. Nach Tisch wurden die Teller prompt abgespült und in den Geschirrschrank gestellt; war die Zeitung gelesen, wurde sie sauber gefaltet und auf ein Regal gelegt; war die Wäsche gewaschen, wurde sie gebügelt, gefaltet und in die Schubladen verstaut. Immer dachte man an morgen, aber das Morgen kam nie. Die Gegenwart war nur eine Brücke, und auf dieser Brücke stöhnen sie noch, so wie die ganze Welt stöhnt, und keiner dieser Dummköpfe kommt darauf, die Brücke in die Luft zu sprengen.
In meiner Verbitterung suche ich oft nach Gründen, sie zu verurteilen, um mich selbst desto mehr zu verurteilen. Denn auch ich bin in vieler Hinsicht wie sie. Lange glaubte ich, ich sei ihnen entronnen, aber mit der Zeit merke ich, daß ich nicht besser, ja, daß ich sogar ein wenig schlechter bin, denn ich sah klarer, als sie das jemals taten, und hatte doch nicht die Kraft, mein Leben zu ändern. Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, ist mir, als hätte ich nie etwas aus eigenem Entschluß, sondern immer nur unter dem Druck anderer getan. Die Leute halten mich oft für einen abenteuerlustigen Burschen; nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Meine Abenteuer waren stets zufällig, stets mir aufgezwungen, stets mehr erduldet als unternommen. Ich bin ganz aus dem Stoff der stolzen, ruhmredigen nordischen Rasse, die nie den geringsten Abenteurergeist besessen, aber dennoch die Erde durchwühlt, sie auf den Kopf gestellt und überall ihre Spuren und Ruinen hinterlassen hat. Ruhelose Geister, aber keine Abenteurer. Gequälte Geister, unfähig, in der Gegenwart zu leben. Elende Feiglinge alle, mich nicht ausgenommen. Denn es gibt nur ein einziges großes Abenteuer, das innere Abenteuer der Suche nach unserem Selbst, und dabei spielen weder Zeit noch Raum, ja nicht einmal Taten eine Rolle.
Alle paar Jahre war ich dieser Entdeckung ganz nahe, aber – und das war für mich bezeichnend – es gelang mir immer, der Entscheidung auszuweichen. Wenn ich nach einer guten Entschuldigung suche, fällt mir nur meine Umgebung ein, die Straßen, die ich kannte, und die Menschen, die in ihnen wohnten. Ich wüßte in Amerika weder eine Straße noch in ihr wohnende Menschen, die einen zu dieser Entdeckung des Selbst hinführen könnten. Ich bin über die Straßen vieler Länder gewandert, aber nirgendwo habe ich mich so gedemütigt und erniedrigt gefühlt wie in Amerika. Ich denke an all die Straßen Amerikas, die zusammen eine riesige Senkgrube bilden, eine Senkgrube des Geistes, von der alles verschlungen und weggeschwemmt wird zur ewigen Scheiße. Über dieser Senkgrube schwingt der Geist der Arbeit seinen Zauberstab: Paläste und Fabriken schießen nebeneinander in die Höhe und Munitionsfabriken und chemische Werke und Stahlwerke und Sanatorien und Gefängnisse und Irrenhäuser. Der ganze Kontinent ist ein einziger Albtraum, der das größte Elend für die größte Zahl produziert. Ich war auch eine Zahl, eine Nummer mitten im größten Rummel von Reichtum und Glück (statistischem Reichtum, statistischem Glück), doch nie begegnete ich einem Menschen, der wirklich reich oder wirklich glücklich gewesen wäre. Ich wußte wenigstens, daß ich unglücklich und arm war und nicht aus der Reihe tanzte. Das war mein einziger Trost, meine einzige Freude. Aber das reichte kaum aus. Es wäre für meinen inneren Frieden, für meine Seele besser gewesen, wenn ich meiner Auflehnung offen Ausdruck gegeben hätte, wenn ich für sie ins Gefängnis gegangen und dort verdorben und gestorben wäre. Besser wäre es gewesen, wenn ich wie dieser verrückte Czolgosz irgendeinen braven Präsidenten Mc-Kinley, eine sanfte, unbedeutende Seele, die nie jemandem das geringste zuleide getan, erschossen hätte. Denn in der Tiefe meines Herzens war Mord: ich wollte Amerika zerstört, dem Boden gleichgemacht sehen. Aus reiner Rachsucht wollte ich, daß dies geschähe, als Sühne für die Verbrechen, begangen an mir und all denen, die nie ihre Stimme erheben und ihrem Haß, ihrer Auflehnung, ihrer berechtigten Blutgier Ausdruck verleihen konnten.
Ich war das schlechte Produkt eines schlechten Bodens. Wenn das Selbst nicht unvergänglich wäre, so wäre das ‹Ich›, über das ich schreibe, längst zerstört. Manchen mag das ausgedacht vorkommen, aber was immer ich mir als geschehen ausdenken könnte, ist wirklich geschehen, jedenfalls mir. Die Geschichte mag das leugnen, da ich in der Geschichte meines Volkes keine Rolle gespielt habe. Aber sogar wenn alles, was ich sage, falsch, voreingenommen, gehässig, böswillig ist, selbst wenn ich ein Lügner und Brunnenvergifter bin, ist es trotzdem die Wahrheit und muß geschluckt werden.
Nun zu dem, was geschehen ist …
Jedes Ereignis, dem Bedeutung zukommt, ist seiner Natur nach ein Widerspruch. Bis zu meiner Begegnung mit ihr, für die dieses Buch geschrieben ist, glaubte ich, daß irgendwo außerhalb, im Leben, wie man so sagt, die Lösung aller Probleme liege. Als ich ihr begegnete, wähnte ich, das Leben zu greifen, etwas festzuhalten, in das ich hineinbeißen könnte. Statt dessen entglitt mir das Leben ganz. Ich streckte die Hand aus, um mich an etwas zu klammern – und fand nichts. Aber als ich die Hand ausstreckte, um etwas zu fassen, mich anzuklammern, fand ich, völlig auf dem trocknen gelassen, etwas, was ich nicht gesucht hatte – mich selbst. Ich entdeckte, daß ich mich zeit meines Lebens nicht danach gesehnt hatte, zu leben – wenn man das, was andere treiben, leben nennen kann –, sondern mich selbst auszudrücken. Mir wurde bewußt, daß ich nicht das geringste Interesse am Leben hatte, sondern nur an dem, was ich jetzt tue, etwas, was neben dem Leben herläuft, zugleich zu ihm gehört und darüber hinausreicht. Das Wahre interessiert mich kaum, auch nicht, was wirklich ist: mich interessiert nur, was ich mir als vorhanden vorstelle, was ich Tag für Tag erstickt hatte, um zu leben. Ob ich heute oder morgen sterbe, hat für mich keinerlei Bedeutung, hat nie eine gehabt; aber daß ich sogar heute noch, nach Jahren der Mühsal, nicht sagen kann, was ich denke und fühle – das schmerzt mich, das nagt an mir. Von den Tagen meiner Kindheit an kann ich mich auf der Jagd nach diesem Hirngespinst sehen, nichts freut mich, nichts ersehne ich als diese Macht, diese Gabe. Alles andere ist Lüge – alles, was ich je getan oder gesagt habe, was nicht darauf abzielte. Und das ist genau besehen der größte Teil meines Lebens.
Ich war, sozusagen, der pure Widerspruch. Die Leute hielten mich für seriös und hochgesinnt, oder für heiter und unbekümmert, oder für aufrichtig und ernst, oder für nachlässig und sorglos. Ich war das alles zugleich – und darüber hinaus etwas anderes, etwas, das kein Mensch ahnte, am wenigsten ich selbst. Im Alter von sechs oder sieben Jahren saß ich mit Vorliebe am Arbeitstisch meines Großvaters und las ihm vor, während er nähte. Ich erinnere mich lebhaft, wie er das heiße Bügeleisen auf einen Jackensaum preßt, eine Hand auf die andere legt, dasteht und verträumt zum Fenster hinausblickt. Noch besser als an den Inhalt der Bücher, die ich las, als an die Gespräche, die wir führten, oder als an meine Spiele auf der Straße erinnere ich mich an den Ausdruck seines Gesichts, wenn er träumend so dastand. Ich fragte mich oft, wovon er träumte, was ihn so sich selbst entrückte. Ich hatte noch nicht gelernt, wie man hellwach träumen kann. Ich war damals immer wach, gegenwärtig und ganz da. Sein Wachträumen faszinierte mich. Ich wußte, daß er weit weg war von dem, was er tat, an keinen von uns einen Gedanken verschwendete, daß er einsam und durch seine Einsamkeit frei war. Ich war nie einsam, schon gar nicht, wenn ich mir selbst überlassen war. Ich war immer, scheint mir, in Gesellschaft: ich war ein winziges Stück von einem großen Käse, der, glaube ich, die Welt darstellte, wenn ich mich auch nie damit aufhielt, darüber nachzudenken. Aber ich weiß, daß ich nie für mich existierte, nie mich selbst für den riesigen Käse hielt. So daß ich selbst dann, wenn ich allen Grund hatte, unglücklich zu sein, mich zu beklagen, zu weinen, die Illusion hatte, an einem gemeinsamen, einem weltumfassenden Elend teilzuhaben. Wenn ich weinte, weinte die ganze Welt – bildete ich mir ein. Ich weinte sehr selten. Meist war ich glücklich, lachte, war guter Dinge. Ich war guter Dinge, weil ich, wie ich vorhin schon sagte, auf alles schiß. Wenn die Dinge bei mir schiefgingen, war ich davon überzeugt, daß sie überall schiefgingen. Und die Dinge gingen gewöhnlich nur dann schief, wenn man sie zu wichtig nahm. Das prägte sich mir schon in früher Jugend ein. Zum Beispiel erinnere ich mich an den Fall meines jungen Freundes Jack Lawson. Ein ganzes Jahr lag er mit den schlimmsten Qualen zu Bett. Er war mein bester Freund, wenigstens behaupteten das die Leute. Nun, anfangs bedauerte ich ihn vermutlich und besuchte ihn vielleicht dann und wann, um mich nach ihm zu erkundigen. Aber nachdem ein oder zwei Monate vergangen waren, wurde ich völlig gefühllos gegen sein Leiden. Ich sagte mir, er sollte lieber sterben, je eher desto besser. Gedacht, getan: ich vergaß ihn prompt und überließ ihn seinem Schicksal. Ich war damals kaum älter als zwölf Jahre, und ich erinnere mich, daß ich sehr stolz auf meinen Entschluß war. Ich erinnere mich auch an sein Begräbnis – was für eine klägliche Sache. Da standen sie, die ganze Gesellschaft, Freunde und Verwandte, alle um den Sarg versammelt und heulten wie kranke Affen. Besonders die Mutter fiel mir auf den Wecker. Sie war ein so seltenes, durchgeistigtes Wesen, eine Anhängerin der Christian Science, glaube ich, und obwohl sie nicht an Krankheiten glaubte und auch nicht an den Tod, erhob sie doch ein solches Gezeter, daß Christus selbst aus dem Grab gefahren wäre. Nicht aber ihr geliebter Jack! Nein, Jack lag da kalt wie Eis, steif und stur. Er war tot, daran war nichts zu deuteln. Ich wußte es und war froh darüber. Ich verschwendete keine Träne deshalb. Ich konnte nicht sagen, daß er besser dran war, denn schließlich war dieser ‹er› nicht mehr vorhanden. Er war dahin und mit ihm die Leiden, die er erduldet, und die Schmerzen, die er, ohne es zu wollen, anderen zugefügt hatte. Amen! sagte ich mir, und damit ließ ich, leicht hysterisch wie ich bin, einen lauten Furz – direkt neben dem Sarg.
Ich erinnere mich, daß sich diese übertriebene Anteilnahme in mir erst entwickelte, als ich mich zum erstenmal verliebte. Hätte ich wirklich Anteil genommen, säße ich heute nicht hier und schriebe darüber: ich wäre an gebrochenem Herzen gestorben oder hätte mich aufgehängt. Es war ein schlimmes Erlebnis, denn es lehrte mich, wie man eine Lüge leben kann. Es lehrte mich zu lächeln, wenn ich nicht lächeln wollte, zu arbeiten, wo ich nicht an Arbeit glaubte, zu leben, wo ich keinen Grund hatte, weiterzuleben. Sogar als ich das Mädchen vergessen hatte, behielt ich den Dreh bei, zu tun, woran ich nicht glaubte.
Es war alles von Anfang an Chaos, wie ich gesagt habe. Dennoch kam ich manchmal dem Zentrum, dem Kern der Wirrnis so nahe, daß es ein Wunder ist, wieso nicht alles rings um mich explodierte.
Es ist üblich, alles auf den Krieg zu schieben. Ich behaupte, daß der Krieg nichts mit mir, mit meinem Leben zu tun hatte. Zu einer Zeit, als andere sich ein bequemes Nest bauten, nahm ich eine elende Arbeit nach der anderen an, und nie kam soviel dabei heraus, daß es Leib und Seele zusammenhielt. Ich wurde ebenso schnell angeheuert wie rausgefeuert. Ich war ausgesprochen intelligent, flößte aber Mißtrauen ein. Wo ich auch hinkam, erregte ich Ärgernis – nicht weil ich ein Idealist war, sondern weil ich wie ein Scheinwerfer alle Dummheit und Nichtigkeit ins Licht rückte. Überdies war ich kein guter Arschkriecher. Damit war ich natürlich gezeichnet. Bewarb ich mich um einen Job, errieten die Leute sofort, daß ich darauf pfiff, ob ich ihn kriegte oder nicht. Und natürlich kriegte ich ihn meistens nicht. Aber nach einiger Zeit wurde allein schon die Suche nach einem Job eine Tätigkeit, sozusagen ein Zeitvertreib. Ich ging hinein und bewarb mich um so gut wie alles. Es war eine Art, die Zeit totzuschlagen – nicht schlechter, soweit ich sehen konnte, als wirkliche Arbeit. Ich war mein eigener Chef und hatte meine selbstgewählten Arbeitsstunden, aber zum Unterschied zu anderen Chefs betrieb ich nur meinen eigenen Ruin, meinen eigenen Bankrott. Ich war keine Aktiengesellschaft, kein Trust, kein Staat, kein Staatenbund, kein Völkerbund – am ehesten glich ich noch Gott.
Das ging so fort von der Mitte des Krieges bis … nun, bis ich eines Tages in der Falle saß. Schließlich kam der Tag, an dem ich verzweifelt Arbeit haben wollte. Ich brauchte sie dringend. Da ich keine Minute mehr zu verlieren hatte, beschloß ich, den schäbigsten Job auf Erden anzunehmen, den eines Telegrammboten. Gegen Abend ging ich in das Personalbüro der Telegrafengesellschaft – der Kosmodämonischen Telegrafen-Gesellschaft von Nordamerika –, gewillt, es hinter mich zu bringen. Ich war gerade aus der Stadtbibliothek gekommen und trug unter dem Arm einige dicke Bücher über Volkswirtschaft und Metaphysik. Zu meinem großen Erstaunen bekam ich den Job nicht.
Der Kerl, der mich abwimmelte, war ein kleiner Knirps, der den Klappenschrank bediente. Er schien mich für einen Studenten zu halten, obwohl aus meiner Bewerbung deutlich genug hervorging, daß ich mein Studium längst beendet hatte. Ich hatte mich auf der Bewerbung sogar mit einem von der Columbia University verliehenen philosophischen Doktorgrad geschmückt. Offenbar wurde das übersehen oder von dem Knirps, der mich hatte abfahren lassen, als verdächtig vermerkt. Ich war wütend, um so mehr, als ich es zum erstenmal in meinem Leben ernst meinte. Und nicht nur das, sondern ich hatte meinen Stolz heruntergeschluckt, der auf seine seltsam verdrehte Art recht groß ist. Meine Frau ließ es natürlich nicht an dem üblichen Hohn und Spott fehlen. Ich hätte nur so getan als ob, sagte sie. Darüber nachdenkend ging ich zu Bett, litt vor mich hin und wurde, je weiter die Nacht vorschritt, ärgerlicher und ärgerlicher. Nicht so sehr die Tatsache, daß ich eine Frau und ein Kind zu ernähren hatte, setzte mir so zu: die Leute boten einem keine Jobs an, weil man eine Familie zu erhalten hatte, soviel verstand ich nur zu gut. Nein, es wurmte mich, daß sie mich, Henry V. Miller, ein fähiges, überlegenes Individuum, das sich um den niedrigsten Posten der Welt bewarb, abgelehnt hatten. Das fraß mich auf. Darüber kam ich nicht hinweg. Am Morgen war ich früh und frisch auf den Beinen, rasierte mich, zog meinen besten Anzug an und galoppierte zur Untergrundbahn. Ich ging unverzüglich zum Hauptbüro der Telegrafengesellschaft, hinauf in den 2$. Stock oder wo immer der Präsident und die Vizepräsidenten ihre Zellen hatten. Ich verlangte den Präsidenten. Natürlich war der Präsident entweder in der Stadt oder zu beschäftigt, mich zu empfangen – aber vielleicht wollte ich den Vizepräsidenten oder besser seinen Sekretär sehen? Ich wurde vom Sekretär des Vizepräsidenten, einem klugen, verständnisvollen Burschen, empfangen und lag ihm in den Ohren. Das tat ich geschickt, ohne zu drängen, aber ich gab ihm doch die ganze Zeit zu verstehen, daß man mich nicht so leicht abspeisen könne.
Als er den Hörer abhob und den Hauptabteilungsleiter verlangte, hielt ich das für einen Trick und glaubte, man würde mich von einem zum andern schicken, bis ich die Sache satt hätte. Aber sobald ich ihn sprechen hörte, änderte ich meine Ansicht. Im Büro des Hauptabteilungsleiters, das in einem anderen Gebäude am anderen Ende der Stadt lag, wurde ich erwartet. Ich setzte mich in einen bequemen Ledersessel und nahm eine der dicken Zigarren, die mir unter die Nase gehalten wurden. Dieses Individuum schien die Sache für hochwichtig zu halten. Ich mußte ihm alles darüber erzählen, bis in die letzten Einzelheiten. Er spitzte seine großen behaarten Ohren, um sich kein Krümchen Information entgehen zu lassen, das etwas, was in seinem großen Schädel Form annahm, rechtfertigen könnte. Ich merkte, daß ich ihm zufällig einen Dienst erwiesen hatte. Ich ließ ihn mich nach Herzenslust ausholen und achtete die ganze Zeit darauf, woher der Wind wehte. Und im Laufe des Gesprächs merkte ich, daß er sich immer mehr für mich erwärmte. Endlich brachte mir jemand ein wenig Vertrauen entgegen! Das war alles, was ich dazu brauchte, auf eines meiner Lieblingsthemen zu kommen. Denn nach jahrelanger Arbeitssuche war ich natürlich recht geschickt geworden; ich wußte nicht nur, was ich nicht sagen durfte, sondern auch, was ich andeuten und einfließen lassen mußte. Bald wurde der stellvertretende Hauptabteilungsleiter hereingerufen und gebeten, sich meine Geschichte anzuhören. Jetzt wußte ich, was die Glocke geschlagen hatte. Ich begriff, daß Hymie – «dieser kleine Stänker», wie der Hauptabteilungsleiter ihn nannte – kein Recht hatte, so zu tun, als sei er der Personalchef. Hymie hatte sich ein Amt angemaßt, soviel war klar. Es war ebenfalls klar, daß Hymie Jude war, und Juden standen sowohl beim Hauptabteilungsleiter als auch bei Mr. Twilliger, dem Vizepräsidenten, der dem Hauptabteilungsleiter ein Dorn im Auge war, in keinem guten Geruch.
Vielleicht war Hymie, ‹der dreckige, kleine Stänken›, verantwortlich für den hohen Prozentsatz an Juden unter dem Botenpersonal. Vielleicht war es in Wirklichkeit Hymie, der im Personalbüro – am Sunset Place, wie sie es nannten – die Leute einstellte. Es war, so verstand ich, für Mr. Clancy, den Hauptabteilungsleiter, eine glänzende Gelegenheit, einen gewissen Mr. Burns herunterzuputzen, der, wie er mich belehrte, jetzt schon seit dreißig Jahren Personalchef war und sich offenbar auf seinem Posten ausruhte.
Die Besprechung dauerte mehrere Stunden. Gegen Schluß nahm mich Mr. Clancy beiseite und sagte mir, er wolle mich zum Boss für Neueinstellungen machen. Bevor er mich aber in mein Amt einsetze, bitte er mich, als besonderes Entgegenkommen und auch als eine Art Lehrzeit, die mir sehr nützlich sein würde, als Sonderbote tätig zu sein. Ich würde das Gehalt eines Personalchefs erhalten, aber es würde mir aus einem Sonderkonto gezahlt werden. Kurzum, ich sollte von Büro zu Büro schweben und feststellen, wie die verschiedenen Leute ihre Aufgaben erledigten. Ich sollte von Zeit zu Zeit einen kleinen Bericht erstatten, wie die Dinge liefen. Und hin und wieder, schlug er vor, sollte ich ihn ‹auf die stille› in seiner Wohnung aufsuchen und mit ihm ein wenig über die Verhältnisse in den hundertundein New Yorker Zweigstellen der Kosmodämonischen Telegrafen-Gesellschaft plaudern. Mit anderen Worten, ich sollte ein paar Monate lang den Spitzel machen und dann den Laden schmeißen. Vielleicht würde man mich auch eines Tages zum Hauptabteilungsleiter oder Vizepräsidenten machen. Es war ein verlockendes Angebot, auch wenn es drei Meilen gegen den Wind stank. Ich nahm an.
Nach ein paar Monaten saß ich am Sunset Place und heuerte und feuerte wie der Teufel. Es war ein Schlachthaus, so wahr mir Gott helfe. Die Sache war von Grund auf sinnlos. Ein Verschleiß von Menschen, Material und Arbeit. Eine abscheuliche Farce vor einem Hintergrund von Schweiß und Elend. Aber genauso, wie ich mich zum Spitzel hergegeben hatte, gab ich mich zum Heuern und Feuern her und zu allem, was damit zusammenhing. Ich sagte zu allem ja. Wenn der Vizepräsident bestimmte, daß keine Körperbehinderten eingestellt werden sollten, stellte ich keine Körperbehinderten ein. Wenn der Vizepräsident sagte, daß alle über fünfundvierzig Jahre alten Boten ohne vorherige Kündigung zu feuern seien, feuerte ich sie ohne vorherige Kündigung. Ich tat alles, was man von mir verlangte, aber auf eine Weise, die ihnen teuer zu stehen kam. Gab es einen Streik, verschränkte ich die Arme und wartete, bis er vorüber war. Aber zuerst sorgte ich dafür, daß er sie eine schöne Stange Geld kostete. Das ganze System war so faul, so unmenschlich, so gemein, so hoffnungslos verderbt und kompliziert, daß es eines Genies bedurft hätte, Sinn oder Ordnung hineinzubringen, ganz zu schweigen von menschlicher Güte oder Rücksichtnahme. Ich rannte gegen das ganze amerikanische Arbeitssystem an, das von A bis Z faul ist. Ich war das fünfte Rad am Wagen, und keine der beiden Seiten wußte etwas mit mir anzufangen, sie nutzten mich nur aus. Praktisch wurde jeder ausgenutzt – der Präsident und seine Bande von den unsichtbaren Mächten, die Angestellten von den Vorgesetzten und so weiter und so fort, drinnen und draußen in dem ganzen Laden. Von meiner kleinen Hühnerstange am Sunset Place aus sah ich die ganze amerikanische Gesellschaft aus der Vogelschau. Es war wie eine Seite aus dem Telefonbuch. Alphabetisch, numerisch, statistisch ergab sie einen Sinn. Wenn man sie aber aus der Nähe betrachtete, wenn man die Seiten oder die Teile für sich betrachtete, wenn man das einzelne Individuum ansah und was es ausmachte, die Luft, die es atmete, das Leben, das es führte, das Risiko, das es einging, dann sah man etwas so Widerwärtiges und Entwürdigendes, so Niedriges, so Elendes, etwas so völlig Hoffnungsloses und Sinnloses, das schlimmer war als in einen Vulkan zu blicken. Man sah das ganze amerikanische Leben – wirtschaftlich, politisch, moralisch, geistig, künstlerisch, statistisch, pathologisch. Es sah aus wie ein großer Schanker an einem ausgeleierten Piephahn. In Wirklichkeit sah es noch schlimmer aus, denn man konnte nicht einmal mehr etwas erkennen, was noch einem Piephahn glich. Mag sein, daß in der Vergangenheit dieses Ding lebendig war, etwas hervorbrachte, wenigstens einen Augenblick der Freude, eine flüchtige Erregung schenkte. Aber wenn man es von meinem Platz aus betrachtete, sah es verfaulter aus als der madigste Käse. Das Erstaunliche war, daß der Gestank, den es ausströmte, sie nicht umwarf … Ich spreche immer in der Vergangenheitsform, aber natürlich ist es heute das gleiche, vielleicht sogar noch etwas schlimmer. Jedenfalls geht es jetzt Vollstank voraus.
Bis Valeska auf der Bildfläche erschien, hatte ich mehrere Armeekorps von Boten engagiert. Mein Büro am Sunset Place war wie ein offener Abzugskanal und stank auch so. Ich hatte mich bis zum vordersten Graben vorgearbeitet, und es hagelte gleichzeitig aus allen Richtungen auf mich herab. Zunächst einmal starb der Mann, den ich von seinem Posten vertrieben hatte, ein paar Wochen nach meinem Eintritt an gebrochenem Herzen. Er hielt gerade lange genug aus, um mich anzulernen, dann kratzte er ab. Alles ging so schnell, daß ich keine Möglichkeit hatte, mich schuldig zu fühlen. In dem Augenblick, da ich das Büro betrat, begann ein langer, ununterbrochener Höllentanz. Eine Stunde vor meinem Eintreffen – ich kam immer zu spät – drängten sich bereits die Bewerber. Ich mußte mir mit den Ellbogen den Weg die Treppe hinauf bahnen und mir buchstäblich den Zugang zu meinem Schreibtisch erkämpfen. Noch ehe ich meinen Hut abnehmen konnte, mußte ich ein Dutzend Telefongespräche führen. Auf meinem Schreibtisch standen drei Telefone, die alle gleichzeitig läuteten. Sie belferten mir die Pisse aus dem Leib, ehe ich mich auch nur zum Arbeiten hingesetzt hatte. Bis fünf oder sechs Uhr nachmittags war nicht einmal Zeit, einen Kaktus zu pflanzen. Hymie war schlechter dran als ich, denn er war an den Klappenschrank gefesselt. Er saß dort von acht Uhr morgens bis sechs Uhr abends und hielt die ‹Wanderbriefe› in Trab. Ein ‹Wanderbrief› war ein Bote, den ein Büro einem anderen für einen Tag oder ein paar Stunden auslieh. Keines der hundertundein Büros war je vollbesetzt; Hymie hatte die ‹Wanderbriefe› wie Schachfiguren herumzuschieben, während ich wie ein Verrückter arbeitete, um die Vakanzen zu füllen. Wenn es mir an einem Tag durch ein Wunder gelang, alle Vakanzen zu füllen, so war am nächsten Morgen die Situation genau die gleiche, wenn nicht schlimmer. Vielleicht zwanzig Prozent des Personals bildeten den Stamm; der Rest war Treibholz. Das Stammpersonal vertrieb die Neuen. Das Stammpersonal verdiente vierzig bis fünfzig Dollar, manchmal sechzig oder fünfundsiebzig, mitunter an die hundert Dollar in der Woche; das heißt, sie verdienten weit mehr als die Angestellten und oft mehr als ihre eigenen Chefs. Was die Neuen betraf, so verdienten sie mit Mühe und Not zehn Dollar die Woche. Manche von ihnen arbeiteten eine Stunde, hauten dann ab und warfen dabei oft ein Bündel Telegramme in die Mülltonne oder in den Lokus. Und sobald sie abhauten, verlangten sie sofortige Auszahlung, was unmöglich war, denn bei unserer komplizierten Buchführung dauerte es mindestens zehn Tage, um festzustellen, was ein Bote verdient hatte. Anfangs forderte ich jeden Bewerber auf, neben mir Platz zu nehmen, und erklärte ihm alles bis ins einzelne. Das tat ich, bis mir die Stimme versagte. Bald lernte ich, meine Kraft für die unvermeidlichen Auseinandersetzungen zu sparen. Zunächst einmal war jeder zweite von ihnen ein geborener Lügner, wenn nicht gar ein geriebener Gauner. Viele von ihnen waren bereits mehrmals angeheuert und wieder gefeuert worden. Manche von ihnen benutzten den Job dazu, einen anderen Posten zu finden, denn ihre Tätigkeit führte sie in Hunderte von Büros, in die sie normalerweise nie den Fuß gesetzt hätten. Zum Glück hatte McGovern, das alte, treue Faktotum, der Pförtner, der auch die Bewerbungsformulare ausgab, das Auge einer Kamera. Und außerdem standen hinter mir die Folianten, die einen Führungsbericht über jeden Bewerber enthielten, der je durch die Mühle gegangen war. Diese Folianten glichen aufs Haar einer Polizeiakte; Anmerkungen in roter Tinte bedeckten die Seiten, die dieses oder jenes Vergehen festhielten. Nach diesem Beweismaterial zu urteilen, befand ich mich unter schweren Jungens. Jeder zweite Name war mit Diebstahl, Betrug, Schlägerei oder Geistesgestörtheit, Perversion oder Idiotie verbunden. «Vorsicht! Soundso ist Epileptiker!» «Diesen Mann nicht einstellen – er ist Neger!» «Achtung! – X. war im Irrenhaus oder im Zuchthaus.»
Hätte ich mich streng an den Buchstaben gehalten, wäre nie jemand eingestellt worden. Ich mußte schnell zulernen, und zwar nicht aus den Folianten oder von anderen, sondern durch Erfahrung. Es gab tausendundein Details, nach denen ein Bewerber beurteilt werden konnte: ich mußte alle auf einmal vornehmen, und zwar rasch, denn an einem einzigen und kurzen Tag kann man, selbst wenn man so schnell ist wie Jack Robinson, nur soundso viele abfertigen und keinen mehr. Und ganz gleich, wie viele ich anheuerte, es waren nie genug. Am nächsten Tag fing alles wieder von vorne an. Einige waren darunter, von denen ich wußte, daß sie nur einen Tag aushalten würden, aber ich mußte sie trotzdem nehmen. Das System war von A bis Z falsch, aber es war nicht meine Sache, das System zu kritisieren. Ich hatte zu heuern und zu feuern. Ich stand in der Mitte eines Teufelsrades, das sich so rasch drehte, daß sich niemand darauf halten konnte. Was wir brauchten, war ein Mechaniker; aber nach der Logik unserer Bonzen war der Mechanismus in Ordnung, alles ging reibungslos und wie geschmiert, nur daß die Dinge zeitweise in völlige Unordnung gerieten. Und diese zeitweilige Unordnung brachte Epilepsie, Diebstahl, Vandalismus, Perversion, Nigger, Juden, Huren und Gott weiß was noch alles – manchmal Streiks und Aussperrungen mit sich. Dieser Logik folgend, griff man zu einem großen Besen und fegte den Stall gründlich aus, oder man nahm Knüppel und Gewehre zur Hand und prügelte den armen Idioten Verstand ein, die unter der Illusion litten, die Dinge seien von Grund auf falsch. Es machte sich gut, dann und wann von Gott zu sprechen oder ein kleines Gemeinschaftssingen zu veranstalten – vielleicht ließ sich sogar hin und wieder ein Bonus rechtfertigen, wenn Worte nichts mehr ausrichten konnten. Aber alles in allem war das Wichtigste, weiter zu heuern und zu feuern; solange es Männer und Munition gab, hieß es für uns vorwärts, kämmt weiter die Schützengräben durch. Inzwischen schluckte Hymie weiter Abführpillen, so viele, daß es ihm das Hintergestell verrissen hätte, hätte er eins besessen, aber er hatte keines mehr, er bildete sich nur ein, einen Kaktus zu pflanzen, er bildete sich nur ein, in seinen Topf zu scheißen. In Wirklichkeit war der arme Scheißer in Trance. Es galt hundertundein Büros zu überwachen, und jedes hatte einen Stab von Boten, der von mythischen, wenn nicht von hypothetischen Ausmaßen war, und ob die Boten wirklich oder unwirklich, greifbar oder ungreifbar waren, Hymie mußte sie von morgens bis abends herumdirigieren, während ich die Lücken füllte, was auch imaginär war, denn wer konnte sagen, ob ein Neuling, wenn er in ein Büro beordert war, dort heute oder morgen oder jemals ankam? Manche von ihnen gingen in der Untergrundbahn oder in den Kellerlabyrinthen der Wolkenkratzer verloren; manche fuhren den ganzen Tag mit der Hochbahn umher, denn in Uniform hatten sie freie Fahrt, und vielleicht hatten sie noch nie das Vergnügen gehabt, den ganzen Tag mit der Hochbahn umherzufahren. Andere sollten nach Staten Island fahren und landeten in Canarsie oder wurden halb ohnmächtig von einem Polypen zurückgebracht. Manche vergaßen, wo sie wohnten und verschwanden völlig von der Bildfläche. Manche, die wir für New York anstellten, tauchten einen Monat später in Philadelphia auf, als wäre das ganz in Ordnung und nach Adam Riese richtig. Wieder andere brachen nach ihrem Bestimmungsort auf und stellten unterwegs fest, daß es einfacher war, Zeitungen zu verkaufen, und sie verkauften sie in der Uniform, die wir ihnen gegeben hatten, bis sie aufgegriffen wurden. Manche schließlich marschierten aus einem merkwürdigen Selbsterhaltungstrieb geradewegs in die psychiatrische Klinik.
Wenn Hymie morgens kam, spitzte er erst einmal seine Schreibstifte; er tat das andächtig, ganz gleich, wie viele Anrufe auf ihn einstürmten; spitzte er nicht schleunigst, wie er mir später erklärte, als erstes die Schreibstifte, würden sie niemals gespitzt. Als nächstes warf er einen Blick aus dem Fenster, um nachzusehen, wie das Wetter war. Dann trug er mit einem frischgespitzten Stift auf die neben ihm liegende Schiefertafel oben in ein Kästchen die Wetterlage ein. Das erwies sich oft als nützliches Alibi, erklärte er mir. Wenn der Schnee dreißig Zentimeter hoch auf dem mit Glatteis bedeckten Boden lag, dann war sogar der Teufel selbst zu entschuldigen, wenn er die ‹Wanderbriefe› nicht rascher herumdirigierte, und der Personalchef war auch zu entschuldigen, wenn er an solchen Tagen die Vakanzen nicht aufzufüllen vermochte – nicht wahr? Aber warum der gute Mann nicht zuerst seinen Kaktus pflanzte, statt an dem Klappenschrank herumzustöpseln, sobald seine Stifte gespitzt waren, blieb mir ein Rätsel. Auch das erklärte er mir später. Jedenfalls begann der Tag immer mit Durcheinander, Beschwerden, Verstopfungen und Vakanzen. Er begann auch mit lauten, stinkenden Fürzen, schlechtem Atem, zerfetzten Nerven, mit Epilepsie, Hirnhautentzündung, niedrigen Löhnen, überfälligen Nachzahlungen, mit ausgetretenen Schuhen, Hühneraugen und entzündeten Ballen, mit Platt- und Senkfüßen, mit verlegten Notizbüchern und verlorenen oder gestohlenen Füllfederhaltern, mit Telegrammen, die in der Kloake schwammen, mit Drohungen des Vizepräsidenten und guten Ratschlägen der Abteilungsleiter, mit Reibereien und Streitereien, mit Wolkenbrüchen und gerissenen Telegrafendrähten, mit neuen Kontrollmethoden und der Abschaffung der alten, mit der Hoffnung auf bessere Zeiten und einem Gebet um den Bonus, der nie kam. Die neuen Boten gingen über Bord und wurden mit Maschinengewehren beschossen; die alten gruben sich tiefer und tiefer ein, wie Ratten in einen Käse. Niemand war zufrieden, vor allem die Kundschaft nicht. Ein Telegramm war binnen zehn Minuten in San Francisco, aber es konnte ein Jahr dauern, bis es den Empfänger erreichte – wenn es ihn überhaupt je erreichte.
Der Christliche Verein Junger Männer, darauf versessen, die Moral der jungen Arbeitnehmer in ganz Amerika zu heben, hielt in den Mittagsstunden Versammlungen ab: Wollte ich nicht vielleicht ein paar adrett aussehende Burschen hinbeordern, damit sie sich William Carnegie Asterbilt junior anhörten, der fünf Minuten über ‹Kundendienst› spräche? Mr. Mallory von der Öffentlichen Wohlfahrt wollte gern wissen, ob ich nicht gelegentlich ein paar Minuten dafür erübrigen könnte, mit ihm über die Musterstrafgefangenen zu sprechen, die bedingt entlassen waren und gerne jede Arbeit, sogar die eines Boten, annehmen würden. Mrs. Gugenhoffer von der Jüdischen Armenpflege wäre sehr dankbar, wenn ich ihr helfen würde, einige ins Elend geratene Familien zu unterstützen – ins Elend geraten, weil jedes Familienmitglied entweder verkrüppelt, körperbehindert oder sonst invalide war. Mr. Haggerty vom Heim für verwahrloste Knaben war sicher, daß er genau die richtigen Jungen für mich hatte, wenn ich ihnen nur eine Chance geben wollte; sie alle seien von ihren Stiefvätern oder -müttern schlecht behandelt worden. Der Bürgermeister von New York würde es zu schätzen wissen, wenn ich dem Überbringer des Briefes, für den er sich in jeder Weise verbürgen könne, meine besondere Aufmerksamkeit schenken wolle – aber warum zum Teufel er besagtem Überbringer nicht selbst eine Anstellung gab, blieb ein Rätsel. Ein Mann beugt sich über meine Schulter und drückt mir ein Stück Papier in die Hand, auf das er soeben geschrieben hat: «Ich verstehen alles, aber nicht hören Stimmen.» Neben mir steht Luther Winifred, seine verschlissene Jacke wird von Sicherheitsnadeln zusammengehalten. Luther ist zu zwei Siebteln reinblütiger Indianer und zu fünf Siebteln Deutschamerikaner, wie er mir erklärt. Von der indianischen Seite her gehört er zu den ‹Krähen›, den ‹Krähen› aus Montana. Zuletzt hat er Fensterladen eingehängt; aber er hat so gut wie keinen Hintern in der Hose und schämt sich, in Gegenwart einer Dame auf eine Leiter zu steigen. Er ist vor kurzem aus dem Krankenhaus gekommen und ist daher noch ein wenig schwach, aber nicht zu schwach, wie er glaubt, um Telegramme auszutragen. Und dann ist da Ferdinand Mish – wie könnte ich ihn vergessen? Er stand den ganzen Morgen in der Schlange, um mich zu sprechen. Seine Briefe hatte ich nie beantwortet. War das recht? – fragte er mich sanft. Natürlich nicht. Ich erinnere mich dunkel an den letzten Brief, den er mir aus der Katzen- und Hundeklinik am Grand Concourse geschickt hatte, wo er Pfleger war. Er sagte, er bereue es, diesen Posten aufgegeben zu haben, aber er habe es seines Vaters wegen getan, der zu streng mit ihm gewesen sei und ihm keinerlei Erholung oder Zerstreuung außer Haus gegönnt habe. «Ich bin jetzt fünfundzwanzig», schrieb er mir, «und glaube nicht, daß ich weiter mit meinem Vater zusammen schlafen sollte, meinen Sie nicht auch? Ich weiß, man hält Sie für einen sehr feinen Gentleman, und ich stehe jetzt auf eigenen Füßen, daher hoffe ich …» McGovern, das alte Faktotum, steht an Ferdinands Seite und wartet, daß ich ihm das Zeichen gebe. Er möchte Ferdinand an die Luft setzen, er erinnert sich an ihn, wie er sich vor fünf Jahren in voller Uniform vor dem Hauptbüro auf den Gehsteig legte und einen epileptischen Anfall bekam. Nein, Scheiße, ich bring's nicht fertig. Ich gebe dem armen Hund eine Chance. Vielleicht schicke ich ihn nach Chinatown, wo es leidlich ruhig zugeht. Während Ferdinand im Hinterzimmer eine Uniform anzieht, schwatzt mir ein Waisenknabe die Ohren voll, der «helfen will, daß die Gesellschaft blüht und gedeiht». Er versichert mir, wenn ich ihm eine Chance gäbe, würde er jeden Sonntag in der Kirche für mich beten, bis auf die Sonntage, an denen er sich bei seinem Vormund melden muß. Angeblich hat er nichts angestellt. Er habe dem Jungen lediglich einen Stoß gegeben, und der Junge fiel auf den Kopf und war tot. Der Nächste: ein Ex-Konsul aus Gibraltar. Hat eine schöne – allzu schöne – Handschrift. Ich sage ihm, er solle abends wiederkommen – etwas mit ihm stimmt nicht. Inzwischen hat Ferdinand in der Garderobe einen epileptischen Anfall bekommen. Glückliche Fügung! Wäre ihm das in der Untergrundbahn passiert, mit einer Nummer an seiner Mütze und allem Drum und Dran, hätte ich schön in der Tinte gesessen. Der Nächste: ein Einarmiger, fuchsteufelswild, weil McGovern ihn abgewiesen hat. «Zum Teufel! Bin ich denn nicht stark und gesund?» brüllt er, und um das zu beweisen, hebt er mit dem gesunden Arm einen Stuhl hoch und zertrümmert ihn. Ich gehe zum Schreibtisch zurück, und dort liegt ein Telegramm für mich. Ich öffne es. Es ist von Georg Blasini, Ex-Bote Nr. 2459 vom Südwestbüro. «Es tut mir leid, daß ich so bald aufhören mußte, aber der Posten war nicht geeignet für meine Charakterbeschaulichkeit. Ich bin ein wahrer Lieber der Arbeit und Mäßigkeit, aber oft wir können unseren persönlichen Stolz nicht kontrollieren oder bezähmen.» Scheiße!
Anfangs war ich begeistert, trotz der Dämpfer von oben und der Drängelei von unten. Es fehlte mir nicht an Einfällen, und ich verwirklichte sie, ob es nun dem Vizepräsidenten gefiel oder nicht. Etwa alle zehn Tage wurde ich vorgeladen und getadelt, weil ich ‹zu gutherzig› sei. Ich hatte nie selbst Geld in der Tasche, verfügte aber freigebig über das anderer. Solange ich der Boss war, hatte ich Kredit. Ich gab das Geld mit vollen Händen aus; ich verschenkte meine Kleider und meine Wäsche, meine Bücher, alles, was überflüssig war. Hätte es in meiner Macht gestanden, dann hätte ich den armen Hunden, die mir in den Ohren lagen, die Gesellschaft geschenkt. Wenn man mich um einen Nickel bat, gab ich einen halben Dollar; wurde ich um einen Dollar gebeten, gab ich fünf. Ich kümmerte mich einen Dreck darum, wieviel ich weggab, denn es fiel mir leichter, zu borgen und zu geben, als die armen Teufel abzuweisen. Nie in meinem Leben sah ich eine solche Anhäufung von Elend, und ich hoffe, sie nie wieder sehen zu müssen. Es gibt überall Arme, es gab immer welche und wird immer welche geben. Und unter dieser schrecklichen Armut brennt eine Flamme, doch gewöhnlich so niedrig, daß sie fast unsichtbar ist. Aber sie ist da, und wenn man den Mut hat, sie anzufachen, kann eine Feuersbrunst daraus entstehen. Unaufhörlich wurde ich gedrängt, nicht zu nachsichtig, nicht zu gefühlvoll, nicht zu mitfühlend zu sein. Bleiben Sie fest! Bleiben Sie hart! ermahnte man mich. Scheiß drauf! sagte ich mir, ich will freigebig, nachgiebig, verständnisvoll, duldsam und mitfühlend sein. Anfangs hörte ich jeden bis zu Ende an. Wenn ich ihm keine Arbeit geben konnte, gab ich ihm Geld, und wenn ich kein Geld hatte, gab ich ihm Zigaretten oder gab ihm Mut. Aber ich gab! Die Wirkung war schwindelerregend. Niemand kann die Ergebnisse einer guten Tat, eines gütigen Wortes abschätzen. Ich wurde überschwemmt mit Dankbarkeit, guten Wünschen, Einladungen, rührenden, gutgemeinten kleinen Geschenken. Wenn ich wirkliche Macht besessen hätte, statt das fünfte Rad am Wagen zu sein, hätte ich vielleicht Gott weiß was zustande gebracht. Ich hätte die Kosmodämonische Telegrafen-Gesellschaft von Nordamerika dazu benutzt, die Menschheit Gott zuzuführen. Ich hätte ganz Nord- und Südamerika verwandeln können, und Kanada obendrein. Ich hatte das Geheimnis in der Hand: man mußte freigebig, gütig, geduldig sein. Ich arbeitete für fünf. Drei Jahre lang schlief ich kaum. Ich besaß kein heiles Hemd, und weil ich mich schämte, meine Frau anzupumpen oder die Sparbüchse des Kindes zu plündern, bestahl ich oft den blinden Zeitungshändler bei der Untergrundstation, um morgens das Fahrgeld zusammenzubekommen. Ich hatte soviel Schulden, daß ich zwanzig Jahre hätte arbeiten müssen, wenn ich sie je hätte abzahlen wollen. Ich nahm von denen, die hatten, und gab denen, die brauchten, und das war das Richtige. Ich würde genau wieder so handeln, wenn ich in der gleichen Lage wäre.