Der revolutionäre Präsident
www.weltkiosk.com
© WELTKIOSK
Pappelallee 78–79, 10437 Berlin, Germany
1. Auflage, 2021
Alle Rechte vorbehalten.
Art Direction: Paul Finn, Fitzroy & Finn
www.fritzroyandfinn.co.uk
Umschlaggestaltung: BASICS09
unter Verwendung eines Fotos von Gonzalo Fuentes © Reuters
Satz: Thorsten Kirchhoff
ISBN 978-3-942377-21-8
eISBN 978-3-942377-22-5
Für Verena
Am Abend des 14. Juli ereignete sich das Feuerwerk. … Bunte, knallende Raketen gebar der Horizont. Auf den Schultern der Väter jubelten die Kinder. Diese Kinder, die niemals aufhören werden, Republikaner zu sein, auch, wenn sie einmal Opfer der Politik werden müssten. Denn sie haben in einem Alter, in dem ein Feuerwerk erhaben erscheint, den fernen, aber verwandten Glanz einer Flamme gesehen, die: Revolution heißt!
— JOSEPH ROTH
Vorwort
1 WER IST EMMANUEL MACRON?
Die Romanfigur — Der Grenzgänger — Der Hegelianer — Der Unfehlbare
2 ZWEIFEL UND VERZWEIFLUNG IN FRANKREICH
Der 21. April — Permanenter Ausnahmezustand — Candide oder der Optimismus
3 MACRONS THEORIE DER MACHT
Rückkehr der Autorität — La doctrine Macron — Die Technokratie-Demokratie — Königswahl — Der Geschichtenerzähler
4 MACRONS DRITTER WEG
Kein Gerhard Schröder — Steuerakrobatik — Meritokratische Revolution — Les Misérables — Aufstand der Gelbwesten — Unbeirrbar — Coronavirus-Etatist — Der neue Kapitalismus — Inkohärent wie das Leben
5 VOM MARKTEUROPA ZUM MACHTEUROPA
Die Vision — Gemischte Bilanzen — Realismus und Gaullismus — Der europäische Identitätspolitiker — Je diskreter, desto erfolgreicher
6 SCHICKSALSWAHL 2022
Links liegen gelassen — Der reaktionäre Aufklärer — Zerreißprobe für die Republik — Die Wiederwahl in Reichweite
Danksagung
Anmerkungen und Quellen
«Die Franzosen wollen mit Träumen regiert werden», sagte Napoleon Bonaparte einmal über seine Landsleute. Und es stimmt, Frankreich ist eine Nation, die an Träume glaubt. Liberté, Égalité, Fraternité, das ist das idealistische Versprechen, das Vermächtnis der Französischen Revolution von 1789 und der Aufklärung. Die drei Wörter stehen über der Eingangstür jeder Schule im Land. Aufgabe der Politik ist es, das einzulösen, diesem republikanischen Dreiklang gerecht zu werden — und zwar auch, um der Welt als Vorbild zu dienen. Ein hoher Anspruch, zumal wenn Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit immerzu im Widerstreit stehen.
Die träumerische ist zugleich eine frustrierte Nation. Unablässig folgen Politik-Skandale auf Sex-Affären, Streiks auf Terroranschläge. Immer wieder flammen gewalttätige Protestbewegungen auf. Ein sehr freigiebiger und zugleich sehr repressiver Staatsapparat wahrt den sozialen Waffenstillstand — er verwaltet die politische und wirtschaftliche Stagnation. Lange vor der Coronavirus-Pandemie trat das Land in einen permanenten Ausnahmezustand, mental und real.
In der Psychologie gelten Idealisten mit hohem Anspruch an sich selbst als anfällig für Lebenskrisen. Öffnet sich eine Kluft zwischen Realität und Erwartungen, bauen sich innere Spannungen auf. Dann schwindet das Selbstvertrauen, es weicht der Niedergeschlagenheit. Zwischen Traum und Trauma: Aus diesem Stoff macht man gute Romane. Ungleich schwieriger, daraus gute Politikgeschichte zu schreiben. Michel Houellebecq, der erfolgreichste, aber auch der pessimistischste französische Schriftsteller, befindet nüchtern: «Frankreich hat ein Talent zur Depression.» Um nicht ohne Ironie anzufügen: «Ich ähnele Frankreich.»1
Frankreich wirkt stets gefährdet, am Rand der (Selbst-)Überforde-rung. Das weckt Ängste, durchaus auch in Deutschland. Berlin sorgt sich, dass der wichtigste europäische Partner irgendwann abhandenkommen könnte. Was, wenn jenseits des Rheins die Frustration überhandnimmt: wenn die Mehrheit der Französinnen und Franzosen aus Politikverdrossenheit bis hin zur Verzweiflung die Rechtspopulistin Marine Le Pen in den Élysée-Palast wählt? Das Houellebecq’sche Traumszenario eines Austritts Frankreichs aus der Europäischen Union ist vielleicht mehr als eine Romanfantasie.
Doch Frankreich ähnelt nicht einzig Houellebecq. Es erkennt sich auch in einem anderen, ebenso leidenschaftlichen Kritiker der Verhältnisse: Emmanuel Macron.
Im Präsidentschaftswahlkampf 2017 rief Macron die Franzosen auf, ihre Träume nicht preiszugeben. «Denen, die an nichts mehr glauben — den Zynikern, Defätisten und Niedergangs-Propheten ringsum —, sagen wir: Das Beste liegt vor uns!» Es ist einer der Schlüsselsätze zum Verständnis des Rätsels Macron, vorgetragen in einem Lyoner Sportstadium.2
Er hatte — und hat noch heute — einen glaubwürdigen Plan: Frankreichs Wirtschaft dem Wettbewerb zu öffnen und im Gegenzug Europa nach außen zu stärken, auf dass die EU mit aller Macht die Unternehmen, die Menschen und die europäische Identität schütze. Aus dem «Markteuropa» soll ein «Machteuropa» werden. Denn ein bloßer Markt kann weder die Wohlfahrt der Europäerinnen und Europäer noch ihr Vertrauen in die Demokratie sichern.
Aus dem Stand heraus und geradewegs durch die neue Mitte überflügelte Monsieur «Weder-links-noch-rechts» die Bewerber aller etablierten Parteien. Sein Appell an den Mut zur Hoffnung, der in den Franzosen schlummert genau wie die Lust am Pessimismus, brachte ihn in Frankreich an die Macht und in Europa ins Scheinwerferlicht. Am Tag seines Amtsantritts als der achte Präsident der Fünften Republik sagte er: «Frankreich hat entschieden, der Aufklärung nicht den Rücken zu kehren, sondern sich der Zukunft zuzuwenden.»
Was ist wirklich neu an der politischen Philosophie des Mannes, der eine Politik jenseits aller Lager predigt und die heutige Debatte als eine Auseinandersetzung zwischen reaktionären Nationalisten und progressiven Europäern zu ordnen versucht? Wie erklärt sich, dass Macron die Republik durch den globalen Kapitalismus, den islamistischen Terror und die neue Identitätspolitik amerikanischer Prägung zugleich gefährdet sieht? Welche Politik verfolgt Macron, seit er im Machtzentrum angekommen ist? Hat er Frankreich revolutioniert und Europa neu gegründet, wie er es als Kandidat gelobte? Und die Präsidentschaftswahl im April 2022 wirft die Kernfrage auf: Träumen die Franzosen Macrons Traum?
Man verbringt sein Leben damit, Beweggründe zu romantisieren und Sachverhalte zu vereinfachen.
— BORIS VIAN
Frankreichs Karikaturisten tun sich schwer mit Emmanuel Macron. Jacques Chirac war der hünenhafte Bonvivant. Nicolas Sarkozy der ordinäre Kleine, der sich aufplustern muss. François Hollande der lüsterne, schwabbelige Angsthase. Doch was genau soll man an Macron überzeichnen?
Er ist weder groß noch klein. Der Nordfranzose misst einen Zentimeter weniger als der Durchschnitt, nämlich 1,73 Meter. Schmächtig, aber nicht zu übersehen. Eine gewisse Eleganz, wiewohl mit Zahnlücke. Ein Mann, mehr Kopf als Körper. Mit der schmalen Krawatte und dem noch enger geschnittenen Anzug gleicht er auf frappierende Weise Boris Vian, dem Chansonnier und Kultautor der 1950er Jahre. «Was kümmert es mich, ob ich hässlich oder hübsch bin. Es kommt einzig darauf an, den Leuten zu gefallen, die mich interessieren», schrieb Vian.
Frankreichs Kommentariat ist sich bis heute im Unklaren, wen sich die Franzosen 2017 da eigentlich angelacht haben. Der linken Philosophin Myriam Revault d’Allonnes erscheint Macron als «ungreifbar».3 «Er ist ein seltsamer Mensch. Nicht fassbar. Er lässt sich nicht dechiffrieren», konstatierte Michel Houellebecq.4 Macron sagt selbst immer wieder: «Die Franzosen wissen nicht, wer ich bin.»5
Die Linke beschimpft ihn als «Präsident der Reichen» und «neoliberalen Abbauer des Sozialstaats». In der Tat: Reiche, die ihr Vermögen in Aktien und Finanzmarktanleihen halten, profitieren übermäßig von Macrons Steuersenkungspolitik. Er ist stolz darauf, «pro business» zu sein, und schwächt, ohne zu zögern, den Arbeitnehmerschutz. Und wo sein Vorgänger François Hollande die Spitzenverdiener mit 75 Prozent besteuern wollte, erwiderte Macron, das mache Frankreich «zu einem Kuba ohne Sonne».
Aber: Als Präsident hat er den Netto-Mindestlohn und die Mindestrente stärker angehoben als seine beiden Vorgänger zusammengenommen. Ein neues Gesetz, das die Nationalversammlung auf seine Initiative hin verabschiedet, erlaubt der Steuerfahndung, Daten sozialer Netzwerke wie Instagram zu verwenden, um Steuerhinterziehern auf die Schliche zu kommen — wenn sie beispielsweise behaupten, nicht in Frankreich zu leben oder arm zu sein. Macron verdoppelt die Vaterschaftsurlaubstage und halbiert die Größe von Schulklassen in sozialen Brennpunkten (auf maximal zwölf Schüler). Er stellt dazu Tausende neue Lehrkräfte ein und hebt ihre Löhne um 3 000 Euro jährlich an. Er sagt der «Menstruations-Armut» den Kampf an und lässt in Frauengefängnissen und bei lokalen Tafeln für Bedürftige Automaten mit kostenfreien Hygieneartikeln aufstellen.
Den Karikaturisten ist es misslungen, Macron als Geldmenschen zu entlarven; irgendwie fehlt ihnen eine griffige Chiffre. Macron trägt weder eine Ray-Ban-Sonnenbrille auf der Nase noch eine Rolex ums Handgelenk wie Sarkozy, ebenso wenig lässt er sich auf die Yacht französischer Industriekapitäne einladen, zu denen er allemal Abstand hält. Die «old economy» interessiert ihn nicht sonderlich. Lieber mischt er sich unter französische Start-up-Gründer. In seinen vier Jahren bei der Investmentbank Rothschild & Co. hat er zwar insgesamt 2,9 Millionen Euro verdient. Aber laut der staatlichen Stelle, die die Konten der Präsidentschaftskandidaten durchleuchtet, verfügte Macron 2017 über eins der kleinsten Vermögen aller Bewerber: nur ein Drittel des Kapitals von Linksaußen Jean-Luc Mélenchon. Und er fährt einen Volkswagen Baujahr 2005. Geldgetrieben sieht anders aus (umweltbewusst möglicherweise auch).
Macrons Wirtschaftspolitik ist orthodox, sie könnte als Checkliste der Politikempfehlungen des Internationalen Währungsfonds durchgehen. Die Reden des Staatspräsidenten sind viel zu lang; er liebt es, vor Publikum die Einzelheiten seiner Reformpläne durchzudeklinieren. Dennoch entspricht er nicht dem Klischee des kühlen, der Realität entrückten Technokraten wie der einstige Präsident Valéry Giscard d’Estaing, der Ende 2020 verstorben ist.
Macron ist immer auch der geschichtsbewusste Philosophenpräsident; er will weniger ein Manager als vielmehr ein in langen Zeiträumen denkender Staatsmann sein. Indessen sucht er mehr als seine Vorgänger den Kontakt zur Bevölkerung. Auf dem Höhepunkt der «Gelbwesten»-Proteste im Winter 2018–19, die das ganze Land lahmlegten, lancierte Macron den Grand Débat National: Binnen 80 Tagen fanden 10 134 Gesprächsrunden statt; die Franzosen waren eingeladen, ihre Anliegen und Sorgen zu äußern. Macron ging auf Frankreich-Tournee und reihte 16 Aussprachen von insgesamt 93 Stunden aneinander. Er hörte zu, gab recht, widersprach und erläuterte, was das Zeug hält. In diesen «Großen Debatten» war manchmal geradezu körperlich zu spüren, wie sich im Publikum die Frustration und Spannung in Luft auflösten. Trotz des anbrechenden und in Frankreich stets rebellischen Frühlings verebbten die Proteste.
Macron trägt Europas hartherzige Migrationspolitik mit. Er lässt keine Gelegenheit aus klarzustellen, dass er die «illegale Zuwanderung» bekämpfen und den Schleppern das Handwerk legen will. Er zieht die Stellschrauben des eher liberalen französischen Ausländerrechts an, vor allem pocht er auf eine unbarmherzige Umsetzung. Den Kampf gegen den Islamismus zeichnet er als eine zivilisatorische Auseinandersetzung zwischen dem Europa der Aufklärung und dem Obskurantismus. Zur Debatte um Denkmale und sonstige Darstellungen historischer Figuren, die im Sklavenhandel involviert waren, erklärt Macron «klipp und klar», die Republik werde keine Statuen vom Sockel stoßen.6 Der erste Rechtsakt, den die neue Macron-Mehrheit 2017 im Parlament verabschiedete, ist ein Terrorismus-Gesetz, das viele einschränkende Bestimmungen aus dem temporären Notstandsgesetz in die permanente Rechtsordnung übernahm.
Trotzdem taugt Macron nicht als der typisch wertkonservative, geschweige denn «abendländische» Politiker. Er mimt weder den wohltemperierten Aristokraten, wie das Giscard d’Estaing tat, noch den rustikalen, authentischen homme du terroir, die Rolle, mit der Chirac seine Provinzliebe herauskehrte. Er hat keine Kinder. Gottesdiensten bleibt er grundsätzlich fern, und dies nicht nur, weil er Präsident einer laizistischen Republik sei, so Macron. An den öffentlichen Schulen baut Macron den Arabischunterricht aus. Er anerkennt, dass man als weißer Mann privilegiert ist,7 und lädt eine Truppe schwarzer Transsexueller für eine Performance in den Élysée-Palast. Neben der in Netz-Shirts gekleideten Tanztruppe lässt er sich knabenhaft grinsend ablichten.
Mit Emmanuel Macron sitzt zum ersten Mal seit François Mitterrand ein Intellektueller im Élysée. Keine grundsätzliche politische Entscheidung, ohne dass er sie argumentativ in seinem philosophischen Koordinatensystem unterzubringen versucht, und sei es auf Kosten der Kohärenz. Keine Rede ohne Schriftstellerzitat, ohne Verweise auf die antike Mythologie, die auch dem Bildungsbürger erst nach Wikipedia-Konsultation präsent sind. In einer Fernsehansprache zu Beginn der Pandemie forderte er die Französinnen und Franzosen auf, die freie Zeit mit Lesen zu verbringen.
Gleichzeitig hält Macron Distanz zum Tout Paris, denn diese Groß-stadt-Schickeria erscheint ihm linkskonformistisch und zynisch. Mitterrand charmierte die Presse und die Intellektuellen, die ihn verehrten. Macron zeigt den französischen Leitmedien und der Pariser Intelligenzija die kalte Schulter. Selten gibt er Interviews und wenn, dann mit Vorliebe internationalen, regionalen und sozialen Medien, was ihm den Vorwurf einträgt, er entziehe sich Frankreichs «vierter» Gewalt.
Ein Monsieur normal, wie Hollande sich zu vermarkten suchte, ist Macron schon gar nicht. Der Wahlmonarch umgibt sich zwar mit Insignien der Populärkultur, aber rasch wirkt es peinlich, so wenn er sich das T-Shirt seines Lieblingsfußballklubs Olympique Marseille überzieht. Nach dem Tod der allseits geliebten, aber nicht gerade subtilen Rocklegende Johnny Hallyday sagte Macron: «Wir haben alle ein Stück Johnny in uns» (der bekennende Hallyday-Fan ließ in seiner Loge vor Wahlkampfmeetings das Lied Gabrielle laufen, in dem der Sänger sich von den Ketten einer ungesunden Liebesbeziehung freischreit). Doch in bewusster Abgrenzung zu Hollande erklärte Macron bei seinem Amtsantritt, er werde ein «jupiterhafter Präsident» sein.8 Er möchte über dem politischen Klein-Klein schweben als Jupiter, der römische Gott der Götter. Das «normale Leben» liebt er sowieso nicht, wie er unumwunden zugibt.
Und im Gegensatz zu seinen Vorgängern ist Macron kein Frauenheld. Er flirtet zwar mit jeder und jedem, die ihm über den Weg laufen. Ein Händedruck hier, ein Augenzwinkern da. Macron ist physisch, im permanenten Charmeur-Modus. Der Schriftsteller Emmanuel Carrère berichtete nach einer gemeinsamen Reise, Macron sei im direkten Kontakt so gewinnend, dass er gar einen Stuhl verführen könnte.9
Aber der Mann, der davon besessen scheint, alle mit seiner Intelligenz und seinem Charme einzunehmen, macht keine abendlichen Spritztouren mit dem Motorroller zur Geliebten wie Hollande. Er heiratet nicht drei Mal wie Sarkozy. Er hat keine geheime Zweitfrau und Zweitfamilie wie ehedem Mitterrand. Macron hat eine 24 Jahre ältere Frau geheiratet, die bereits dreifache Mutter war. Und dann doch wieder ganz konventionell Macrons Nachnamen annahm.
Kurz: Emmanuel Macron entspricht keinem der Bilder eines Präsidenten der Fünften Republik, das die Franzosen kennen. Schwierig festzumachen — und genau deshalb unverkennbar? Oder muss man das Rad der Geschichte weiter zurückdrehen? Napoleon kam aus dem Nichts und war nur 30 Jahre alt, als er zum Ersten Konsul avancierte, politisch schwer einzuordnen, autoritär und ein Meister der Macht-Inszenierung. So wie Macron?
Die Stationen seines Lebens sind bekannt. Sie unterscheiden sich zunächst nicht grundsätzlich von denen eines jeden ehrgeizigen Politikers in Frankreich.
Die Kindheit verbringt Emmanuel Macron in der deindustrialisierten Provinzstadt Amiens im Norden des Landes: ein bildungsbürgerliches Elternhaus; das Studium an Eliteuniversitäten, gefolgt von einer Beamtenblitzkarriere. Dann der Eroberungsfeldzug: die stetige Annäherung ans Zentrum der politischen Macht. Zuerst als Mappenträger und Ideengeber wichtiger Regierungsberater. Dann der Abstecher in die Privatwirtschaft zwecks Füllens der Schatulle, um sich später die Durststrecken im Leben eines Politikers leisten zu können. Schließlich vor einer Präsidentschaftswahl — die das politische Leben Frankreichs für jeweils fünf Jahre bestimmt — die obligate Wette: Emmanuel Macron unterstützt die Bewerbung François Hollandes als Spitzenkandidat der Parti Socialiste (PS). Dies noch ehe der eigentlich für eine gemeinsame Kandidatur der linken Kräfte gesetzte Dominique Strauss-Kahn sich im Mai 2011 zurückziehen muss (der damalige Direktor des Internationalen Währungsfonds wird in New York aufgrund von Vergewaltigungsvorwürfen verhaftet).
Macron bleibt das Glück hold: 2012 setzt sich Hollande, der anstelle von Strauss-Kahn antritt, knapp gegen Amtsinhaber Nicolas Sarkozy durch. Der Mittdreißiger Macron wird Hollandes stellvertretender Generalsekretär und Berater für Wirtschaftsfragen. Als Hollande 2014 zum vierten Mal die Regierung umbildet, folgt die Ernennung zum Wirtschaftsminister: Macron tritt ins Rampenlicht und inszeniert sich als liberaler Querdenker und unerschrockener Minister der Tat.
Durch kalkulierte Tabubrüche (wenn er beispielsweise Frankreichs Jugendliche dazu aufruft, sie sollten davon träumen, Milliardäre zu werden) bringt er sich selbst in die Schlagzeilen, die linke Regierungspartei in Rage und den Staatspräsidenten in Verlegenheit. Im August 2016 begeht er schließlich den Verrat an seinem Förderer Hollande. Macron verlässt die Regierung und kündigt im November an, bei den Präsidentschaftswahlen 2017 antreten zu wollen.
Und doch ist Macron eine singuläre Gestalt auf der französischen Bühne. Nicht nur, dass er eigentlich unerlässliche Etappen im Werdegang eines klassischen Politikers überspringt. Die Präsidentschaft ist Macrons erster Wahlsieg überhaupt. Lokalpolitiker, Bürgermeister, Abgeordneter und schließlich vielleicht Minister: Für die Ochsentour hatte der ehrgeizige Einzelgänger, der nur kurz, von 2006 bis 2009, Parteimitglied der Sozialisten war, offensichtlich keine Zeit übrig. Macron schafft den Senkrechtstart, indem er sich quer zur etablierten Parteienlandschaft und zum politischen System legt.
Macrons politische und persönliche Lebensgeschichte fällt aus der Reihe. Der Schriftsteller Philippe Besson sieht ihn als «Romanfigur».10 Macrons Selbstbeschreibung: «In Wirklichkeit bin ich nur Ausfluss der Vorliebe des französischen Volks für das Romaneske.»11
In der Tat böte Macrons Leben Stoff für eine rasante Erzählung in der Kategorie «stranger than fiction», zuzüglich einer Prise Heldenepos. Hinzu kommen Romantik, überraschende Wendungen — und viel Spannung. Dies nicht nur, weil der Ausgang offenbleibt.
Die Erfahrung aus der jüngsten Geschichte lehrt uns: Reformer aus der politischen Mitte haben immer mal Populisten den Weg geebnet. Donald J. Trump folgte auf den übervorsichtigen Barack Obama, das Tandem der Links- und Rechtspopulisten Luigi Di Maio und Matteo Salvini auf den selbsternannten zentristischen «Bulldozer» Matteo Renzi. Wird sich die Geschichte wiederholen und Macron als tragischer Verlierer die Stufen des Élysée-Palasts ein letztes Mal herabschreiten und seiner Nachfolgerin, der rechtsnationalistischen Marine Le Pen, die Hand schütteln müssen?
Auf jeden Fall hat Frankreichs jüngster Staatspräsident der Geschichte zwei Qualitäten eines typischen Romanhelden. Erstens glaubt Macron, seines Glückes Schmied zu sein, Autor der eigenen Lebensgeschichte. «Soweit ich mich erinnern kann, hatte ich immer diesen Willen: Selbst mein Leben zu wählen und zu bestimmen»,12 schreibt Macron 2016 in seiner Kampagnenschrift Révolution.
Als Fünfjähriger will er von seinem Elternhaus zur Großmutter ziehen. Mit zwölf Jahren beschließt der in einer nicht-religiösen Familie aufgewachsene Macron, sich taufen zu lassen. Mit 16 Jahren verliebt sich der Teenager in Brigitte Auzière, eine Französischlehrerin an seinem Gymnasium. Mit 38 Jahren entscheidet er sich ohne Rückendeckung einer Partei, für das höchste Amt der Republik zu kandidieren. Und seiner neuen Ich-Partei En Marche! gibt er die Initialen seines Namens.
Macron entscheidet, wen er liebt, wem er dient, was er tut. Er ist autonom, sein Wille ist ihm Gesetz — das imponiert den Franzosen. Ob Jacques Chirac über die Metro-Schranke sprang oder der Chansonnier Serge Gainsbourg live im Fernsehen Banknoten in Flammen aufgehen ließ: Frankreich hegt eine große Liebe zum kleinen Regelbruch, es hat viel Sympathie für denjenigen, der eine verbotene Abkürzung nimmt, und eine Faszination für Eigenwillige, die sich über Konventionen hinwegsetzen, ja ganz und gar nach ihren Gesetzen leben.
An Macron fasziniert die Franzosen insbesondere die Liebesgeschichte mit seiner Ehefrau. Fast ein Vierteljahrhundert älter ist die Studienrätin, die Macron als Leiterin der Theater-AG seines Jesuiten-Gymnasiums La Providence in der Picardie kennenlernt und die nun Frankreichs première dame ist. Es ist die Geschichte einer amour interdit im Wortsinn: In Frankreich werden sexuelle Beziehungen (auch einvernehmliche) von Lehrpersonen mit minderjährigen Schülern und einem Altersabstand von mehr als 15 Jahren mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft.
Diese liaison dangereuse ist vor allem ein Bruch gesellschaftlicher Normen. Ganz Amiens tuschelt über die Affäre. Brigitte Auzière ist nicht irgendwer. Sie entstammt einer alteingesessenen Chocolatier-Familie. Sieben Confiserien betreibt das Unternehmen, das mittlerweile in der sechsten Generation geführt wird und dessen Spezialität macarons (!) sind, ein luftiges Mandelgebäck. Und: Brigitte ist verheiratet und Mutter; eine ihrer Töchter ist Macrons Klassenkameradin.
Die Situation wird 1993 etwas entschärft, als Macron mit 16 Jahren von Amiens nach Paris wechselt. Am Elitegymnasium Henri IV, das seine Schüler unter den Besten der Republik auswählt, absolviert er sein Abitur, das Baccalauréat. Doch auch die Hauptstadt bringt Macron nicht auf andere Gedanken, hartnäckig drängt er Brigitte in stundenlangen Telefonaten, sich von ihrem Mann zu trennen.
Ein Jahr darauf verlässt Brigitte nun ebenfalls Amiens und unterrichtet an einem Pariser Gymnasium, um bei Macron zu sein. 2007 heiratet das Paar, das auch in Paris Aufsehen erregt. «Wir hatten einigen Gegenwind. Wollten wir eine Liebe wie die unsere leben, mussten wir uns ein dickes Fell zulegen, um böswilligen Kommentaren, dem Spott und den Gerüchten standzuhalten. Wir mussten Schulter an Schulter stehen, mutig und lebensfroh sein», sagt Brigitte später in einem Interview.13
Wer wagt, gewinnt: Das Leben scheint Macron recht zu geben. Der gemeinsame Kampf für die Akzeptanz ihrer Liebe hat ihn geformt. «Unsere Geschichte hat uns den unbedingten Willen eingeimpft, nichts dem Konformismus zu opfern, wenn man mit Kraft und Ernst daran glaubt», lautet der letzte Satz des autobiographischen Teils von Révolution.
Diese ungewöhnliche Beziehung beeindruckt selbst die linke Schriftstellerin Virginie Despentes, die sonst kein gutes Haar an Macron lässt. Er habe ein «befriedetes Verhältnis zur Männlichkeit». In seinem Fall sei die Frau eines Politikers nicht lediglich eine Trophäe. Vor allem zeige sich Macrons Emanzipation und Fähigkeit, «das Leben zu leben, wie er es will».
Diese Liebe contre jede Konvention ist mittlerweile Teil von Macrons politischem Kapital geworden. Sie kennzeichnet ihn als selbstbestimmte, durchsetzungsstarke und zuweilen transgressive Persönlichkeit, die sich so leicht nicht beeindrucken lässt und selten Risiken scheut. Macron kultiviert seit Beginn seiner politischen Karriere gezielt dieses Image als Solitär jenseits der Parteien und Konventionen.
Nebem seinem Liebesleben ist sein bestes Instrument dazu auch sonst der wohlbedachte Tabubruch. Als Minister einer sozialistischen Regierung fordert er die Abschaffung der 35-Stunden-Arbeitswoche. Er macht Europa zum zentralen Kampagnenthema in einem Land, in dem alle Parteien seit dem Debakel der Volksabstimmung zum Europäischen Verfassungsvertrag 2005 die Frage zu umschiffen versuchen, wie sie denn zur Europäischen Union stünden — damals hatten 55 Prozent mit Nein gestimmt. Er bewertet Frankreichs Kolonialgeschichte als «Verbrechen gegen die Menschlichkeit», ungeachtet der vielen älteren Bürger, die im Algerienkrieg kämpften, und der 3,2 Millionen pieds-noirs («Schwarzfüße»), Algerien-Franzosen und ihrer Nachkommen, die seit 1830 in das nordafrikanische Land einwanderten und nach der Unabhängigkeit Algeriens zurück nach Frankreich gingen. Emmanuel Macron «ist dieses Kind, das Spaß daran hat, in Pfützen zu stapfen», abseits der Skipiste zu fahren und genau das Gegenteil dessen zu machen, was man von ihm erwartet, schreibt die Journalistin Corinne Lhaïk, die Macron seit neun Jahren beobachtet.14
Mit kleinen oder waghalsigen Grenzüberschreitungen zieht er die Aufmerksamkeit auf sich. Er rechtfertigt sich damit, dass er eben Klartext rede und den Franzosen die Wahrheit sage. Das Land sei zu lange vom politischen Personal mit einem «sterilisierten Diskurs» abgespeist worden. Die Wahrheit zu sagen: Ist das, ganz nach dem italienischen Philosophen Antonio Gramsci, den Macron gern zitiert, nicht der eigentliche «revolutionäre Akt», mit dem man eine Gesellschaft zwingt, in den eigenen Begriffen zu denken?
Es ist nicht so, dass seine Landsleute diese Transgressionen unisono gutheißen. Aber sie provozieren fast jedes Mal eine Debatte, die es ihnen erlaubt, miteinander ins Gespräch zu kommen, und jeden Einzelnen dazu einlädt, seine Position zu definieren. Und Widerspruch setzt zumindest Anerkennung voraus. Wenn Macron etwas bekommen hat, das sein Vorgänger Hollande nie erhielt, dann ist es dies: Anerkennung für seine Eigenständigkeit und das Wagnis, sich zu exponieren. Auch für die Chuzpe, seinen Wählerinnen und Wählern etwas zu zumuten.
Tatendrang ist eine weitere Eigenschaft des Emmanuel Macron, die ihn zum Romanhelden qualifiziert. Ursprünglich wollte der Junge aus Amiens Schriftsteller werden.15 In Frankreich wird dem erfolgreichen Intellektuellen oder Künstler zuteil, was in den Vereinigten Staaten dem Selfmade-Milliardär vergönnt ist: der sichere Weg zum Einzug in das Pantheon der Geschichte der Nation.
Man stelle sich vor: Bis zu einer Million Menschen kamen im Dezember 2017 in den Straßen von Paris zusammen, als der Gedenkgottesdienst für die Rocklegende Johnny Hallyday in der Pfarrkirche Madeleine abgehalten wurde. Weitere 15 Millionen verfolgten die Live-Übertragung im Fernsehen. Dass Hallyday Jahre zuvor in die Schweiz gezogen war, um Steuern zu sparen, war vergeben und vergessen.
Die 40 Mitglieder der Académie française, jener Institution, die seit 1635 die französische Sprache «pflegen» soll und den Inhalt des französischen Wörterbuchs bestimmt, werden buchstäblich «les immortels» («die Unsterblichen») genannt. Die Aufnahme ist die Krönung einer intellektuellen Karriere und in erster Linie Schriftstellern und Philosophen vorbehalten. Unsterblichkeit und ungeteilte Bewunderung erlangt man in Frankreich durch kulturelles Schaffen, seltener als Politikerin oder Politiker, und schon gar nicht, indem man Geld verdient.
Denn Kultur ist in Frankreich nicht Nebensache, sondern allgegenwärtig und alltäglich. Man kauft seinen trendigen deux-pièces (Zweiteiler) bei Zadig & Voltaire, den man dann beim Hamburgeressen im Take-away Le Flaubert mit Ketchup bekleckert, worauf man ihn im Kleinwagen Citroën Picasso zur Kleidereinigung Molière bringt. Bäckereien nennen sich in Anwandlung an Marcel Proust schon mal «Auf der Suche nach dem verlorenen Brot». Jeder Politiker, selbst ein Sarkozy oder eine Le Pen, will kultiviert erscheinen. Während der Gelbwesten-Krise debattiert Macron mit 64 Intellektuellen, vom Physik-Nobelpreisträger Serge Haroche bis zur Glücksökonomin Claudia Senik, live übertragen vom Radiosender France Culture.
Der Stil, die Sprache, die Umgangsformen zählen. Auf den Profilen der Internet-Dating-Plattform Tinder schreiben nicht wenige, das Gegenüber müsse bitte schön die französische Grammatik und den spielerischen Umgang mit der Sprache beherrschen. Das TV-Duell vor der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen 2017 gewann Macron nicht nur, weil Le Pen vor laufender Kamera inhaltlicher Fehler überführt wurde, sondern auch, weil sie absichtlich etwas vulgär auftrat. Es sind oft die feinen Unterschiede, die entscheidend sind. Schließlich war es der Franzose Pierre Bourdieu, der das Konzept des «kulturellen und sozialen Kapitals» in die Soziologie einführte und damit den Gedanken in die Welt setzte, dass Ungleichheit nicht nur eine Frage der Verteilung materieller Mittel sei.
In der Kulturnation Frankreich versucht sich auch Macron als Autor. Drei Bücher hat er angeblich bislang geschrieben. Als 19-Jähriger verfasste er einen ersten Roman über den spanischen Eroberer des Aztekenreiches, Hernán Cortés. Das zweite Werk handelt laut Aussage Brigitte Macrons von einer «enigmatischen, älteren Dame».16 Ein drittes Buch soll Macron über sein Leben geschrieben haben. Als Präsidentschaftskandidat dachte er darüber nach, Letzteres zu veröffentlichen. Macrons Berater sollen ihm jedoch davon abgeraten haben. Das Buch habe nicht unbedingt «literarische Qualitäten».17
Macrons erste Bücher bleiben also unter Verschluss. Und auch seine ursprünglich angepeilte Karriere als Intellektueller kommt anfangs nicht in die Gänge. Zweimal scheitert er an der Aufnahmeprüfung zur École normale supérieure (ENS), der Kaderschmiede der französischen Akademiker. Er sei abgelenkt gewesen und habe zu viel Zeit mit Brigitte verbracht, entschuldigt sich Macron heute. In Wahrheit versagte er im Fach Mathematik. Faute de mieux studiert Macron an der Pariser Sciences Po Poitik und Philosophie in Nanterre, wo er seinen philosophischen Lehrmeister Paul Ricœur kennenlernt.
Der in Frankreich hoch verehrte Giacomo Casanova schreibt in seinen Erinnerungen Aus meinem Leben: «Wenn du nichts getan hast, was wert ist, aufgeschrieben zu werden, so schreibe wenigstens etwas, was wert ist, gelesen zu werden.»18 Bei Macron ist es umgekehrt: Er muss handeln, um Geschichte zu schreiben. Und er glaubt, vom Zeitgeist getragen zu werden.
Für seine erste große öffentliche Rede 2016 wählte der Präsidentschaftskandidat Macron die Stadt Orléans und das Datum des 8. Mai. An dem Tag wird der Sieg von Jeanne d’Arc über die Engländer 1429 gefeiert, die Orléans belagert hatten. Macron erklärte: «Die Franzosen brauchen Jeanne d’Arc, denn sie sagt uns, dass unser Schicksal nicht vorbestimmt ist.» An anderer Stelle präzisiert Macron: «Die große Aufgabe liegt darin, aus der Unbedeutsamkeit auszubrechen. Seit 30 Jahren leben wir in einer Art schlecht verdautem Postmodernismus. Wir müssen wieder dazu übergehen, etwas aufzubauen, und dabei auch dafür geradestehen, dass ein Teil der Entscheidungen eindeutig und unilateral ist.»
Macron ist ein Kind der Aufklärung, zu der er sich immer wieder öffentlich bekennt. Sein Glaube an ihre Ideale hat beinahe religiöse Züge: Ratio, Autonomie und Voluntarismus sind für ihn die Treiber des «Triumphs der Hoffnung».
Einer fortschrittsskeptischen Aufklärungskritik hält Macron unbeirrbaren Optimismus entgegen. Der etwas in Vergessenheit geratene amerikanische Schriftsteller Saul Bellow schrieb 1983 nach einem Paris-Besuch: «Die Nachkriegsphilosophie in Frankreich, übernommen von Deutschland, ist wenig erbaulich. Marxismus, Eurokommunismus, Existentialismus, Strukturalismus und Dekonstruktion. Sie haben nicht das Potenzial, die französische Zivilisation wiederherzustellen.»19
Gut ein halbes Jahrhundert später würde Macron diese Beobachtung unterschreiben. «Frankreich ist kein zynisches Land, doch die Eliten glauben das. Frankreich ist nicht dafür gemacht, ein postmodernes Land zu sein», sagt der Präsident und verneint keineswegs, dass die heutige Welt voller realer Enttäuschungen sei.20 Die kritischen postmodernen «Dekonstruktivisten» hätten sehr wohl Schwachstellen des Aufklärungsversprechens beleuchtet. Aber die Postmoderne habe kein eigenes konstruktives Bild der Rolle des Menschen in der Welt geschaffen. Eine postmoderne «Haltung» helfe nicht weiter. Macron macht sie gar für einen wachsenden Relativismus und Fatalismus in den Eliten und der Gesellschaft verantwortlich, die Frankreich lähmen. Es nähre nur die Resignation, der Politik und dem Individuum die Möglichkeit abzusprechen, die Welt zu verbessern.
Macron könnte im Sinne Odo Marquards als ein «Weigerungsverweigerer» bezeichnet werden. Dem Philosophen zufolge gehört es zur Skepsis, Affirmationsverbote zu übertreten. Das kleine «Ja»-Sagen sei schwieriger als das große «Nein»-Sagen.21 Macron sagt «Ja» und handelt entsprechend. «Wenn wir das Land zum Erfolg führen und in der Kontinuität unserer Geschichte Wohlstand im 21. Jahrhundert schaffen wollen, müssen wir handeln. Wir tragen die Lösung in uns», schreibt er in Révolution.22 Handeln, auch wenn es bedeutet, Risiken einzugehen und sich die Hände schmutzig zu machen. Autorin Virginie Despentes kommentierte bei Amtsantritt Macrons im Mai 2017: «Ich hoffe, er wird kapieren, dass die Leute nahe daran sind, zu explodieren, dass sie verzweifelt sind. An seiner Stelle würde ich so wie Chirac gar nichts machen.»23 Der Präsident sagt dann vier Monate später, im September: «Wenn ich es nicht schaffe, Frankreich radikal umzubauen, wird es schlimmer, als wenn ich überhaupt nichts mache.»
Gilt die Weisheit des berühmten Leoparden von Giuseppe Tomasi di Lampedusa, dass sich alles ändern müsse, damit alles so bleibe, wie es ist? Oder aber jene Sentenz aus Despentes’ Romantrilogie Das Leben des Vernon Subutex, dass am besten alles gleichbleiben solle, damit es nicht noch schlimmer werde?
Wenn Macron an seine Erfolgschance glaubt, dann weil er sein Schicksal als Teil einer größeren Geschichte, ja einer Vorsehung betrachtet. Dem Schriftsteller Emmanuel Carrère sagt er Sätze wie: «Ich glaube, unser Land steht am Rande des Abgrunds und könnte sogar stürzen. Wenn wir nicht an einem tragischen Moment unserer Geschichte wären, wäre ich nie gewählt worden.» In einem Interview mit der Literaturzeitschrift La Nouvelle Revue Française beteuert er: «Mich stimmt paradoxerweise optimistisch, dass die Geschichte wieder tragisch wird. Europa wird nicht mehr geschützt sein, wie es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs der Fall war. Dieser alte Kontinent von Kleinbürgern, die sich im materiellen Komfort geborgen fühlen, ist daran, ein neues Abenteuer zu beginnen, in dem die Tragik zurückkommt. … Und in diesem Abenteuer können wir wieder zu einem neuen Elan finden, dem sich auch die Literatur nicht entziehen wird.»24