Beiträge zur Geschichte der altchristlichen Literatur und Theologie
BEGRÜNDET VON
OTHMAR PERLER
HERAUSGEGEBEN VON
FRANZ MALI / BEAT NÄF / GREGOR EMMENEGGER
Für meine Mutter
Hanny Emmenegger-Staffelbach
26. Juli 1939 – 2. Juli 2012
Christliche Glaubensaussagen werden heute von vielen Gläubigen selbstverständlich losgelöst von einem naturwissenschaftlichen Hintergrund gedeutet. Allein schon der Versuch, eine Jungfrauengeburt als medizinisches Phänomen ernstzunehmen, wirkt für sie befremdlich. Doch religiöse Vorstellungen sind durch den Kontext geprägt, in welchem sie entstanden sind. Dazu gehören auch Naturphilosophie und die Heilkunde. Besonders deutlich zeigen sich diese Wechselwirkungen bei Themen um die Jungfrau Maria, so etwa bei der Frage nach der Stellung der Frauen, der Empfängnis durch den Heiligen Geist und der anschliessenden jungfräulichen Geburt Christi. Das vorliegende Werk geht der Frage nach, in welcher Weise ein solcher Einfluss feststellbar ist und welche Auswirkungen die Rezeption dieser Lehren auf die Entwicklung des Dogmas hatten. Es zeigt sich, dass die Jungfrauengeburt während Jahrhunderten auch als medizinische Gegebenheit wahrgenommen und gedeutet wurde, was konkrete Auswirkungen auf den Glaubensinhalt hatte.
Die Fragestellung dieses Buches betrifft somit Aspekte christlicher Dogmengeschichte. Spekulationen darüber, was tatsächlich in Mariens Schoss geschehen sein könnte, das später alljährlich am 25. März (Verkündigung des Herrn) und neun Monate darauf am 25. Dezember (Weihnachten) kommemoriert werden sollte, sind folglich nicht Gegenstand dieses Buches. Ich interessiere mich einzig dafür, was in den ersten Jahrhunderten darüber geschrieben und geglaubt wurde – und welche Rolle die Medizin dabei spielte.
Die Idee zu dieser Arbeit ist die Frucht eines günstigen Kairos: die Lektüre des Apokryphons des Johannes im Koptischkurs, Thomas Laqueurs Buch „Auf den Leib geschrieben“ auf dem Nachttisch und ein zufälliges Galenzitat wenig später in der Bibliothek. Plötzlich traten ganz neue Aspekte in der gnostischen Schrift zum Vorschein. Von da an entdeckte ich immer neue Passagen in theologischen Werken, die sich auf dem Hintergrund der antiken Medizin neu deuten liessen. So reifte allmählich der Plan, mich mit diesem Thema systematisch auseinanderzusetzen und schliesslich meine Habilitation dazu zu schreiben.
Die vorliegende Arbeit wurde im Herbst 2012 von der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg i.Üe. als Habilitationsschrift angenommen. Für die Publikation wurde sie geringfügig überarbeitet und mit einem Index versehen. Neuere Publikationen konnten nur vereinzelt berücksichtigt werden.
Eine wesentliche Phase der Auseinandersetzung mit diesem Thema waren Kolloquien, Vorlesungen und Seminare an den Universitäten Freiburg, Luzern und Bern sowie der Arbeitskreis Patristik. Von den Studierenden und den Kolleginnen und Kollegen kamen Anregungen, Impulse und viel Interesse – dafür sei ihnen allen hier gedankt.
Mein herzlichster Dank gilt ebenfalls den Gutachtern Prof. Franz Mali, Prof. Max Küchler und Prof. Enrico Norelli für ihre hilfreichen Kommentare. Prof. Otto Wermelinger, Prof. Matthias Schmidt, PD Dr. Simon Peng, Dr. Martin Brüske und Dr. David Neuhold verdanke ich zahlreiche bibliographische Hinweise und neue Einsichten durch stimulierende Diskussionen. Christina Sutter danke ich sehr für das Gegenlesen der Arbeit, Dr. Christoph Junck und Prof. Franz Mali für Anmerkungen und Korrekturen in den Übersetzungen.
Der letzte und grösste Dank gilt meiner Familie: Meiner Frau Yolanda, ohne deren vielfältige Unterstützung dieses Buch nie fertig geworden wäre, sowie meinen Kindern Max und Gianna, die mir unermüdlich gezeigt haben, wann es genug des Bücherschreibens ist.
Düdingen, Weihnachten 2013 |
Gregor Emmenegger |
Über den Schnittbereich zwischen Medizin und antikem Christentum sind in den letzten Jahrzehnten einige neue Erkenntnisse zu Tage gefördert worden. Die diesbezüglichen Publikationen lassen sich zur besseren Übersicht anhand ihrer Themen in zwei Kategorien einteilen, die man nach der dominierenden Fachrichtung ihrer jeweiligen Vertreter und Vertreterinnen die medizinhistorische und die theologische Gruppe nennen kann.1
Medizinhistorikerinnen und -historiker publizierten primär über das anhand verwendeter Fachtermini und spezifischer Argumente zum Ausdruck gebrachte medizinische Fachwissen in der Kirchenväterliteratur,2 über Stellung und Aufgaben des Arztes sowie über den Umgang mit Kranken.3 Im Zentrum des Interesses steht vielfach die Frage, ob und inwiefern der Wandel von einer paganen zu einer christlichen Kultur in der Spätantike zum konstatierten Niedergang der Heilkunde geführt oder beigetragen habe.4 Emblematisch für diesen Themenkreis sind Untersuchungen zum Verhältnis zwischen dem griechisch-römischen Heilgott Asklepios-Äskulap und Christus.5
Arbeiten mit einem theologischen Fokus konzentrieren sich meist auf die medizinalen Metaphern, die in der antiken christlichen Literatur zahlreich verwendet werden, um theologische Sachverhalte auszudrücken.6 Besonders die in patristischen Texten weit verbreitete Rede vom „Christus Medicus“ stösst dabei auf grosses Interesse.7
Da dieses Motiv nicht nur in der christlichen Literatur, sondern auch in der Kunstgeschichte über Jahrhunderte hinweg fassbar ist, gilt es, für seine Bedeutung auch kunsthistorische Studien einzubeziehen.8
Etliche der angeführten neueren medizinhistorischen Untersuchungen zeigen, dass die alte Hypothese, die von einer Ablehnung antiker Medizin durch die Christen ausging, sich mehr und mehr als unhaltbar erweist.9 Vielmehr muss von einem positiven Verhältnis von Medizin und Christentum ausgegangen werden. Wenn also, wie Temkin10 festhält, die hippokratische Medizin zur Entfaltung einer christlichen Anthropologie unumgänglich gewesen sei, so muss dies auch in der Entwicklung einzelner Dogmen Spuren hinterlassen haben.
Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, basierend auf diesen neuen Erkenntnissen, einen weiteren Akzent in der Forschung zu setzen. Weder die medizinalen Metaphern in der patristischen Theologie noch die Spuren des medizinischen Fachwissens in der altchristlichen Literatur stehen im Fokus. Vielmehr soll die direkte Einwirkung von medizinischem Wissen auf die Entwicklung christlicher Glaubensinhalte nachgewiesen und die durch eine Rezeption antiker medizinischer Vorstellungen implizierten theologischen Reflexionen nachgezeichnet werden.11
Diese Arbeit steht von ihrem Ansatz her zwischen der christlichen Dogmengeschichte und der Medizinhistorie. Es werden Themen beleuchtet, in welchen sich diese beiden Fächer überschneiden und befruchten. Dabei müssen die beiden Begriffe „Christentum“ und „Medizin“ weit gefasst werden. Dies bedarf einer kurzen Erklärung.
Christentum wird in dieser Arbeit nicht nur auf die später als „orthodox“ rezipierten Autoren und Texte beschränkt. Gerade in den ersten Jahrhunderten ist eine klare Trennung und Unterscheidung von „Häretikern“ und „Orthodoxen“ nicht angezeigt, weil sie in vielerlei Hinsicht ein Produkt einer späteren Projektion ist. Was etwa als „nicht mehr christlich“ abzulehnen sei, das wussten Irenäus, Hippolyt oder Tertullian zwar genau, aber ihre Werke zeigen, dass schon in ihren Gemeinden ihre Ansichten teilweise nicht akzeptiert oder ignoriert wurden.
Diese Arbeit untersucht den Einfluss medizinischer Vorstellungen auf das Glaubensgut. Doch damit eine solche Einwirkung zustande kommen kann, muss als Vorbedingung die Medizin von christlichen Gruppierungen überhaupt gebilligt und zu eigen gemacht werden. Weisen solche Gruppen einen unterschiedlichen Standpunkt zur Legitimation der Medizin auf, so wurzeln sie in voneinander abweichenden theologischen Konzepten. Diskussionen über diese theologischen Differenzen sind folglich auch in Bezug auf die Haltung zur Medizin aufschlussreich.
Das Fachgebiet der Medizin ist in der Antike eng mit dem der Philosophie verbunden. Dieses siamesische Geschwisterpaar lässt sich oft nur mit Gewalt und selten sinnvoll trennen. Wenn also die Rezeption medizinischen Gedankengutes behandelt wird, so impliziert dies immer auch philosophische Konstrukte. Die Versuchung einer scharfen Grenzziehung, ob ein Argument philosophischer oder medizinischer Natur sei, entspringt der modernen Selbstverständlichkeit, wonach die Medizin strikt empirischen, naturwissenschaftlichen Gesetzmässigkeiten folgt und damit von der Philosophie klar zu unterscheiden sei. Zudem sind christliche Autoren in der Regel keine Ärzte. Auch wenn ihre Schriften oft detaillierte Kenntnisse über Heilkunde verraten, so entspricht dieses Wissen dem Wissensstand eines gebildeten Laien. Grundlage dieser Bildung sind darum weniger medizinische Fachtexte von Galen oder aus dem Corpus Hippocraticum, als vielmehr philosophische und naturphilosophische Abhandlungen. Doch genau diese medizinische und naturphilosophische Allgemeinbildung fliesst nun in die theologischen Debatten ein.
Aus dem Spannungsfeld von Theologie und Medizin habe ich nun drei Themenbereiche ausgewählt, wo die Interferenzen besonders deutlich sichtbar sind, weil die entsprechenden Glaubenssätze medizinische Lehren tangieren. Es ist dies erstens die Frage nach dem Geschlecht im Zusammenhang mit der Heilsfähigkeit des Menschen. Gnostische Texte verknüpfen dieses Problem oft mit der Figur der Maria Magdalena.12
Im zweiten Themenbereich wird die Rolle der Medizin und der Naturphilosophie für die theologischen Aussagen über Zeugung, Entstehung und Geburt des Gottmenschen Jesus Christus erörtert.13
Die Rede von der Jungfräulichkeit Mariens steht im Zentrum der dritten Fragestellung: Hier geht es um den Wandel der Konzeption der Jungfräulichkeit und die daraus folgenden theologischen Konsequenzen, besonders zur Frage der virginitas in partu.14
Bevor jedoch diese Fragestellungen behandelt werden können, müssen zwei weitere Themen angegangen werden. Zunächst soll einerseits kurz in die antike Medizin eingeführt werden, soweit dies für die späteren Untersuchungen notwendig ist.15 Grundlegende Bedeutung hat das zweite Thema. Das Postulat einer direkten Beeinflussung christlicher Glaubensinhalte durch die Medizin basiert auf einer umfassenderen These: Es wird vorausgesetzt, dass christliche Theologen eine offene Haltung zur antiken Heilkunde haben und sich damit beschäftigen. Zur Absicherung dieser Prämisse wird die Bedeutung der Medizin im frühen Christentum beleuchtet.16
Im Unterschied zu den hierzu vorliegenden medizinhistorischen Arbeiten17 habe ich den Fokus von der historischen Darstellung dieses Verhältnisses auf die dabei verwendeten theologischen Argumentationsstrukturen verlagert. Diese Argumentationsstrukturen legitimieren nicht nur die Heilkunde, sie verweisen zudem auf die theologische Verortung der Medizin. So wird die Basis für die drei anschliessenden Untersuchungen gelegt.
1In jüngster Zeit finden vermehrt interdisziplinäre Kolloquien zum Thema Medizin und patristische Theologie statt. Die anschliessend veröffentlichten Sammelbände beleuchten meist beide Aspekte. Hier ist zu nennen: V. BOUDON-MILLOT & B. POUDERON (Eds.), Les Pères de l’Église face à la science médicale de leur temps 2005 sowie die beiden Tagungsbände zum Thema Cultura e promozione umana von Troina: E. DAL COVOLO & I. GIANNETTO (Eds.), Cultura e promozione umana: la cura del corpo e dello spirito nell’antichità classica e nei primi secoli cristiani: un magistero ancora attuale? 1998 und E. DAL COVOLO (Eds.), Cultura e promozione umana: la cura del corpo e dello spirito dai primi secoli cristiani al Medioevo: contribute e attualizzazioni ulteriori 2001.
2Eine grundlegende Arbeit zu diesem Thema ist die Dissertation von H. J. FRINGS, Medizin und Arzt bei den griechischen Kirchenvätern bis Chrysostomos 1959, auf der einige spätere Publikationen basieren. In loser Folge erscheinen medizinische Dissertationen über die Fachbegriffe im Werk eines Kirchenvaters, so unter anderen von G. H. J. MÜLLER, Medizin, Arzt, Kranker bei Ambrosius von Mailand 1964; von K. SCHWEIGER, Medizinisches im Werk des Kirchenvaters Origenes 1983 und von H.-A. SCHÜTZ, Die Schrift „De medicina“ des Isidor von Sevilla 1984. Daneben gibt es ältere Studien mit diesem Schwerpunk. Neben dem Klassiker von A. v. HARNACK, Medicinisches aus der ältesten Kirchengeschichte 1892 ist zu nennen: P. D. LABRIOLLE, La physiologie dans l’œuvre de Tertullien 1906; A. S. PEASE, Medical Allusions in the Works of St. Jerome 1914 und L. ROSSETTI, Il De opiftcio Dei di Lattanzio e le suefonti 1928.
3Hier ist besonders auf das Werk von C. SCHULZE, Medizin und Christentum in Spätantike und frühem Mittelalter: christliche Ärzte und ihr Wirken 2005; hinzuweisen, das unter anderem mit einer prosopographischen Bestandsaufnahme den Wandel des Arztberufes eindrücklich nachzeichnet, aber auch die Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Christentum thematisiert. Vgl. dazu auch H. SCHADE-WALDT, Arzt und Patient in frühchristlicher Sicht 1964.
4Dazu sei auf das materialreiche Buch von O. TEMKIN, Hippocrates in a World of Pagans and Christians 1991; sowie auf die Studien von D. W. AMUNDSEN, Medicine and Faith in Early Christianity 1982; D. W. AMUNDSEN & G. B. FERNGREN, Medicine and Christianity in the Roman Empire: Compabilities and Tensions 1996; G. B. FERNGREN, Early Christianity as a Religion of Healing 1992; und The Early Christian Reception of Greek Medicine 2006; sowie auf H. SCHADEWALDT, Die Apologie der Heilkunst bei den Kirchenvätern 1965, verwiesen.
5Zu Asklepios und Christus siehe die Studie von B. HAEHLING VON LANZENAUER, Imperator Soter: der römische Kaiser als Heilbringer vor dem Hintergrund des Ringens zwischen Asklepioskult und Christusglauben 1996 sowie die umfassende Materialsammlung von E. J. und L. EDELSTEIN, Asclepius: a collection and interpretation of the testimonies 1988; die Arbeiten von K. H. RENGSTORF, Die Anfänge der Auseinandersetzung zwischen Christusglaube und Asklepiosfrömmigkeit 1953 sowie die Publikation von H. SCHADEWALDT, Asklepios und Christus 1967.
6M. DÖRNEMANN, Krankheit und Heilung in der Theologie der frühen Kirchenväter 2003 hat eine umfassende Analyse der medizinalen Metaphern in den Schriften der frühen Kirchenväter vorgelegt, für die lateinischen Väter siehe auch R. Le Coz, Les pères de l’Église grecque et la médecine 1997 und ders., Anthropologie et médecine chez les Pères latins 2003. Dagegen wird in J.-C. Larchets Werk Thérapeutique des maladies spirituelles: une introduction à la tradition ascétique de l’Église orthodoxe 1991 die patristische Tradition der Aszetik als Seelenheilkunde beschrieben. Zu einzelnen Vätern sind spezielle Studien erschienen, so M. DÖRNEMANN, Medizinale Inhalte in der Theologie des Origenes 2002; A. BREITEN-BACH, Wer christlich lebt, lebt gesund. Medizinische und physiologische Argumentation im „Paidagogos“ des Klemens von Alexandrien 2002; R. SCHNEIDER, Was hat uns Augustins „theologia zu sagen? 1957; J. COURTÈS, Saint Augustine et la médecine 1955 und viele weitere. Bei vielen Kirchenvätern kulminieren die medizinalen Metaphern im Bild vom Christus Medicus, vgl. folgende Fussnote 7.
7Die viel diskutierten Grundlagen zum Christus Medicus haben schon A. v. HARNACK, Medicinisches aus der ältesten Kirchengeschichte 1892; und K. KNUR, Christus medicus? Ein Wort an die Kollegen und die akademisch Gebildeten überhaupt 1905; vorgestellt. Neuere Studien stammen von R. DEGKWITZ, Christus Medicus - Medicus alter Christus 1985; G. DUMEIGE, Le Christ médecin dans la littérature chrétienne des premiers siècles 1972; G. FICHTNER, Christus als Arzt. Ursprünge und Wirkungen eines Motivs 1982; M. HERZOG, Christus medicus, apothecarius, samaritanus, balneator. Motive einer „medizinischpharmazeutischen Soteriologie“ 1994; M. HONECKER: Christus Medicus 1985 und 1986; J. HÜBNER, Christus Medicus - Ein Symbol des Erlösungsgeschehens und ein Modell ärztlichen Handelns 1985; H. LUTTERBACH, Der Christus medicus und die Sancti medici. Das wechselvolle Verhältnis zweier Grundmotive christlicher Frömmigkeit zwischen Spätantike und früher Neuzeit 1996; J. N. NEUMANN: Krankheit und Heilung aus der Sicht des Christentums. Christus medicus - Christus als Arzt 1996; G. ROTH, Christus Medicus 1985; E. SAUSER, Christus Medicus - Christus als Arzt und seine Nachfolger im frühen Christentum 1992; H. SCHIPPERGES, Zur Tradition des „Christus Medicus“ im frühen Christentum und in der älteren Heilkunde 1965; „Christus Medicus“ als Leitbild 1990; M.-A. VANNIER, L’image du christ médecin chez les Pères 2005.
Zum Christus-Medicus-Motiv im Werk einzelner Autoren sind diverse Arbeiten erschienen, so zu ORIGENES das Werk von S. FERNÁNDEZ, Cristo médico, según Orígenes 1999; zu AUGUSTINUS VON HIPPO jene von R. ARBESMANN The Concept of, Christus medicus‘ in St. Augustinus 1954; P. C. J. EIJKENBOOM, Het Christus-Medicusmotief in depreken van Sint Augustinus 1960; T. F. MARTIN, Paul the patient: Christus medicus and the „stimulus carnis“ (2Cor. 12:7): a consideration of Augustine’s medicinal christology 2001.
8Hier stehen allerdings oft die späteren Jahrhunderte im Blickfeld. Für die hier behandelte Epoche ist die Untersuchung des Motivs auf christlichen Sarkophagen von D. KNIPP interessant: „Christus medicus“ in der frühchristlichen Sarkophagskulptur: ikonographische Studien der Sepulkralkunst des späten vierten Jahrhunderts 1998.
9Zu dieser Frage siehe die bereits angeführten medizinhistorischen Arbeiten von TEMKIN 1991 und SCHULZE 2005, welche ihrerseits auf weiterführende Studien verweisen. Als Beispiel, wie früher Christentum und Niedergang der Medizin verbunden wurde vgl. S. D’IRSAY 1930.
10Vgl. TEMKIN 1991, 133.
11Einige wenige Arbeiten zu diesem Thema sind bereits erschienen, so der Artikel von B. POUDERON, La conception virginale au miroir de la procréation humaine: Libre réflexion sur les rapports entre la christologie et les connaissances physiologiques des premiers Pères, der die Problematik kurz umreisst. Hier ist ebenfalls das Werk von M.-H. CONGOURDEAU, L’embryon et son âme dans les sources grecques 2007 zu nennen, das im Verlauf immer wieder auf den Einfluss der antiken Medizin auf die Christologie zu sprechen kommt, ohne sie systematisch aufzuarbeiten. Mit dem Einfluss der Anthropologie auf die Christologie beschäftigte sich F. R. GAHBAUER, Das anthropologische Modell: ein Beitrag zur Christologie der frühen Kirche bis Chalkedon 1984.
12Siehe das Kapitel IV. Die gerettete Maria Magdalena ab S. 67 in der vorliegenden Arbeit.
13Siehe das Kapitel V. Empfangen vom Heiligen Geist: wie ein göttliches Kind entsteht ab S. 87 in der vorliegenden Arbeit.
14Siehe das Kapitel VI. Jungfrau und Gottesmutter: wie Maria ihr Kind gebar ab S. 197 in der vorliegenden Arbeit.
15Siehe das Kapitel II. Antike Medizin ab S. 7 in der vorliegenden Arbeit.
16Siehe das Kapitel III. Christentum und Medizin ab S. 19 in der vorliegenden Arbeit.
17Siehe insbesondere SCHULZE 2005, DÖRNEMANN 2003 und TEMKIN 1991.
Ziel dieses Kapitels ist es, einen konzisen Überblick über die antike Medizin zu geben.1 Diese Darstellung soll Rahmen und Grundlage für die folgenden Untersuchungen bieten.2
Medizin in der griechisch-römischen Antike ist eng mit dem Namen Hippokrates von Kos verbunden, so dass oft auch von „Hippokratischer Medizin“ gesprochen wird.3 Die wenigen verlässlichen Informationen zur Biographie des sich hinter diesem Namen verbergenden Arztes sind seinen etwas jüngeren Zeitgenossen Platon4 und Aristoteles5 zu verdanken, die von der viel späteren und legendarischen Vita des Soran6 phantasievoll illustriert werden. Hippokrates wurde diesen Zeugnissen zufolge um 460 v. Chr. geboren und stammte aus Kos. Die Erwähnungen bei Platon und Aristoteles bezeugen, dass sein Ansehen schnell wuchs und er zum Inbegriff eines herausragenden Arztes wurde. Aufgrund dieses Ruhmes sind zahlreiche medizinische Werke des fünften und vierten Jahrhunderts v. Chr. unter seinem Namen überliefert, später gesammelt und zu einem Corpus Hippocraticum zusammengefasst worden. Weitere Werke aus hellenistischer und römischer Zeit kamen zum Corpus hinzu. Diese etwa 60 als hippokratisch betitelten Schriften sind sowohl inhaltlich als auch formal sehr heterogen und lassen neben ganz unterschiedlichen Motiven der Autoren sowie breitgefächerten Adressaten auch differierende medizinische Vorstellungen deutlich werden. Schon in der frühen Kaiserzeit wird deshalb die Autorschaft einiger Texte diskutiert und angezweifelt. Schliesslich kann im Zwanzigsten Jahrhundert Edelstein zeigen, dass wohl kein einziges Werk aus dem Corpus mit einiger Sicherheit oder Wahrscheinlichkeit Hippokrates zum Urheber hat. Der Kern dieser Sammlung ist jedoch in dessen Epoche zu lokalisieren.7
Mit der zunehmenden Autorität der hippokratischen Werke beginnen sich um die Person des Hippokrates selbst Legenden zu ranken, die sich zunächst in 27 pseudepigraphischen Texten kristallisieren, bestehend aus Briefen, zwei Reden und einem Erlass. Diese Schriften illustrieren schlaglichtartig die legendarische Lebensgeschichte Hippokrates. Schliesslich entsteht eine zusammenhängende biographische Tradition, wie sie die drei tradierten Viten von Soran (erstes, Anfang zweites Jahrhundert n. Chr.)8 in der Suda (um 960)9 und jene von einem byzantinischen Gelehrten des zwölften Jahrhunderts belegen.10
Hippokrates gilt als das Idealbild eines Arztes, ein Mythos, hinter welchem der historische Arzt vollständig verschwindet. Er repräsentiert eine Projektionsfläche für unterschiedlichste medizinische Praktiken und wird als fiktiver Urheber und Gewährsmann für vielfältige und differierende medizinische Theorien in Anspruch genommen.
Ob Aristoteles (384–322 v. Chr.) im eigentlichen Sinne medizinische Werke verfasst hat, ist umstritten. Dennoch ist er für die antike Medizin von zentraler Bedeutung. Er entstammte einer Ärztefamilie und war deshalb auch mit heilkundlicher Literatur vertraut. In seinen zoologischen Werken stellt er zahlreiche anatomische und physiologische Beobachtungen dar, die er unter anderem auch durch systematische Vivisektion an Tieren gewonnen hat und auf den Mensch überträgt.11
Wenn in der patristischen Literatur von der Ärzteschaft als Ganzes gesprochen wird, so fällt auf, dass immer wieder auf ihre Divergenzen angespielt wird. So reagiert Clemens von Alexandrien († um 220) mit folgendem Vergleich auf den Vorwurf, die Christen seien unglaubwürdig, weil sie unterschiedliche Lehrmeinungen hätten:
Ferner können wir, um uns in dieser Hinsicht ausführlicher zu verteidigen, gegen sie auch Vorbringen, dass auch die Ärzte, obwohl sie entsprechend den Schulrichtungen, denen sie angehören, entgegengesetzte Anschauungen haben, doch tatsächlich in gleicher Weise Kranke heilen. Sollte also einer, dessen Körper krank ist und ärztliche Hilfe braucht, wegen der verschiedenen Richtungen in der Heilkunde keinen Arzt zu sich kommen lassen? Ebenso wenig aber darf einer, dessen Seele krank und voll von Trugbildern ist, die verschiedenen Richtungen als Ablehnungsgrund vorschützen, wenn es sich für ihn darum handelt, gesund zu werden und sich zu Gott zu bekehren.12
Hinter diesen fachlichen Kontroversen stehen verschiedene, untereinander teilweise verfeindete Gruppen, in welche die Ärzte13 zu Beginn der christlichen Ära aufgespalten sind.14 Die Anhänger einer solchen „ἵρεσις“, bzw. „secta“ genannten Gruppe berufen sich auf eine gemeinsame Methodologie und rekurrieren auf eine gemeinsame Gründergestalt. Ein geographisches Zentrum oder eine Organisation ist jedoch nicht gegeben. Die wichtigsten dieser „Schulen“ sind die Dogmatiker, die Empiriker und die Methodiker. Von untergeordneter Bedeutung sind die Pneumatiken und schliesslich gibt es auch berühmte Ärzte wie Rufus von Ephesus,15 die sich nicht auf eine Schule festlegen wollen und deshalb Eklektiker genannt werden.
Die Dogmatiker16 haben – trotz des Namens und im Unterschied zu den anderen Gruppen – kein eigenes, klar umrissenes Dogma. Sie kennen auch keinen eigentlichen Begründer, wenn auch Hippokrates von ihnen sehr verehrt wird. Vielmehr sind es die Anhänger der beiden grossen Schulen, der Empiriker und der Methodiker, die mit dem Begriff „δογματική αἵρεσις“ all jene bezeichnen, von deren Lehren sie sich abgrenzen. Eine „dogmatische Schule“ gibt es also als solche nicht, nur eine heterogene Gruppe von ganz unterschiedlich ausgerichteten Ärzten. Den Dogmatikern ist allerdings gemeinsam, dass bei ihnen im Gegensatz zu den Empirikern eine theoretisch-spekulative Theorie im Vordergrund steht, die es rational aus der Philosophie zu entwickeln und zu verfeinern gilt – die Dogmatiker werden deshalb auch Rationalisten genannt. Behandlungen sollten von einer Theorie über die Ursache einer Krankheit abgeleitet werden. Berühmtestes Beispiel einer solchen Theorie ist die „Humoralpathologie“17, die Lehre, wonach bei Erkrankungen die Säfte des Körpers eine zentrale Rolle spielen. Die Humoralpathologie wird unter anderen Hippokrates selbst zugeschrieben und ist im Laufe der Jahrhunderte immer wieder aufgegriffen worden, so auch von Galen.
Die Empirische Ärzteschule (meist ,,έμπειρικὴ ἀγωγή“) wird in der Mitte des dritten vorchristlichen Jahrhunderts gegründet. Als Urheber erwähnt werden Philinos von Kos, Serapion von Alexandrien oder Akron von Akragas.18 Im Gegensatz zu den Dogmatikern soll ihnen zufolge nicht die Theorie im Zentrum der Medizin sein, sondern die Erfahrung (έμπειρία). Davon könne ein Prinzip abgeleitet werden. Ihre Methode, der so genannte „empirische Dreifuss“, besteht erstens im Sammeln von eigenen Erfahrungen zu einer Krankheit (αὐτοψία), zweitens im Zusammentragen dieser Erfahrungen mit fremden Beobachtungen zu einem Bericht (ίστορία) und drittens im Anwenden dieser Informationen auf andere, ähnliche Krankheiten im Analogieverfahren (μετάβασις oder ή τοῦ όμοίου μετάβασις). Die Empiriker geraten durch eine einseitige Betonung dieses Dreifusses in Verruf und werden deswegen von Galen kritisiert.19
Die Methodische Schule (μεθοδικοί) wird von Themison von Laodizäa oder von Thessalos zur Zeit des Kaisers Nero (37–68 n. Chr.) gegründet. Die Lehre der Methodiker beruht auf der skeptischen Philosophie, von der sie, durch den Atomismus beeinflusst, die Lehre der drei Status ableiten. Diese drei Status bezeichnen die drei möglichen Zustände des Körpers, nämlich „strictus“, „medius“ (mixtus) und „laxus“ („fluens“). Folglich gibt es ihnen zufolge nur drei Grundkrankheiten zu kennen, auf die alle anderen Krankheiten zurückgehen. Darüber hinausgehendes medizinisches Wissen ist unnütz – wenn auch, wie Soran von Ephesus sagt, es das Lernen unterstützt.20 Die Aufgabe des Arztes besteht lediglich darin, herauszufinden, an welcher Grundkrankheit jemand leidet, und entsprechend entgegengesetzt wirkende Arzneimittel zu verabreichen.21 Dieser stark eingeschränkte Ursachenkatalog unterscheidet sie sowohl von den vielfältigen und heterogenen Theorien der Dogmatiker als auch von den Empirikern, die einer nicht auf Empirie basierten Theorie grundsätzlich misstrauen.
Der wichtigste Methodiker, wenn auch kein sehr orthodoxer, und zugleich der Einzige, von dessen Schriften etwas überliefert wurde, ist Soran von Ephesus.22 Nach der Suda studiert er zunächst in Alexandrien, geht nach Rom und praktiziert dort zur Zeit der Kaiser Trajan (98–117) und Hadrian (117–138).23 Es ist zu vermuten, dass er jener Soran ist, der in der Vita des Hippokrates erwähnt wird – und so ist anzunehmen, dass er sie auch geschrieben hat.24 Das neben der Vita bekannteste Werk Sorans ist die Gynäkologie. Es ist von seinen medizinischen Schriften als Einziges erhalten geblieben. Obwohl die Methodiker mit ihrer simplifizierenden Sicht der Medizin immer wieder kritisiert werden, gilt Soran als einer der besten Kenner der Materie. Für Tertullian war Soran eine unbestrittene Autorität25, besonders Sorans heute verlorene vier Bücher Über die Seele schätzte er sehr. Augustinus schliesst sich diesem Urteil über Soran an – er nennt ihn einmal sogar „medicinae auctor nobilissimus“.26
Die von Athenaios von Attaleia im ersten Jahrhundert n. Chr. gegründete Pneumatische Schule ist von untergeordneter Bedeutung. Sie verknüpft die stoische Lehre vom Pneuma als materiell gedachte Lebenskraft mit der hippokratischen Humoralpathologie.27 Die wichtigsten Vertreter dieser Schule sind Aretaios von Kappadokien und Archigenes von Apamea, wobei Letzterer auch zu den Eklektikern gezählt werden kann.
Galen von Pergamon ist neben Hippokrates die zweite, alles überragende Gestalt unter den Medizinern der Antike. Über seine Lebensgeschichte unterrichten primär Notizen aus seinen eigenen Schriften,28 zu denen auch zwei autographische Werksverzeichnisse29 gehören. Weitere Informationen finden sich in der Suda30 und in einer vor allem in arabischen Quellen bewahrten biographischen Tradition.31 Diesen Texten zufolge wurde Galen um 129 n. Chr. in Pergamon als Spross einer angesehenen Familie geboren. Er erhielt eine gründliche Ausbildung, wozu auch die Stoa, Platon und Aristoteles gehörten. Aufgrund eines Traumbildes entschied er sich mit 17 Jahren für die medizinische Laufoahn. Nach ausgedehnten Studien, auch in Athen und Alexandrien, arbeitete er zunächst als Gladiatorenarzt in seiner Vaterstadt und ging dann im Alter von 33 Jahren nach Rom, wo er mit seinen aussergewöhnlichen Fähigkeiten sowohl in Theorie als auch Praxis schnell Berühmtheit erlangte. 166 zog er sich nach Pergamon zurück. Als Grund für die Flucht erwähnt er einmal die Pest in Rom, ein anderes Mal Mordabsichten eifersüchtiger Rivalen.32 169 kam er wieder nach Rom, kümmerte sich um die kaiserliche Familie und verfasste medizinische und philosophische Schriften. Ab diesem Zeitpunkt werden seine biographischen Notizen spärlich. Weitere Reisen sind möglich, aber ungewiss. Auch ist sein Todesjahr nicht sicher zu eruieren, der Sterbeort und sein Grab bleiben unbekannt. Die Suda gibt zwar ein Lebensalter von 70 Jahren an, was den Jahren 199/200 entspräche. Dem widersprechen jedoch die Schrift De theriaca ad Pisonem, die erst zwischen 204 und 209 verfasst ist, aber pseudographisch sein könnte, sowie die arabische Tradition, die sein Alter auf 87 Jahre ansetzt und somit seinen Todestag in die Zeit um 216/217 fallen lässt.
Galens methodischer Ansatz beruht auf einer Synthese von Philosophie und Medizin, wobei Aristoteles eine zentrale Rolle zukommt. Basierend auf den richtigen Axiomen und Definitionen kann man Galen zufolge die medizinische Theorie umfassend und erschöpfend darstellen.33 Damit setzt er auch dem Schulstreit zwischen den Dogmatikern und den Empirikern ein Ende, da dieses Vorgehen auf rationalen Methoden beruht, aber immer auch empirisch bestätigt werden soll. Galen sieht sich nicht als originellen Denker, sondern versteht sich immer als in der Tradition des Hippokrates, Platons und Aristoteles stehend. Mit seinen Kommentaren zu Schriften des Corpus Hippocraticum beeinflusst er das Bild von Hippokrates so grundsätzlich, dass die hippokratische Medizin in der Rezeption von Galen als normativ zu gelten beginnt. Diese als „Galenismus“ bezeichnete Konzentrierung auf Galen prägt im Laufe der Jahrhunderte zunehmend die Medizin.34 Oreibasios von Pergamon etwa, Leibarzt und Bibliothekar des Kaisers Julian († 363), verfasst Kompendien über Galens Schriften. Da Hippokrates als Idealbild und Sammelbecken verschiedenster Theorien nur noch durch die Vermittlung Galens fassbar ist, werden für spätere Kommentatoren Galen und Hippokrates quasi zu Zeitgenossen, welche beide sich harmonisch ergänzende Lehren vertreten hätten. Galens fast unwidersprochene Autorität in der byzantinischen, arabischen und lateinischen Medizin lässt die Heilkunde bis ins 17. Jahrhundert als eine von Hippokrates begründete und von Galen abgeschlossene Theorie erscheinen.
Galen hinterlässt ein umfangreiches Werk, das schon zu seinen Lebzeiten grosse Wertschätzung geniesst und bald andere medizinische Literatur ersetzt und verdrängt. In grösserer Zahl überdauern solche nichtgalenischen Schriften nur, wenn sie Galen ausdrücklich empfohlen hat, wie das Corpus Hippocraticum, oder wenn sie fernen zum Inhalt haben, die Galen nicht behandelte, so etwa die Gynäkologie des Soran. Es ist für die Bedeutung galenischer Schriften bezeichnend, dass der Autor der Suda es nicht für notwendig erachtet, Galens Werke aufzulisten, weil er davon ausgeht, dass sie sicherlich jeder Leser kennt.35 So stehen byzantinischen Ärzten alle seine Werke zur Verfügung. Aus dem Griechischen werden sie zunächst ins Syrische und weiter ins Arabische übersetzt.36
Rufus von Ephesus, Soran und Galen gehören zu den letzten antiken Ärzten, die selbständig systematisch forschen und Neues entdecken. Galen markiert sowohl Krönung als auch Endpunkt der antiken Medizin: Er selbst hat keinen Nachfolger und keinen Schülerkreis, der weiterführen könnte, wo der Meister aufgehört hat.
Mit dem Anliegen, das medizinische Wissen zu sammeln und zu systematisieren, treten nun immer mehr Enzyklopädisten hervor. Von patristischen Autoren breit rezipiert und bis heute erhalten sind die acht Bände über die Medizin aus dem Werk über die Künste des Aulus Cornelius Celsus37 (erstes Jahrhundert n. Chr.), die Naturgeschichte des älteren Plinius38 († 79 n. Chr.) und die Disziplinen des Marcus Terentius Varro39 († 27 v. Chr.), Letztere sind jedoch verloren. Spätere Autoren wie der erwähnte Oreibasios fussen direkt auf Galen.
Neben den Enzyklopädisten finden sich auch bei Dichtem immer wieder Hinweise auf das medizinische Wissen ihrer Zeit. Berühmt ist das Lehrgedicht des Lukrez De rerum natura, worin im 5. und 6. Buch die Genese der Lebewesen und die Ursachen von Krankheiten besprochen werden.40
Es ist kein Zufall, dass sich lateinische Autoren fast nur unter den Enzyklopädisten und Dichtem finden, kaum aber bei den Ärzten, die meist griechischer Zunge waren. Die griechische Medizin gilt in den Augen etlicher römischer Autoren – auch einiger Enzyklopädisten – als Quacksalberei geldgieriger Scharlatane. Besonders Plinius scheint griechische Ärzte nicht zu mögen. Berühmt ist der von ihm zitierte Grabstein mit der Inschrift „Turba se medicorum perisse“.41 Bei der Beschreibung der Ankunft des ersten griechischen Arztes Archagathos, genannt „der Metzger“, in Rom lässt Plinius den hochverehrten Cato den Älteren († 149 v. Chr.) seinem Sohn Marcus Folgendes sagen:
Sobald jenes Volk [die Griechen] uns seine Wissenschaften gibt, wird es alles verderben, noch um so mehr, wenn es seine Ärzte hierher schickt. Diese haben sich untereinander verschworen, alle Barbaren durch ihre Medizin zu töten; sie tun selbst aber dies um Bezahlung, damit man ihnen Glauben schenken und sie uns leicht zugrunde richten können. Auch uns nennen sie Barbaren und entehren uns dreckiger als andere durch die Bezeichnung ,Schwachköpfe‘. Damit habe ich dir den Umgang mit Ärzten verboten.42
Trotz dieser kritischen Stimmen lässt sich die griechische Medizin zur Kaiserzeit im ganzen Imperium nachweisen.43
Krankheit gehört zu den Grunderfahrungen des Menschen. Gesund zu bleiben oder gesund zu werden ist keine Selbstverständlichkeit und liegt letztlich ausserhalb der absoluten Kontrolle des Einzelnen. Dies gilt besonders für jene Zeiten, als die meisten Ursachen für die Krankheiten noch unbekannt waren und stattdessen Erklärungen in einem anderen, grösseren Kontext gesucht wurden.
Medizin und Religion bilden darum zunächst eine Einheit, aus der sich die Medizin der Antike nur langsam emanzipiert. Gerade bei chronischen Beschwerden, Geisteskrankheiten und Seuchen bleibt für Betroffene eine kultische Heilung oft die einzige Hoffnung. Für sie stehen griechische Heilgötter wie Apollo, Asklepios, Hygieia, Pangeneia oder die ägyptischen Götter Sarapis und Isis zur Verfügung. Dazu kommen Heroen wie Apollonius von Tyana und Hippokrates. Der wichtigste unter diesen Helfern war zweifelsohne Asklepios, dessen Kult schon im dritten Jahrhundert v. Chr. nach Rom kommt und der dort unter dem Namen Aesculapius verehrt wird. In der Kaiserzeit ist er mit Abstand der beliebteste Heilgott, verehrt alleine oder mit anderen Göttern an über 400 Kultorten im Mittelmeerraum.44
Kernstück der sakralen Heilung, wie sie besonders in den Kultzentren des Asklepios gepflegt wird, bildet die so genannte Inkubation. Es handelt sich um einen Tempelschlaf im Allerheiligsten.45 In Traumgesichten erscheint der Gott und erteilt Hinweise zur Pflege oder bewirkt gar direkt ein Wunder.46 Oft bietet ein Asklepieion zudem eine heiltätige Quelle und Badeanlagen für rituelle Waschungen. Die Priester, die selbst sicherlich über medizinisches Wissen verfügt haben, unterhalten neben dem heiligen Bezirk Gaststätten, in denen die Patienten ihre Genesung abwarten können. Da öffentliche Spitäler erst ab dem vierten Jahrhundert mit der Christianisierung auftommen, bieten die Asklepieia für wenig begüterte Kranke die einzige Möglichkeit, eine Therapie zu bekommen. Geheilte pflegen für die Genesung dem milden Retter47 mit Votivtafeln und Spenden zu danken.48 Die Inkubation wird ebenfalls in Heiligtümern der Hygieia, der göttlichen Tochter des Asklepios, praktiziert und sind für Pan, Isis und Sarapis bezeugt.49
Natürlich gibt es neben der Tempelmedizin und der hippokratisch-galenischen Medizin auch die sogenannte „Volksmedizin“, also Heilweisen und Heilwissen von Laien und Heilem – ohne Arzt oder Priester. Diese Volksmedizin lässt sich jedoch nur schwer von der „gelehrten“ Medizin abgrenzen, denn die Übergänge sind fliessend. So idealisieren etwa römische Autoren wie Plinius die bodenständige und naturverbundene Medizin ihrer Vorfahren,50 und einige der Praktiken, die gemäss Galen, Plinius oder nach hippokratischen Schriften von Ärzten angewandt werden, grenzen für moderne Leser an „Magie“51 oder Betrug.52 Neben Hausmittelchen spielen Schutz- und Heilungszauber mit Beschwörungsformeln, Amuletten und Tränken eine grosse Rolle.53 Wenn auch die Wirksamkeit solcher Praktiken nicht von allen in Frage gestellt wird, so ist doch eine gewisse Zurückweisung davon das Kennzeichen und Merkmal eines Arztes. Die ablehnende Haltung zur Zauberei wird auch im römischen Recht verwendet, um Ärzte von Betrügern zu trennen.54 Obwohl religiöse und „magische“ Praktiken für die weniger gebildeten Menschen von überragender Bedeutung sind, erscheinen sie in medizinischen Texten nur sehr selten. Insbesondere die Zauberei wird dort meist negativ bewertet.55
Zu Beginn der Kaiserzeit beginnen einzelne Exponenten der methodischen Ärzteschule nicht nur die Zauberei, sondern eine übernatürliche Heilung generell als unmöglich abzulehnen.56 Auch wenn sie deutlich in der Minderheit bleiben, wird es folglich Diskussionen um die Wirksamkeit kultischer Heilung gegeben haben. Im Verständnis der meisten Ärzte bleibt das Verhältnis zwischen ihrer Kunst und kultischer Heilung eng aufeinander bezogen und bildet keinen Widerspruch. Bekenntnisse zu Heilgöttern wie Asklepios, Apollo oder Sarapis,57 so etwa im Hippokratischen Eid,58 und grosszügige Spenden, die Ärzte ihren Kulten zukommen lassen, bezeugen dies.59
Ob die hippokratische Medizin in der Spätantike als „säkular“ zu gelten habe, ist schwierig zu beantworten. Zwar basiert sie auf rational-spekulativen Prinzipien und hängt in ihrem Selbstverständnis direkt vom Wissen und Können des Arztes ab, nicht aber von übernatürlichem Wirken.60 Dennoch ist die Beziehung zwischen Religion und Medizin viel enger als heute. In hippokratischen Schriften wird wiederholt darauf hingewiesen, dass eine Aufteilung in „göttliche“, also von übernatürlichen Mächten verursachte Krankheiten, und „natürliche“ Krankheiten nicht sinnvoll sei. Alle Krankheiten folgen ihrer eigenen Ordnung in der gottgegebenen Natur. Darum, so wird gefolgert, sind vielmehr alle Krankheiten göttlich, weil sie aufgrund ihrer natürlichen Ursachen in der göttlichen Ordnung stehen.61 Aufgrund dieser Aussagen vertreten einige moderne Autoren die Ansicht, dass sich in der Spätantike Medizin zur Religion neutral verhält.62 Diese Neutralität ist ein wichtiger Faktor, warum es Christen möglich ist, die von ihrem Ursprung her pagane Medizin zu rezipieren, ohne sich den Vorwurf der Idolatrie einzuhandeln.
Die Neutralität der Medizin zeigt sich auch auf einer anderen Ebene: Der antike Arzt versteht sich auch als ein Seelenheiler, weil Krankheit auch eine Folge moralischer, ethischer oder religiöser Vergehen sein kann. Es ist jedoch nicht Sache des Arztes, über seinen Patienten zu urteilen, sondern nur, ihn zu heilen. Um dieser Aufgabe gewachsen zu sein, wird vorausgesetzt, dass sich ein Arzt selbst moralisch einwandfrei verhält. Da sich seelische und körperliche Krankheiten überschneiden, aber für die Gesundheit der Seele nicht die Medizin, sondern die Philosophie zuständig ist, muss ein Arzt immer auch Philosoph sein.63
Diese Ausführungen mögen genügen, um den Kontext der folgenden Untersuchungen kurz zu umreissen und zu erläutern. Einige Theorien, besonders zur Genese des Menschen, zum Geschlecht und zur Geburt werden im Anschluss an gegebener Stelle detailliert beschrieben werden.
1Detaillierte Einführungen in das Thema bieten unter anderen: H. KING, Greek and Roman medicine 2001 und dies., Health in antiquity 2005; J. KOLLESCH & D. NICKEL, Antike Heilkunst: ausgewählte Texte aus dem medizinischen Schrifttum der Griechen und Römer 1986; A. KRUG, Heilkunst und Heilkult: Medizin in der Antike 1985; K.-H. LEVEN, Antike Medizin: ein Lexikon 2005; W. MÜRI, Der Arzt im Altertum: griechische und lateinische Quellenstücke von Hippokrates bis Galen mit der Übertragung ins Deutsche 1986; V. NUTTON, Roman Medicine: Tradition, Confrontation, Assimilation 1993 und ders., Ancient medicine 2004.
2In der Einleitung habe ich bereits geschrieben, dass in der Antike Medizin und Philosophie eng verbunden sind. Doch auf eine Darstellung der Grundzüge der antiken Philosophie verzichte ich – ebenso wie der Theologie – und setze sie als bekannt voraus.
3So etwa TEMKIN 1991. Zur Begründung siehe sein Vorwort auf den Seiten IX-XII. Vgl. POTTER & GUNDERT 1998.
4PLATON erwähnt in Protagoras 311b: LAMB 1977, 98–99; und im Phaidros 270c: FOWLER 1982, 548–549, den Arzt HIPPOKRATES, dem Asklepiaden aus Kos – wobei nicht klar ist, ob mit „Asklepiade“ die Abstammung angegeben wird oder ob „Asklepiade“ als Synonym zu Arzt zu verstehen ist. Vgl. EDELSTEIN 1935, 1295–1296.
5So spielt ARISTOTELES in seiner Politik auf die geringe Körpergrösse des HIPPOKRATES an. Vgl. Politica 7,4 1326a 15: RACKHAM 1977, 554–555.
6Vgl. SORAN, Vita Hippocratis: MÜRI 1986, 44–51.
7Vgl. EDELSTEIN 1935,1308–1310. Ein kurzer Status Quaestiones mit Bibliographie findet sich bei WITTERN 2005.
8Der Autor der Vita Hippocratis, SORAN, ist entweder jener von Kos oder jener von Ephesus – vielleicht sind auch beide identisch. Die Texte der Vita und eine Übersetzung finden sich bei MÜRI 1986, 44–51, ein kleiner Kommentar ist bei TEMKIN 1991, 51–57 zu lesen.
9Vgl. BALDWIN 2006.
10Vgl. TEMKIN 1991,51–75.
11Zur Bedeutung des Aristoteles für die antike Medizin vgl. VAN DER EIJK & FRANCIS 2009.