Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne
Friedrich Wilhelm Nietzsche wurde am 15. Oktober 1844 im heute zu Lützen in Sachsen-Anhalt gehörenden Röcken geboren. Ab 1864 studierte er klassische Philologie und evangelische Theologie an der Universität Bonn. Unmittelbar im Anschluss an sein Studium wurde Nietzsche im Jahr 1869 zum außerordentlichen Professor für klassische Philologie an die Universität Basel berufen. 1879 beendete er seine Professur aus gesundheitlichen Gründen und bereiste fortan Frankreich, Italien, Deutschland und die Schweiz, immer auf der Suche nach Orten, deren Klima seiner Gesundheit zuträglich war, Nietzsche litt an Migräne und Magenproblemen.
Neben philosophischen Schriften schuf Nietzsche auch musikalische Kompositionen, Dichtungen und Prosa. Sein philosophisches Werk lässt sich in verschiedene Perioden einteilen. Nachdem es zunächst, beeinflusst durch Wagner und Schopenhauer, stark romantisch geprägt war, folgte eine positivistische Phase, in der wissenschaftlich-empirische Erkenntnis im Vordergrund stand. Was nach Vollendung von Nietzsches bekanntestem Werk „Also sprach Zarathustra“ entstand, ist häufig von großer polemischer Schärfe geprägt.
Anfang der 90er Jahre des 19. Jahrhundert begannen Nietzsches Schriften immer populärer zu werden und machten ihn weltberühmt. Nietzsche erlebte dies jedoch nicht mehr. Von seinem 45. Lebensjahr an traten zunehmend Symptome einer schweren psychischen Erkrankung zutage, die ihn zuletzt arbeits- und geschäftsunfähig machte. Er verbrachte den Rest seines Lebens als Pflegefall, aufgrund mehrerer Schlaganfälle war er zudem teilweise gelähmt und sprachunfähig.
Friedrich Nietzsche starb am 25. August 1900, im Alter von 55 Jahren, an den Folgen einer Lungenentzündung und eines weiteren Schlaganfalls.
Der Intellekt, als ein Mittel zur Erhaltung des Individuums, entfaltet seine Hauptkräfte in der Verstellung; denn diese ist das Mittel, durch das die schwächeren, weniger robusten Individuen sich erhalten, als welchen einen Kampf um die Existenz mit Hörnern oder scharfem Raubtier-Gebiss zu führen versagt ist. Im Menschen kommt diese Verstellungskunst auf ihren Gipfel: Hier ist die Täuschung, das Schmeicheln, Lügen und Trügen, das Hinter-dem-Rücken-Reden, das Repräsentieren, das im erborgten Glanze Leben, das Maskiert-Sein, die verhüllende Konvention, das Bühnenspiel vor anderen und vor sich selbst, kurz das fortwährende Herumflattern um die eine Flamme Eitelkeit so sehr die Regel und das Gesetz, dass fast nichts unbegreiflicher ist, als wie unter den Menschen ein ehrlicher und reiner Trieb zur Wahrheit aufkommen konnte. Sie sind tief eingetaucht in Illusionen und Traumbilder, ihr Auge gleitet nur auf der Oberfläche der Dinge herum und sieht „Formen“, ihre Empfindung führt nirgends in die Wahrheit, sondern begnügt sich, Reize zu empfangen und gleichsam ein tastendes Spiel auf dem Rücken der Dinge zu spielen.
Die Abhandlung „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ gehört zu den frühen Schriften Nietzsches. Sie wurde 1873 verfasst, also noch während der Zeit seiner Basler Professur. Veröffentlicht wurde der Text allerdings erst 1896 von seiner Nachlass-Verwalterin und Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche.
Bereits in diesem frühen Text zeigt sich der Philologie-Professor und Philosoph als Denker, der einen kritischen Blick hinter die Fassade der menschlichen Sprache und ihrer Begrifflichkeit wirft. Für Nietzsche ist es die grundsätzliche Metaphorisierung und die Konventionalität der Sprache, die den Inbegriff der menschlichen Realitätsvorstellung ausmacht. So werde das metaphorisch entstandene Wort schließlich zu einem abstrakten, von Konventionen geprägten Begriff. Wahrheit als Korrespondenz zwischen Denken und Sein beziehungsweise zwischen Aussage und Sache sei eine genuin menschliche Konzeption, die auf dem Vergessen ihrer Konstruiertheit beruhe und deshalb auf eine Illusion hinauslaufe. Nietzsche schreibt: „Was ist ein Wort? Die Abbildung eines Nervenreizes in Lauten. Von dem Nervenreiz aber weiterzuschließen auf eine Ursache außer uns, ist bereits das Resultat einer falschen und unberechtigten Anwendung des Satzes vom Grunde.“