Zyklisches Denken braucht man beim Nachdenken über Lebendiges.
Wir beschreiben seine Entwicklung und Anwendung in der klientenzentrierten Körperpsychotherapie und machen darüber hinaus einige Vorschläge für Verständigungsversuche zwischen Therapieschulen und sogar zwischen verschiedenen Professionen.
Wir haben die Erfahrung gemacht, dass man sich in diesen Denkstil hineinfühlen, hineinarbeiten muss. Er muss im eigenen Leben „greifen“, dann erst geht sein Reichtum auf. So merkwürdig es klingt: Es findet sich ein Denken, das weiter ist als Denken.
Unter Mitarbeit von
© 2017 Ernst Juchli und Ulrich Schlünder
www.gfk-institut.ch
Umschlaggestaltung: Lilian Caprez
Zeichnungen/Illustrationen: © Lilian Caprez
Gestaltung und technische Begleitung: Hansueli Windlin
Herstellung: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7431-8312-4
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
über das Schreiben und Lesen
Da wir über mehrere Jahre hinweg – immer wieder in Form von ein paar gemeinsamen Schreibtagen – an unseren Vorstellungen vom zyklischen Denken (zD) gearbeitet haben, ist kein kohärenter Text entstanden, der sich in einem Lesezug aus sich heraus erschließt. Stattdessen sammelten sich Textblöcke verschiedenen Charakters und unterschiedlicher Durchdringungstiefe an: Narrationen neben Essays, Begriffsentwicklungen neben geschichtlichen Aufarbeitungen, die wir den LeserInnen für eine ganz persönliche Leseeinteilung überlassen müssen. Das verbindende Element und die zentrale Absicht sollten jedoch kenntlich werden: Wir wollten die Bewegungen, die Möglichkeiten und die zentralen Charakteristika des zyklischen Denkens vorstellen, eines Denkstils, der sich unserer Auffassung nach besonders gut für die „Navigation“ im lebendigen und immer schon sich veränderndem Feld der Arbeit mit und in menschlichen Prozessen eignet, wie es die Psychotherapie beispielsweise ist. Dass das zD neben einer Verstehenshilfe auch ein Medium der Verständigung unter Kolleginnen und Kollegen in gleichen oder benachbarten Arbeitsfeldern (Medizin, Pädagogik etc.) darstellen könnte, ist uns sehr willkommen!
In manchen Abschnitten kann man das zD sozusagen bei der Arbeit besichtigen, weil der Text durch zyklische, schlaufenartige Denk-, Kommunikations- und Schreibbewegungen zustande gekommen ist. Wir hoffen, dass erkennbar wird, dass dies nicht zu schierer Redundanz, sondern zur Erstellung eines beweglichen Geflechts führt, das nach unserer Ansicht gegenstandsangemessen ist.
Wir wünschen uns, dass Leserinnen und Leser sich frei fühlen, ihren eigenen Weg durch das Text- und Theoriegeflecht zu nehmen, dass sie einzelne Blöcke in Sequenz kombinieren bzw. kontrastieren, andere überspringen. Auch das wäre dem zD angemessen, in dem man den Ausgangsort und die Pfade der Denkbewegungen ja auch selber wählen muss, wählen darf.
… am Schluss geschrieben
Ich merke, ich muss diesen Text abschliessen, darf ihn nicht meinen ganzen Denkgarten überwuchern lassen. Lieber mal wieder ein neues Beet anlegen. Vieles ist nicht gesagt, vieles könnte ich besser schreiben. Manchmal, wenn ich selber wieder ein Stück lese, denke ich, es ist grauenhaft schlecht geschrieben. Es wäre doch eine reizvolle Arbeit, den Stil zu verbessern. Dann hats aber auch wieder Stücke, die gefallen mir plötzlich, ich beginne dort neu zu denken, es regt mich selber wieder und noch einmal an. Ich empfinde den Text dort als lebendig, fühle mich selber lebendig beim Lesen. Und dann wirds wieder mühsam. Ich wollte doch unkompliziert schreiben, jetzt versteh ich selber nicht recht, muss mich anstrengen. Ich krieg ein wenig Selbstmitleid, hätt ich mir doch mehr Zeit nehmen können, mehr dran bleiben, es wär sicher besser geworden. Dann trau ich mir aber nicht, vielleicht wärs auch uniformer, glatter, mir gar nicht entsprechend geworden. Und das heisst wahrscheinlich, ich hätts doch nicht wesentlich anders gekonnt.
Was wünsch ich mir denn vom Leser, der Leserin?
Sag ich doch besser, was wünschte ich mir von mir selber beim Verbesserungsgedanken?
Ich wünschte mir, mit etwas mehr Rhythmus geschrieben zu haben, weil ich mir vorstelle, mir eben wünsche, dass sich LeserInnen getragen fühlen könnten beim Lesen. Dass sie nicht versuchen müssen, Satz für Satz genau zu verstehen, jeden Satz gleich einordnen zu können.
Es soll den Leser also durchaus mal hier- und dorthin tragen oder stossen. Sich mal freuen, vielleicht vertraut sein mit etwas Beschriebenem oder sich quälen, weil man nicht ahnt, wo es denn hingehen soll, sich ärgern, weil man gar nicht einverstanden ist oder nicht recht versteht. Ich wünschte mir, die Leserin würde ab und zu wieder weiter vorne nochmals einsteigen, nochmals Anlauf nehmen, um dann mit neuem Schwung durch ein paar Seiten durchzufliegen.
1. Teil: Zur Einführung: Denken über Denken
Eine launige, die Phantasie und das Mitdenken anregende Einführung von Ernst Juchli. Wenn diese irritierte Fragen auslöst („Wo führt das hin?“, „Was ist hier die große Linie?“) oder gar zu ersten Orientierungen führt („Ah, deshalb ist es sinnvoll, sich mit Denken und Denkstilen zu beschäftigen!“), hat sie ihren Zweck auf jeden Fall erfüllt.
2. Teil: Ins zyklische Denken hinein
Ein erster großer Textblock von Ernst Juchli: Unter der Leitidee, dass eine Denkstilreflexion zu einer Verständigung zwischen verschiedenen Lagern, Schulen oder sogar einzelnen Professionellen führen könnte, schildert er einen Weg in das zyklische Denken hinein und entfaltet Zug um Zug Elemente, Bewegungen und „Werkzeuge“ des zD, so wie sie im Kontext des Ausbildungsinstituts GFK entstanden sind. Interessant auf jeden Fall, wie er das Kategorienproblem angeht, mit einem/unserem Denkstil gleichzeitig einen vermittelnden Denkstil vorstellen zu wollen!
3. Teil: Auffaltung des zyklischen Denkens, mit dem Text über „Verstehen“ von Ulrich Schlünder
Der zweite große Textblock von Ernst Juchli: Hier schildert er in sehr persönlicher Reflexion seinen Werdegang vom Klienten zum Therapeuten, vom Lehrer zum Ausbilder in „seiner“ Schule, die Entwicklung des zyklischen Denkstils (zD). Man kann als LeserIn konzeptionelle Fortschritte wie die Auffaltung des Resonanzbegriffs oder den Feinschliff an der „energetischen Brille“ mitvollziehen, aber genauso gut zD im praktischen Zusammenhang wie der dialogischen Körperarbeit oder dem Focusing entdecken. Die vielleicht kürzeste Zusammenfassung der GFK-Theorie und – Praxis. Ach ja: und eine beeindruckende Handhabung von Metaphern...
4. Teil: Zum Schluss, Denken über Denken
Vorläufig letzter Baustein von Ernst Juchli: Er greift noch einmal die Denkstil-Thematik aus dem 2. Teil auf, schildert Relationen zwischen dem zD und anderen Stilen, entfaltet die Leitvorstellung des zD: der lebende Organismus, so wie er untrennbar mit seiner Umwelt in unzählbaren Verbindungszyklen „verhängt“ ist, sich dabei in lebendigen Spiralen (formal: funktionalen Zyklen) aufbaut, hält und organisiert.
5. Teil: Zyklisches Denken als Praxis
Wie können nur zwei Menschen, die so unterschiedlich denken und reden wie wir zwei, trotzdem vom Selben schreiben? Und wie kann nur ein Leser in diesen verschiedenen Ausdrucksweisen das Gemeinsame erkennen? Er müsste dann schon ordentlich verstanden haben, was wir mit zD meinen. Oder er müsste dieses Rätsel als zusätzliche Hilfe verstehen, um zu verstehen.
Uli schreibt von seinem Erleben in der Therapie her. Schlaufe um Schlaufe eröffnet er verschiedene Perspektiven auf die psychotherapeutische Situation. Wichtig ist ihm dabei der Begriff der Kontingenz, den ich zugegebenermassen nicht gekannt habe. Was da gemeint ist, ist aber sehr wichtig, und es ergibt ein hilfreiches Konzept, um in das zD hineinzukommen. Und es ergibt sich auch eine Vertiefung und Ausweitung des personzentrierten Therapieverständnisses.
6. Teil: Zyklisches Denken und Forschung
Eine imponierende Aufarbeitung von Forschungsansätzen in und für Psychotherapie, insbesondere die Prozess(er)forschung. Dazu auch eine Skizzierung der Ansätze von wichtigen Forschern: Condon, Merten, der auf Krause aufbaut, interessanterweise sieht Uli hier auch Rogers und Buchholz. Am ausführlichsten bespricht er die Synergetik von Schiepek und Haken. Darin gibt es zum Beispiel eine kleine, gut lesbare Zusammenfassung der Grundbegriffe der Selbstorganisation. Immer wieder gibts einen kleinen Schlenker zum GFK-Ansatz.
Es gibt viel launige Bemerkungen zum Drum und Dran. Vermutlich erfreuen sie den Kenner, und für mich Amateur in diesem Gebiet bringen sie Leben und Entspannung ins nicht immer einfache Nachdenken.
Ich hab ja für die Erarbeitung meines Textes nur aus meinem Gehirn abgeschrieben oder es sogar, noch einfacher, einfach laufen lassen. Uli macht das ein Stück weit auch, aber eben mit viel seriöser Recherchierarbeit und Wissensaufbereitung unterlegt.
7. Teil: Prozessforschung, die dem zyklischen Denken gemäss wäre – auf dem Weg zu Prinzipien
Ulrich Schlünder zieht hier eine persönliche Bilanz aus dem Erarbeiteten über die Prozessforschung, insbesondere über den Forschungsansatz der Synergetik. Er vergleicht dessen Denken mit dem zD. Und stellt dann in einigen Punkten zusammen, was eine Forschung, die dem zD gemäss wäre, leisten sollte. Er schliesst mit ganz konkreten Bedürfnissen als Praktiker an eine Forschung, die aus dem zD entstehen müsste.
In dem meiner Meinung nach wunderschönen kleinen letzten Abschnitt wird die Forschung wieder an ihren Platz verwiesen, das Leben darf wieder das Wichtige sein.
Mit Metaphern und Analogien gehts los:
Ball, Spiel, Denken, miteinander?
Der Ball ist rund, ausser dort, wo er aufliegt. Da ist er etwas abgeplattet. Aber ist das wichtig für den Ball, für „Ball“? Ist nicht wesentlicher, dass er eher ein Spielzeug, ein Trainingsgerät ist? Und dafür braucht es eine Wand oder die Luft und vor allem eine Person, die ihn wirft. Er muss elastisch und griffig sein. Der Ball ist nur mit Wand und Person und Tätigkeit das, was wir mit Ball meinen (zumindest muss es sich jemand dazu vorstellen). Und nicht alles Runde eignet sich gleich gut. Und anstatt Wand kann eine andere Person da sein.
Wenn wir etwas ausgraben, vermutlich ist es alt, und es scheint etwas zu sein, es hat irgendwie eine gemachte Form, aber wir erkennen es nicht, kennen weder die Wand noch die Person dazu – was könnts denn nur sein?
Ist ein Gedanke rund oder eckig? Ist das wichtig oder doof? Was wäre denn die Wand für ihn? Die Person wär wohl ich, oder dann das Gegenüber. Was ist das Spiel? Was wird trainiert?
Das runde Ding wird geworfen und gefangen und es prallt ab und wird doch wieder erwischt und es trifft und es fliegt daneben oder es wird ungeschickt geworfen und doch wieder erwischt oder geholt oder aufgelesen.
Existiert der Gedanke schon oder wird er immer neu gemacht und dann an den zuletzt gemachten oder gefundenen gefügt? Oder verändert er den alten? Gibt es vielleicht eher den Vorgang? Und erst ein gewähltes Ergebnis, das wir dann zweimal unterstreichen im Kopf oder auf dem Papier, das ist dann was und nur das bleibt? Oder unterstreichen wir Zwischenetappen nur einmal, aber einmal unterstrichen reicht auch zum Auswendiglernen, bleibt also auch? Das können wir so abmachen: Alles Unterstrichene wird auswendig gelernt, und dann ist es ein Gedanke!
Und wie kann man nun damit spielen oder handeln oder entscheiden oder sich verlieren oder sich oder dich oder uns...?
Könnten wir vielleicht besondere Spiele erfinden? Abmachen, Regeln suchen, Sanktionen, Trainingsprogramme, Spezialtricks, erlaubte und verbotene, aber praktische? Oder machen wir immer dasselbe und merken gar nicht, dass es ein Spiel ist und wir auch ein anderes spielen könnten? Oder spielen wir sowieso schon verschiedene und meinen nur, wir seien im selben?
Sind Gedanken vielleicht so etwas Ähnliches wie Gefühle? Könnten wir dort vielleicht etwas lernen, besser verstehen? Wär so ein Vergleich Denken? Also Gefühle gibts sicher verschiedene, manchen haben wir Namen gegeben (unterstrichen und auswendig gelernt), viele sind so Mischungen. Sie sind verschieden stark, haben je eine Dauer, sie bauen sich auf, sie vergehen. Wir können sie bei uns gegenseitig manchmal erkennen oder zumindest ahnen. Es gibt Gruppen von Leuten, die mit ihren Gefühlen ähnlich funktionieren – die Italiener oder Südamerikaner oder Deutschschweizer. Oder vielleicht die Kinder im Vergleich mit den Erwachsenen. Oder die Angstsensiblen oder die Regelsensiblen1. Oder sagen wir besser: Alle, die wütend sind, haben etwas gemeinsam?
Wenn wir in ein Land nach Afrika reisen und dort unter Menschen sind, dann scheinen sie ja Gefühle zu haben wie wir auch. Aber was ist denn damit? Was meint es denn wohl? Was muss man ernst nehmen, wo sollte man mitmachen? Und wenn die in unser Land kommen und da wohnen, arbeiten, leben wollen? Was sollen sie ändern, ablegen? Was sollen wir lernen über sie oder sogar mit ihnen zusammen? Soll es dann neue gemeinsame Gefühle geben? Wie kommt man denn zusammen zum Unterstreichen und Auswendiglernen?
Und wenn nun ein Psychotherapeut und ein Dachdecker und eine Pfarrerin und eine Krankenschwester einander etwas vordenken? Und jemand ist sechzig und jemand grad fertig mit der Ausbildung und jemand hat viel gelesen und jemand kann gar nicht lesen? Und spielen die Physiker gegen die Pfarrerinnen oder mit ihnen? Und gibts da Regeln, wie man darf oder soll oder nicht? Oder sind die einen sowieso besser dran, weil sie sich auskennen, ungefähr, mit Gott? Oder sie kennen sich aus, ungefähr, mit den Atomen? Und die einen lesen alte Schriften und moderne Auslegungen, und die anderen machen Experimente und sie rechnen? Muss sich Gott an die Zahlen halten? Er hat sie schliesslich erfunden, also steht er darüber, wie die Könige über dem Recht?
Wahrscheinlich wärs doch klug und auch bescheiden, wenn wir mal sagen würden: die Leute denken vermutlich verschieden, und wer es besser macht, das ist noch nicht von vornherein klar, und wenn man deren Gedanken folgen soll, wer da Lehrer sein soll und wer Lernender, das müsste mal neu geklärt werden. Und vielleicht, nein doch wahrscheinlich, können wir das nicht für alle Menschen zusammen festlegen. Weder ist klar, wer der Klügste ist, noch wer am meisten Macht, noch wer den grössten Überblick hat, ja noch nicht mal, ob wir überhaupt dasselbe Spiel spielen. Es scheint etwas desolat zu sein.
Über das alles haben natürlich schon einige Leute nachgedacht. Sie haben versucht, etwas Ordnung in dieses Kuddelmuddel zu bringen. Sie haben natürlich so gedacht, wie sie denken konnten, nicht wie die anderen. Also – scheint mir einleuchtend – entsteht die Idee, die muss man dann unbedingt, finde ich, unterstreichen, vielleicht sogar zweimal: Es gibt, (wir denken uns das aus, wir stellen fest (alles nur so ungefähr)) verschiedene Denkspiele, Denkstile. Diese bestimmten Spiele muss man lernen und üben. Die Spiele haben sich vermutlich entwickelt, sie werden gelehrt, es gibt eine Didaktik dafür, grundlegende Übungen, es gibt Verfahren, die dann feststellen, dass jemand mitspielen darf, diese Spielart also gut genug kann. Manche Spiele haben Schiedsrichter, nicht alle, manche spielen auf ein Ergebnis hin, bei manchen ist das Spiel sich selbst genug. Handball gegen oder mit Golf ist ziemlich dumm. Handball gegen Fussball ziemlich unfair. Boxen gegen Karate ziemlich interessant. Sandkasten gegen Puppen könnte vielleicht zu Sandkasten plus Puppen geändert werden, zum Tore schiessen ist das aber keinesfalls geeignet. Warum soll Tore schiessen wichtig sein? Ist lang leben besser als gesund und kräftig leben? Oder gar vergnüglich leben? Kann Bedeutung finden ausgespielt werden gegen körperlich beweglich sein? Ist das der Sandkasten-Puppen-Fall? Ist richtig besser als kreativ?
Also sollen die Physiker nur mit den Physikern, die Theologen gefälligst unter sich bleiben, die Handwerker sind zuständig für die Häuser und sonst sollen sie die Klappe halten? Oder sollen wir doch ein Denk-Esperanto einführen?
Psychotherapeuten haben es oft nicht leicht, sich anderen verständlich zu machen, ihren Klienten oder ärztlichen Kollegen, ja oft gar Psychotherapeuten anderer Schulen. Und umgekehrt ist das Problem auch da. Sie meinen, ihre Klienten zu verstehen, aber vielleicht begegnen sie ihnen ja nur mit ihrer spezifischen Brille, können sie gar nicht mehr neu anschauen, ihnen neu zuhören. Eine Schwierigkeit, die nicht nur Psychotherapeuten haben. Sie sollten es nur, hoffentlich, am ehesten bemerken. Vermutlich kann auch jede Einzelperson ähnliche Schwierigkeiten in ihrem Alltag entdecken. Was meint sie denn, wenn sie sagt „richtig“? Werde ich verstanden, wenn ich sage „beliebig“?
Am Beispiel von mir selber: „Beliebig“ ist für mich, als auch mathematisch Ausgebildetem, ein ganz positiv besetztes Wort. „Wir“ Mathematiker sagen das, wenn etwas wirklich frei wählbar ist. Wohin legt man den Nullpunkt bei einer Skala, etwa bei der Temperatur? Frei wählbar, vorerst, dann übernehmen es die anderen, wenns sinnvoll erscheint. Von wo aus beginne ich eine Wegstrecke zu messen? Von Wil, weil ich da wohne, oder von Zürich aus, weil ich da arbeite und weil das auf vielen Karten ein wichtigerer Ort ist, also schon Wegstrecken vorgemessen sind auf der Landkarte. Soll ich im Uhrzeigersinn zählen oder grad umgekehrt? Ganz beliebig! Zu meiner grossen Überraschung musste ich feststellen, dass für viele andere Menschen, die sich auch theoretische Fragen stellen, also durchaus auch intellektuelle Menschen, „beliebig“ oft einen eher negativen Beigeschmack hat. So im Sinn von „nicht überlegt“, „nicht durchdacht“, „bisschen Wischi-Waschi“. Nun, so was ist ja nicht so ein grosses Problem, wenn wirs bemerken. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich in diesem Fall ziemlich lang brauchte, selbst mit mir nahen Personen, diese Differenz wirklich zu bemerken und sie dann noch ernst zu nehmen. Noch viel anspruchsvoller wird es bei Begriffen wie „heilen“, „Krankheit“, „Gesundheit“, „herleiten“, „begründen“, „das ist doch klar“. Und wie stehts erst mit scheinbaren Sachverhalten wie „forschen“, „wissenschaftlich“, „Gegenübertragung“, „Akzeptanz“? Es kann uns da hin- und herschmeissen zwischen: „Tun wir doch nicht so kompliziert, wir verstehen uns doch im Grossen und Ganzen schon.“ Und: „Ach, es ist hoffnungslos, ich weiss ja noch nicht mal, was bei meinem Gegenüber „grün“ bedeutet.“
Richtig schwierig für die Verständigung oder nur schon für meine eigene Weltsicht wird es dann, wenn jemand „Tatsachen“ behauptet. „Dass es das Unbewusste gibt, das ist ja nun mal klar.“ „Dass eine Grippe durch Viren ausgelöst wird, das ist ja nun mal klar.“ „Dass man sich impfen lassen soll: unverantwortlich, wenn man dagegen ist“. „Dass sich die Erde um die Sonne dreht und nicht umgekehrt, das weiss heutzutage ja jedes Kind.“ „Dass Margarine gesünder ist als Butter, ist ja nun durch die Forschung hinlänglich bewiesen.“ Und so weiter. Wir könnten Tausende solcher Sätze und „Aussagen“ hinschreiben. (Mathematisch: Eine Aussage ist ein Satz, von dem eindeutig beweisbar ist, dass er entweder wahr oder falsch oder ein Axiom ist. Wer versteht denn das schon wieder, ausser den speziell Geschulten?) Und sicher ist für jeden Satz ein Überzeugter und ein Gegner aufzufinden. Wahrscheinlich gibt es für beide gute Argumente. Wenn nun etwa Mediziner gegenseitig Verschiedenes behaupten, wie soll ich armer Laie mich dann entscheiden? Wenn ein Ingenieur gegen einen Automechaniker steht, ein Pfarrer gegen einen Philosophen, meine Mutter gegen meine Lehrerin, der Psychotherapeut gegen den Feldenkraislehrer ...?
Wir Einzelpersonen haben da manchmal grosse Schwierigkeiten – und dann die Politiker erst, die das Geld verteilen müssen für die Forschung und die Behandlungsmethoden, die entscheiden müssen, welches denn nun die „Fachkräfte“ sind. Alle behaupten sie es von sich. Wer ist es denn wirklich?
Ich habe in meiner saloppen Einleitung geschrieben, es sei ein Kuddelmuddel. Es ist aber schlimmer, es ist oft ein unfairer Machtkampf, ein unwürdiges Gezerre oder ein verletzendes und kränkendes Nichtverstehen, Nichtachten.
Als junger Lehrer und auch noch als Anfänger-Psychotherapeut habe ich meine Hoffnung in der Situation lange darin gesehen, dass man nur im Denken genügend weit zurückgehen müsste, also genügend weit in die Basis unseres Wissens und unserer Erfahrung, dann komme man, kommen wir alle, doch da hin, wo wir dasselbe glaubten und wüssten. Im Prinzip meinten und wollten und wünschten wir doch alle dasselbe, ganz unten, ganz im Wesentlichen. Dann müssen wir nur noch genau genug folgern, keine Denkfehler dabei machen, dann müsste es klappen. Ach, was für ein idealistischer, mathematischer Unsinn. Wie wenns Axiome gäbe, die alle „einsähen“, wie wenns Schlussweisen gäbe, die alle nachvollziehen könnten. Es ist nicht so. Weder bei den Grundannahmen noch bei den Schlussweisen noch bei der Wahrnehmung. Es gibt kaum Tatsachen, die alle Menschen so, eben als Tatsache, sehen können. Da sagte doch letzthin eine sehr geschätzte Kollegin: „Aber dass wir doch entweder Mann oder Frau sind, das ist ja wohl klar.“ Ha, das Geschrei, das da begann. Von anderen Kulturen, die vier, fünf Geschlechter kennen, von der Gender-Biologie-Problematik, von den Körpern, die nicht eindeutig sind. Und dann die schrecklichen Operationen, die Ärzte, manchmal auch Eltern, wollen und machen, um da eine Eindeutigkeit hinzukriegen. Das Leiden, das dann die Betroffenen manchmal haben. Eine Tatsache? Quatsch!
So geht das „Uns-Einigen“ nicht. Und müssen wir das überhaupt? Ist es notwendig, sinnvoll, dass wir uns einig sind? Überall? Oder manchmal? Da gibts ja Geschmacksfragen, und das darf sein. Das ist in unserer Kultur zumindest einigermassen unbestritten. Aber darf es auch, oder muss es vielleicht sogar, verschiedene Heilungsvorstellungen nebeneinander geben können? Muss es vielleicht verschiedene Forschungsvorstellungen geben können, verschiedene Religionen oder eben die Ablehnung davon? Soll es vielleicht ganz verschiedene Überzeugungssysteme geben?
Ludwik Fleck
Vor einigen Jahren bin ich auf diesen Autor gestossen. Genau zu dem Thema, das ich oben beschrieben habe, hat er viel gedacht und geschrieben. Ich will das Eine und Andere hier erwähnen, weil es mir wirklich hilfreich vorkommt für den Versuch, das zD (abgekürzt für „zyklischen Denkstil“ oder „zyklisches Denken“) zu beschreiben und besser zu etablieren. Für jemanden, den das Thema genauer interessiert, ist es sicher lohnend, Fleck selber zu lesen2, der seine Gedanken schon vor dem 2. Weltkrieg aufgeschrieben hat. Er hat bakteriologisch und serologisch gearbeitet, war also in der medizinisch-mikrobiologischen Forschung tätig. Da ist ihm aufgefallen, dass sogar unter Biologen verschiedene Auffassungen darüber zu finden waren, was denn (nur als Beispiel) ein Bakterium sei. Ausserdem musste er bemerken, dass immer Auffassungsdifferenzen entstanden zwischen Forschern, den „Entdeckern“ eines Wirkstoffs, einer Krankheit oder einer ihrer möglichen Ursachen, und den spezialisierten Ärzten – und dann nochmals Differenzen bestanden zu den eigentlich ausführenden Hausärzten. Er zeigt eindrücklich, auch an anderen Beispielen, wie ganz verschiedene Auffassungen nebeneinander da sind. So sei auch gar nicht eindeutig, werde nicht von allen geteilt, was denn eine „Tatsache“ sei, musste er aus seinen Vergleichen schliessen.
Für Menschen, die mit anderen Menschen arbeiten, seis psychotherapeutisch oder beraterisch oder seelsorgerisch, ist dies aus ihrer Erfahrung heraus fast selbstverständlich. Doch neigen auch solche Leute dazu, zu meinen, es gäbe eine richtige oder zumindest optimale Auffassung.
Fleck hingegen meint, und ich teile seine Auffassung, dass es sinnvoll ist, sowohl von Denkkollektiven als auch von zugehörigen Denkstilen zu reden. Ein Denkkollektiv vertritt und pflegt einen Denkstil, und ein Denkstil gehört in ein Denkkollektiv. Die Menschen dieser Gruppe reden, schreiben, argumentieren auf ihre typische Weise. Darüber hinaus haben sie auch ihre besondere Art der Wahrnehmung. Diese Wahrnehmung wird oft speziell geschult, so kann es etwa grundlegende Experimente oder grundlegende Übungen bei ihnen geben. Alle Neuen, etwa Auszubildende, machen diese Experimente und Übungen, lernen das Handwerk, lernen, wie die Ergebnisse zu verstehen sind, wie sie einzuordnen sind in einen Satz von schon bestehenden, feststehenden Betrachtungsweisen. Es gibt also Lehrer, Lernende, oft eine Didaktik, manchmal gibt es Witze, die nur „Eingeweihte“ verstehen.
Ich erinnere mich gut an die ersten Semester meines Mathematikstudiums, die Witze, die einige unserer Professoren und Assistenten erzählten, die wir Anfänger zu Beginn überhaupt nicht lustig fanden. Und rückblickend muss ich sagen, dass es stimmt, wir hatten eben den Witz der Mathematik, worum es eigentlich geht, noch überhaupt nicht verstanden. Dasselbe Erlebnis hatte ich in theologischen Kreisen, die habe ich überhaupt öfter als spezielle Liebhaber von Witzen erlebt. Oder die Witze der Musiker über die Bratschisten, die Tenöre, die Anekdoten über die Dirigenten usw.3
Und alle diese Grundexperimente in der Experimentalphysik, die überhaupt nicht die Resultate liefern wollten, die es eigentlich geben sollte. Wie kriegt man es denn hin, dass das zum Klappen kommt? Nichtphysiker meinen oft, sicher naiv, die physikalischen Naturgesetze, die seien nun wirklich ewig und immer da, sozusagen nur aufzufinden – wenn man nur genau genug schaue, dann komme das entsprechende Gesetz zum Vorschein. Ach, was für ein Irrtum, so ist es nicht!
Eigentlich ein schöner Zustand, ein schöner Prozess: Wir interessieren uns für ein Gebiet, werden eingeführt in die Grundlagen des Forschens, des Denkens, des Einordnens, des Argumentierens. Mit der Zeit gibt es ein Gefühl von Zugehörigkeit, von „sich auskennen“, automatisch hat man die Grundannahmen dieses Denkkollektivs intus, fühlt eine Eigenart, ein Bedürfnis, sich anderen zu erklären.
Nur, wenn da nicht dieses „nur“ wäre: Einem Menschen geht es schlecht, er sucht Hilfe. Er trifft mit seinem Hilferuf auf einen Pfarrer, einen Mediziner, nein, auf verschiedene FachärztInnen, auf einen Psychotherapeuten, nein, auf verschiedene PsychotherapeutInnen, auf ... Dieser Mensch wollte sich jemandem anvertrauen, aber die „Fachleute“ sagen ganz unterschiedliche, oft widersprüchliche Sachen. Nun soll der Amateur, der doch Hilfe braucht, entscheiden, wem er trauen soll. Wie soll das gehen? Ich bemerke, dass ich mich wiederhole. Aber warum nur können sich die Fachleute nicht einigen?
Es gibt also ein riesiges Problem zwischen Denkkollektiven. Wie reden und argumentieren denn die miteinander? Wer hat die Deutungsmacht4? Ein sehr aufschlussreiches Buch zu diesem Thema kommt mir da in den Sinn. Unbedingt zu empfehlen, wenn die Psychoanalyse für die LeserIn irgendwie relevant ist. Es wird in diesem Buch beschrieben, sehr eindrücklich beschrieben, wie die Deutungsmacht ausgeübt wird, was mit Menschen passiert, die sich zwar innerhalb des Denkkollektivs der Psychoanalyse fühlen, die aber neue Ideen entwickeln wollen, die etwas anders sehen als bisher gewohnt: Es wird Druck auf sie ausgeübt, ja, sie werden manchmal ausgeschlossen, rausgeworfen aus dem Kollektiv. Es kann bis in die materielle oder gar existenzielle Vernichtung gehen.
Ich bin auf ein Nebengleis gekommen. Meine Frage war ja, wie es denn gehen könnte, dass Menschen aus verschiedenen Denkkollektiven zu einem gemeinsamen Denkprozess kommen könnten.
1 GFK-Fachbegriff, siehe weiter unten bei Charakterstrukturen (S. 66).
2 L. Fleck(1980): Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv.
3 Hab ich doch letzthin einen netten, glaub grad noch verständlichen angetroffen: Aus einem Eisenbahnwagen, in dem zehn Personen waren, sind an der Station elf ausgestiegen. Sagt der beobachtende Biologe: „Die müssen sich vermehrt haben.“ Und der Physiker: „Na ja, zehn Prozent Messungenauigkeit, das geht doch noch.“ Und der Mathematiker: „Schicken wir wieder einen rein, dann wird der Wagen leer.“
4 Pohlen, Manfred, Bautz-Holzherr, Margarethe (1995): Psychoanalyse – Das Ende einer Deutungsmacht. Rowohlt s Enzyklopädie.
Ich möchte, wie weiter oben schon einmal, die Situation bei den Gefühlen anschauen. Ein Beispiel: Zwei Menschen sind beisammen, einer beginnt zu weinen. Was passiert im anderen? Welches Gefühl kommt bei ihm auf, welche Gedanken entstehen? Die zweite Person kann traurig werden, wütend, hilflos ... Sie fragt sich, wie sie denn helfen könnte. Sie fragt sich, woher denn dieses Weinen kommt. „Es ist doch kein Grund ersichtlich“, sagt sie sich vielleicht. Manchmal hilft das Vorhergehende für das Verständnis, manchmal aber bleibt das Weinen für die zweite Person trotzdem unverständlich, oder es führt sogar in ein Missverständnis. Geschieht da ein Mitfühlen oder eine Interpretation, gar ein Besser-Wissen, Besser-Fühlen? Ist es eine Reaktion auf das Ursprungsgefühl der ersten Person oder doch eher ein Geschehen, das vor allem mit der zweiten Person zu tun hat? Sie könnte z.B. bereits vorher ungeduldig gewesen sein und das Weinen der ersten Person verstärkt einfach das eigene Gefühl. Ein Lachen oder Schimpfen hätte vielleicht dasselbe bewirkt.
Gibt es eine Gewissheit vom Zusammenstimmen, vom Miteinander-zu-tun-haben? Wir können sehen, dass da eine analoge Frage ist wie die nach dem sich Verstehen zwischen Menschen verschiedener Denkstile.
Wir sind da bei grossen, schwierigen Themen. Sie sind sicher nie erschöpfend zu klären. Aber um etwas klarer zu sehen in dieser Problematik, haben wir uns ein Stück Theorie ausgedacht, eben die Theorie der Bindungsarten. Wenn ich das nun zu erklären versuche, die LeserIn zu folgen versucht, dann erzähl ich etwas aus unserem Denkkollektiv, die LeserIn ist aufgefordert, in das für sie neue Denken zu folgen. Warum soll sie das? Hat sie nicht selber schon eine Meinung, vielleicht sogar eine gut ausgearbeitete zu dem obigen Thema, angedeutet durch das Beispiel vom Weinen? Die Leserin muss zu mir kommen wollen. Sie muss ein Interesse haben oder aufbauen wollen, sonst gehts nicht. Wir würden getrennt bleiben. Und ich muss mit ihr reden wollen, ihr erklären wollen, nicht geizig sein mit meinem „Wissen“ ihr gegenüber, mutig sein, dran glauben, dass sie mich verstehen möchte.
Jetzt habe ich schon begonnen, in unserem Denkstil zu argumentieren. Ich will es etwas deutlicher sagen. Zwei Menschen müssen zueinander finden. Wir sagen dazu, sie müssen sich, vielleicht nur für ein Thema, aneinander binden. Manchmal sagen wir zu diesem Vorgang „Einnisten“ oder wir sagen auch Bindungsqualität 1 (BQ1)5. Und es ist ja nicht nur ein Müssen, eine Bedingung, es ist ja auch ein Wollen. Menschen wollen zusammen kommen, nicht immer natürlich, aber ab und zu. Alle erinnern wir uns an Situationen, in denen man scheinbar zusammen ist, spricht, und es bleibt einfach langweilig, getrennt, öde. Wir kommen einfach nicht zusammen, ein Elend. Und umgekehrt erinnern wir uns sicher alle an Situationen, in denen „das“ wunderbar geklappt hat. Wir verstehen uns, es kann sogar ohne Worte sein, oder trotz eigenartiger Denke des Anderen gehts gut. Es ist etwas anderes als Sympathie, obwohl die oft hilft. Manchmal kann dieses Zusammenkommen auch stattfinden, obwohl mir jemand gar nicht sympathisch schien. Es ist ein etwas geheimnisvoller Vorgang, der stattfindet oder nicht. Man kann schon etwas dafür oder dagegen tun, aber keiner der beiden hat es allein im Griff, noch nicht mal beide zusammen. Sie wollen, und es passiert trotzdem nicht, sie wollen nicht, und es passiert doch. Es ist wie beim Aufwachsen einer Person. Wir können durchaus viel dafür oder dagegen tun, aber im Griff haben wir das Wachsen eines Lebewesens nicht. Leidvoll müssen das Eltern, Lehrer, Gärtner manchmal einsehen. Es ist also ein Zusammentreffen von Tun und Zulassen.
In unserem Denkkollektiv haben wir zu jeder BQ zwei prototypische Beispiele ausgedacht. Sie sollen das Gemeinte verdeutlichen. Als ersten Prototyp des Geschehens in der BQ1 nehmen wir die Zeugung eines neuen Lebewesens. Ein Ei und ein Spermium müssen zusammen kommen und sich gegenseitig binden, oder eher ineinander einnisten, dann kann es weitergehen mit diesem Neuen. Nur in der Nähe sein, nur sich berühren, das reicht bekanntermassen nicht. Dann muss sich das befruchtete Ei in der Gebärmutter einnisten. Also noch mal der formal gleiche Bindungsprozess. Gar nicht so selten scheitert der Wachstumsprozess an dieser Stelle.
Als zweiten Prototypen für die BQ1 nehmen wir die Situation des Antretens einer neuen Arbeitsstelle, das Treffen einer neuen Person, einer neuen Gruppe, das Hineinkommen in eine neue Arbeitssituation. Lässt die neue Gruppe die neue Person rein, mag sie sie aufnehmen, kann sie sie aufnehmen? Lässt sich die neue Person auf die neue Gruppe ein, fügt sie sich ein, passt sie hinein? Werden die zusammen ein Team, oder gibts Gegnerschaft, Feindschaft, Gleichgültigkeit. Gibts Zusammenarbeiten, ineinander Arbeiten oder aneinander Vorbeiarbeiten, entsteht gar ein Gegeneinander?
Wir untersuchen also den Bindungsprozess sowohl bei „gleich Grossen“, etwa Mensch zu Mensch, wie bei Ungleichen, etwa Mensch zu Gruppe von Menschen. In beiden Fällen wächst das Gemeinsame nur weiter, wenn diese Bindungsart zumindest in einem kleinen Masse stattfindet. Sonst hört es auf!
Und das Interessante, vielleicht Überraschende dabei: Wir bemerken, können das zumindest lernen, ob diese Qualität stattfindet oder nicht. Wir müssen nur drauf achten, es wahrnehmen wollen, uns schulen in dieser Wahrnehmung. Und da sind wir nun wieder beim Denkstil, beim Denkkollektiv: In diese Wahrnehmung kann man hineinkommen, sie ist übbar, sie ist sozusagen eine Voraussetzung für das Mitmachen und Mitreden in diesen Fragen. Ganz ähnlich wie mathematische Kenntnisse und Fähigkeiten notwendig sind, um bei Physik mitzureden.
Und noch etwas zweites Interessantes können wir hier bemerken: Ein Minimalverständnis hilft bei der Wahrnehmung solcher Prozesse, und umgekehrt hilft der Beginn der Wahrnehmung für das Verständnis der Theorie. Die zwei schaukeln sich gegenseitig hoch. Nur Spüren, Sehen, Wahrnehmen reicht nicht6. Nur Verstehen der Theorie genügt nicht. Auch hier: Theorie und Wahrnehmung brauchen diese Bindungsart. Dann erst kann etwas „Reales“ entstehen und wachsen. Es binden sich also nicht nur Lebewesen, nein, es können sich auch Menschen an Sachen, Theorie an Gefühltes, Spüren und Denken binden. Oder eben im anderen Fall, wie schon gesagt, gibt es nichts Neues, die Theorie bleibt leblos, das Buch und der Leser bleiben getrennt. Ich will an dieser Stelle erst erwähnen, später soll es ausgeführt werden, dass wir dieses Erahnen der Bindungsarten mit einem Resonanzgeschehen vergleichen, ja dass wir es als Resonanzgeschehen bezeichnen.
Nun, in diesem Kapitel leitet uns ja die Frage, wie es denn zu einem gemeinsamen Denkprozess kommen könnte, auch zwischen Vertretern verschiedener Denkkollektive. Offensichtlich ist die Geschichte etwas komplex. Leider. Aber an dieser Stelle zu tun, als obs einfach wäre, hiesse ja, all die Beteiligten solcher gescheiterten Prozesse für dumm zu erklären. Und häufig sind sie das sicher nicht. Ja, die Klugheit, Intelligenz der beteiligten Personen hat kaum mit dem Gelingen oder Scheitern zu tun.
Wir meinen also, damit dieser Denkprozess zustande kommen kann, muss zumindest die BQ1 stattgefunden haben. Es reicht noch nicht, aber das ist notwendig. Sicher kann sich jede LeserIn erinnern, wie es sich anfühlt, wie es sich auswirkt, wenn die BQ1 nicht vorhanden ist. Eine Sitzung zu wichtigen Themen soll stattfinden, die Leute kennen sich noch nicht und sollten miteinander Lösungen finden, sollten aufeinander eingehen können, sollten Gemeinsames zustande bringen. Statt dessen kanns dann um alles Mögliche gehen, Selbstdarstellungen, maximal viel für sich selber herausholen, den anderen schlecht machen, nicht verraten, was man eigentlich denkt und schon gar nicht, was man fühlt, die Sache ins Leere laufen lassen, um Zeit zu schinden und die Lösung des Themas überhaupt zu verhindern, usw. Und dann das Beispiel vom unglücklich verlaufenen Arztbesuch, viele kennen das leider. Man hat sich kaum begrüsst und schon sollte man alle Symptome nennen, alles weglassen, was da „unwichtig“ ist, die Zeit des Arztes nicht verplempern. Dieses Nicht-angekommen-Sein verunmöglicht mein Denken, es kommt mir nicht mehr in den Sinn, was ich doch sagen wollte. Ich fühl mich genötigt, etwas zu leisten, dabei erhoffte ich mir doch Hilfe. Kurz, es läuft schief.
Aber gehen wir nun doch weiter mit der günstigen Annahme, dass die BQ1 genügend stattfindet. Wir spüren, dass wir zusammengekommen sind, es entsteht so etwas wie der Beginn eines Arbeitsbündnisses oder einer Gewissheit vom Zusammen-sein-Können, Zusammen-sein-Wollen zumindest für eine Zeit, wahrscheinlich dann sogar ein partielles Wohlsein.
Leider heisst das noch nicht, dass wir einander auch verstehen. Schauen wir uns nun einen Prototypen für die BQ2 an: Das Neugeborene ist da, die Eltern freuen sich, das Stillen geht gut, es ist der Mutter und dem Kind offensichtlich wohl, wenn sie körperlich beisammen sind. Und jetzt weint das Kind. Was heisst denn das? Hat die Mutter oder der Vater was falsch gemacht? Ist das Kind müde, hat es Hunger, tut was weh, ist es kalt oder heiss oder laut oder ist zuviel los oder zuwenig los? Erfolgt eine Reaktion des Vaters zu schnell und das Kind ist erschrocken oder zu langsam und das Kind fällt in ein „Antwort-Loch“? Und, und, und.
Auch wenn die Eltern schon zwei Kinder haben – dann haben sie es wahrscheinlich leichter –, gibt es trotzdem Unsicherheit, Nichtwissen, Falschspüren, Missdeuten. Kommt dazu, dass vermutlich das Neugeborene sozusagen selber gar noch nicht recht weiss, was genau denn schwierig ist, und wenn es das auch wüsste, woher soll es denn schon die Ausdrucksfähigkeit haben? Und sind wir überhaupt sicher, dass Weinen eine Störung anzeigt? Könnte das Kind vielleicht so verbunden sein mit der Mutter, dass es ihre Überforderung spürt und darum weint, also ein Sensor und Verstärker für die Situation der Mutter ist? Wir können das nicht wissen, es hat nichts zu tun mit ungeschult, unsensibel sein. Da findet etwas Prinzipielles statt: Es muss Sprache entwickelt werden!
Ich meine nicht unbedingt, nicht in erster Linie, die verbale Sprache. Später dann schon auch. Ich meine vorerst überhaupt das aufeinander Eingehen, das zusammen Suchen, das zusammen unsicher Sein, das voneinander lernen Wollen. Wie ist dieses Kind? Woran unterscheide ich Hunger von Müdigkeit von Schmerzen haben von...? Und das Kind „lernt“, „merkt“ mit der Zeit, worauf die Mutter reagiert, worauf nicht. Beide suchen, beide finden provisorisch, überprüfen, versuchen neu, finden genauer, suchen neu. Es ist ein Hin und Her, wenns gut geht. Miteinander findet das statt und dadurch, dass es stattfindet, lebt diese Bindungsart, lebt das Paar Mutter-Kind, Vater-Kind, auch das Dreieck Kind-Mutter-Vater. Auch hier ist es ein Schaukelprozess, vom einen zum anderen, und das Schaukeln ist das Gemeinsame, die BQ2. Einer allein kann nicht schaukeln, einer allein kann keine BQ2 haben, überhaupt keine BQ.
Betrachten wir ein zweites Beispiel für diese Bindungsart, um nicht dem Fehlschluss zu erliegen, das Thema sei mit optimaler Kindheit ein für alle Mal erledigt und gehe später immer leicht. Nein, auch die BQ2 muss immer mal wieder neu errungen werden.
Wie weiter oben schauen wir wieder eine neue Arbeitsstelle an, etwa eine erfahrene Pflegerin oder eine erfahrene Therapeutin in einer für sie neuen Klinik: Es ist erfahrungsgemäss sinnvoll, davon auszugehen, dass der Gebrauch der Fachsprache dann neu gefunden werden muss. Was meinen die hier, wenn sie „depressiv“ sagen, was will die neue Mitarbeiterin sagen, wenn sie „Borderline“ sagt? Die Versuchung ist gross, Fachsprache einzusetzen, um Können zu signalisieren – von der neuen Mitarbeiterin her. Oder Fachsprache einzusetzen, um die Kompetenz der neuen Mitarbeiterin zu testen – von der Chefin her. Es geht dann gar nicht mehr um die Verständigung, sondern um etwas anderes.
Aber was meint die redende, die antwortende Person? Also zusätzlich zur Schwierigkeit, ob man ein Fachwort ähnlich versteht, ist noch nicht mal klar, ob überhaupt Verständigung angestrebt wird oder ganz was anderes. Um das gegenseitig einschätzen zu können, müssen die Beteiligten mit der Zeit lernen, ihre nonverbale Art zu verstehen. Und die grosse Frage, ob sie sich denn getrauen, sich zu zeigen, bei Unsicherheit zu fragen, gar eine emotionale Stellungnahme einzufordern. Handelt es sich um Angst oder Unsicherheit oder Aggression oder Strategie? Eigentlich muss also auch hier gegenseitig eine vielfältige Sprache aufgebaut und immer wieder überprüft werden – von Tönen und Gestik zu deutbaren Worten und sich ausdrückenden Emotionen, sodass mit der Zeit meist klar ist, wo auf dieser Abteilung ein Witz angebracht ist, wo er verletzt, wo man aber auch weiss, was man riskieren darf an Ausdruck und welche Grenze nicht überschritten werden darf.
Woran merkt ein Team, dass der Neue kompetent und konsensfähig ist, woran erkennt das Team, dass der Neue von sich aus die Arbeit, das zu Erledigende, sieht und dass er nicht die Hierarchien durcheinander bringen will? Wann spricht die Neue den KollegInnen und der Chefin Kompetenz oder Inkompetenz zu, woraus ersieht sie das? Wissen die gegenseitig von ihrem Glück? Geben sie sich die Chance, Urteile zu korrigieren? Viele Möglichkeiten, dass BQ2 stattfindet oder eben, dass sie verfehlt wird.
Ich hoffe, dass auch bei der BQ2 gut zu sehen ist, was sie mit der Ausgangsfrage (wie Denken zwischen Menschen aus verschiedenen Denkkollektiven stattfinden kann) zu tun hat. Wenn da zwei aufeinander treffen, die zum Vornherein davon ausgehen, dass sie je recht haben, dann wirds schwierig bis unmöglich. Es braucht das Suchen der BQ2, ohne sie entsteht keine gemeinsame Sprache, da