Il mio Camino Alternativo
STOLPERN.
SCHUHE BINDEN.
WEITERMACHEN!
Ariane Demmler
Berlin - unser Puls schlägt zum Beat dieser Stadt. Und doch tanzen wir alle aus der Reihe. Nicht nur die ganze Nacht hindurch, sondern gleich mehrere Tage lang. Eine große Spielwiese mit unendlichen Möglichkeiten. Doch hektisch kann sie sein. Sozialstress, hoher Leistungsdruck, Schnelllebigkeit und andere Oberflächlichkeiten holen uns früher oder später ein. Wir gehen, laufen, rennen, feiern durch die pulsierenden Adern dieser Stadt. Wir sind immer aktiv - Tag und Nacht. Aber genießen wir es auch? Sind wir nicht alle manchmal erschöpft und suchen einfach nur Ruhe - weit weg von der bittersüßen Heimat? Abschalten, schweigen, tief einatmen und trotzdem voran kommen – das ist es, wonach mir im Hier und Jetzt der Sinn steht. Ich möchte weiterkommen, nicht weiterraven. Ich will einen anderen, alternativen Weg einschlagen. Eine lange, teilweise auch beschwerliche Reise, die mich zum Umdenken anregt und mir verschiedene Perspektiven aufzeigt. Die mich entschleunigen und endlich ankommen lässt.
Ich mache mich also auf. Werde mich sowohl physisch als auch mental auf eine Reise begeben. Ich werde pilgern und gehe den Jakobsweg in seiner traditionellsten Form - vom Anfang bis zum Ende. Werde ich dort finden, wonach ich die ganze Zeit gesucht habe? Werden mir spannende oder sogar außergewöhnliche Dinge widerfahren? Kann mir dieser Weg überhaupt helfen, all dem Großstadttrubel zu entfliehen? Dies wird ein Abenteuer, was ich nie mehr vergessen soll und ich kann es kaum erwarten, endlich loszulegen!
Reizüberflutung, Großstadtwahnsinn – Berlin! Die Stadt hatte mich einst in ihren Bann gezogen, doch jetzt macht sie mich einfach nur fertig! Vom kulturellen Übermaß, von sportlichen Zugzwängen und dem berühmt berüchtigten Dating-Fiasko in all seiner Oberflächlichkeit, bleibe ich immer häufiger ernüchtert oder schlichtweg überfordert zurück. Nach über fünf Jahren in meiner bittersüßen Wahlheimat bemerke ich, wie mir so einiges über den Kopf wächst. Wie mir die dreckigen Viertel, die lauten Straßen, die latent unfreundlichen Baumarktangestellten und die sich langsam, aber sicher mehrenden ONS zu viel werden, habe ich anfangs noch erfolgreich zu verdrängen versucht. Selbst wenn man, wie ich, Energie für zehn hat, werden einem die vielen Verpflichtungen, der hohe Leistungsdruck auf allen Ebenen und der steigende Sozialstress des Öfteren zum Verhängnis. Wieso versuche ich es eigentlich jedem recht zu machen? Warum kann ich partout nie nein sagen?
Für einen kurzen Moment nur, will ich all dem Trubel entfliehen, nicht aller zehn Minuten mein Handy checken oder mich für einen neuen Sportkurs oder Workshop zur allgemeinen Lebensverbesserung einschreiben. Ach, eigentlich will ich dafür nicht nur einen kleinen Moment Zeit haben, sondern einige, viele, langanhaltende Augenblicke genießen. Doch, was kann ich tun? Wie kann ich mich dem alltäglichen Wahnsinn entziehen? Vielleicht irgendwo hingehen? Gibt es irgendeinen Ort auf dieser Welt, an dem ich gerade lieber wäre?
Ich spule meine Kassette ganz oldschool zurück und besinne mich meiner einstigen Vorhaben und Ziele. Ich möchte reisen und dabei entschleunigen - einfach niemanden sehen oder mit unzähligen Leuten quatschen. Ich hätte Lust, endlich einen lang gehegten Traum zu verwirklichen. Und das mache ich jetzt auch! Ich packe meinen Trekking-Rucksack und begebe mich auf einen langen Hike von Frankreich über die Pyrenäen, quer durch Nordspanien bis hin nach Santiago de Compostela. Mit etwas Kleingeld in der Tasche haue ich einfach ab und zeige allen nervigen Verpflichtungen den Mittelfinger. Nun höre ich auf meine innere Stimme, um mich irgendwo im Nirgendwo frei zu entfalten. Soweit das überhaupt möglich ist, würde ich dabei gerne auf inhaltslosen Smalltalk verzichten und mich ganz nebenbei meiner heimlichen Leidenschaft, dem Schreiben, widmen. Ich weiß, dass sich seit vielen Jahrzehnten schon etliche Jakobspilger auf genau den selben Wanderweg begeben. Sei es, um mit vergangenen, schmerzhaften Erlebnissen abzuschließen oder um einfach nur der farbenfrohen Natur zu huldigen und der frischen Luft mit täglicher Bewegung zu frönen. Nun werde auch ich mich auf das Reiseabenteuer Jakobsweg begeben, um meine Komfortzone der eigenen vier Wände in Berlin - Prenzlauer Berg zu verlassen und mich Tag für Tag einer neuen Herausforderung zu stellen.
Gehen, manchmal laufen oder rennen, sinnieren, beobachten, auf mich wirken lassen, einfach lauschen - all das kann mir dieser fast achthundert-kilometer-lange Wanderweg, wie der Camino de Santiago de Compostela bieten. So nutze ich die Gunst der Stunde und mache mich auf. Gerade einmal achtundzwanzig Tage bleiben mir, um dieses Vorhaben durchzuziehen. Viel Zeit, um mir jedes nordspanische Städtchen in Ruhe anzusehen, bleibt mir dafür leider nicht. Ich will mich jedoch körperlich herausfordern und meine sportlichen Grenzen austesten und eventuell sogar überschreiten. Jetzt endlich, mit Anfang dreißig, nehme ich mir die Zeit und den Mut, diese hoffentlich wundervolle Reise anzutreten. Für eine kurze Weile in diesem Jahr gehört jeder Tag, jeder Gedanke, jede Begegnung nur mir allein. Jede Sekunde, jeden Eindruck und jeden einzelnen Moment werde ich aufsaugen, genießen und zelebrieren. Ich will erleben, wovon alle beim Camino de Santiago sprechen. Könnten auch mir außergewöhnliche Dinge passieren oder sogar Wunderliches widerfahren? Werde ich unvergessliche Erlebnisse oder außergewöhnliche Begegnungen haben, die mich verändern oder meine bisherige Denkweise beeinflussen? Wer weiß, ob es im Anschluss überhaupt einen einschlägigen Nachhall geben wird? Im Moment lässt sich noch nicht beurteilen, ob diese mehrwöchige Wandertour das überhaupt kann oder soll. Ob meine Gesinnung oder meine Wirkung auf andere sich mit diesem Trip ändern wird, zeigt sich hoffentlich in naher Zukunft.
Nun denn: Galoschen geputzt, Trinkfläschchen gefüllt und los geht's! Möge das Reiseabenteuer beginnen.
→ 1.295 km → 7.870 Schritte
Endlich ist es soweit! Krakse wöchentlich umgepackt, zwei Probewanderungen quer durch Berlin mit groben Verletzungen absolviert und zwei Tage vor Abflug, hatte ich mir noch eine fette Erkältung eingefangen. Was soll's! Ich bin in Bewegung und freudiger Erwartungen. So muss das doch sein! Keine Abenteuer ohne Startschwierigkeiten und Verluste. Kein Risiko ohne Abenteuer! Selbstverständlich hatte ich gleich am Anreisetag exorbitant viel Geld in Verpflegung, Transport und Unterkunft gesteckt. „Spitze!“, denke ich und steige mit triefender Schnupfnase ins Flugzeug und düse in Richtung Frankreich ab. Einmal umsteigen am Pariser Flughafen Charles de Gaulle und ab geht es nach Biarritz en France.
Selbstverständlich bin ich gleich am ersten Tag meiner vierwöchigen Reise, dem zehnten Oktober, unfreiwillig verfrüht am Bayonner Bahnhof, dem Nebenort von Biarritz, gestrandet. Ich, ein verwöhntes Großstadtkind, welches mit S- und U-Bahnen, Zügen und Straßenbahnen im Vier-Minuten-Takt rechnet, hatte nicht bedacht, dass es in der französischen Provinz durchaus vorkommen kann, dass die letzten Züge bereits zwischen achtzehn und neunzehn Uhr ihren Betrieb einstellen. Und so kommt es, dass ich den letzten Zug nach Saint-Jean-Pied-de-Port um halb sieben Uhr abends nur knapp verpasse.
Sei's drum, Nordfrankreich ist gar nicht 'mal so übel. Hier gibt es dieselben sich in Bahnhofsnähe anpöbelnden Assipärchen, wie bei uns zu Hause. Die stets gut gelaunten Kneipenbesitzer haben auch gerne 'mal einen sitzen. In diesem Nest schlägt man mir Übernachtungsmöglichkeiten in fragwürdigem Zustand für neunundneunzig Euro vor. Letztendlich schaffe ich es, gegenüber vom örtlichen Hauptbahnhof, ein erschwingliches Schlafplätzchen zu bekommen. Ein leicht angesäuselter, aber sehr freundlicher Elsässer, der das Hostel betreibt, lässt sich nach einigem Augenklimpern auf fünfundzwanzig Euro erweichen. Es hat schon einige Überredungskunst gedauert, nachdem er mich zunächst mit einem gammeligen Zimmer für vierzig Euro über's Ohr hauen wollte. Gut okay, bezahlt und Wecker gestellt. Schließlich verlässt der allererste Zug früh morgens schon 7:42 Uhr das beschauliche Städtchen. Etwa gegen neun Uhr am Vormittag des elften Oktober, sollte ich meinen ersten Etappenstempel, entweder im Pilgerbüro oder in meiner noch zu stornierenden Herberge, zu Beginn des klassischen Jakobsweges in Empfang nehmen können. Falls ich es dann gegen zehn Uhr endlich schaffe, in Richtung Gebirge aufzubrechen, liege ich noch gut in der Zeit. Meine Befürchtung ist jedoch, dass ich nach einem sechs- bis achtstündigen Marsch über die Pyrenäen am Zielort in Roncesvalles kaum noch einen Schlafplatz bekomme, weil ich zu spät am Tage aufgebrochen bin. Egal, ohne Risiko kein Nervenkitzel!
Mein allererstes Pilgerbett am Bayonner Bahnhof wird zunächst kritisch beäugt. Noch nehme ich mir die Zeit nach Kleintieren Ausschau zu halten und meinen dünnen Seidenschlafsack, wie eine Art Bettlaken, über der Tagesdecke auszubreiten. Zu guter Letzt drapiere ich mich, wie eine Mumie und voll bekleidet, in meinen Schlafsack. Ich versuche eine Position einzunehmen, in der man sich die ganze Nacht nicht mehr rühren muss. Vor dem Schlafengehen schreibe ich diese ersten Zeilen in mein kleines, altmodisch anmutendes Tagebuch im Stoffeinband mit Lederriemchen. Endlich ist dieses Büchlein nach so vielen Jahren Schubladenhort zu etwas nütze! Zum krönenden Abschluss des halb misslungenen Tages zwitschere ich mir zum Tost noch genüsslich eine landestypische Mousse au Chocolat rein.
Trotz der zuverlässigen Ohropax aus dem Flugzeug, höre ich, wie die Frau des portugiesischen Zimmernachbarn fast genauso laut, wie er selbst, ins Telefon plärrt. Mist, nun muss ich mich doch wieder entmumifizieren und den mittlerweile gut betüdelten Herbergsvater um Hilfe bitten. Mein zaghafter Wandklopfer zuvor zeigte keine großen Erfolge. Zehn Minuten später hat mein elsässer Kneipenwirt das Problem für mich gelöst und der Tag darf zu Ende gehen. Ich liege wieder fast bewegungslos im Schlafsack und bin bereit für den eigentlichen Trip. Mit etwas Schiss vor dieser Bude mit ausschließlich männlichem Kundenstamm um die fünfzig plus, schlafe ich endlich ein.
→ 28,2 km → 39.783 Schritte
Alles halb so wild gewesen im Bruchbuden-Hotel. Schließlich konnte man von innen abschließen, den Schlüssel stecken lassen und das schlitzartige Fensterchen verbarrikadieren. Die nette Frühschicht holt mich sogar vom Bahnhof zurück, damit mir das Gratisfrühstück bloß nicht durch die Lappen geht. Während der Wirt mir Kaffee eingießt, lerne ich sogar den ersten schwedischen Wandersmann kennen, der den Jakobsweg in entgegengesetzter Richtung zurückgelegt hat. Stolz zeigt er mir seine Credencial del Peregrino, den sogenannten Wander- oder Pilgerpass, mit unzähligen, bunten und hübsch gestalteten Stempeln. Diese bekommt man in vielen Kirchen und in allen Herbergen, um sie sich am Ende eines anstrengenden Pilgertages trophäenmäßig in den Pass zu stempeln. Neidisch erblicke ich seine Errungenschaften und mir wird klar, welche Ausmaße meine Reise im nächsten Monat annehmen wird.
Es ist Oktober und Gott sei Dank keine Hauptpilger-Saison mehr. Das Wetter wird rauer, die Urlaubszeit hat sich längst dem Ende zugeneigt und die Menschenmassen auf den Wegen nehmen stetig ab. Ganz zufällig und ohne festen Plan, wann ich meinen Resturlaub in der zweiten Hälfte diesen Jahres festlegen sollte, hatte ich zwei Wochen davon Ende Oktober gesetzt. Mehrere Monate lang hatte ich hin- und herüberlegt, was ich mit ihnen anstellen könnte. Dabei lag die Antwort klar und deutlich auf der Hand:
Den Jakobsweg zu laufen war seit meinem Abitur im Jahre 2006 ein lang gehegter Traum von mir. Er war nur aufgrund ewig mangelnder Kapazitäten oder Zeit fast in Vergessenheit geraten. Aber hey, ich arbeitet diese Jahr in Teilzeit und kann diese Reise tatsächlich in Erwägung ziehen. Je näher das Datum rückte, umso glasklarer wurde die Entscheidung und ich bin heilfroh, das mein Urlaubsflieger diesen Herbst in Nordfrankreich aufgesetzt hat und nicht an irgendeinem x-beliebigen Stranddomizil. Das kann man ja immer machen.
Ich hocke mich also in den gut beheizten Zug und genieße zum letzten Mal für diesen Monat die Vorzüge öffentlicher Verkehrsmittel. In Saint-Jean angekommen, sehe ich schon von Weitem die ersten Verkehrsschilder mit bestockten Pilger-Piktogrammen und die charakteristischen, gelben Jakobsmuscheln eingefräst auf Granitstein. Mensch, was habe ich aber auch für ein Glück! Heute ist bestes Wetter! Petrus scheint es an meinem allerersten Wandertag echt gut mit mir zu meinen, wenn sein einziges Hindernis der starke Gebirgswind in höheren Gefilden bleiben soll. Noch bin ich ganz gut zu Fuß unterwegs und ziehe frohen Mutes an allen 'Mitstreitern' vorbei. Ich fühle mich, wie die Queen des Berges, weil ich mit dem Gewicht des Rucksacks und der steigenden Kilometeranzahl ganz gut zurechtkomme. Während des Wanderns betrachte ich die vorüberziehende Landschaft und lobpreise meine Entscheidung, endlich die Chance genutzt und diesen Alternativurlaub gewagt zu haben. Hoffentlich bin ich da 'mal nicht zu vorlaut. Morgen soll es schließlich regnen und ich muss austesten, ob mein kleiner Festivalponcho in der Lage ist, flutartigem Spritzregen von allen Seiten standzuhalten. 'The day has just begun' und ich fühle mich bereits in den ersten Wanderstunden, wie eine Gewinnerin. Während alle Mitpilger gemütlich mit ihren Wanderstöckchen hinter mir in weite Ferne geraten, scheine ich eine persönliche Challenge daraus zu machen, als 'Erste' in Roncesvalles anzukommen. Natürlich ist das völliger Quatsch, da sich das Kloster üblicherweise schon am frühen Vormittag mit Schlafgästen füllt. Nach ungefähr acht Stunden hab ich den ersten Tag und die erste sechsundzwanzig-kilometerlange Strecke von Saint-Jean-Pied-de-Port nach Roncesvalles abgerissen, einige Pilger überholt und sogar noch ein nettes milben- und wanzenfreies Bettchen im Refugium ergattert. Schon jetzt bin ich mehr als überwältigt vom Anblick der weitläufigen, grünen Berglandschaft. Habe hier und da eine kleine Marienstatue zwischen den Felsen erspäht und mich mit französischen Köstlichkeiten, die am Straßenrand in kleinen Hütten verkauft wurden, gestärkt.
Ich fühle mich, wie gesagt, wie eine Pilgerkönigin und werde von dem ein oder anderen schon bekannten Gesicht für den recht anstrengenden Ritt beglückwünscht. Über die geerntete Bewunderung für meine nicht zu verachtende, sportliche Leistung in einer guten Zeit, darf man sich ruhig freuen. Ich möchte gleich zu Beginn der Reise eine gute Pilgergenossin abgeben und verarzte das Knie einer Kanadierin mit Kinesotape. Täglich eine gute Tat vollbringen und so weiter, heißt die Devise.
Für'n Zehner gibt es ein üppiges Vier-Gänge-Menü und einige Flaschen Rotwein, welches man zusammen mit anderen Pilgerfreunden aus aller Herren Länder einnimmt. Na fein und ich dachte schon, ich verliere endlich ein paar Pfunde auf diesem Weg. Beim gemeinsamen Abendessen erfährt man etwas über die anderen Pilger und baut irgendwie gleich zu Beginn der ersten Gesprächsminuten eine Art Verbindung zu ihnen auf. Einige haben sich schon auf den ersten Metern zusammengeschlossen, um in Gesellschaft miteinander zu wandern, etwas zu plaudern und damit die zunehmende Anstrengung für einige Augenblicke zu vergessen. Nach dem langweiligen Büroalltag möchte man sein Wanderabenteuer natürlich nicht alleine bestreiten. Da es bei mir in Punto neue Leute zu Hause in Berlin kennen lernen und bei meinem Job doch etwas anders ist, bevorzuge ich zunächst die Stille der Berge und die Ruhe der weiten Felder.
In Roncesvalles angekommen, kann ich, ehrlich gesagt, noch nicht ganz die Spanientouristen von den echten Pilgern unterscheiden. Wer mit Trekking-Rucksack und Jakobsmuschel bestückt von dannen zieht, ist schnell als eifriger Wandersmann entlarvt. Es gibt aber auch Pilgersleute, bei denen man jetzt schon weiß, dass sie sehr viel Geld in ein großes Paket in Richtung Heimat investieren werden. Das Publikum des Jakobsweges ist relativ durchwachsen. Natürlich überwiegt die Anzahl der betagteren Rentenbezieher. Jedoch trauen sich auch viele Menschen mittleren Alters, aus meiner Generation oder viel jüngere Pilger an ihn heran. Einige Teenager, die gerade erst mit der Schule fertig geworden sind und auf diesem Weg herausfinden möchten, was sie als nächsten vorantreiben soll, sind auch von der Partie. Sie kommen von überall her. Die Spanier selbst bilden natürlich den Großteil der Pilger, dicht gefolgt von Franzosen, Italienern und selbstverständlich den Deutschen. Die verbringen ja bekanntlich mehr Zeit im Ausland als zu Hause. Auch aus eigener Erfahrung kann ich sagen: ich reise einfach verdammt gerne durch die Weltgeschichte, lerne viele Kulturen und neue Menschen kennen und probiere allerlei Unbekanntes und Geheimnisvolles aus. Eine eher ungewöhnlichere Volksgruppe auf dem Camino de Santiago stellen wohl die vielen Koreaner dar, die sich wie wild darüber freuen, einem mehrere Male am Tag über den Weg zu laufen und dabei laut 'Olà - Buon Camino!' zu rufen. Warum das so ist, werde ich erst im Laufe der Zeit erfahren. Ich mag sie gerne. Sie sind immer gut gelaunt, höflich, bescheiden und schnell, wenn es um die morgendliche Toilette geht. Sie finden sich in großen Gruppen in den meist spärlich ausgestatteten Küchen zusammen, um sowohl jede einzelne Herdplatte als auch jeden einzelnen Topf in Beschlag zu nehmen. Keiner nimmt es ihnen übel, denn sie kochen massenhaft Reis mit Gemüse, den sie großzügig mit anderen, hungrigen Wanderern teilen.
Die meisten Hiker von Übersee haben vermutlich, wie die Deutschen vor einigen Jahren auch, einen bestimmten Film über die aufregende Pilgerfahrt einer nicht ganz unbekannten, nationalen Koryphäe gesehen und sind daraufhin direkt losgezogen. Heutzutage erfährt der Jakobsweg eine ebenso starke Welle von Nordamerikanern, wie seit den Neunzigern von den Europäern selbst. Der bewegende US-amerikanische Film The Way von 2010 und die Bücher der US-Schauspielerin, Shirley Maclaine, von 2000 und dem spirituellen Romanautor, Paulo Coelho, waren für die Amis, wie für viele anderer Nationalitäten der Auslöser, Europa zu Fuß näher zu erkunden. Für die Deutschen war das wohl ab 2006 das Buch und der Film Ich bin dann 'mal weg von Hape Kerkeling.
Das Video, welches ich heute bei herrlichstem Sonnenschein auf der Bergspitze für Familie und Freunde aufgenommen hatte, wurde nie abgeschickt. Irgendwie muss ich noch meinen Camino-Groove oder das sogenannte Mojo des Weges finden. Außerdem ist es mir irgendwie noch etwas peinlich, mit meinem Vorhaben hausieren zu gehen. Schließlich habe ich noch gar keine richtige Wanderleistung vollbracht. Zudem bin ich nur für mich hier und laufe den Jakobsweg nicht für irgendjemand anderen aus meinem Bekannten- oder Freundeskreis.
Seit gut drei Tagen ist meine Nase völlig zu und meine Stimme möchte sich auch langsam, aber sicher, verabschieden. Wie zu erwarten war, löst sich die Erkältung wegen der zunehmenden Anstrengung und trotz frischer Gebirgslust nicht in Luft auf. Glücklicherweise konnte ich das während des Laufens komplett ausblenden und habe vor Freude über meine tolle Aktivreise einen innerlichen Luftsprung gemacht. Wenn weit und breit niemand zu sehen ist, traue ich mich sogar laut zu singen. Trotz voranschreitender Erkältung scheine ich doch noch ganz fit zu sein. Gut, dass ich vorsorglich eine beachtliche Auswahl an Medikamenten in meine riesige Krakse geschmissen habe, mit denen ich mich nachts immer schön zudröhnen kann, um Husten und Schnupfen den Garaus zu machen.
Die nächste Etappe am zweiten Tag muss ich wohl ein bisschen ausdehnen, da mir leider nicht so viel Zeit, wie den anderen hier bleibt. Und das ist es auch, was mir bei meiner Selbstfindungsreise ständig aus dem Hinterstübchen ins Gedächtnis zurückgerufen wird. Gemütlich in Zeitlupe gen Santiago schlendern, ist leider nicht drin. Ich habe nicht einmal einen Monat, um den ganzen Ritt inklusive An- und Abreise über die Bühne zu bringen. Schließlich konzentriert sich mein Trip dadurch nur noch auf den reinen Laufprozess, da ich nie wirklich Muße habe in einer Ortschaft zu verweilen, um mir die Wahrzeichen der Städte anzuschauen. Somit schleichen sich hinderliche Kriterien mit Einschränkungscharakter für diese Erfahrung ein, die meinen Lauf nicht unwesentlich beeinträchtigen könnten. Der Gedanke zu scheitern, sei es aus Erschöpfung oder wegen unleidlicher Gebrechen scheint unerträglich. Ich möchte gar nicht daran denken, vorzeitig abbrechen zu müssen, weil ich das Ziel nicht rechtzeitig erreichen kann. Ich stelle mir jetzt schon vor, wie ich es dennoch gut schaffe und nach diesem Projekt Mut schöpfe. Unter Umständen öffnen sich vielleicht neue Türen? Ich hoffe jedenfalls, dass ich danach das Gefühl bekommen, jedes noch so absurde Vorhaben durchziehen zu können.