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ISBN (print) 978-3-8280-3429-7
ISBN (ebook) 978-3-8280-3430-3
1. Auflage 2018
Umschlaggestaltung: Michael Beautemps
Sämtliche Rechte vorbehalten
Printed in Germany
Viele Jahre sind vergangen, seit Willy Denk und ich im Sommer 1946 aus einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager in Leningrad entkamen.
Nach zwei kurzen Inhaftierungen auf dem Weg zur Grenze nach Polen glückte uns die gut und lange vorbereitete Flucht aus der Sowjetunion. In Ostpreußen wurden wir von einem polnischen Grenzsoldaten erneut gefangen genommen, nach Wochen konnten wir nochmals flüchten, diesmal aus dem Staatssicherheitsgefängnis im Warschauer Stadtteil Praga.
Auch nach so vielen Jahren kann ich die Zeit zwischen 1945 und 1946 nicht vergessen. Es vergeht fast kein Tag, an dem ich nicht an irgendeine Begebenheit aus diesen Tagen und die Ereignisse von damals zurückdenke. Sicherlich habe ich viel davon auch unwissentlich verdrängt oder vergessen.
Meine Lieben, die diese Geschichte kennen, drängten mich immer wieder, sie niederzuschreiben. So will ich heute, mehr als 70 Jahre später, einige meiner wichtigsten Erinnerungen festhalten.
Manchmal kann ich gar nicht glauben, was ich unwissender Jugendlicher als Soldat in Ostpreußen und in der Gefangenschaft erlebt habe und welchen Gefahren ich ausgesetzt war.
Viele Ereignisse von damals übersteigen mein Fassungsvermögen noch heute, aber man erträgt viel, wenn es ums Überleben geht.
Unsere Flucht war eine Verzweiflungstat, die nur deshalb gelang, weil wir unsere Handlungen so gut aufeinander abstimmten. Natürlich hatte ich immer wieder auch großes Glück, nicht zuletzt mit einem so guten und fähigen Fluchtpartner wie Willy Denk aus Wien. In russische Kriegsgefangenschaft geriet ich Mitte Februar 1945, circa 25 Kilometer vor Königsberg. Die Siegesparade über Hitlerdeutschland erlebte ich mit den Ausbildern am 24. Juni 1945 auf dem Roten Platz in Moskau.
Den Beginn unserer Flucht kann ich nicht mehr auf den Tag genau bestimmen, es muss aber Anfang Juli 1946 gewesen sein. Belegt ist nur, dass ich nach meiner Rückkehr und einer 14-tägigen Quarantäne am 10. September 1946 beim Einwohnermeldeamt meiner Heimatstadt Zwenkau bei Leipzig registriert wurde.
Damit war ich aus der Wehrmacht entlassen und wieder ein freier Mann.
Berlin 2017, Dr. Gerhard Lützkendorf
Auf dem Rückzug in Richtung Königsberg Anfang Februar 1945 hatten sich einundzwanzig von ihren Einheiten abgeschnittene Wehrmachtssoldaten aus verschiedenen Waffengattungen völlig erschöpft, übernächtigt und ausgehungert im Keller eines allein stehenden Gehöfts zusammengefunden. Von draußen war der starke Artillerie- und Granatwerferbeschuss der sowjetischen Armee zu hören. Vor einer Woche noch hatte meine Kompanie der Armeereserve nach erneuter Aufstockung durch „Volkssturm“, andere ältere Wehrmachtsangehörige und Hitlerjungen, die noch nie an der Front gewesen waren, aus fünfundachtzig Soldaten bestanden, fast alle ohne militärische Ausbildung. Jetzt waren noch acht „Kämpfer“ von dieser Einheit übrig, alle anderen waren verwundet, vermisst oder gefallen. Aus den Kellerfenstern sahen wir die Infanteristen der Roten Armee in circa 800 Metern Entfernung links und rechts an unserem Versteck vorbeilaufen. Auf Widerstand stießen sie nicht mehr, sodass sie sich zielstrebig auf Königsberg zubewegten. Einige Soldaten meiner Einheit verlangten eine Entscheidung von mir als ranghöchstem Soldaten, wie wir uns weiter verhalten sollten. Wir hatten folgende Möglichkeiten: uns in Richtung Königsberg bis zur Frontlinie durchschlagen oder aber den Versuch wagen, nach Westen durchzubrechen.
Allerdings gab es vor Königsberg vermutlich keine Frontlinie mehr, denn die Wehrmacht hatte sich in unserem Frontabschnitt aufgelöst. An Waffen besaßen wir nur einige Maschinenpistolen und Gewehre, jedoch fast keine Munition dafür. Wir waren schon seit acht Tagen von jeder Versorgung abgeschnitten, hatten Hunger und Durst und nahmen alles zu uns, was wir an Essbarem finden konnten. An Hygiene war schon lange nicht mehr zu denken. Die andere Alternative, geäußert von einem Soldaten, den ich nicht kannte: uns ergeben und den Russen stellen; ein Unteroffizier zog seine Pistole und wollte den Vaterlandsverräter, wie er ihn nannte, sofort erschießen. In einem Handgemenge wurde der Unteroffizier von einigen älteren Soldaten entwaffnet. Er drohte, uns nach Erreichen der Frontlinie vor ein Kriegsgericht stellen zu lassen. Dabei kamen mir Bilder von aufgehängten Wehrmachtsangehörigen in Erinnerung, die ich kurz hinter der Front gesehen hatte. Vor der Brust trugen sie eine Tafel mit der Aufschrift „So werden Deserteure bestraft“. In sicherem Abstand zur Gefechtslinie, also überall hinter der Front, versuchten Feldjäger und NSDAP-Amtsträger in ihren braunen Uniformen uns mit Durchhalteparolen von den baldigen Wunderwaffen und dem nahen Endsieg zu überzeugen. Glaubten diese Funktionäre wirklich, was sie da sagten? Es war eine zwiespältige, aussichtslose Lage, in der wir uns befanden, die Zukunft machte mir Angst.
Gefangenschaft kam für mich nicht infrage, die Propaganda und die Bilder von Nemmersdorf, wo die sowjetischen Truppen bei ihrer erstmaligen Einnahme von deutschem Boden in Ostpreußen unvorstellbare Grausamkeiten an der zurückgebliebenen deutschen Bevölkerung begangen haben sollten, hatten sich uns eingebrannt. Wir sahen einem ungewissen, bedrohlichen Schicksal entgegen. Oder gab es für uns doch noch eine Zukunft bei den Russen? Ich hatte doch seit meiner Einberufung und auch an der Front Glück gehabt: Ich lebte noch und hatte eine schwere Verwundung wie durch ein Wunder überstanden.
Die Vorstellung, in sowjetische Gefangenschaft zu geraten, erschien mir grauenhaft, aber ich wusste keinen anderen Ausweg, denn gegen die Übermacht der Russen zu kämpfen war Irrsinn. Obwohl ich so jung war, dachte ich auch an Selbstmord. Das war nicht verwunderlich angesichts der letzten Wochen, in denen so viele Kameraden gefallen waren oder vermisst wurden. Ich hatte doch nur meine Pflicht getan, mehr schlecht als recht, über die Zukunft nicht weiter nachgedacht. Den Glauben an einen Sieg hatte ich schon lange verloren.
Sollte das hier mein Ende sein? Oder was würde nach einer Gefangennahme mit mir geschehen, gab es überhaupt eine Möglichkeit zu überleben?
Wir berieten gerade, wie wir weiter vorgehen könnten, als im Haus Schüsse und Schreie zu hören waren. Dann kam plötzlich eine Salve aus einer Maschinenpistole, die bei uns im Keller einschlug. Ich glaubte, meine letzte Stunde hätte bereits geschlagen.
Schließlich stand ein russischer Soldat an der Treppe und rief: „Rucky Wersch“1 – Hände hoch. Den Lauf einer Maschinenpistole auf uns gerichtet verstanden wir den Sinn der Worte sofort.
Wir legten die Waffen nieder und ergaben uns. Was für eine Zukunft würde mich und die anderen erwarten? Würden wir erschossen oder nach Sibirien deportiert werden? Ich hatte große Angst, alle möglichen Gedanken wirbelten mir durch den Kopf, ich konnte in diesem Augenblick nicht klar denken. Unseren Aufenthaltsort im Keller konnten wir nur nach und nach verlassen, denn die zweite Aufforderung des Soldaten an der Treppe lautete: „Uhry!“ Durch die Abnahme der Uhren und anderer Wertsachen wie Ringe, Ketten und weiterer nützlicher Dinge verzögerte sich die Räumung des Kellers. Was den Soldaten nicht brauchbar erschien, wurde einfach weggeschmissen. Daraufhin versteckte ich meine Uhr und hatte damit mein erstes Tauschobjekt gerettet, andere Wertsachen fanden sich in der Eile nicht. So entdeckten sie bei mir nur halbe Erkennungsmarken, die ich gefallenen Kameraden abgetrennt hatte, um ihren Tod für die Hinterbliebenen zu bestätigen.
Diese Blechteile wurden mit großem Juchhe weggeschmissen. Der russische Soldat, an dem ich mit erhobenen Armen vorbeiging, hatte über zehn Uhren an seinen Handgelenken hängen. Draußen bot sich uns ein Bild des Grauens: Die Schüsse, die wir im Haus hörten, hatten zwei Kameraden getroffen; sie waren wenige Minuten zuvor nach oben gegangen, um nach etwas Essbarem zu suchen. Jetzt lagen sie im Todeskampf vor uns und dem einen spritzte noch ein langsam versiegender Blutstrahl aus dem Hals. Diesen Anblick werde ich nie vergessen. Man ist so hilflos und kann nichts tun, denn jeden, der nach oben gegangen wäre, um zu helfen, hätte sicherlich das gleiche Schicksal ereilt. Ich war die nächste Zeit teilnahmslos und nahm vieles nur im Unterbewusstsein wahr.
Dieser Zustand hielt aber nicht lange an: Mir wurde klar, dass ich nun Gefangener war und mich nicht gehen lassen durfte, von nun an musste ich einmal mehr ums Überleben kämpfen.
Meine ersten Tage in Gefangenschaft brachten meine bereits getrübte Meinung über Kampfkraft und Kameradschaft vollkommen durcheinander. Nur wenige Meter hinter der Front sahen wir eine kilometerweit gestaffelte Aufstellung von Artillerie, Panzern und anderen Angriffswaffen. Die deutsche Wehrmacht hatte einer solchen Übermacht an Soldaten und Kriegsgerät nichts entgegenzusetzen, wir hatten zuletzt nicht einmal mehr genügend Munition für unsere Schusswaffen gehabt. Unsere Scheinangriffe waren nicht einmal Nadelstiche gegen eine solche Übermacht an Menschen und Material. Die Russen hätten sicherlich noch schneller in unseren Frontabschnitt vorrücken können, wenn unsere Einheit in ihrer Hauptangriffsrichtung gelegen hätte.
In der ersten Gefangenensammelstelle hieß es: „Nichtdeutsche vortreten!“ Ich verstand diese Aufforderung nicht, denn wir hatten doch bis zuletzt gemeinsam die Stellung gehalten. Was für eine Überraschung: Von den einundzwanzig Gefangenen blieben neben mir gerade einmal sechs weitere übrig, die anderen waren auf einmal Polen, Tschechen, Österreicher und andere Staatsangehörige. Danach wurden wir an eine Wand gestellt, vor uns russische Soldaten mit Gewehr im Anschlag. Natürlich dachten wir, dass wir jetzt erschossen würden, wie es uns die Propaganda in Zeitungen oder Rundfunk immer wieder eingetrichtert hatte. Einer versuchte wegzurennen, er kam nicht weit, eine Salve aus einem Maschinengewehr – und er war sofort tot. Mir selbst war alles gleichgültig. In dem Moment hatte ich keine Angst, denn ich war so erschöpft vom tagelangen Schlaf- und Essensentzug und am Ende meiner Kräfte. Ich nahm alles wie in Trance wahr.
Ich war innerlich so abgestumpft durch die vergangenen Wochen, in denen ich täglich den Tod um mich hatte. Nun würde es mich auch erwischen.
Die Anspannung löste sich aber schnell, nachdem ein Frontfotograf die Szene mit seiner Kamera eingefangen hatte. Es ist ein sehr erniedrigendes Gefühl, wenn man alles so wehrlos über sich ergehen lassen muss. Der Fotograf wollte nur gute Bilder von den besiegten „Fritzen“ machen, wie wir fortan genannt wurden, und diese wahrscheinlich lukrativ an den Mann bringen.
Auf der nächsten Sammelstelle trafen wir auf einige Hundert andere Gefangene. Es begann ein gewaltvoller Marsch durch die Kälte, wobei wir unter freiem Himmel übernachten mussten. Alle, die wegen der eisigen Temperaturen und anderer Schwächen das Marschtempo nicht einhalten konnten und zurückblieben, wurden erschossen. Auf dem Weg lernte ich das kyrillische Alphabet und alle wichtigen russischen Schimpfwörter, die uns an den Kopf geworfen wurden. So ging unser Marsch circa 130 Kilometer über Friedland, Wehlen bis nach Georgenburg, jetzt Mojonka bei Insterburg, ins Kriegsgefangenenlager. Es war meine erste feste Unterkunft seit Wochen, nur hätte ich mir eine andere gewünscht … Wir wurden in Pferdeställen der Trakehner Pferdezucht untergebracht. Ich war so erschöpft und übermüdet, dass ich nur noch schlafen wollte. Selbst die eine Scheibe Brot, die wir als Abendessen ausgehändigt bekamen, hatte ich nicht gegessen und stattdessen in den Brotbeutel gelegt. Damit keiner diesen Schatz stehlen konnte, hatte ich den Beutel als Kissen zum Schlafen benutzt. Als ich früh aufwachte, war der Brotbeutel an der Seite aufgeschlitzt und die Scheibe Brot und einige andere persönliche Dinge, darunter auch die Uhr, von einem Mitgefangenen geklaut worden.
Danach wurde ich sehr misstrauisch gegenüber allen Mitgefangenen. Kameradschaft konnte man hier nicht erwarten, jeder war sich selbst der Nächste, jeder wollte überleben, und da gelten andere Gesetze. Der Stärkere und Klügere und sicherlich auch der Skrupelloseste überlebte am ehesten.
Auf dem kargen Strohlager wurde mir nach der ersten durchschlafenen Nacht erst richtig bewusst, dass ich mit meinen neunzehn Jahren wieder einmal überlebt hatte. Aber ich hatte meine Identität verloren und fühlte mich sehr einsam.
Was ist schlimmer?, fragte ich mich: Gefangenschaft, wie ich sie jetzt erlebte, oder schwere Verwundung mit dem nahenden Tod vor Augen? Ich suchte nach einer Antwort, fand aber keine, es war alles so unheimlich leer in mir. Was würde mir die Zukunft in der Gefangenschaft noch alles bescheren, würde ich die Gefangenschaft überhaupt überleben? Dabei fiel mir ein, was ich schon alles überstanden hatte.
Nach meiner Einberufung zur Wehrmacht im Herbst 1943 nach Allenstein in Ostpreußen zum Infanterieregiment Nr. 1, einer kurzen Grundausbildung und der Vereidigung auf Führer und Vaterland wurde unsere Kompanie zur weiteren Ausbildung in eine Nachrichteneinheit als Fernmelder und Funker versetzt. Aber ich wurde nicht in Deutschland, sondern hinter Baranowitschi, in die Nähe der alten Grenze Polen–UdSSR, ausgebildet. Es war eine lange Bahnfahrt bis dorthin, die immer wieder unterbrochen wurde. Die Ursachen konnten wir sehen: Links und rechts der Bahngleise lagen von den Partisanen gesprengte Lokomotiven und Waggons. Wie stark mussten die 15 Partisanen sein, um der deutschen Armee solche Schäden zufügen zu können? Mir kamen immer mehr Zweifel an der Unbesiegbarkeit unserer Armee. In Zeitungen und Nachrichten wurde über solche Vorkommnisse nicht berichtet, dort war immer nur von Siegen die Rede.
Die Ausbildung gestaltete sich für mich nicht sehr schwierig, denn ich beherrschte durch meine berufliche Vorbildung als Betriebselektriker und das folgende Elektroingenieurstudium sowie einer Funkerausbildung bei der HJ die nötigen Grundkenntnisse eines Funkers. Vielmehr fragte ich mich, warum wir uns in einem eroberten Land befanden, gleichzeitig aber eingeschlossen waren. Was sollten wir hier? Die Vorgesetzten konnten mir auf meine Fragen keine vernünftige Antwort geben. Es war sehr unangenehm, von der Außenwelt abgeschottet zu leben. Dazu kam ein hoher Holzzaun, der das Ausbildungslager umgab. Wir waren gefangen in einem fremden Land. Nachts wurde Wache geschoben, um nicht von Partisanen angegriffen zu werden, es blieb aber immer friedlich um unser Ausbildungslager.
Kurz vor der Beendigung der Ausbildung als Funker und Fernmelder wurde ich mit noch weiteren vier Kameraden nach dem Morgenappell vom Offizier unserer Einheit in sein Dienstzimmer gebeten. Mit wenigen Worten teilte er uns mit, dass wir die Ausbildung gut bestanden hätten. Als Auszeichnung dafür würden wir zur weiteren Ausbildung versetzt. Am nächsten Tag erhielten wir unseren Marschbefehl zu einem Offiziersanwärter-Lehrgang nach Ostpreußen.
Die zurückgebliebenen Kameraden wurden mit Marschbefehl zu Einheiten an die Front versetzt. Auf der Rückfahrt nach Ostpreußen hatte ich den Eindruck, die Anzahl der neben den Gleisen liegenden Waggons hätte sich erheblich vergrößert.
Das neue Ausbildungslager bestand aus Baracken in einem Waldgrundstück, weit weg von menschlichen Behausungen. Es war eine harte Ausbildung: Ob Taktik, Angriff, Waffenlehre, Minenlegen, Tarnen im Gelände oder Schießen mit erbeuteten Waffen unserer Gegner – wir lernten alles, was für die Führung einer Einheit nötig ist. Nach Beendigung dieser sehr strapaziösen Ausbildung und einer Beförderung lag der Marschbefehl für jeden Einzelnen von uns zu seiner neuen Einheit schon vor.
Doch es kam ganz anders: Am nächsten Tag wurde uns mitgeteilt, dass wir zur Sicherung der deutschen Grenze als Einheit an einen wichtigen Frontabschnitt verlegt würden, um den Vormarsch der sowjetischen Truppen zu stoppen und Gelände zurückzugewinnen. Die Marschbefehle wurden uns abgenommen, und so kam ich schneller als gedacht zu meinem ersten Fronteinsatz an der Grenze in Ostpreußen, wo nicht weit davon die Rote Armee im Herbst 1944 erstmals deutschen Boden betreten hatte.
Der Krieg war also schon von Moskau über Stalingrad bis an die deutsche Grenze gekommen, es gab keine Siege mehr, sondern nur noch Durchhalteparolen.
Unser Befehl hieß: angreifen, das vor uns liegende Gelände zurückerobern und die Stellung der Russen einnehmen. Danach die neue Stellung ausbauen und den Angriff so weit wie möglich weiter vorantreiben. Es verlief also alles so, wie wir es nicht gelernt hatten: Der Angriff erfolgte auf freiem Gelände ohne Möglichkeit auf Deckung. Auch eine Unterstützung des Angriffes durch Panzer oder Artillerie gab es nicht. Wir hatten auf unserem Offiziersanwärter-Lehrgang im Sandkasten Krieg gespielt, es war alles so einfach, doch wehe wenn die taktischen Gegebenheiten des Geländes und das Zusammenwirken der einzelnen Waffengattungen nicht richtig eingeschätzt wurden. Wenn ich einen derartigen Angriff im Sandkasten vorgeschlagen hätte, wäre mir die Nichtbeherrschung der einfachsten Kriegsregeln vorgeworfen worden. In der Praxis jedoch war der Befehl klar und lautete: Angreifen und so viel Gelände wie möglich gewinnen. Das konnte nur schiefgehen, ohne Artillerievorbereitung angreifen, das war kein Angriff, sondern ein Vorgehen auf freier Fläche. Nach circa 400 Metern war der Angriff zu Ende und von unserem Lehrgang waren nur noch einige wenige am Leben und diese auf dem Rückzug. Alle anderen waren gefallen oder verwundet. Ich spürte auf einmal einen Schlag in der Brust und konnte den rechten Arm nur noch unter Schmerzen bewegen. Am Hals blutete ich stark.
Ich fiel blutend zu Boden, alles fühlte sich so eigenartig an. Ich lag sicherlich schwer verwundet im Niemandsland. Sollte es noch Überlebende des Angriffs gegeben haben, waren diese wahrscheinlich in unsere Ausgangsstellung zurückgeflüchtet, um dem Tod oder der Gefangenschaft zu entgehen.
Im Unterbewusstsein nahm ich wahr, dass der Gefechtslärm vorüber war. Alles war auf einmal so ruhig und ich fühlte mich einsam und verlassen. Ich sah nur noch Verletzte und Tote. In meiner Nähe lag ein Schwerverwundeter, der schrie und dessen Schreie immer leiser wurden.
Was war mit mir geschehen? Welche Verwundung hatte ich, würde ich gefunden werden?
Die Luft zischte laut pfeifend über meinen Rücken in meinen Körper, die Haut wurde davon aufgeblasen. Dazu kam, dass ich den rechten Arm nicht mehr bewegen konnte, am Hals blutete ich aus einer Fleischwunde. Später sagte man mir im Lazarett, ich hätte mehr Glück als Verstand gehabt. Ein kleiner Splitter hatte die Wunde am Hals verursacht und nur um Haaresbreite die Hauptschlagader verfehlt.
Meine erste Reaktion bestand darin, dass ich mich umdrehte und mit dem Rücken auf die Erde rollte, um die Zufuhr der Luft unter die Haut etwas zu verlangsamen. Wie sich später herausstellen sollte, hatte ich ohne medizinisches Wissen richtig gehandelt. Die Rückenwunde wirkte wie ein Ventil, weshalb zwar Luft durch den Rücken in die Lunge einströmte, aber nicht mehr entweichen konnte.
Die Luft im Brustfellraum hatte rasch an Volumen zugenommen und presste nun das Herz und die Gefäße sowie den Lungenflügel zusammen. Ich war schon aufgeblasen wie ein Frosch und wartete nur noch auf das Ende, hatte aber keinerlei Angst. Die Schmerzen waren unerträglich und mir wurde schnell klar, dass das die letzten Minuten meines Lebens sein würden, würde mich nicht in letzter Sekunde jemand finden. Später habe ich mich immer wieder gewundert, wie ruhig und gelassen ich diese aussichtslose Lage ertragen habe, nur bedacht darauf, das Eindringen der Luft in meinen Körper etwas zu verlangsamen.
Ich dachte gelassen ans Sterben und überlegte in Ruhe und bei vollem Bewusstsein, wie lange es wohl noch bis zum frühen Ende dauern würde. Vielleicht regierte mich in diesem Moment aber auch die alte Weisheit „Die Hoffnung stirbt zuletzt“.
Innerlich hatte ich mich wohl schon vom Leben verabschiedet. Ich hatte bisher das Unheil nur bei anderen gesehen, sollte das Sterben letztlich so leicht sein? Der nicht weit von mir entfernt Schreiende war verstummt.
Ich dachte an die schönen Stunden in meinem bisherigen kurzen Leben zurück, es war alles so still um mich herum. Meine Eltern würden die Mitteilung bekommen, dass ich als Held für Führer und Vaterland gefallen war. So ein Unsinn: Ich war kein Held, hatte nur das Pech wie viele andere auch, in diesem unsinnigen Krieg so jung zu sterben.
In diesem Moment erkannte ich unsere Sanitäter, die Verwundete suchten. Ich nahm meine letzte Kraft zusammen, um sie auf mich aufmerksam zu machen. Ich machte ein schwaches Handzeichen, da ich nicht sprechen konnte. Sie entdeckten mich und verbanden meinen Hals. Am Hals hatte ein kleiner Splitter die Haut gestreift, diese Fleischwunde blutete sehr stark, der Hals und das Gesicht, alles war voller Blut. Die Sanitäter packten mich an Händen und Füßen und warfen mich auf einen Handwagen. Ich stieß einen Schrei aus. Neben dem offenen Pneu waren noch zwei Rippen zerfetzt. Instinktiv versuchte ich, auf dem Leiterwagen neben anderen Verwundeten liegend eine Stelle einzunehmen, damit die Luftzufuhr unter meine Haut etwas unterbunden und das Aufblähen verlangsamt wurde. Vielleicht schaffe ich es noch bis zum Feldlazarett, dachte ich.
Wie kann man das alles aushalten? Man nimmt alles nur im Unterbewusstsein und somit gelassen wahr. Mit dem Leben hatte ich bereits abgeschlossen. Wann und wie das Ende kommen sollte, war einem in diesem Moment gleichgültig. Warum sollte ausgerechnet ich überleben? Ich hatte ja schon so viele Sterbende gesehen, für die es keine Hilfe mehr gegeben hatte.
Ich schaffte es jedoch tatsächlich bis zum Lazarett. Auf dem Operationstisch sagte der Feldarzt einen Satz, den ich fortan nicht mehr vergessen sollte: „Wie habt ihr denn den bis hierher gebracht?“ Der Splitter in der Lunge wurde sofort ohne Narkose entfernt, an Schmerzen kann ich mich dabei nicht erinnern. Die Pneu-Öffnung wurde verschlossen, die beschädigten Rippen wurden nicht weiter behandelt. Zwei Sanitäter packten mich wieder an Händen und Füßen, um mich erneut auf eine Trage zu schmeißen. Mein Stöhnen ließ sie kalt, einer sagte trocken, ich solle mich nicht so haben. Vor dem Feldlazarett lag ich nun mit anderen Verwundeten, um uns herum nur Tote. Danach hieß es: Abtransport zum Bahnhof. Dort stand aber kein Lazarettzug zur Verfügung, also wurden wir kurzerhand in Güterwaggons verfrachtet. Auf dem Weg nach Pillau wurde mehrmals kontrolliert, ob die Verletzten noch transportfähig waren, jedes Mal wurde ich mit einigen anderen ausgeladen, um nach einigen Tagen die Reise unter immer gleichen Schmerzen fortzusetzen. Im Hafen von Pillau wurde ich auf das Lazarettschiff Leipzig gebracht. Meine erste Schiffsreise auf einem so großen Dampfer hatte ich mir anders vorgestellt. In Stettin angekommen ging es weiter mit dem Zug nach Glogau ins Lazarett.
Schon das Ausladen aus dem Lazarettzug erfolgte diesmal behutsamer, und ich bekam ein eigenes Bett. Von den anderen Verwundeten wurde ich bestaunt, denn so einen aufgeblasenen Körper hatten sie sicherlich noch nie gesehen. Bei der ersten Visite stellte ich mich schlafend: Ein Arzt erklärte den Schwestern die Art meiner Verwundung. Er bemerkte dazu, dass dies sein erster derartiger Fall sei, denn eine solche Verletzung überlebe nur selten einer. Ich hätte großes Glück gehabt und würde durchkommen.
Diese Verletzung könne nur ein junger, noch widerstandsfähiger Körper überstehen, fügte er an. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Die Ärzte interessierten sich auch zum ersten Mal für meine beschädigten Rippen und die Schulter und legten mir die nötigen Kompressen an. Beim Wechseln des Verbands am Hals bemerkte der Arzt kopfschüttelnd: „Der hat ja zweimal Glück gehabt! Wenn der Splitter ein bis zwei Millimeter weiter ins Fleisch eingedrungen wäre, hätte dieser die Halsschlagader getroffen.“
Trotz aller Beschwerden fühlte ich mich auf einmal nahezu geborgen, obwohl mein Zustand nicht sehr rosig war. Ich kann mich nicht mehr an vieles aus den ersten Tagen erinnern. Ich wurde durch die zahlreichen Tabletten, Spritzen und Absaugungen in einem Trancezustand gehalten. Nur eins blieb mir für immer in Erinnerung: die vielen Spritzen jeglicher Nadeldicke.
Nach einigen Wochen begann mein Lebensmut wieder voll zu erwachen und ich wurde von der Intensivstation in eine Baracke des Krankenhauses verlegt. Zuvor hatte ich noch ein Gespräch mit dem mich behandelnden Arzt. Dabei schilderte ich ihm, wie viel Zeit vergangen war und was ich getan hatte, bis ich nach meiner Verwundung ins Feldlazarett kam. Und ich zitierte den mir unvergesslichen Satz des Militärarztes: „Wie habt ihr denn den bis hierher gebracht?“ Der nun behandelnde Arzt schüttelte den Kopf und sagte: „Sie haben alles richtig gemacht und Ihr Leben damit gerettet.“
Die Verlegung in die Baracke hatte nur den Nachteil, dass ich dort nicht nur den Kampf gegen die Verwundung, sondern auch einen gegen Wanzen und Flöhe führen musste. Ich lernte sehr schnell von meinen Bettnachbarn, wie man sich gegen das Ungeziefer wehrt.
Nachdem es mir wieder etwas besser ging, besuchte ich so oft ich konnte Kinovorstellungen, es waren die ersten seit meiner Einberufung. Ich hatte dabei manchmal auch angenehme Begleitung – meine kleine Freundin, die Krankenschwester, die mich in diesen Tagen der Genesung sehr aufopferungsvoll gepflegt hatte. So hatte ich auch in den schweren Tagen meiner Verwundung etwas Zerstreuung. Wir genossen die Tage, alles war so friedlich um uns herum. Ich verpasste keine Vorstellung und sah meinen ersten Farbfilm, „Die Frau meiner Träume“, mit Marika Rökk und Wolfgang Lukschy in den Hauptrollen. Vor der Leinwand konnte ich den Krieg und die Grausamkeit kurzzeitig vergessen. Die Propaganda hatte diese Methode der Ablenkung schon richtig eingeschätzt, diese schönen, heiteren Bilder und der Refrain des Liedes ließen einen die brutale Gegenwart für kurze Zeit ausblenden.
In der Nacht ist der Mensch nicht gern alleine,
Denn die Liebe im hellen Mondenscheine,
Ist das Schönste, Sie wissen, was ich meine …
An das große Leid der Schwerstverwundeten durfte man nicht denken, es war zum Teil sehr schlimm, was man täglich mit ansehen musste. Neben mir lag beispielsweise einer ohne Hände und Beine. Ich werde nie vergessen, wie seine Frau zu Besuch kam. Zuerst schien sie nicht verstehen zu können, doch dann umarmten sie und küssten sich. Ich hatte das Gefühl, dass sie froh war, dass er noch lebte, und sie begann, ihn zu füttern. Was muss das für eine Liebe zwischen den beiden gewesen sein!
Es war nicht zu begreifen, wie doch das Schicksal mit dem Einzelnen umging. Warum nur dieser Krieg und dieses Leiden?, fragte man sich immer wieder.
Der nächste Tag in der Gefangenschaft begann mit dem Antreten zum Zählappell nach dem Wecken und mit der Bekanntgabe der Lagerordnung: Alle Befehle der Lagerleitung wären strikt zu befolgen, jeder Fluchtversuch würde hart bestraft. Danach ging es zu einem Waschraum, wo wir unsere Uniform oder das, was davon noch übrig geblieben war, ablegten. Die Haare an allen Körperteilen wurden entfernt, die Kleidung wurde genauso wie ich selbst entlaust. Dies war auch bitter nötig, denn in den letzten Wochen hatte ich keine Wäsche gewechselt und auch sonst keine Zeit und Gelegenheit gehabt, mich von den lästigen Läusen zu befreien. Nach der Behandlung suchte ich meine Sachen, fand sie aber nicht. Ein Bewacher blaffte mich an: „Nimm, was dir passt, oder geh nackt.“ Also nahm ich die nächstbesten Kleiderstücke und war wieder ein Gefreiter. Als ich zu meiner Pritsche zurückkehrte, fragte mein Nachbar lachend, wer mich denn degradiert hätte. Ich erzählte ihm die Begebenheit, musste aber zugeben, dass ich mich nach der Säuberung trotz Degradierung viel wohler fühlte als zuvor.
Danach erfolgte die erste Vernehmung. Wer war in der Waffen-SS gewesen?, wollte man wissen. Keiner meldete sich. Wir mussten alle unsere Arme hochheben, denn wie ich nun erfuhr, wurde den Zugehörigen ihre Kennnummer in die Achselhöhle tätowiert. Einer wurde zur Seite genommen. Ihn habe ich nicht wiedergesehen. Ich dachte an meinen besten Freund, Winfried, der sich freiwillig zur Waffen-SS gemeldet hatte. So konnte er sich die Einheit aussuchen und hatte schönere Uniformen und die neuesten Waffen, das kam auch bei vielen Mädchen gut an. Er war aber bis zu seiner Einberufung vollkommen unpolitisch. Wo und wie sein Einsatz erfolgte, wusste ich nicht.
Wir wurden weiter verhört. Es waren wohl über vierzig verschiedene Fragen, die wir zu beantworten hatten. Es wurde beispielsweise erfragt, in welcher Einheit und wo man gedient hatte. Bei mir gab es größeres Interesse an meiner Ausbildung als Funker, danach ging es um meine berufliche Tätigkeit im Benzinwerk Böhlen. Sie wollten alles Mögliche über die Produktion und den Standort wissen.
Zwei Tage später wurde ich nochmals der gleichen Prozedur unterzogen, es wurde alles noch tiefer hinterfragt, dabei wurden Fragen teilweise wiederholt, um vorhandene Widersprüche in den Angaben aufzudecken.
Um meine Fähigkeiten als Funker zu beweisen, wurde ich in einen Raum geführt, wo deutsche Funkgeräte im Einsatz waren. Zuerst forderte man mich auf, eines der Funkgeräte in Betrieb zu nehmen. Dies ging nicht auf Anhieb, woraufhin ich den Fehler finden sollte. Nach kurzem Suchen hatte ich herausgefunden, dass eine Sicherung defekt war. Mit einem Lächeln übergaben mir die Soldaten eine neue Sicherung, die ich einbaute. Das Gerät war nun funktionsfähig. Danach wurde meine Schnelligkeit beim Morsen überprüft: Dazu wurde mir ein Text vorgelegt, den ich in Klartext, also unverschlüsselt, in Morsezeichen zu geben hatte. Die Offiziere schienen mit mir zufrieden. Dann musste ich einen Text aufnehmen, was weniger leicht und schnell zu lösen war. Auf einmal legten sie mir deutsche Armee-Chiffrierunterlagen der Cäsar-Verschlüsslung vor, deren Anwendung ich bei meiner Ausbildung als Funker gelernt hatte. Die Cäsar-Verschlüsslung stellt aus Klartexten durch Verschieben des Alphabets veränderte Buchstaben her, die Gegenseite kennt den Schlüssel und kann den Klartext ohne Probleme wiederherstellen. Ich sollte die Verschlüsslung eines Texts vornehmen, danach musste ich einen anderen Text entschlüsseln, was mir leichtfiel, da ich die Arbeit immer noch beherrschte.
Jeden Tag nach Beendigung der Befragung wurde ich nochmals verpflichtet, über das soeben Gesprochene Stillschweigen zu bewahren.
Das Angenehmste an diesen zwei Tagen war, dass ich im Vergleich zu den anderen reichlich und gutes Essen bekam. Nach getaner Arbeit ging es aber wieder auf die Pritsche in den Pferdestall.
Ich wusste nicht, warum man sich so viel Mühe mit mir gab, ich hatte doch kein besonderes Wissen über Geheimnisse oder anderes Wichtige, was für den Feind von Bedeutung gewesen wäre.
1 Руку вверх.
Am nächsten Tag tauchte ein Soldat im Schlafsaal auf und rief meinen Namen. Als ich mich meldete, winkte er mir zu und sagte: „Dawei! – Komm!“ Ich wurde ins Verwaltungsgebäude geführt. Dort wartete schon der Vernehmungsoffizier auf mich, nach einer kurzen Darstellung der Kriegslage fragte er mich nach meiner Meinung. Ich sagte wie schon bei meiner Vernehmung, dass es Irrsinn sei, gegen eine solche Übermacht weiter Krieg zu führen. Danach teilte er mir mit, sie hätten nach meinen Aussagen beschlossen, dass ich ab jetzt einer Sondereinheit der Roten Armee unterstellt wäre und zu meiner Sicherheit einen Decknamen bekäme. Man brachte mich in den Raum, wo die Befragungen durchgeführt worden waren. Hier hielten sich schon drei weitere Mitgefangene auf, die wahrscheinlich genau wie ich Funker der Wehrmacht gewesen waren und das Auswahlverfahren bei den Vernehmungen bestanden hatten. Ich war sprachlos, denn ich wusste nicht, was mit mir geschehen würde. Was sollte ich machen? Da mir nichts anderes übrig blieb, ließ ich alles auf mich zukommen.
Die Vernehmungsoffiziere führten uns anschließend zu bereitstehenden Armeefahrzeugen, in die wir einsteigen mussten. Das Tor des Kriegsgefangenenlagers wurde von den Wachen sofort ohne Kontrolle geöffnet, und ab ging die Reise ins Ungewisse.
Nach stundenlanger Fahrt, die wir schweigend verbrachten, erreichten wir Vilnius. Vor einer großen Villa hielten russische Soldaten Wache, nach einer kurzen Verständigung mit unserem Offizier wurde das Tor für unsere Fahrzeuge geöffnet. Die erste Überraschung: Ich bekam ein eigenes Zimmer, auf dem Bett lagen ein nagelneuer Anzug, Unterwäsche, Schuhe und sogar ein Schlips. Die Kleidungsstücke stammten den Etiketten nach aus deutscher Produktion. Die nächste Überraschung: nach Wochen erstmals wieder ein Bad, so wohl hatte ich mich nach dem Waschen schon lange nicht mehr gefühlt. Meine verdreckte Uniform und alles, was ich sonst noch hatte, wurde im Hof verbrannt. Es hätten doch noch Läuse oder anderes Ungeziefer in den Kleiderstücken sein können. Im neuen Anzug sah ich aus wie ein Zivilist, ich konnte es selbst kaum glauben, was für ein Gefühl!
Es gab in der Unterkunft auch eine Funkstation. Dort wurden unsere Funk- und Morsekenntnisse an Wehrmachtsgeräten erneut eingehend getestet. Nach einer kurzen Ruhepause wurden uns die Verhaltensregeln nochmals eingetrichtert: Über alles hier hätten wir zu schweigen und auch untereinander keinerlei Gespräche zu führen. Sonst drohten harte Strafen und es ginge sofort zurück in ein Lager für Staatsfeinde. Ich begriff nicht richtig, was mit mir geschah, ich glaube, ich nahm alles nur unbewusst wahr, konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sollte das wieder einmal eine Überlebenschance für mich sein? Dann sollte ich das Beste aus der jetzigen Situation machen, der Krieg wäre ja doch bald vorbei. Ich konnte mich mit niemandem austauschen, dabei hatte ich so viele Fragen. Allen voran: Was genau wollten die Russen von mir?
Einen Tag später war in unserer schönen Unterkunft in Vilnius großer Aufbruch angesagt. Ich hatte das Gefühl, dass es nun weiter in eine andere Stadt ginge. Die sowjetischen Offiziere waren sehr aufgeregt und packten schnell ihre Gegenstände und Habseligkeiten zusammen. Ganz plötzlich erging an uns die Aufforderung, uns sofort vor das Haus zu begeben und in die schon beladenen Fahrzeuge einzusteigen. Wir mussten uns in die Fahrzeuge zwängen, denn sie waren mit Unmengen Gepäck hoffnungslos überladen. Beim Einsteigen sah ich aus den Augenwinkeln, was da transportiert wurde: Es waren größtenteils Wohnungseinrichtungsgegenstände wie Teppiche, Vasen, Kleinmöbel, Geschirr, Textilien und andere Sachen.
Wohin die Fahrt gehen sollte, hatte uns noch keiner gesagt. Ich hoffte nur, die unbequeme Fahrt zu unserer neuen Unterkunft würde nicht stundenlang dauern. Die gute Stimmung der Offiziere zeigte mir aber, dass sie sich auf unseren Bestimmungsort freuten. Für mich aber ging es einem unbekannten Ziel und einer unbekannten Zukunft entgegen.
Erst nachdem wir unterwegs haltgemacht hatten, erklärte uns der Führungsoffizier, dass es zum Flugplatz und von dort nach Hause gehe. Ich war geschockt, aber zum Überlegen, wo dieses Zuhause und mein neues Gefangenenlager sein würden, blieb keine Zeit.
Als wir auf dem Flugplatz am Rande der Stadt ankamen, fuhren wir ohne Kontrolle direkt aufs Rollfeld, wo schon ein Flugzeug für uns bereitstand. Wir wurden mitsamt den Fahrzeugen in die Maschine verladen. Auch im Flugzeug war es sehr eng, denn jeder Quadratmillimeter des Laderaums wurde ausgenutzt. Mit Zwischenlandungen erreichten wir am Abend einen Militärflugplatz in der Nähe von Moskau. Die sowjetischen Offiziere waren in Hochstimmung, denn für sie war der Kriegseinsatz erst einmal zu Ende.
Von meinem ersten Flug weiß ich heute nur noch, dass es viel fettes Essen und reichlich Wodka gab. Die ungewohnte Kost bekam mir gar nicht, ich musste mich erbrechen – also nicht eben die besten Erinnerungen an diese erste Flugreise. Das Entladen der Fahrzeuge und der Möbelstücke ging mithilfe von Soldaten und ohne jede Kontrolle auf dem Flugplatzgelände sehr schnell vonstatten.
Wir wurden von einem Offizier in deutscher Sprache in Empfang genommen: Er erwarte von uns, dass wir in unserer täglichen Ausbildung mit viel Fleiß bei der Sache wären. Denn nur so könnten wir unseren Beitrag für den schnellen Sieg über Hitlerdeutschland leisten. Dann gingen wir auf Fahrt durch verschneite Landschaften und Dörfer zu der neuen Unterkunft. Wie schon in Vilnius nahm ich alles wie in Trance wahr. Was würde mit mir geschehen? Wo würden sie uns hinschaffen?
Nach längerer Fahrt hielt unsere Kolonne vor einem Grundstück, das von einem grün gestrichenen hohen Holzzaun umgeben war. Die Wachen am Eingang öffneten nach einer kurzen, aber herzlichen Begrüßungszeremonie die Tore des Komplexes, und ich war nicht weit von Moskau in meinem neuen Zuhause angekommen. Die Höhe des Holzzaunes und des sich darüber befindlichen Stacheldrahtes zeigte mir, dass es ein sehr gut bewachter Gebäudekomplex war. Wie ich etwas später herausfand, befand ich mich außerhalb des Ortes Timilino, in unmittelbarer Nähe von Moskau. Nachdem ich aus dem Jeep geklettert war, versuchte ich, mich im russischen Winter und in meiner neuen, ungewohnten Umgebung zurechtzufinden.
Viel Zeit blieb mir im Augenblick dazu nicht. Ich bemerkte auf dem verschneiten Gelände zahlreiche hochgewachsene Birken, dazu einige Wohngebäude sowie kleinere Unterkünfte. Mehr konnte ich in der Dunkelheit nicht erkennen, denn es ging sofort in das größere Holzhaus, wo uns unser neuer Vorgesetzter begrüßte.
Er stellte sich als Sohn eines deutschen Emigranten vor und hatte den Dienstrang eines Hauptmannes der Roten Armee. Wenn nötig, sollten wir ihn mit Dienstgrad oder Herr Walter anreden. Nach dieser kurzen Einführung erfolgte ein Vortrag über die siegreiche Sowjetarmee und den heldenhaften Kampf des Sowjetvolkes gegen den Faschismus unter Führung des genialen Genossen Stalin. Nun musste ich noch mehrere Verpflichtungserklärungen über die Geheimhaltung meiner Tätigkeit unterschreiben, die aber nur auf Russisch vorgelegt wurden. Auf meinen Einwand hin, den Text auch auf Deutsch zu lesen zu bekommen, wurden mir lächelnd die Hauptpunkte aufgezählt:
„Du unterschreibst jetzt, dass du uns helfen willst, den deutschen Faschismus mit zu besiegen.“ Jeder von uns musste sich dieser Prozedur einzeln unterziehen, um nicht vom Tun der anderen beeinflusst zu werden. Ich konnte mir bei dieser Gelegenheit einen Decknamen aussuchen. Nach kurzem Überlegen wählte ich den Namen Heinz Kohl. Der Vorschlag wurde angenommen.
Heinz erinnerte mich daran, wie vergänglich alles war, wie schnell die Zukunft einer jungen Familie durch den Krieg zerstört werden konnte.
Während unserer gemeinsamen Lehrzeit im Benzinwerk Böhlen hatte er eine Liebschaft, mit siebzehn Jahren wurde er vor unserer gemeinsamen Einberufung zur Wehrmacht Vater eines kleinen Mädchens. Natürlich wurde vorher noch schnell geheiratet. Ich war Trauzeuge. Was für ein schönes Paar, was für ein gelungenes Fest, alle waren glücklich. Unsere Ausbildung als Funker verbrachten wir noch in der gleichen Einheit, doch am Ende der Ausbildung wurden wir getrennt. Ich wurde Offiziersanwärter und er sofort an die Front geschickt. Einige Wochen später schickten mir meine Eltern seine Todesanzeige: „Als Held für Führer und Vaterland gefallen“. Mein Deckname sollte ein kleines Andenken an Heinz sein und mir bewusst machen, wie der Krieg ein so junges Glück so schnell vernichten kann. Ich nahm mir vor, wenn ich die Kriegsgefangenschaft überstehen sollte, Kontakt zu seiner Witwe aufzunehmen.