IMPRESSUM
© fineBooks, 2021. 2., überarbeitete Auflage
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck und Vervielfältigungen –
auch auszugsweise – nicht gestattet.
Herausgeber: |
Alexander Broicher finebooksverlag.com |
Gestaltung, Satz: |
Mo Tapprogge mo-creation-design.com |
Lektorat: |
Bernd Jost |
Redaktion: |
Samara Insel |
Printed in Germany
ISBN 978-3-9483-7327-6
Als ich Stefan im Jahr 2008 das erste Mal in Berlin traf, war es eine wichtige und transformierende Zeit für Yoga im Westen. Stefan und Miriam organisierten das Berliner Yogafestival, um die schnell wachsende Zahl von Yoga-Praktikern, die nach tieferen Lehren des Yoga suchten, in Europa zusammenzubringen.
Es war die Zeit, als zum ersten Mal Yoga-Schulen in allen großen Städten Europas auftauchten und bald Konkurrenz untereinander entstand. Um ihre Arbeit hervorzuheben, konzentrierten sich einige Yoga-Richtungen darauf zu betonen, was ihre Praxis unterscheidet und anders macht, und nicht den Fokus auf die Aspekte der wunderbaren Yoga-Lehre zu legen, die alle Praktiken gemeinsam haben.
Stefan hatte gerade seine Position in den Sivananda-Ashrams mit der Vision verlassen, alle Yoga-Schulen und -Traditionen in einem großen und freudigen Ereignis zu vereinen. Meine Frau Yogini Shambhavi und ich waren begeistert von der Idee und machten uns bald auf den weiten Weg von Santa Fe nach Berlin.
Um alle Yoga-Praktiken in den tieferen Lehren des Yoga zu vereinen, haben wir uns als Dozenten dem Yogafestival angeschlossen. Hier haben wir das alte Wissen gelehrt, das als wunderbare Verbindung zwischen Yoga und Ayurveda immer bestanden hat.
Später in diesem Buch finden Sie das Interview „Yoga – die Religion des Herzens” von Stefan und mir. Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, wünsche ich große Freude und Inspiration mit Stefans Texten und Gedanken über den Geist des Yogas in seinen verschiedenen Facetten.
Dr. David Frawley wurde 1950 in den USA geboren. Er ist ein weltweit vielbeachteter Autor und Experte in den Gebieten Yoga, hinduistische Philosophie und Ayurveda. 1980 gründetet er das „American Institute of Vedic Studies” in Santa Fe, New Mexico.
David gibt sein breit gefächertes Wissen in über 30 Büchern sowie in Ausbildungen und Seminaren weiter. Sein spiritueller Name ist Pandit Vamadeva Shastri. 2015 wurde ihm von der indischen Regierung der Padma Bhushan, der Lotus-Orden, verliehen.
Yoga ist ein großes und wundervolles Thema. Yoga beschreibt nichts Abstraktes, nichts Fremdes, sondern spricht vom ersten Moment von nichts anderem als von Dir selbst. Und von sich selbst spricht man doch in der Regel immer gerne. So möchte ich mich Dir, liebe Leserin und lieber Leser, kurz vorstellen.
Yoga hat eine erstaunliche Komponente: schon beim ersten Kontakt mit Yoga, in welcher Form auch immer, fühlen wir uns in einem Aspekt unserer Selbst berührt, zu dem wir häufig zu wenig Kontakt haben. Und diese Berührung fühlt sich gut und richtig an und sehnt sich nach mehr davon.
So erging es jedenfalls mir im Alter von 17 Jahren. Schon bei den ersten zarten Yogaübungen, die uns die Tante meiner damaligen Freundin zeigte, spürte ich, diese Übungen haben ein ganz anderes Ziel, als „nur” den Körper zu erreichen oder zu stärken. Meine Freundin und ich übten Yoga in den Weinbergszeilen im schönen Rheingau und fühlten uns dabei so weit und frei, wie der Blick über das bezaubernde Rheintal, das vor uns lag. Meine erste Yogaerfahrung war: „Yoga lässt Dich eine Verbindung spüren mit allem, was Dich umgibt“.
Kurze Zeit später wurde mein bester Freund ebenfalls süchtig nach Yoga, und wir begannen, zusammen zu meditieren, zu philosophieren und die Briefe von Swami Yogananda, einem indischen Yogameister des letzten Jahrhunderts, zu studieren. Was wir hier lesen konnten, musste ja den noch jugendlichen offenen Geist verzaubern, und eine unbändige Neugier entstand auf all das, von dem kaum jemand etwas wusste.
Wir meditierten gerne nachts. Manchmal saßen wir auf einer Burgruine über dem Rheintal, manchmal vor dem weißen Punkt an der Zimmerwand des Kinderzimmers!, welches um den Punkt herum großzügig schwarz gestrichen war.
Außerdem war Yoga für uns eine stille und doch mächtige Form der Revolution, wie sie jeder junge Mensch auf die eine oder andere Weise erlebt. Wollten wir so sein wie unsere lieben Eltern und ihre Freunde? Natürlich nicht. Wir wollten verstehen, was Swami Yogananda meinte, wenn er von der „Erweckung des wahren Selbstbewusstseins” sprach; von den tiefen Erkenntnissen, die „nicht erklärt, sondern nur erlebt werden können“.
Als ich später den malerischen und behüteten Rheingau verließ und im Berlin der wilden 90er Jahre landete, wurde die Flamme des Yoga in mir kleiner. Ich wohnte in Berlin Mitte auf 100qm für ganze 130,- Mark und tauchte in die verrückte und kreative Szene des vereinten Berlins ein. Yoga war selbst hier zu dieser Zeit noch nicht besonders populär. Eines Tages lief ich durch meine Torstraße, damals noch Wilhelm Pieck Straße, und schaute in den Himmel, der sich mir in einem schmalen Streifen über der Häuserschlucht zeigte. In diesem Moment wurde ich innerlich gerüttelt und geschüttelt, und ich erinnerte mich sehnsüchtig an die Weite und die Schönheit des Himmels, der Natur, meiner Natur. Umgehend zog ich an den äußersten Stadtrand Berlins und eroberte mir mein yogisches Leben Schritt für Schritt zurück.
Da ich nun alleine war und meinen Freunden der Weg an den Stadtrand zu weit war, tauchte ich wieder tiefer in die Stille und Fülle von Yoga und Meditation ein. Ich lebte zurückgezogen, besuchte meine Schule für Physiotherapie und ging früh zu Bett, um morgens um 4:30 Uhr mit der Meditation beginnen zu können. An einem Punkt wurde der Wunsch in mir nach echter spiritueller Führung und lebendiger Inspiration so groß, dass ich mich auf den Weg machte, einen Guru oder Lehrer zu finden. Nachdem ich die drei oder vier Yogaschulen, die mir zu dieser Zeit in Berlin bekannt waren, besucht hatte und gar sonderbare Hüpf-Meditationen, Tantra-Yoga und Engelkarten-Yoga kennengelernt hatte, landetet ich beim „Tag der offenen Tür” im „Sivananda Yoga Zentrum“, einer kleinen klassischen Yogaschule mit indischen Wurzeln. In der Drei-Zimmer Wohnung war es wunderschön, still, heilig und warm. Ich platzte als Letzter in den Einführungsvortrag über das simple Thema: „Was ist Yoga?“, den Swami Sivarupananda, eine etwas ältere Dame im orangenen Gewand, gerade hielt. Als ich die Swami dort sitzen sah, geschah mir etwas Großes, etwas, worauf ich nicht vorbereitet war: ich sah die Swami in einem wunderschönen strahlenden Licht und hatte das Gefühl, die Zeit bliebe ruckartig stehen. Sie sah mir für eine gefühlte Ewigkeit Direkt in die Augen, und ich wusste, sie musste der von mir gesuchte Wegweiser und Guru sein.
Die Physiotherapie-Ausbildung war spannend. Es war ein Weg nach innen. Den Körper zu studieren, jedes Knochenhöckerchen mit Vor- und Nachnamen zu kennen und um die Funktionsweise der Organe zu wissen, erschien mir fast selbstverständlich. Vor den Prüfungen lernte ich gerne nachts; immer 50 Minuten lernen, 10 Minuten Kopfstand. Doch am Tag nach dem abschließenden Staatsexamen beschloss ich, mich von nun an ausschließlich mit Yoga und Meditation beschäftigen zu wollen. Ich packte alles, was ich von der Physiotherapie hatte, die prallen Ordner und teuren Bücher, in die Mülltonne. Innerhalb von zwei Tagen verschenkte ich all mein Hab und Gut an ein Kinderheim und zog als Yogi und Mitarbeiter in das „Sivananda Yoga Zentrum” zu meiner Lehrerin. Eine wundervolle Zeit begann, gleich einem Traum, aus dem ich nie erwachen wollte. Sechs Jahre sollte er dauern und mir die Schönheit des Yogas in seinen vielen Facetten zeigen.
Die GEHEIMNISSE DES YOGAS, die ich hier hören und erleben durfte, möchte ich in diesem Buch mit Dir teilen. Ebenso interessante Themen aus meiner über 25jährigen Zeit als Yogalehrer und Physiotherapeut. Dich erwarten Texte aus verschiedenen Lebensabschnitten. In der Hoffnung, dass sie Dich in Deinem Leben inspirieren, weiter zu forschen, die Augen zu öffnen und Dich selbst als gesundes und strahlendes Selbst zu erkennen. Wann immer sich für mich ein Thema offenbarte, das mich diesen inneren Wahrheiten näher bringen konnte, habe ich versucht, meine Gedanken dazu in Worte zu ordnen. So findest Du hier Themen, die meinen Yoga-Weg begleiteten. Vielleicht kann mein Weg hiermit auch Deinen Weg ein Stück weit begleiten.
Täglich saß ich von sechs bis neun Uhr morgens neben meiner Meisterin zur Meditation, und wir übten gemeinsam mit den anderen Yogis Asanas, Pranayama, Mantras und studierten die spirituellen Schriften. Ich war der Koch des Hauses und war rundum glücklich. Ich wollte mein Leben lang nur noch Meditieren, Yoga praktizieren und für andere Yogis kochen. Doch es kam anders: das mystische Indien begann, mich zu rufen. Ein brennendes Verlangen entflammte in mir, mich in den Himalaya an die Ufer der Gangesquelle zurückzuziehen. Hier wollte ich echtes Pranayama, die Kontrolle über den Atem, erlernen und üben. Und hier beginnt meine erste Geschichte für Dich, im Himalaya.
Ich bin 23 Jahre alt, sitze das erste Mal in meinem Leben zwischen den majestätischen Bergen des Himalayas am Ufer des Ganges und fühle mich auf sonderbare Weise „angekommen“. Alles fühlt sich hier rein und erhaben an. Das Rauschen des Ganges ist allgegenwärtig und erstaunlich laut. Zuerst irritierend, wirkt es nach einigen Tagen wundersam beruhigend. Seit Jahrtausenden praktizieren Hatha-Yogis hier wie selbstverständlich Energiearbeit und Meditation. An diesem spirituellen Kraftort der Yogis liegt das „Sivananda Kutir“, ein kleiner Ashram, eine schimmernde Perle. Wir, das sind neun mutige Yoga-Schüler, möchten hier mehr über Pranayama, die Atemtechniken des Yogas, von einem erfahrenen Yoga-Meister lernen.
Ich war neugierig und fragte den Yoga-Meister, warum ich dieses innere Licht zwischen den Augenbrauen, von dem im Yoga immer gern gesprochen wird, nicht sehen kann? Er lächelte mich mit seinen funkelnden Augen an: „Wo kein Strom, da kein Licht“. Darüber musste ich so lachen; spürte jedoch, dass es mit diesem Lehrer und in dieser Zeit darum gehen würde, diesen inneren Strom irgendwie in Gang zu bekommen.
Überraschenderweise beginnt die Yoga-Zeit allerdings zuerst einmal mit der Umstellung der Ernährung. Das Essen wird dabei aus dem Bereich der Sinneserfahrung in den Bereich des Sattva, der Reinheit und Ruhe, gebracht. „Wird die Zunge beherrscht, lassen sich auch alle anderen Sinne leicht beherrschen“, sagt unser Lehrer. In den ersten Tagen klagen einige Teilnehmer über Kopf- und Gelenkschmerzen. Die Schlackenstoffe und die aus den Geweben frei werdenden Gifte zirkulieren noch im Blut. Das vegetarische Essen ist leicht, frisch und langweilig. Zumeist essen wir Kitcherie. Das sind Reis und Linsen, welche ohne Salz und stimulierende Gewürze gekocht werden, dafür aber mit viel Kurkuma und noch mehr Ghee, also geklärter gekochter Butter, beträufelt werden. Alles, was nach unten wächst, wie Karotten oder Kartoffeln, ist zu „erdend” und steht nicht auf dem Speiseplan. Leichte luftige Blattgemüse, viel frisches Obst und heiße Mandelmilch mit schwarzem Pfeffer und Kardamom werden gegessen und getrunken. Das soll „Ojas“, die feinere spirituelle Energie, stärken.
Sogar der erste Yoga-Tag beginnt schon um 4.00 Uhr morgens. Und zwar mit der Reinigung der Nase mittels Faden und Salzwasser sowie mit dem Bewegen der Bauchorgane mit Hilfe der Bauchmuskulatur, dem Nauli und Agni Sara. Die Praxis des Pranayama baut sich Tag für Tag langsam auf und erreicht schließlich eine Dauer von drei mal vier Stunden pro Tag, je nachdem, in welchem Rhythmus der Sadhaka, der Praktizierende, übt. Die „Bibel” der Hatha-Yogis, die Körper- und Atemübungen lieben, ist die „Hatha Yoga Pradipika“. Hier werden Hatha Yoga-Wissen und Yoga-Techniken beschrieben und diese von unserem Lehrer für uns erklärt und ergänzt. Das Direkte Zusammensein von Lehrer und Schüler wird hier besonders betont, da sich der Lehrer von dem entsprechenden Entwicklungsstand des Schülers, seiner Stärken und Schwächen, überzeugen muss. Weil die Techniken kraftvoll sind und Direkt auf das Energiesystem des Übenden wirken, kann falsches Praktizieren zu körperlichen und geistigen Schäden führen, die nur schwer zu korrigieren sind. Insbesondere der westliche Schulmediziner verfügt für gewöhnlich über zu geringe Kenntnisse über den Energiekörper, als dass er in einem solchen Fall eine angemessene Behandlung anbieten könnte. Aber mit einem erfahrenen Lehrer und Yogi an der Seite, kann die Praxis beginnen. Morgens, nach den Reinigungstechniken, und abends vor dem zu Bett gehen, üben wir gemeinsame stille Meditation an den Ufern des Flusses. Die Meditation sowie das Singen der Mantras schaffen den integralen Rahmen und stellen die Verbindung der starken Pranayama-Praxis zum Jnana-Yoga, der Erkenntnis durch Meditation und Reflexion, und zum Bhakti-Yoga, der Praxis der Bescheidenheit und Hingabe, dar. Die Asana-Übungsreihe der zwölf Grundstellungen wird dreimal täglich wiederholt. Sie beginnt mit dem Rezitieren der Guru-Parampara, der Übertragungslinie des Wissens der Hatha-Yoga-Meister, die in der indischen Mythologie als Ursprung Gott Siva selbst sieht.
Nach der Meditation suche ich mir einen guten stabilen Platz am Flussufer. Hier geht’s los: Atmen, Atem-Anhalten, Atem-Lenken, Stund um Stund und mit wachsender Begeisterung. Die Fähigkeit, lange und bequem sitzen zu können, ist natürlich wichtig und wird von Tag zu Tag verbessert. Stoffwechseltätigkeit, Atmung, Pulsschlag und Blutdruck werden allein durch das lange ruhige Sitzen gesenkt. Das traditionelle Hatha Yoga in Indien ist weit entfernt von der im Westen stärker werdenden Bewegung, Yoga in erster Linie körperbezogen zu verstehen. Das Üben von fortgeschrittenem Pranayama hilft, unsere Yogapraxis mit den Aspekten „Atem als Energie” und „Der Atem als Spiegel des Geistes” aufzupeppen.
Der Weg und das Ziel: die Reinigung der Nadis, der Energiebahnen. So soll Pranayama potentielle innere Kraft erwecken und den Geist frisch und konzentriert in die Stille eintauchen lassen. Als ich meinen Lehrer fragte, wie denn die tiefe Meditation, das Erwecken der Kundalini-Energie, zu erreichen sei, erwartete ich, einen kleinen Vortrag und vielleicht eine spannende Yoga-Technik erklärt zu bekommen. Swamiji antwortete jedoch mit nur einem Wort: „Purification“, „Reinigung“, lächelte und ging seiner Wege.
So beginnt jede Praxis mit Kapalabhati, der Reinigungsatmung. Sie reinigt die Luftwege und löst den Solar Plexus, das Manipura Chakra, von Verspannungen und Blockaden. Danach beginnt das eigentliche Pranayama. Die zweite Übung ist die Wechselatmung, Anuloma Viloma. Sie reguliert den Atem- und Energiefluss. 40 Runden nehmen zwischen 40–60 Minuten in Anspruch. Das Verhältnis von Rechaka, der Einatmung, Kumbaka, das Atem-Anhalten und Puraka, das Ausatmen variiert individuell und der Tagesform entsprechend. Es entstehen Rhythmen zwischen 5 : 20 : 10 und 8 : 32 : 16. Vier Bandhas, energetische Verschlüsse, werden im Pranayama gesetzt. Mein Lehrer meint: „Die Wechselatmung ist eine Bombe, aber die Bandhas sind der Zünder“. Anuloma Viloma gilt als ideales Mittel, die Nadis von ihren Widerständen zu reinigen und bereitet den Körper auf weiterführende Techniken vor.
Die nun folgenden Übungen Surya Bheda und Ujjayi aktivieren Pingala Nadi, die Sonnen-Energiebahn, die im rechten Nasenloch endet. Eine angenehme innere Wärme breitet sich aus. Hier wird tönern geatmet und die Zeit des Kumbaka erhöht. Sitali und Sitkari gelten als kleine Pranayamas; sie stimulieren Ida Nadi, die kühlende Mond-Bahn, die im linken Nasenloch endet.
Es folgen zehn Runden Brahmari Pranayama, die summende Bienenatmung. Diese Übung gleicht die beiden Hauptenergiebahnen, Pingala Nadi und Ida Nadi, aus, entwickelt die geistige Konzentration und fokussiert auf bestimmte Chakren, die Kreuzungspunkte der Nadis. Auf dieses dann gut vorbereitete Energiesystem des Astralkörpers setzten wir nun kräftigere Übungen, zum Beispiel Bhastrika, den Feueratem und Shakti Chalani, die Energie-Erweckung. Hiermit sollen potentielle latent liegende Energien im Energiekörper, der Pranamaya Kosha, geweckt werden. Den Abschluss des Pranayama-Sets bilden die energielenkenden Techniken, sprich: Mudras und Bandhas, Siegel und Verschlüsse. Sie lenken und konzentrieren die vorhandene Energie, die mit Visualisierungen der subtilen Elemente, den Chakra-Farben und Bija-Mantras kombiniert wird, zu den entsprechenden Energiezentren. Abschluss nach vier Stunden Pranayama: Hand senken, Meditationssitz. Ruhe. Meditation. Zufriedenheit. Zeitlos eingetaucht im OM!
Das Prana ist die Lebenskraft, die in den 72.000 Energiebahnen, den Nadis bzw. den Meridianen, unseres Energiekörpers, auch Astralkörper genannt, fließt. Prana ist der Antrieb der Gedanken. Durch eine gute Kontrolle des Pranas dünnt der Geist aus, und wir empfinden ein inneres Glück, welches nicht durch den Geist oder die Sinne erzeugt wird, sondern Direkt vom innersten Selbst, dem Atman, entsteht.
Das Selbst wird als Sat-Chid-Ananda beschrieben, und Ananda bedeutet Glück. Der ruhige Geist, der durch die intensive Arbeit am Energiekörper entstanden ist, führt uns an die Schwelle zur wahren Innenschau auf das eigene Selbst und damit in die Meditation. Die Wahrnehmungen des Pranas, die während der Übungen entstehen können, wie das Hören innerer Klänge, das Sehen von Lichtern oder das Erscheinen höherer geistiger Fähigkeiten, Siddhis genannt, sind bedeutungslos im Vergleich zu der inneren Zufriedenheit, die aus dem eigenen Selbst entsteht. Das Ziel der Übungen ist das Zügeln der Aktivitäten des Geistes, in Sanskrit: “Yogas chitta-vritti-nirodhah“.
Mein Zimmernachbar erlebte die intensive Pranayama-Zeit so: „Es ist eine große Erfahrung. Durch die intensive Praxis finden sich Körper, Geist und Seele zu einer wunderbaren Zufriedenheit zusammen. Dieser einzigartige Zustand ist zum Glück mit Worten nicht auszudrücken. Es war eine tiefe Erfahrung für mich, zu erkennen, dass ich im Äußeren nichts wirklich vermisst habe. Ich konnte hier ein großes Potential an Prana aufb auen, welches mir innere Stabilität gibt und mich wissen lässt: Alles ist möglich!“.
Diese zweiwöchige Pranayama-Praxis wiederholte ich in den nächsten Jahren noch dreimal im Himalaya und konnte immer wieder neu anknüpfen. Die eigene Erfahrung, zurück zu der Quelle der Asanas und des Pranayama zu gehen, öffnet den Geist. Es ist ein erhabenes Gefühl, das Wesen von Prana besser zu verstehen und kraftvolle Pranayama- Techniken in die Yoga-Praxis zu integrieren.
Vielleicht konnte ich Dein Interesse wecken, die Atemtechniken des Yogas auszuprobieren oder tiefer einzusteigen. Ich selber verliebte mich im Himalaya in Pranayama, und es zog mich immer wieder an diesen magischen Ort, um in etwas intensivere Yoga-Zeiten einzutauchen. Später im Kapitel 12 „Atemwege zum Glück” und im Kapitel 13 „Swara Yoga” ergänze ich das Thema für Dich mit Übungen und weiteren Informationen. Als ich dann jedoch das erste Mal aus dem Himalaya nach Rishikesh, dem malerischen Ort am Fuße der Berge zurückkehrte, verweilte ich noch eine Weile im Ashram des bekannten Yoga-Meisters Swami Sivananda. Von ihm und seinem spannenden Leben möchte ich Dir nun berichten.
Die Freiheit und Vollkommenheit des Yogis ist keine Glückssache oder Zufall. Der erste Schritt auf dem Weg in die Freiheit ist häufig der schwerste. Hat man aber den Fuß auf den spirituellen Pfad gesetzt, spürt man bereits beim nächsten Schritt eine positive Kraft, die einen plötzlich von hinten anschiebt und hilft, den dritten Schritt bereits viel freier und fröhlicher setzen zu können. Für den Weg in die Freiheit brauchst du Geduld und Mut. Es ist kein entspanntes bergab Gehen, denn es ist ein unebener und steiler Weg. Doch leicht wird der Gipfel des Lebens von demjenigen erreicht, der fest entschlossen ist, den Berg zu besteigen und den Ausblick und die vollkommene Freiheit zu genießen.
An dem beeindruckenden Beispiel des großen indischen Yogalehrers Sivananda (1886–1963) möchte ich versuchen, etwas Licht auf den noch im Nebel liegenden yogischen Pfad und die Rolle eines guten Bergführers zu werfen. Sivananda verkörpert beides: die Entschlossenheit, sich mutig höheren Wahrheiten öffnen zu wollen und die Rolle eines modernen und kompetenten Yogameisters und „Bergführers“.
Sivananda hatte das „gute Karma“, in Indien Medizin studieren zu können und einige Jahre unter vollem Einsatz an der Gesundung der Menschen und an der Leitung zweier Krankenhäuser wirken zu können. Erst mit Mitte 30 beschloss er, seinen Job und den guten Verdienst an den Nagel zu hängen, um durch Yoga und Meditation sein Wissen zu erweitern. Er wollte den Menschen, die sich durch Täuschung, die Maya, und durch Schmerzen verschiedenster Färbung nicht mehr kennen, tiefgründiger dienen und helfen zu können, als ihm das als Arzt je möglich war.
Frei von Besitz wanderte er an den Fuß des Himalaya, wo er sich an den Ufern des Ganges niederließ und in eine intensive Yoga- und Meditationspraxis vertiefte. Weiterhin bot er jedoch täglich kostenfreie medizinische Hilfe für Bedürftige an und proklamierte, es sei das Geburtsrecht eines jeden Menschen, seine wahre Natur zu entdecken und auszudrücken. Später, als er vollständig im höchsten Wissen um die Quelle des Lebens, das Brahman, und die Unsterblichkeit der Seele, das Atman, gefestigt war, gründete er in Rishikesh einen schnell wachsenden Ashram, inklusive einem kostenfreien Krankenhaus. Sivananda unterrichtete in seiner einzigartigen Weise Tausende von Yogaschülern in Indien und weltweit. Außerdem schickte er später einige seiner besten Schüler mit dem Auftrag in die Welt: „Bring den Menschen dort Yoga und Wahrheit; sie warten auf Dich.”
Einige der größten und einflussreichsten Yogalehrer der letzten Jahre sind Schüler Sivanandas; weshalb er manchmal auch der „Meister der Meister” genannt wird. Einer von ihnen, Swami Vishnu-devananda, unterrichtete nicht nur weltweit die ersten Yogalehrer-Ausbildungen außerhalb Indiens, sondern wurde auch durch seine „Friedensflüge” bekannt, bei denen er in Kriegsgebieten die Soldaten von oben mit Flugblättern und Blumen „bombardierte“. 1983 überflog Swami Vishnu als „Zeichen des Friedens” die Berliner Mauer von West nach Ost.
Viele bezeichnen Swami Sivananda als einen der ersten „modernen” Gurus Indiens. Tatsächlich hat er Türen geöffnet, die vorher verschlossen waren. Das in Indien fast schon fanatisch gelebte „Guru-Bhakti“, die Verehrung des Lehrers, in dessen Folge der entwickelte Yogi gerne auf einen Thron gehoben wird und die Anhänger bedingungslos den wie auch immer gearteten Worten des Meisters Folge leisten, fand mit Sivananda eine neue Wendung. Er machte da nicht mit und ließ sich nie mit „Maharaj“, „Bhagavan” oder ähnlichen Ehrennamen betiteln. Und er öffnete die Tore des Ashrams für alle, die zu ihm kommen wollten, gleich welcher Kaste, Gesinnung oder welchen Geschlechts. Bis dato war die Yogaausbildung in der Regel den indischen Männern vorbehalten. Sivananda verschenkte seine Liebe und Lehre jedoch gleichermaßen an alle, die zu ihm kamen. Frauen lebten genauso im Ashram wie Bettler und reiche Geschäftsleute – sogar Gauner durften bleiben.
Er sagte dazu: „Gute Menschen sind ja bereits tugendhaft. Ich muss nur Verbrecher bessern und formen. Das ist meine besondere Aufgabe. Ein Verbrecher ist ein negativ tugendhafter Mensch. Doch auch er ist Krishna, und Liebe ist sein Wesen. Die Welt nennt mich einen Guru für Diebe und Spitzbuben.”
Als eines Tages ein halb verrückter Ashram-Bewohner ein Attentat mit einer Axt auf Sivananda ausübte, war, obwohl die Axt den Meister nur um Haaresbreite verfehlte, keine Furcht oder Reaktion des Yogis zu erkennen. Später brachte er dem Attentäter Speisen und Blumen und bedankte sich bei ihm für diese Prüfung.
Sivananda hatte jeden Tag eine bestimmte Zeit zum Schreiben vorgesehen. Er beantwortete alle Briefe am gleichen Tag, an dem er sie erhalten hatte. Wenn er Yoga-Bücher schrieb, tat er das gerne in englischer Sprache,