Tränen der Macht – Geheimnis Elfania
Julia Schmidt
wurde am 26.11.2000 in Wien geboren, hat im Juni 2019 an der AHS Neulandschule in Grinzing maturiert und studiert seit Herbst an der VetMed Uni Vienna Veterinärmedizin. Neben ihren Tieren und dem Reiten, war das Lesen von Fantasieromanen schon immer ihre große Leidenschaft. Bereits 2016 verfasste sie die Rohfassung der Geschichte rund um „Joy“ und „Fly“ und verwirklichte sich damit den Traum, ein Buch zu schreiben.
© 2020 Julia Schmidt
1. Auflage
Autorin: Julia Schmidt
Umschlaggestaltung: Paul Breuss
Umschlagillustration: Julia Schmidt
Verlag: myMorawa von Dataform Media GmbH
ISBN: 978-3- 99093-973-4 (Paperback)
978-3-99093-975-8 (e-Book)
Printed in Austria
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich
geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des
Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt
insbesondere für die elektronische oder sonstige
Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und
öffentliche Zugänglichmachung.
…für alle, die an Übernatürliches glauben.
Inhaltsverzeichnis
TEIL 1
Kein Auftrag wie sonst
Austestung
Finja
Das Buch
Die Fliege
Schule
Mädelsabend
Hundekampfplatz
Die zwei Neuen
Seltsamer Besuch
Wetteinsatz
Eis mit Fly
Lagerfeuer
Träume
Recherchen
Gefährliche Begegnung
Rettung in letzter Sekunde
TEIL 2
Zwiespalt
Flucht
Ben Harwin
Am Dreh
Schlechte Überraschung
Heimkehr
Bei Fly
Aussprache
Dankbarkeit
Fragen über Fragen
Levana Frees
Hylax
Probleme
Erklärungen
Die letzte Fee
Joyce Feya Thunderlight
Geburtstagsflug
TEIL 3
Verpflichtungen
Party
Schlechte Nachrichten
Kein Entkommen
In Gefangenschaft
Aufklärungen
Flucht & Kampf
Das Böse kann niemals gewinnen
TEIL 1
FLYNING
Kein Auftrag wie sonst
Mit Leichtigkeit kletterte ich im Dunklen das Baugerüst bis zum fünften Stock des Wohnhauses hinauf. Durch den strömenden Regen waren die Stangen äußerst rutschig, doch das störte mich nicht im Geringsten. Ich drehte mich vorsichtshalber noch einmal in alle Richtungen, nur um sicherzugehen, dass mich auch wirklich keiner gesehen hatte. Wer wusste schon, wie die Menschen hier reagierten, wenn jemand verbotener Weise eine abgesperrte Baustelle betrat und sich in übermenschlicher Geschwindigkeit an den nassen Stangen des Baugerüsts hochzog. Wie dem auch sei, ich musste es nicht unbedingt herausfinden.
Zufrieden sah ich, dass keine Menschenseele mehr auf den Straßen unterwegs war und die Gardinen der Nachbarwohnungen alle, außer einer, zugezogen waren. Wie spät mochte es wohl schon sein? Ich hatte nicht die geringste Ahnung. 23, 24 oder vielleicht bereits ein Uhr? Ich sparte mir jedoch einen Blick auf meine kleine, goldene Armbanduhr, denn sie würde ohnehin nicht die hier herrschende Zeit anzeigen. Der letzte Vorhang schob sich soeben vor das kleine Fenster und ich bemerkte mit Genugtuung, dass ich mich nun ungestört meiner Aufgabe widmen konnte.
Der Regen prasselte weiter auf meinen Rücken und wieder einmal dankte ich im Stillen für die Gabe, selber entscheiden zu können, ob ich nass werden wollte oder nicht. Währenddessen hantelte ich mich weiter zu einem großen, in Weiß umrahmten Fenster, mit hellblauen Vorhängen. Sie waren schon vorgezogen und gewährten keinen Einblick in das dahinterliegende Zimmer. Trotzdem war ich mir sicher, dass ich richtig sein musste. Mein Gefühl hatte mich bis jetzt noch nie fehlgeleitet und ich war nicht gerade jemand, den man Anfänger in diesem Gebiet nennen konnte.
Ich setzte mich aufrecht hin, sah, wie sich ein Blitz im gekippten Fenster spiegelte und lauschte. Nichts. Nichts als der darauffolgende Donnerschlag. Das Mädchen schlief offensichtlich schon. Ich lächelte, denn wenn das der Fall war, machte es das Ganze wesentlich einfacher.
Zufrieden konzentrierte ich mich auf die Vorhänge und augenblicklich wichen sie ein Stück auseinander. Der Spalt zwischen ihnen betrug nicht einmal drei Zentimeter, doch sofort brach ich mein Vorhaben ab… das Mädchen schlief nicht. Es lag mit den Beinen auf dem Kissen in einem Bett und las. Auf der Stelle hielt ich wie versteinert inne, doch das Mädchen musste trotzdem die minimale Bewegung der Stoffe wahrgenommen haben. Sie blickte direkt zu dem Fenster, hinter dem ich hockte, und kniff die Augen ein wenig zusammen. Ich beobachtete sie. Sie sah genau in meine Richtung, obwohl ich wusste, dass normale Menschen in der Finsternis, die mich umhüllte, nichts ausmachen konnten. Es war theoretisch gar nicht möglich, dass sie etwas bemerkt hatte. Trotzdem überkam mich das Gefühl, als wolle sie aufstehen, um einen prüfenden Blick durch die Glasscheibe zu werfen, die uns von einander trennte. Mir wurde furchtbar unwohl. Nach einer schier endlos lange scheinenden Zeit widmete sie sich dann glücklicherweise doch wieder ihrem Buch. So musste ich wohl oder übel im Regen ausharren, bis sie sich doch entschied schlafenzugehen.
Der Spalt, der sich nun zwischen den Vorhängen befand, reichte mir, um ihr Zimmer zu mustern. Es war nicht sonderlich groß oder so ein typisches Mädchenzimmer, mit zwei Schminktischen, einem riesigen Kleiderschrank, lauter Popstar-Postern und dem ganzen anderen Mädchenkram. Es war bequem, schick und schlicht eingerichtet, mit einer markant herausstechenden, orange bemalten Wand und einem gemütlich aussehenden Sitzsack. Ich musste zugeben, das kleine Zimmer gefiel mir deutlich besser als die meisten Teenie-Räume. Zusätzlich strahlte es eine angenehme Wärme aus, die ich momentan im Freien vermisste. Schwere Wassertropfen fielen immer noch unermüdlich aus den schwarzen Wolken, die unter den grellen Blitzen schaurig aufleuchteten.
Mein Blick kehrte jedoch immer wieder zu dem Mädchen zurück. Sie war tief in das Buch versunken und zwirbelte eine Haarsträhne zwischen Daumen und Zeigefinger, während der Rest ihrer hellblonden Haarpracht die Hälfte ihres Rückens verdeckte. Ihre Füße wippten dazu leicht auf dem Kissen hin und her, das mittlerweile schon ganz flach gedrückt war.
Wie alt mochte sie sein? Zwischen 16 und 17 schätzte ich, wobei ich mittlerweile ziemlich gut darin war. Sie war älter als die meisten, mit denen ich normalerweise zu tun hatte, denn es waren hauptsächlich 12-Jährige, die anfingen an Übernatürliches zu glauben. Aber es war nicht nur das, was mich verwunderte. Sie wirkte definitiv anders. Zwar konnte ich nicht genau sagen, was es war, doch trotzdem spürte ich es ganz deutlich. Ihr Ausdruck war irgendwie… anders. Ob das wohl nur an ihrem Alter lag? Nein, da war noch etwas. Etwas, das ich nicht definieren konnte. Noch nicht.
Während ich überlegte, sah sie plötzlich auf. Nicht zu mir, sondern in den vor ihr lehnenden riesigen Wandspiegel, eins der wenigen Inventarstücke, das auf ein Mädchenzimmer schließen ließ. Als sie aufsah, klappte der zierlich verzierte Umschlag des Buches zu. Ich stockte. Meine eben noch gute Laune bekam einen kräftigen Magenhieb. War das Cover eben gräulich mit diesem unverwechselbaren Schriftzug gewesen? Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und steckte sie hinter ihr Ohr. Ihr Blick war gebannt auf den Spiegel gerichtet, als ob demnächst ein Prinz daraus entsteigen würde. Ich konnte mir einen Blick seitlich in ihre schimmernden Augen nicht verkneifen. Jetzt brannte ich tatsächlich darauf zu wissen, was sie dachte, wenn auch mit einem unguten Gefühl.
»Ich habe doch auch blonde Haare und blaue Auge. Vielleicht könnte ich auch eine …«, weiter kam sie nicht, denn es klopfte an der Tür und eine etwas ältere Frau betrat aufgeheizt den Raum. Mir war plötzlich abwechselnd heiß und kalt. Mein Atem und mein Herzschlag beschleunigten sich. Mein Blick war immer noch auf die Augen des Mädchens gerichtet in der Hoffnung, sie würde den Gedanken noch vollenden, doch es war völlig zwecklos, denn sie diskutierte lautstark mit der Frau. Ich wusste nicht mehr, wie mir geschah. Sollte ich nicht einfach kommen, meine Aufgabe erledigen und wieder verschwinden, wie sonst auch? Ein kräftiger Blitz erhellte den Schauplatz und wurde sofort von seinem grollenden Donnerschlag bestätigt.
Plötzlich gab es nur noch eine einzige Frage, die mich beschäftigte. Eine, die so harmlos schien und doch immens von Bedeutung war, wichtiger als meine eigentliche Aufgabe hier.
Ich musste wissen, wie ihr Buch hieß, bevor ich ihr Gedächtnis für immer löschte und somit vielleicht mehr Schaden anrichtete als beseitigte!
JOYCE
Austestung
Vor einem Monat
Entgeistert starrte ich auf die Austestung vor mir. Ich hörte die gedämpfte Stimme der jungen, braunhaarigen Ärztin auf mich einreden, nahm jedoch alles nur wie durch eine Mauer wahr. Ich fixierte den Zettel in meiner Hand, als könnte ich dadurch das Ergebnis verändern.
Allergien: Tierhaare stand dort in großen, dicken Buchstaben. Schwarz auf weiß. Von mir aus hätte ich auf alle möglichen Lebensmittel verzichten können, selbst mit irgendwelchen Medikamenten oder Sprays hätte ich mich abgefunden. Gluten, Laktose, Ragweed oder Lupinen all diese anderen seltsam klingenden Allergene, die es heutzutage gab. Nur nicht Tierhaare!
»… Kontakt zu Tieren so gut wie möglich vermeiden. Eine Therapie wird wohl zu aufwendig werden und auch einige Jahre dauern, da zu viele Tierarten involviert sind. Außerdem können wir noch nichts über die Auswirkungen auf Jugendliche voraussagen, denn diese Methode ist relativ neu«, hörte ich die raue Stimme der Ärztin, allerdings mehr zu meiner Mutter gewandt als zu mir.
Auf einmal erdrückte mich der große Behandlungsraum. Ich musste hier raus. Sofort! Ich war froh, dass meine Mutter das ebenfalls bemerkte, denn sie verabschiedete sich schnell von der Frau, die mein Unglück verkündet hatte. Vielleicht lag es allerdings auch nur daran, dass ich schon halb zur Tür hinaus war. Ich brauchte Luft!
Im Freien lehnte ich mich gegen die raue Hausmauer und atmete tief durch. Mum musste anscheinend drinnen noch etwas mit der Sekretärin besprechen, also wartete ich. Für manche mochte eine Tierhaarallergie nichts Schlimmes sein, doch ich hatte den großen Traum einmal Tierärztin zu werden. Ich hatte mir immer viele Tiere gewünscht, doch nie welche bekommen. Es hatte an meinem Vater gelegen, der selber die gleiche Diagnose hatte. Allerdings glaubte ich immer noch, dass bei ihm mehr Hysterie vor den Tieren, als tatsächliche Unverträglichkeit dahintersteckte.
Ich betrachtete den hellblauen Himmel, den ein paar Schäfchenwolken, sowie die herrliche Nachmittags- sommersonne zierten. Es war ein bildschöner Tag und doch konnte ich mich nicht freuen. Unwillkürlich überkamen mich Schuldgefühle, während ich das schöne Naturbild, mit meinem nicht allzu erfreuten Gesicht betrachtete. Ein wenig beschämt wandte ich meinen frustrierten Blick dem grauen Betonboden zu, als könnte dieser mir weiter helfen.
Die Natur sowie die Tiere hatten mich immer schon fasziniert. Ich fuhr zwar wie normale Teenager mit den Öffis und nutzte auch alle anderen Einrichtungen der modernen Stadt, ohne mich dabei schlecht zu fühlen, doch ich bevorzugte die Wälder und unangetasteten Wiesen. Wieder einmal bedauerte ich, dass wir unser Ferienhaus am Land verkaufen mussten, da sich meine Mutter sonst das Schulgeld für mich nicht hätte leisten können. Wie gerne wäre ich jetzt dort durch die bereits abgedroschenen Felder gelaufen und hätte den jungen Rehböcken zugesehen, wie sie spielerisch ihre Kräfte maßen. Ein Hauch von Sehnsucht überfiel mich, weshalb ich schmerzhaft aufseufzte.
Erschrocken zuckte ich zusammen, als die Türe neben mir aufschwang. Meine Mutter, Maria Smith, kam auf mich zu, während sie mir mitfühlend, aber aufmunternd zulächelte. In den Sonnenstrahlen konnte ich zwischen ihren schulterlangen, natürlich braunen Haaren schon einige silbergraue Strähnchen ausmachen. Trotzdem war sie sportlich und nie müde. Sie versuchte mich ein wenig aufzuheitern, indem sie mir mein Lieblingseis, Cheesecake mit Brösel-Streuseln kaufte, bevor wir das Auto zwischen den vielen anderen suchten.
Zwei Straßen vor unserer Wohnung bat ich meine Mutter, mich schon aussteigen zu lassen. Ich wollte mich in ein Café setzen, um die Neuigkeiten zu verdauen.
»Schatz, du weißt, wie wenig ich davon halte, dass du alleine etwas unternimmst.« Die übermäßige Fürsorglichkeit meiner Mutter war mir völlig entfallen. Ich seufzte.
»Ich rufe Macey und Lacy an, dass sie auch vorbeikommen und außerdem kannst du ja warten, bis ich drinnen bin.« Wenn auch nicht ganz überzeugt, stimmte sie zu und lenkte den Wagen in eine soeben frei gewordene Parklücke.
»Bis später, Mum!«, rief ich noch, obwohl ich schon aus dem Auto gesprungen war. Meine Stimme klang dabei definitiv zu erfreut, als dass sie zu meiner jetzigen Stimmungslage gepasst hätte.
Ich wartete, bis die Ampel beim Zebrastreifen auf Grün schaltete und ging direkt zu meinem Lieblingscafé auf der gegenüberliegenden Seite. Der Autolärm hier in der Gegend war zwar meistens nicht übermäßig groß, trotzdem war er mir momentan eine Spur zu laut. Ein kleines graues Auto hupte, da der ältere Mann, der hinter mir die Straße überqueren wollte, auch nach der Grünphase noch nicht das andere Ende erreicht hatte. Ich schüttelte den Kopf und wunderte mich, warum es die Menschen heutzutage immer so eilig hatten. Prompt wurde ich von einem weiteren Mann angerempelt. Er fand es jedoch nicht einmal der Mühe wert, sich nach mir umzudrehen.
Während ich mein Smartphone aus der Tasche kramte, grüßte mich ein freundlicher Kellner. Da ich mich an meinen Stammtisch setzte, kam er wie jedes Mal, um mich zu bedienen.
»Hot Chocolate mit extra milk?«, fragte er wissend mit seinem netten englischen Akzent und zwinkerte mir zu.
»Ich bitte darum«, lächelte ich zurück und wählte Maceys Nummer. Sie meldete sich wie immer, gleich nach dem ersten Pieps-Ton.
»Hey Joyceeee! Wie geht’s, wie steht‘s? Alles rotscha in Kambodscha und alles schick in der Physik? Schon lange nichts mehr von dir gehört!«
»Ach Mac, magst du mit Lacy kurz rüber zum Café kommen?«
»Und wenn du am anderen Ende der Welt wärst, wenn meine Joy Trübsal bläst, werde ich immer sofort zur Stelle sein! Das du überhaupt noch weiter fragst. Tztztz. Okay, gib mir fünf Minuten und wir sind da.« Ihre fröhliche und unbeschwerte Art stimmte jeden um mindestens drei Gefühlslagen besser. Die Ironie, mit der sie mit sich selbst sprach, wenn ihr die anderen nicht schnell genug antworteten, war einzigartig und brachte mich jedes Mal erneut zum Schmunzeln.
Tatsächlich, nicht einmal fünf Minuten später wurde die Tür des Cafés schwungvoll aufgerissen und meine zwei besten Freundinnen eilten zu mir. Begleitet wurden sie von einer riesigen Welle Leichtigkeit und Freude. Sie überschwappte mich noch bevor die beiden mich ganz erreicht hatten.
»Hallöchen, meine kleine Joyce! Was bedrückt dich?«, flötete Macey, während sie stürmisch, wie sie war, ihre Arme um mich schlang, so als hätten wir uns Jahre lang nicht mehr gesehen. Dabei waren es gerade mal drei Wochen.
»Wenn es ein Junge war … ich schwör dir, ich schlag ihn, bis er blau ist!« Mit einem Grinsen ballte Lacy ihre Fäuste und boxte in die Luft, bevor sie gleich weiterfuhr, »Nein, unsere Joy lässt sich nicht eiskalt abservieren. Hat man dir vielleicht deinen Sommerjob nicht bezahlt?«
»Hast du die Bibliothek ausgelesen und es gibt keine neuen Bücher mehr? Wenn es so ist, dann schreibe ich dir ein Neues!« Macey sah mich prüfend an. Als sie allerdings das freche Lächeln auf meinen Lippen sah, ergänzte sie beleidigt, »Ich bin mit einer knappen Drei durchgekommen, aber damit man das Buch nachher auch lesen kann, sollte das vielleicht doch lieber Lacy übernehmen.« Sie lachte hell auf und wir stimmten mit ein. Es war unbezahlbar, solche Freunde zu haben.
Während wir alle mitten im Sommer unsere heißen Schokoladen schlürften, Macey und Lacy waren der Meinung gewesen, sie müssten das gleiche bestellen wie ich, klagte ich ihnen das bittere Ergebnis der Austestung. Als Bestätigung hielt ich ihnen den Zettel unter die Nase. Beide begutachteten eingehend das Papier.
»Solche Ergebnisse stimmen nicht immer. Bei mir dachten sie anfangs auch, dass ich gegen eigentlich alle Lebensmittel allergisch bin.« Lacy schien sich allerdings gleich an meinen Erstickungsanfall bei unserer letzten gemeinsamen Reitstunde zu erinnern und fügte deshalb verlegen hinzu, »Und wenn, kann es ganz leicht sein, dass es sich im Laufe der Jahre von ganz alleine legt. Du hattest doch früher auch nichts gegen meinen Kater. Sogar bei deinem Praktikum letztes Jahr in der Tierklinik konntest du ganz normal arbeiten.«
»Schön wäre es auf jeden Fall, aber eher unwahrscheinlich. Ach, ich wollte das unbedingt studieren.« Ich atmete schwer aus. Es war bis vor ein paar Stunden mein größter Traum gewesen, kranken oder verletzten Tieren zu helfen. Ich hatte mich noch nie vor unangenehmen Gerüchen oder Blut gescheut, solange ich wusste, ich konnte helfen.
»Vielleicht kannst du mit Reptilien oder Fischen arbeiten, die haben ja nicht solche Haare wie Hunde und Meerschweinchen«, versuchte Lacy zu helfen.
»So richtig ekelhafte, fette Spinnen zum Beispiel«, spottete Macey, wohlwissend, dass ich die Wirbellosen nicht leiden konnte.
»Ne, meine Liebe, dir helfe ich ganz sicher nicht«, konterte ich.
»Ey, ich bin nicht ekelhaft und auch nicht dick.« Macey knuffte mich freundschaftlich neckend in die Seite und wir brachen wieder in schallendes Gelächter aus, sodass ich schon befürchtete, dass wir irgendwann einmal aus dem hübschen Café geworfen werden würden. Glücklicherweise saßen an diesem himmlischen Sommernachmittag die meisten Besucher auf der schicken Terrasse und bekamen von uns nicht viel mit.
Wir blieben noch eine ganze Weile schwatzend sitzen, bevor wir uns alle einzeln auf die Wege nach Hause machten.
Vor meiner Wohnungstür blieb ich noch einmal stehen. Ich lehnte mich gegen die Hausmauer und beobachtete einen Nachtfalter, der zwischen den letzten Strahlen der untergehenden Sonne tanzte. Meine Freundinnen hatten ihr Bestes gegeben, um mich aufzuheitern. Dies war ihnen auch ohne jegliche Zweifel gelungen, doch trotzdem war da dieses seltsame Gefühl. Ein Gefühl, das mir sagte, dass ich meinen größten Traum wohl nie verwirklichen werde können und das sich nun wieder in mir breitmachte. Ich fühlte, wie es Besitz über die restlichen Gefühle ergriff. Selbst meine besten Freundinnen konnten es mir nicht gänzlich nehmen. Keiner konnte das. Das war es zumindest, was ich in diesem Augenblick dachte.
Finja
Vor ein paar Wochen
Der Tag der Austestung lag nun schon zwei Wochen zurück. Ich hatte viel mit Lacy, Tobias, Macey und ihrem neuen Freund Sebastian unternommen. Jedes Mal, wenn ich mit ihnen unterwegs war, schien meine schlechte Laune wie weggeblasen. Nur noch dieses seltsame Gefühl blieb dann zurück. Wir genossen die herrliche Ferienzeit ohne Hausaufgabenstress, doch das neue Schuljahr rückte unerbittlich näher.
Basti war nun mit Macey und ihrer Familie nach Spanien geflogen. Lacy packte ihre Sachen, um ihren kranken Großvater zu besuchen, und Toby musste im Laden seines Vaters aushelfen. Übrig blieb wieder einmal nur ich. Eigentlich hatten meine Eltern keine großen finanziellen Schwierigkeiten. Wir verfügten zwar nicht über Massen an Geld, doch wir kamen so über die Runden. Der Grund, weshalb wir seit Jahren nicht mehr verreist waren, war, dass meine Mutter ihre kleine Gärtnerei nicht alleine lassen konnte. Oder vielleicht auch nur nicht wollte, weil sie keine vertrauenswürdige Vertretung fand. Thomas-Bernhard Smith, mein Vater, reiste viel, allerdings aus geschäftlichen Gründen. Die Firma, in der er arbeitete, schickte ihn so oft wie nur möglich in die entferntesten Landschaften, die es auf dieser Welt gab. So kam es mir zumindest vor. Ich bekam meinen Vater dementsprechend äußerst selten zu Gesicht. Ehrlicherweise war ich schon froh, wenn er zu meinem Geburtstag und zu Weihnachten anwesend war.
Während ich diesen Gedanken nachhing, verließ ich unsere Wohnung. Mum war in der Gärtnerei und Dad wieder einmal am anderen Ende der Welt. Ich drehte den Schlüssel im Schloss und mich überkam ein wenig schlechtes Gewissen. Jeder andere Teenager verließ seine Wohnung Tag ein Tag aus, nur ich durfte das nicht. Meine Mutter war überfürsorglich und ließ mich kaum irgendwo alleine hingehen. Immer musste ich Macey oder Lacy mitnehmen. Ich nahm meine Freundinnen wirklich gerne überall mit, doch ich vermisste Mums Vertrauen. Nichts traute sie mir zu alleine zu bewältigen. Dabei war ich schon fast 17!
Welchen Wochentag hatten wir heute eigentlich? Ich tippte auf mein Handy und hüpfte die Stufen hinunter, wobei ich immer zwei auf einmal nahm. Mittwoch, 10 Uhr. Normalerweise blieb Mum mittwochs bis 18 Uhr weg, also beschloss ich, ebenfalls fortzugehen.
Unschlüssig stand ich vor der Eingangstür und überlegte, wohin ich gehen sollte. Die Sonne brannte erbarmungslos vom wolkenlosen Himmel auf den heißen Beton. Es war das richtige Wetter für einen Besuch im Schwimmbad. Alleine machte es dort allerdings recht wenig Spaß, also entschied ich mich kurzerhand, in den nächsten Park zu spazieren. Soweit ich wusste, war am anderen Ende ein großer Wald, dessen Bäume angenehmen Schatten spenden sollten.
Ich hatte mich durch die Menschenmassen gekämpft, die sich um den Badesee des Greenfordparks drängten, und erreichte die ersten Bäume. Zufrieden sah ich mich um und atmete die frische Waldluft ein. Trotz der Hitze lief ich die letzten Meter ins Dickicht. Mein orangefarbenes Top hatte nicht einen einzigen Schweißfleck, ebenso wenig meine Jeans-Shorts. Ich warf einen Blick zurück auf die restlichen Menschen weiter hinten und sah danach noch einmal an mir hinunter. Diejenigen, die keinen Badeanzug, Bikini oder Badeshorts trugen, waren allesamt schweißgebadet, alleine vom Auf-der-Bank-Sitzen. Meine Haut dagegen war staubtrocken, dabei hatte es locker gefühlte 40 Grad. Dazu kam, dass es total windstill war. Schulterzuckend spazierte ich weiter ins dunkle Grün. Je weiter ich kam, desto düsterer wurde es und damit kam das seltsame Gefühl von Einsamkeit und der Tierhaarallergie. Ich setzte mich auf einen großen, mit dunkelgrünem Moos bewachsenen Stein an einem kleinen Bach. Etwas umständlich schlüpfte ich aus meinen weißen Converse, die aufgemalte Federn hatten, und hielt die Füße ins kühle Nass. Vielleicht sollte ich mich wirklich mit Insekten beschäftigen. Nicht mit Spinnenartigen, sondern eher mit den Tierarten, die flogen. Bilder von großen und kleinen Fliegen, schnellen Libellen und bunten Schmetterlingen schlichen sich in meine Gedanken. Sie waren bildhübsch anzusehen, doch mir etwas zu, wie sollte ich sagen, unspektakulär. Sofort verscheuchte ich den Gedanken, doch das Gefühl von Ungerechtigkeit blieb. All die Kinder, die sowieso nichts mit Tieren zu tun haben wollten, hätte so eine Allergie nicht gestört. Warum ausgerechnet ich?
Ich schloss meine Augen und genoss die Ruhe, die sich rund um mich legte. Es war wunderbar still. Nicht einmal das Plätschern des Wassers war mehr zu hören. Es war beinahe zu still.
Aus dem Nichts brauste plötzlich ein heißer, kräftiger Wind auf und schubste mich unsanft von meinem Stein direkt in den kleinen Bach. Ich blickte in den Himmel und sah zu meinem Entsetzen, wie sich undankbar dunkle Wolken bildeten. Ich hätte schwören können, dass er gerade eben noch leuchtend blau gewesen war.
Ein markerschütternder Donnerschlag versetzte mich zurück in die Realität. Schnell kletterte ich aus dem seichten Wasser und stolperte in die nächstbeste Grube. Halt! Das war kein kleiner, friedlicher Bach mehr. Ich hielt in der Bewegung inne und blickte zurück. Meine blauen Augen weiteten sich, denn an genau dieser Stelle befand sich nun ein reißender Fluss. Angstvoll verbarg ich mein Gesicht in den Händen. Ich konnte nicht anders. Ich schrie! Dass meine Kleidung nicht nass war, nahm ich nur nebenbei wahr, viel mehr richtete ich die Konzentration darauf gleichmäßig weiter zu atmen.
Durch meine Finger sah ich einen gewaltigen Lichtstrahl unmittelbar neben mir einschlagen. Grell und heiß wie Feuer brannte er sich in den modrigen Erdboden. Erschrocken zuckte ich zurück.
Als ich wieder aufsah, bemerkte ich einen schimmernden Kreis, den der Blitz an der Einschlagstelle hinterlassen hatte. Ich konnte seine Elektrizität immer noch direkt bis zu mir spüren und begann zu zittern. Nicht einmal eine Viertelsekunde danach ertönte derselbe ohrenbetäubende Donnerschlag noch einmal. Immer noch wartete ich, bis ein gewaltiger Regen einsetzte und mich zwang meine Grube zu verlassen, wenn ich nicht darin ertrinken wollte. Doch er blieb aus.
Ich wusste nicht, wie lange ich schon in meinem Erdloch hockte, doch schließlich richtete ich mich auf. Ich blinzelte. Die Sonnenstrahlen kitzelten meine Nase. Ungläubig rieb ich mir die Augen, doch ich hatte richtig gesehen. Alles war wie zuvor. Ich vernahm sogar das Gekreische der Menschen im Badesee. Alles war, als ob es nie anders gewesen wäre.
Unsicher schlich ich zu meinen Schuhen, die unberührt neben dem großen Stein standen. Der angsteinflößende Fluss hatte sich wieder in ein kleines Bächlein verwandelt. Hatte ich geträumt? Ich erinnerte mich an die Einschlagstelle des Blitzes und fand dort tatsächlich einen kleinen goldschimmernden Kreis im Boden. Ich ging in die Hocke und begutachtete ihn. Vorsichtig strich ich mit den Fingern darüber. Es blitzte genau an der Stelle, wo mein rechter Zeigefinger den Kreis berührte. Erschrocken zuckte ich wieder zurück. Leuchtete der Kreis etwa? Entschlossen robbte ich auf allen vieren wieder näher. Neugierig strich ich noch einmal zart darüber und prompt blitzte es wieder. Diesmal jedoch stärker. Der Stromschlag durchfuhr mich und warf mich ein wenig zurück. Als ich wieder aufblickte, war ich nicht mehr alleine.
Ein kleines goldblondes Wesen versuchte seine Beinchen zu ordnen. Als es mich erblickte, hielt es sofort in der Bewegung innen, was zur Folge hatte, dass es auf seinen fluffigen Po plumpste. Wir starrten einander direkt in die Augen. Keiner wagte mehr zu atmen. Wobei, 100-prozentig konnte ich nicht sagen, ob das für das Flauschetierchen auch galt. Auf jeden Fall konnte ich nicht genau sagen, wer mehr Angst hatte. Skeptisch musterte ich das Wesen. Es sah eigentlich aus, wie ein ganz normaler Golden Retriever Welpe. Mit goldblondem flauschigen Fell, großen, freundlichen, eisblau hervorstechenden Kulleraugen und anscheinend etwas tollpatschig. Sofort verflog meine Angst vor dem Tier. Es konnte auch unmöglich aus dem Kreis gekommen sein. Wahrscheinlich würde gleich ein Spaziergänger vorbeikommen und den Welpen rufen.
Ich wartete eine Viertelstunde, während wir uns noch weiter musterten, doch es kam und kam niemand. Schließlich wurde es mir zu feucht auf dem Boden und ich stand auf. Mit einer Hand klopfte ich meinen Allerwertesten ab, mit der anderen meine Hose.
»Na du. Was machst du denn hier? Soll ich dir helfen dein Herrchen wieder zu finden?«, fragte ich währenddessen. Ich blickte mich noch einmal um, doch wir waren alleine.
»Komm mit! Wir gehen mal nach vorne zum See, da sind ganz viele Leute, vielleicht vermisst dich ja dort jemand.« Ich hatte mich schon zum Gehen gewandt, als es wieder hinter mir winselte. Langsam ging ich zurück und hockte mich vor den Hund.
»Du musst keine Angst vor mir haben, ich tu dir ganz sicher nichts«, lächelte ich die Plüschkugel zuversichtlich an.
»Soll ich dich tragen?« Schon streckte ich meine Hände aus, doch das Wesen bleckte sofort knurrend die Zähne. Beim Anblick des großen, dolchartigen Gebisses wich ich erschrocken zurück. Dann eben nicht. Ich setzte mich mit gutem Abstand wieder dem Welpen gegenüber. Beim besten Willen konnte ich ihn hier nicht alleine lassen.
»Wie soll ich dich denn eigentlich nennen? Ich meine, ›Hund‹ ist doch etwas unpersönlich«, fragte ich, nachdem ich den Hund ausgiebig unter die Lupe genommen hatte. Ich kniff meine Augen nachdenklich zusammen und sah dem Welpen tief in die seinen.
Finja.
Wieder einmal erschrocken sah ich mich hektisch in alle Richtungen um. Vielleicht war der Besitzer ja doch gekommen und hatte mir ihren Namen verraten. Doch alles war wie zuvor. Da war keiner außer uns. Mit geweiteten Augen drehte ich mich wieder zu dem Kleinen. Ich öffnete meinen Mund, doch schloss ihn sogleich wieder, bevor ich einen einzigen Ton herausbrachte. Hatte gerade ein… nein, das war unmöglich! Hunde konnten nicht sprechen, Schluss aus basta!
»F.. F.. Finja also«, murmelte ich langsam. Ich erwartete selbstverständlich keine Antwort. Im Gegenteil, ich hoffte inständig, dass ich mir dies nur eingebildet hatte. Zufrieden merkte ich, dass ich keinen weiteren Laut vernehmen konnte und lächelte den Hund wieder an.
»Na dann, Finja. Wollen wir eine Runde spazieren gehen?«
Du musst mir in die Augen schauen.
Wieder diese Stimme! Diesmal klang sie allerdings ein wenig eingeschnappt. Ich schaute mich nochmal um, bevor mein Blick wieder an meinem kleinen Nachbarn hängen blieb.
So wenig Fantasie! Menschen. Genau, wie sie immer beschrieben werden. Der kleine Hund schüttelte sich. Ich kann außerdem hervorragend auf mich selber aufpassen und von einem Menschen wie dir brauche ich ganz bestimmt keine Hilfe! Genauso wenig wie ich mit dir eine Runde spazieren gehen werde. Ich habe schließlich den ganzen Wald, indem ich mich selbstständig bewegen kann!
Meine Kinnlade klappte herunter und ungläubig starrte ich die Kleine an. Sie sprach wohl tatsächlich mit mir, obwohl ich immer noch inständig hoffte, es spielte mir jemand einen Streich und würde gleich hinter einem der Bäume hervorspringen. Ich sammelte mich. Eingebildet war die Kleine also auch noch. Verächtlich hob ich die Augenbrauen.
»Ach so, ja klar! Ich spreche mit einem Hund. So etwas passiert mir täglich. Jedes Mal, wenn ich ganz alleine im Wald sitze, kommen kleine, blonde Fellkugeln zu mir und erzählen mir die buntesten Geschichten! So langsam sollte ich mich daran gewöhnt haben«, antwortete ich schnippisch. Finja sah mich groß an. Ich konnte genau dieselben Gesichtszüge wie bei Menschen erkennen.
»Wenn du so ein kleiner Superhund bist, werde ich dir auch ganz sicher nicht helfen! Was mich daran erinnert, dass ich jetzt los muss, meine Einhörner zu füttern.« Ich stand auf, drehte ihr den Rücken zu und begann den Pfad zurück in den Park entlang zu stapfen. Schnaubend schüttelte ich den Kopf. Meine Fantasie musste wohl mit mir durchgegangen sein. Ich sollte wohl nach Hause, ein ausgiebiges Bad nehmen und mich dann ausschlafen.
Um Punkt 18 Uhr legte ich mich ins Bett. Eigentlich viel zu früh, um zu schlafen, doch ich hatte stechende Kopfschmerzen. Hatte ich tatsächlich mit einem Hund geredet? Ich kam nicht mehr zum Nachdenken, denn ich war bereits eingedämmert.
Das Buch
Vor ein paar Wochen
Erschrocken riss ich die Augen auf. Schweißgebadet stieg ich wankend aus meinem Bett und torkelte Richtung Badezimmer. Ich hatte schlecht geschlafen. Ziemlich schlecht. Sprechende Hundewelpen und Einhörner, die mich mit ihren Hörnern bedrohten, als ich sie streicheln wollte, hatten mich gejagt.
Ich klatschte mir eiskaltes Wasser ins Gesicht. Zurück in meinem kleinen Zimmer streifte ich mir ein anderes Leibchen sowie Shorts über. Ein kurzer Blick auf die Uhr sagte mir, dass sonst wohl noch alle schliefen. Es war gerade erst 4 Uhr morgens. So viel dazu, dass ich ausschlafen wollte. Ich gähnte lange und streckte mich vor meinem Wandspiegel. Schlafen konnte ich jetzt nicht mehr, das war klar. Ich musste zurück in den Wald, den Welpen suchen. Egal wie eingebildet sie war, ich musste Finja sehen, um sicherzugehen, dass das alles keine Einbildung gewesen war.
Gekonnt flocht ich meine hellblonden, ellbogenlangen Haare zu einem Zopf, schrieb Mum einen kurzen Brief, wo ich war. Schnell verschwand ich aus der Wohnung, obwohl ich mich gleich auf eine spätere Predigt gefasst machen konnte.
Ich erreichte die Stelle, wo ich Finja das letzte Mal gesehen hatte. Sie saß tatsächlich immer noch auf dem exakt selben Platz. Ich konnte schwören, sie hatte sich nicht einen Millimeter bewegt.
Was willst du denn schon wieder hier?, vernahm ich sofort ihre Stimme. Sie klang mindestens genauso eingebildet wie gestern.
Ich betonte doch ausdrücklich, dass ich keine Hilfe brauche. Ich brauche NIE Hilfe! Und ganz sicher nicht von einem Menschen! Ihr seid doch alle unfähig, wobei sie Menschen ziemlich verächtlich klingen ließ.
Damit hatte ich eigentlich genug gehört. Einerseits wusste ich, dass die Begegnung gestern kein Traum gewesen war und andererseits, dass die Kleine wohl tatsächlich keine Hilfe brauchte.
»Na, wenn das so ist, kann ich ja wieder gehen. Ich dachte nur, vielleicht willst du etwas zu essen haben und außerdem wollte ich dich vor Hundefängern warnen, die hier öfters ihre Runden drehen. Aber es geht dir ganz offensichtlich bestens. Keine Bange, ich werde nicht wiederkommen. Von einem kleinen, eingebildeten Hund brauche ich nämlich ganz sicher auch nichts!« Ich drehte mich am Stand um und verschwand wieder einmal Richtung Park. Was bildete sich dieser Welpe eigentlich ein, so mit mir zu reden? Was bildete sie sich eigentlich ein, überhaupt mit mir zu reden? Das war doch gar nicht möglich. Verwirrt schüttelte ich den Kopf. Was konnte ich jetzt machen? Es war wahrscheinlich noch nicht einmal fünf Uhr morgens und nach Hause wollte ich noch ganz bestimmt nicht.
Ein Geräusch in meinem Hinterkopf nahm mir die Entscheidung ab. Was war das? In meinem Kopf summte etwas. Es war, als hätte sich eine kleine Biene dorthin verirrt. Ich hatte wohl eindeutig zu wenig geschlafen, dachte ich und setzte stur meinen Weg fort. Nein, da war tatsächlich etwas! Stirnrunzelnd blieb ich nun doch stehen und konzentrierte mich. Das undeutliche Surren beruhigte sich und formte sich zu einem leisen Winseln. Finja schoss es mir durch den Kopf. Der würde ich ganz bestimmt nicht helfen, beschloss ich jedoch sogleich, außerdem brauchte sie ohnehin keine Hilfe von Menschen. Ich zuckte verächtlich mit den Schultern und stapfte wieder los, immer noch am Weg aus dem Wald.
Das Winseln wurde allerdings stetig lauter, bis ich es schließlich doch nicht mehr aushielt und leise fluchend umkehrte. Je weiter ich zurück zu unserem ersten Treffpunkt eilte, desto lauter wurde das Winseln. Kurz vor der Stelle blieb ich hinter einem großen Busch stehen. Das gerade noch klägliche Winseln in meinem Kopf verwandelte sich zu einem angsteinflößenden Knurren in der Realität.
Finja saß immer noch auf demselben Fleck. Vor ihr stand Josh, der bekannteste Hundefänger der Stadt, der in den Morgen- und Abendstunden herrenlose Hunde aufsammelte. Mein Mitleid für die Kleine hielt sich jedoch in Grenzen. Sie schien ganz prächtig knurren zu können, wie ich zu hören bekam. Auf etwas sitzend bleckte sie furchtlos ihre spitzen Zähne, die mir länger als bei den Hunden vorkamen, die ich bis jetzt gesehen hatte.
Ich setzte mich auf den leicht feuchten Waldboden und beobachtete die beiden. Nicht einmal einen Meter hinter Josh lugte ich aus dem Busch und machte nicht die kleinsten Anstalten ihr zu helfen. Ich sah ihr in die funkelnden, blauen Augen und sofort konnte ich sie wieder hören.
Hilfe!
Ungläubig sah ich sie an. Hatte ich mich gerade verhört oder hatte sie tatsächlich Hilfe gesagt?
Hilf mir!
Sie bat mich doch tatsächlich um Hilfe. Wobei, sie befahl es mir eher. Ich dachte, die kleine Hunde-Prinzessin brauchte sowieso nie Hilfe und schon gar nicht von einem Menschen.
Doch! Bitte!
Erschrocken zuckte ich zurück. Hatte sie meine Gedanken lesen können?
Lauf doch weg, du hast vier gesunde Beine. Ganz sicher bist du schneller als er, dachte ich überprüfend.
Ich kann nicht! Ich darf hier nicht so weg!
Vor lauter Erstaunen riss ich meine Augen weit auf. Sie hatte meine Gedanken gelesen. Gedankenlesen? Und das auch noch ein Tier? Was zur Hölle passierte hier eigentlich?
Mich wieder auf die Situation konzentrierend schüttelte ich verständnislos den Kopf. Warum konnte sie denn nicht einfach weglaufen, wie jedes andere Tier es instinktiv tun würde? Immer noch saß ich auf dem feuchten Boden und rührte mich nicht von der Stelle. Josh machte eine bedrohliche Geste zu Finja, die trotzdem ihren Platz nicht aufgab.
Bitte hilf mir!, fiepte sie mit flehendem Blick. Es ging ja anscheinend auch freundlich, stellte ich zufrieden fest.
Der Hundefänger breitete sein Netz aus, holte aus und warf es direkt in Richtung der kleinen Hundedame. Augenblicklich schnellte ich hoch und schnappte das Tierchen samt dem … war das tatsächlich ein Buch?
»Entschuldigen Sie bitte. Meine Kleine läuft mir immer davon und windet sich aus ihrem Halsband. Ich werde in Zukunft besser auf sie aufpassen und ihr ein Brustgeschirr kaufen, sowie mit ihr eine Hundeschule besuchen. Entschuldigen Sie noch einmal vielmals!« So schnell ich konnte, floh ich mitsamt Hund und Buch tiefer in den Wald. Auf die Standpauke, wie man seine Haustiere richtig anleinte oder mit ihnen spazieren ging, hatte ich beim besten Willen weder Zeit noch großartig Lust. Mit meinen Gedanken war ich nämlich bereits ganz woanders.
»Warum genau bist du nicht davongelaufen und was um alles in der Welt machst du mit diesem Buch? Wo kommt das überhaupt her?« Finja überging meine Fragen, als hätte ich sie nie gestellt und meinte wieder in ihrem ursprünglich spöttischen Tonfall: Du hättest mich nicht retten brauchen! Ich wäre gut alleine mit dem fertig geworden! Sprachlos starrte ich sie an. Ich konnte nicht sagen, ob ich erstaunt oder wütend war.
»Du hast mich um Hilfe gebeten, weil du aus einem mir nicht ersichtlichen Grund nicht in der Lage warst deinen Platz von alleine zu verlassen! Und jetzt sag nicht, ich hätte mir das eingebildet. Du hättest ihn kratzen, beißen oder, etwas weniger spektakulär, einfach davon laufen können, aber nein, du hast mich angewinselt.« Die letzten Wörter schrie ich beinahe schon, so sehr regte mich dieser freche Köter auf.
Ich könnte dich jetzt auch kratzen und beißen, kam die schnippische Antwort. Ohne weiter darüber nachzudenken, ließ ich sie auf den moosigen Boden fallen. Mit einem dumpfen Plumps kam sie unten an und richtete sich verdattert wieder auf. Ich hingegen setzte mich auf einen Baumstumpf und widmete mich dem geheimnisvollen Buch. Behutsam strich ich über den dicken Umschlag. Weder Titel noch ursprüngliche Farbe waren zu erkennen, so viel Staub hatte sich darauf abgelagert.
Ich wischte mit meiner Hand über das Cover, bis ich endlich etwas ausmachen konnte. Es schien gräulich braun zu sein und auf jeden Fall aufwendig verziert. Zwischen den unzähligen Schnörkseln und Sternchen konnte ich nun endlich auch eine Schrift entdecken. GEHEIMNIS ELFANIA stand handgeschrieben in kunstvoll geschwungenen Lettern darauf. Es hatte bestimmt nicht einfach ein Wanderer oder Tourist auf seinem Weg verloren, da war ich mir sicher. Wo es allerdings sonst herkommen könnte, war mir ein Rätsel. Ich wendete das Buch, um nach einem Erscheinungsdatum zu suchen. Geschrieben im Jahre null.
»Wow«, hauchte ich, einerseits von dem Alter überrascht, andererseits auch von der Genauigkeit und des vielen Aufwands, den damals jemand für dieses Werk betrieben hatte. Ein wenig ehrfürchtig strich ich mit meinem Zeigefinger die großen Buchstaben des Einbandes nach.
Niiiicht!, hörte ich Finja jammern, doch sie war mir in diesem Moment egal. Mein Mund und meine Augen weiteten sich vor Staunen, als die Schrift grellweiß zu leuchten begann, wo ich sie berührt hatte. Je weiter ich meinen Finger über das Papier gleiten ließ, desto heller wurde es. Meine Lippen formten ein erstauntes Wahnsinn, denn ich brachte keinen Ton mehr heraus.
Nachdem ich das letzte A nachgestrichen hatte, legte ich meine Hand wieder in den Schoß zurück. Die zwei immer noch leuchtenden Wörter Geheimnis Elfania wurden nun von einem mindestens doppelt so grellen Lichtband schwungvoll unterstrichen. Am Ende des Covers fuhr das Licht über den Rand hinaus, landete allerdings nicht auf dem Waldboden. Erstaunt schlug ich die erste Seite auf, um gleich daraufnoch mehr zu staunen. Das helle Band brannte sich weiter auf die rechte Seite, erlosch jedoch sofort wieder dort, wo es keine weiteren Buchstaben hinterlassen hatte.
Mir kam es vor, als würde sich das Licht noch einmal eine Spur erhellen, sodass ich vor Angst um meine Augen den Blick abwandte. Erst als ich wahrnahm, dass das Licht verschwunden war, blickte ich auf die Seiten zurück. Mein Mund öffnete sich wieder einmal und ich musste mich festhalten, damit ich nicht nach hinten von dem Baumstumpf fiel. Ich blinzelte und rieb mir die Augen. Das Licht musste mich tatsächlich ziemlich geblendet haben. Noch einmal wagte ich einen Blick in die Mitte der aufgeschlagenen, ersten Seite. Das konnte nicht sein! Das war unmöglich!
Auf der Seite prangte, so als wäre er schon immer da gewesen, ein neuer Schriftzug. Das war es allerdings nicht, was mir die Sprache verschlug, viel eher war es sein Inhalt:
~JOYCE FEYA SMITH ~
Ich las diesen Teil mindestens zehn Mal, bis ich realisierte, dass in dem Buch wirklich mein Name stand. Mein vollständiger Name, Joyce Smith! In demselben Schriftzug wie der Titel am Cover. Nur auf Feya konnte ich mir keinen Reim machen.
Hat es wieder Besitzer gewechselt?
Finjas Stimme versetzte mich schlagartig zurück in die Realität und ich schloss meinen mittlerweile ausgetrockneten Mund. Wobei, das war doch alles real gewesen, oder? Ich spürte ihr weiches Fell, als sie mir über die Schulter lugte. Mein Zorn auf sie war wie weggeblasen, vielleicht, weil ich einfach zu verblüfft war.
»Kannst du es leicht nicht lesen?«, fragte ich deshalb perplex, wobei meine Stimme ungewollt härter klang, als ich wollte. Gleich darauf war mir klar, dass sie es sicher nicht lesen konnte. Ich meine, sie war ein Hund und kein Tier konnte lesen. Wobei Tiere eigentlich auch nicht sprechen konnten. Mittlerweile war ich mir bei all dem nicht mehr so sicher.
Nur teilweise. Ich bin mit meiner Ausbildung noch nicht fertig. Außerdem woher soll ich denn wissen, dass du J… O… Y… C… E heißt? Ich blickte sie groß an. Stimmt, woher hätte sie das wissen sollen?
Was mich allerdings viel mehr verwundert, ist, dass du mich anscheinend gerade gehört hast, obwohl du mir nicht in die Augen gesehen hast!
Stimmt, ich hatte sie nicht angesehen, aber was hatte das denn damit zu tun? Ich sollte sie überhaupt nicht hören können, ganz egal, wo ich hinsah.
Also soweit ich mir das alles gemerkt habe, können mich nur manche Menschen verstehen, nur diejenigen, die an Übernatürliches glauben. Ich bin mir aber ganz sicher, dass es hieß: Wenn du nicht willst, dass Menschen dich verstehen, vermeide es, in ihre Augen zu sehen, fuhr sie unbeirrt fort. Das scheint gerade aber nicht geklappt zu haben. Du konntest mich trotzdem hören.
»Ja schon, aber warum kann ich dich überhaupt hören? Ich habe noch nie mit Tieren kommuniziert.«
Ich sagte doch bereits, ich habe noch lange nicht ausgelernt. Vieles wurde mir noch nicht beigebracht, also kann ich dir darauf auch keine Antwort geben. Auch was genau es mit dem Buch auf sich hat weiß ich nicht zur Gänze. Ich wüsste es allerdings selber gerne. Schweigend saßen wir eine ganze Weile auf dem morschen Baumstumpf. Ich war froh, dass Finja nicht mehr derart eingebildet klang. So, schien sie tatsächlich recht nett zu sein.