Neu-Ein-stimmen Nomen, Verb, Zustand
Manche Menschen können unglaublich gut damit umgehen, dass ihr Leben von Zeit zu Zeit ihren ursprünglichen Plänen zuwiderläuft: Es dauert nur Bruchteile von Sekunden, und schon haben sie sich aktiv auf die neue Situation eingestellt und sind im Nu wieder handlungsfähig. Dieses Neu-Einstimmen ist eine Kunst, doch führt sie in unserem Leben eine wenig beachtete Randexistenz.
Jedoch: Neu-Einstimmen – was für ein Un-Wort! Tatsächlich habe ich lange nach dem richtigen Begriff für das Konzept gesucht, das mich hier neugierig hält. Wie sollte das Phänomen bloss heissen?
Zuerst habe ich mit dem Begriff «Anpassung» gespielt. Aber das ist es ganz klar nicht: Wer sich nur anpasst, wenn das Leben nicht so will wie man selbst, kann tatsächlich zum Opfer der Umstände werden. Darum geht es hier nicht. Dann schien «Ausbalancieren» eine passende Bezeichnung zu sein. Doch das stimmt auch nicht. Beim Ausbalancieren kehrt man nach einem Wackler in die alte Position zurück – es ändert sich nichts Grundsätzliches.
Neu einstimmen – da schwingen Stimme und Stimmung mit: Ein Instrument zu stimmen bedeutet, seinen Klang zu verändern. Einem gut gestimmten Instrument kann der Musiker, die Musikerin in der augenblicklichen Umgebung, bei der gerade herrschenden Temperatur und Luftfeuchtigkeit harmonische Klänge entlocken. In unserem Leben sind wir gleichzeitig Instrument, Musiker und Stimmer! Nach einer Störung, ob gross oder klein, ist unser Leben nicht mehr wie vorher. Doch wer sich neu einstimmt, kann neue, andere Harmonien erreichen. Genau dies möchte ich in diesem Buch erforschen: Es geht um die Schönheit, sich auf neue Möglichkeiten einzustimmen.
In alten Zeiten hat man Weisheit, Kultur und Erfahrung am Lagerfeuer von Generation zu Generation weitergegeben: Die Geschichten der Alten enthielten deren Essenz und liessen gleichzeitig Raum, um individuelle Erkenntnisse und Eigenheiten zu integrieren. So möchte auch ich meine Beobachtungen übers Neu-Einstimmen verstanden wissen: eine Sammlung von Lagerfeuer-Geschichten. Denn Neu-Einstimmung ist seit Langem ein Teil unserer Kultur. Lehnen Sie sich zurück und lassen Sie sich von den Geschichten verzaubern oder eben «neu ein-stimmen».
Kurz nach der Beerdigung meiner Frau Stephanie hatten meine drei erwachsenen Kinder und ich einige Freunde in unser Haus eingeladen, um noch einmal in Ruhe und Dankbarkeit Stephanies Leben zu feiern.
Auch Anton, der vierjährige Sohn von Freunden, war dabei. Er hatte die meiste Zeit in einer Ecke gesessen und sich mit alten Spielsachen meiner Kinder beschäftigt. Irgendwann hatte sein Vater einen Spaziergang vorgeschlagen, und die beiden waren nach draussen verschwunden. Als sie zurückkamen, fiel mir zum ersten Mal die höchst bemerkenswerte «Anton-Art» des Neu-Einstimmens auf.
Ich hatte unsere Freunde an diesem Tag um ein paar «Kinder-freie» Stunden gebeten, und Antons Eltern hatten viel Verständnis für meinen Wunsch. Ich solle einfach sagen, wenn ich «Erwachsenenzeit» brauchte – sie würden dann nach Hause fahren. Daher stand ich, als Anton und sein Vater von ihrem Spaziergang zurückkehrten, in der Tür, um zu erklären, dass es Zeit zum Heimfahren sei. Anton lief auf mich zu, die Vorfreude auf das Spielzeug strahlte aus seinen Augen. Ich bereitete mich innerlich auf Protest und Tränen vor, als ich ihm erklärte: «Nein, Anton, du kommst jetzt nicht mehr herein, sondern fährst mit Mama und Papa nach Hause.» Anton blieb stehen, schaute mich mit einem überraschten «Oh!» an. Dann drehte er sich ohne Zögern um und ging zum Auto. Ich war perplex! Das war eine perfekte Flexibilitäts-Demonstration. Wie hatte der kleine Kerl das gemacht? Ich muss wohl ein wenig verwirrt ausgesehen haben, denn Antons Mutter Kati grinste mich an und sagte: «Überraschung, was?! Dieses fantastische Kind ist ein unglaublich schneller Neu-Einstimmer. Was meinst du?»
Das war der erste zarte Anstoss zu diesem Buch.
Eine ungewöhnliche Frage
Kati und ich bieten seit mehr als 20 Jahren gemeinsam Dienstleistungen in Persönlichkeitsentwicklung und Veränderungsmanagement an. Es ist daher nicht verwunderlich, dass wir die menschliche Fähigkeit, mit Veränderungen umzugehen, schon seit einiger Zeit mit grosser Neugier betrachteten und eine gewisse Sensibilität für derartige Anzeichen entwickelt hatten.
Kati hatte als Erste darauf hingewiesen, dass der Zeitfaktor bei der Fähigkeit, sich neu einzustimmen, eine wichtige Rolle spielen könnte. Nachdem ich auf dem Budapester Flughafen einen Betriebsunterbruch miterlebt hatte, stellte sie mir zum ersten Mal diese merkwürdige Frage: «Wie lange hast du gebraucht, um dich neu einzustimmen?»
Feuer im Tower
Ich hatte in Budapest zu tun, als ich die Nachricht erhielt, dass Stephanie notfallmässig ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Klar, dass ich so schnell wie möglich nach Basel zurückfliegen wollte! Ungewöhnlich viele Menschen drängten sich in der Eincheckhalle des Flughafens, die Schlangen an den Schaltern schienen sich nicht zu bewegen. Schliesslich eine Lautsprecherdurchsage: Im Tower habe es gebrannt, und der Flughafen werde für unbestimmte Zeit geschlossen. Bis alle sicherheitsrelevanten Kabel ausgetauscht seien, fielen sämtliche Flüge aus. Für mich hiess das: Den Nachtzug nach Basel nehmen und erst am nächsten Morgen zu Hause sein. Als der Zug in Basel einfuhr, klingelte mein Telefon: Kati. Ich erzählte ihr von meinem Missgeschick am Flughafen, und sie stellte die wichtige Frage, die zu diesem Buch geführt hat: «Wie lange hast du gebraucht, um dich neu einzustimmen?»
Diese Frage führte dazu, dass sich die Geschichte über den Tower-Brand in meinen Gedanken völlig veränderte. Während ich nach einer Antwort suchte, wurde mir klar, was ich am Flughafen zustande gebracht hatte. Die Stimme aus dem Lautsprecher war noch immer zu hören, aufgeregte Passagiere drängten sich immer dichter um die Eincheck-Schalter, hier und dort wurde diskutiert … und ich war schon in die andere Richtung unterwegs – weg von den Schaltern, hin zum Ausgang, wo ein Taxi nach dem anderen neue Passagiere brachte. Der Lautsprecher wiederholte seine Ansage in verschiedenen Sprachen, während ich schon einen Taxifahrer überzeugte, mich zum Bahnhof zu fahren, auch wenn wir uns an keiner offiziellen «Einstiegsstelle» für Taxis befanden. Ich erwischte den Nachtzug noch rechtzeitig.
Wenn ich mein rasantes Neu-Einstimmen gedanklich Schritt für Schritt Revue passieren lasse, scheint mir ein Detail besonders bemerkenswert: Offenbar hatte ich schon in den Modus «Neu-Einstimmen» geschaltet, bevor die Lautsprecherdurchsage anfing. Noch während ich in der wartenden Menge stand, muss ich bemerkt haben, dass etwas nicht in Ordnung ist und dass ich möglicherweise etwas anderes tun müsste als gewöhnlich. Ich erinnere mich sogar vage, dass ich in Gedanken Reise-Alternativen durchgespielt habe … für alle Fälle. Eine dieser Alternativen war die Reise mit dem Nachtzug.
Hätte Kati mich an jenem Morgen gefragt «Wie hast du es geschafft, dich so schnell neu einzustimmen?», hätte es zwei mögliche Antworten gegeben: a) Ich habe «irgendwie» das Unerwartete erwartet, und b) mir standen gedankliche Optionen für alle Fälle zur Verfügung.
Es geht los
Seit jenem Tag ist Katis und meine Neugier kräftig gewachsen: Wir fingen an, unsere eigenen Neu-Einstimmungszeiten zu beobachten, wenn es in unserem Leben nicht nach Wunsch ging. Wahrscheinlich haben wir diese «eingebaute» Fähigkeit zur Neu-Einstimmung schon unser ganzes Leben lang genutzt. Doch erst nach Katis Frage fingen wir an, den Prozess des Neu-Einstimmens bewusst zu untersuchen.
Dabei ist uns aufgefallen, dass die Zeit zwischen dem Moment, wo etwas falsch läuft, und unserem eigenen erfolgreichen Neu-Einstimmen mit der Zeit immer kürzer wird.
Natürlich beobachten wir dieses Phänomen nicht nur bei uns, sondern auch bei unseren Kundinnen und Kunden. Erst langsam entfalten sich vor uns ein unglaublicher Variantenreichtum und die unglaubliche Effektivität dessen, was Menschen tun, wenn sie sich neu einstimmen.
Francis Picabia
Wenn Gedanken erfolgreich die Richtung wechseln, kann das sehr bedeutsame Auswirkungen haben. Ich hatte das Glück, in den beiden folgenden Fällen genau den Moment mitzuerleben, in dem die Gedanken die Richtung wechselten. Im ersten Beispiel geht es um eine IT-Firma, die an bahnbrechenden Ideen für die Zukunft der künstlichen Intelligenz arbeitet. Im zweiten Beispiel gelingt es einer Führungskraft, hoch wirksame Erfahrungen ihrer Vergangenheit wieder zu entdecken.
Milliardenschwere Neu-Einstimmung
Im Mai 2011 hatte ich zum ersten Mal Kontakt mit Szergej, dem CEO einer kleinen ungarischen IT-Firma, und seinem Team. «Wir arbeiten an etwas ganz Grossem, Revolutionärem», hatte Szergej gesagt. «Und ich glaube, du kannst uns helfen.»