Matthias Naß
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TANZ
Chinas Aufstieg zur Weltmacht
und was er für uns bedeutet
C.H.Beck
Chinas Aufstieg fasziniert die Welt – und lehrt sie das Fürchten. Unter Parteichef Xi Jinping erlebt das Land einen Rückfall in die Diktatur. Gleichzeitig dehnt es seinen globalen Einfluss immer weiter aus. Nicht nur in Amerika, auch in Europa wächst das Unbehagen an der neuen Weltmacht und an ihren Methoden. Droht ein neuer kalter Krieg oder sogar ein chinesischer Triumph über den Westen? ZEIT-Korrespondent Matthias Naß gibt einen spannenden Einblick in das Land, das sich anschickt, zur Führungsmacht des 21. Jahrhunderts zu werden.
Matthias Naß ist internationaler Korrespondent der Wochenzeitung DIE ZEIT und hat bei C.H.Beck zuletzt das Buch «Countdown in Korea» (2017) veröffentlicht.
Vorwort
I. Corona: Heimsuchung und Weltkrise
II. Revolution, Reform und Restauration
1. Mao Zedongs despotisches Gesellschaftsexperiment
2. Deng Xiaopings vorsichtige Öffnungspolitik
3. Xi Jinpings Rückfall in die Diktatur
III. Kommunistische Partei: Mechanismen der Herrschaft
IV. Überwachungsstaat: Auf dem Weg zur totalen Kontrolle
V. Xinjiang: Verfolgung und Umerziehung
VI. Hongkong: Das Sterben einer freien Stadt
VII. Taiwan: Die demokratische Alternative
VIII. Die «Neue Seidenstraße»: Globalisierung nach chinesischen Regeln
IX. Europa: Das Ende der Naivität
X. Deutschland: Die Geschäfte gehen vor
XI. Rivalität mit Amerika
1. Politische Annäherung und Entfremdung
2. Technologische Konkurrenz und neue Kommunistenfurcht
3. Wirtschaftliche Abhängigkeit und Entkopplung
4. Militärische Aufrüstung und neue Allianzen
XII. Auf dem Irrweg
ANHANG
Literatur
Anmerkungen
I. Corona: Heimsuchung und Weltkrise
II. Revolution, Reform und Restauration
III. Kommunistische Partei: Mechanismen der Herrschaft
IV. Überwachungsstaat: Auf dem Weg zur totalen Kontrolle
V. Xinjiang: Verfolgung und Umerziehung
VI. Hongkong: Das Sterben einer freien Stadt
VII. Taiwan: Die demokratische Alternative
VIII. Die «Neue Seidenstraße»: Globalisierung nach chinesischen Regeln
IX. Europa: Das Ende der Naivität
X. Deutschland: Die Geschäfte gehen vor
XI. Rivalität mit Amerika
XII. Auf dem Irrweg
Bildnachweis
Personenregister
Für Lisa, Sarah Mie und Stefan Akio
Vierzig goldene Jahre? Das ist natürlich übertrieben. Aber für China waren die vier Jahrzehnte von 1979 bis 2019 eine gute Zeit. Sie dürften zu den besten in der chinesischen Geschichte gehören. Kein Umsturz, kein Bürgerkrieg, keine Hungersnot. Stattdessen ein wirtschaftlicher Aufschwung, wie ihn das Land nie zuvor gesehen hatte. Die Freiheitsräume im privaten Leben der Menschen wurden größer. Das Land befreite sich aus seiner selbstgewählten Isolation. Bewundernd blickte die Welt auf das Wiedererstarken einer großen, fünftausend Jahre alten Nation.
Mit dem Beginn der Reform- und Öffnungspolitik Deng Xiaopings Ende 1978 ließ China die wirren gesellschaftlichen Experimente Mao Zedongs hinter sich, deren leidvolle Folgen die Bürger der Volksrepublik im Elend des «Großen Sprungs nach vorn» und in den Gewaltexzessen der «Großen Proletarischen Kulturrevolution» ertragen mussten. Es kehrte Ruhe ein im Leben der Menschen. Die Kinder gingen wieder zur Schule. Die Bauern durften ihr eigenes Land bewirtschaften. Privateigentum wurde nicht mehr verteufelt. Im Gegenteil, es galt nun die Devise Deng Xiaopings: «Es ist ruhmvoll, reich zu werden.» Und viele Chinesen wurden reich, einige sogar sehr reich. Sie kauften sich Wohnungen in Singapur oder Vancouver, schickten ihre Töchter und Söhne auf teure amerikanische Universitäten. Von Venedig bis Paris, überall drängten sich jetzt chinesische Touristen.
Alles andere als goldene Jahre waren es für jene, die politisch anderer Meinung waren als die Machthaber. Sie wurden ausgespäht, verfolgt und mundtot gemacht. Dennoch meldeten sie sich immer wieder zu Wort: auf Wandzeitungen, in literarischen Zeitschriften, bei Demonstrationen. 1989 erfasste eine Demokratiebewegung das ganze Land. Die Menschen versammelten sich friedlich, bis die Armee den Protest in der Nacht zum 4. Juni am Pekinger Platz des Himmlischen Friedens mit einem Blutbad beendete. Ein Trauma, das bis heute nicht weicht.
Schon in den Jahren, die auf das Tiananmen-Massaker folgten, wurde die Überwachung der Bevölkerung immer ausgeklügelter. Die «große chinesische Firewall» schottete die Bürger vom freien Zugang zum Internet ab. Die Zensur erstickte jede Kritik am Regime. Zwischen der kleinen Freiheit im Privaten und der großen Freiheit in der Politik verlief eine tiefrote Linie. Nur sehr Mutige überschritten sie und zahlten dafür einen hohen Preis.
Und doch, das Leben der vielen, die sich von der Politik fernhielten, besserte sich. Dies war ja der Deal, den die Kommunistische Partei den Bürgern anbot: Haltet den Mund, dann lassen wir euch in Ruhe Geld verdienen. Eine stille Übereinkunft, auf die sich die meisten einließen. Kritik aus dem Ausland fand das Regime zwar lästig, maß ihr aber keine große Bedeutung zu. Die Wirtschaftsführer im Westen, die mit China Geschäfte machen wollten, schauten ohnehin nicht so genau hin. Kein Markt der Welt war verführerischer, alle wollten dabei sein. Den Diebstahl geistigen Eigentums, den erzwungenen Technologietransfer, die Joint Ventures wider Willen nahmen sie hin. Sie konnten es sich nicht leisten, die chinesische Bonanza zu verpassen.
Im vierten Jahrzehnt nach Beginn der Reformen kippte die Stimmung. Der Unmut wuchs über ein China, das die Chancen des liberalen Weltwirtschaftssystems nutzte, aber weiterhin nach den eigenen Regeln spielen wollte. Das sich weigerte, der erhoffte «responsible stakeholder» zu werden – ein verlässlicher und verantwortungsvoller Mitgestalter der internationalen Ordnung. Diese Kritik war in Europa genauso zu hören wie in Amerika. Aber es brauchte die Skrupellosigkeit eines Donald Trump, um China wegen seiner Regelverstöße gleich den Handelskrieg zu erklären. Mit dem Spürsinn eines Raubtiers sah er die Schwächen des Rivalen und trieb die Volksrepublik vor sich her. Trump drohte mit einer «Entkopplung» der beiden größten Volkswirtschaften der Welt und tat alles, um ein Vorzeigeunternehmen wie den Technologiekonzern Huawei in den Ruin zu treiben.
Die Europäer waren sich in ihrer Haltung der Volksrepublik gegenüber nicht einig, jedes Land trachtete nach dem eigenen Vorteil. Und die Führung in Peking tat das Ihre, um Europa zu spalten. Zugleich einte sie die Europäer mit ihrem Verhalten wieder. Bei einigen Regierungen waren es Pekings leere finanzielle Versprechen, die zu einem Umdenken führten, bei anderen die aggressiven Einkaufstouren chinesischer Investoren, bei fast allen die entsetzlichen Menschenrechtsverletzungen. Dies alles summierte sich nach Jahren der China-Euphorie zu einer tiefen Desillusionierung.
Als Xi Jinping seine Ämter als Parteichef (2012) und als Staatspräsident (2013) antrat, galt er als Reformer. Welch ein Irrtum. Unter Xi legte Chinas Politik ideologisch den Rückwärtsgang ein. Die KP startete eine Kampagne gegen «westliche Werte», verschärfte noch einmal die Zensur, stärkte die Staatsbetriebe auf Kosten der Privatunternehmen, unterdrückte die muslimischen Minderheiten, setzte Hongkongs vertraglich zugesicherte Autonomie außer Kraft und drohte Taiwan mit gewaltsamer Wiedervereinigung.
Dann trat von Wuhan aus das Coronavirus seinen tödlichen Weg um die Welt an. Peking bekämpfte, nach anfänglichem Vertuschen, die Pandemie mit rücksichtsloser Härte – und war damit erfolgreich. Kaum war das Schlimmste überstanden, erklärte die Regierungspropaganda, der Sieg über das Virus beweise die Überlegenheit des chinesischen Systems. Nur wollte die Welt vom «Modell China» nichts wissen. Sie fühlte sich vielmehr abgestoßen vom herrischen Auftreten der chinesischen Diplomaten, die sich unter dem Beifall der chauvinistischen Presse daheim in «Wolfskrieger» verwandelt hatten.
Die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten sanken auf einen Tiefpunkt. Washingtons Außenminister rief den Westen zu einer «Allianz der Demokratien» gegen China auf. Daran mochte sich Europa nicht beteiligen. Überhaupt wollte es sich nicht in die Rivalität der beiden Giganten hineinziehen lassen. Von einer wirtschaftlichen «Entkopplung» hielten die Europäer auch nichts, es wuchs bei ihnen aber der Wunsch, sich aus der allzu großen Abhängigkeit von China zu lösen, nicht nur bei Schutzmasken und Medikamenten.
China wiederum schien den Streit regelrecht zu suchen. Ausgerechnet im Jahr der Coronakrise legte sich die Volksrepublik mit der halben Welt an. Die Führung in Peking erpresste Australien mit Embargodrohungen, nahm zwei kanadische Bürger in eine Art Geiselhaft, beschimpfte die Regierungen Schwedens, Tschechiens sowie Großbritanniens, lieferte sich zu allem Überfluss ein Grenzscharmützel mit Indien.
Und wunderte sich, als sich Widerstand regte. Australien, Indien, Japan und die Vereinigten Staaten intensivierten ihre Kooperation in der «Quad», jenem lockeren Verbund, der vor allem eines verhindern will: eine Vorherrschaft Chinas im Indo-Pazifischen Raum. Japan überlegte, ob es den «Five Eyes» beitreten sollte, jenem Zusammenschluss fünf angelsächsischer Länder (USA, Großbritannien, Kanada, Australien und Neuseeland), die ihre nachrichtendienstlichen Erkenntnisse untereinander austauschen. Sogar die Nato begann sich mit China zu beschäftigen. In Berlin legte die Bundesregierung «Indo-Pazifik-Leitlinien» vor; die Große Koalition sah in Chinas wachsender Macht eine Gefahr für die Stabilität der Region und plädierte für eine engere Zusammenarbeit mit traditionellen Partnern wie Japan, Indien und Australien.
Es war eine eindrucksvolle Phalanx von Ländern, die Peking gegen sich aufgebracht hatte. Aber die Machthaber in der Volksrepublik blieben gelassen, sie mussten schon ganz andere Herausforderungen bestehen. Und doch waren sie irritiert. Denn in der weltweiten Kritik offenbarte sich Chinas vielleicht größte Schwäche: der Mangel an politischer Anziehungskraft, an Soft Power. Die Volksrepublik hat wenig Freunde und keine Verbündeten von Gewicht. Wenn China zur zweiten ebenbürtigen Supermacht neben den USA aufsteigen will, dann wird das Land auf diesem Weg ziemlich einsam sein.
Aber hat China diesen Ehrgeiz überhaupt? Will es zu den Vereinigten Staaten aufschließen, gar an ihre Stelle treten? Will es die weltpolitische Verantwortung einer Supermacht tragen? Blickt man auf die Geschichte des Landes, spricht wenig für solche Ambitionen. Nichts lag China in der Vergangenheit ferner, als seine Ordnung anderen Ländern aufzuzwingen oder in fremden Weltgegenden Streit zu schlichten. Das ist heute nicht viel anders. In der friedlichen Entwicklung des eigenen Landes zu auskömmlichem Wohlstand sieht Pekings Führung ihren wichtigsten Beitrag zur internationalen Stabilität.
In Asien und im Westpazifik allerdings soll keine andere Macht den Ton angeben. Hier tritt China als eine Hegemonialmacht auf, die ihre Interessen mit aller Härte durchsetzt. Die Gefahr eines militärischen Konflikts im Südchinesischen Meer und in der Straße von Taiwan darf deshalb niemand unterschätzen.
Für Europa geht von der Volksrepublik keine militärische Bedrohung aus. Sehr wohl aber ist sie, wie es die Europäische Kommission formuliert hat, ein «systemischer Rivale». Der autoritäre Staatskapitalismus Chinas lässt sich mit Europas Vorstellungen von freiheitlicher Demokratie und liberaler Marktwirtschaft nicht vereinbaren. Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron forderte deshalb zu Recht ein «Ende der Naivität». Reiner Spaß wird der zu erwartende Drachentanz mit dem Konkurrenten China nicht sein.
Die Arbeit an diesem Buch hat knapp anderthalb Jahre gedauert. Meine journalistische Beschäftigung mit China aber reicht zurück bis zum Beginn der achtziger Jahre. Das Studium der Sinologie hat mich darauf vorbereitet. Meine Professoren Rolf Trauzettel (Göttingen), Daniel Kwok und John DeFrancis (Honolulu) sowie Wolfgang Franke und Liu Mau-Tsai (Hamburg) waren wunderbare Lehrer, denen ich bis heute dankbar bin. Und nie ist das Gespräch über China mit meinem Freund und Lehrer Kuan Yu-Chien abgerissen.
Seit 1983 habe ich in der ZEIT den Wiederaufstieg Chinas beschrieben und kommentiert. Auf vielen Reisen durch das Land war ich Zeuge einer atemberaubenden Erfolgsgeschichte, aber auch dramatischer Rückschläge. Es war ein großes Glück, in all diesen Jahren zum Thema China in der ZEIT-Redaktion zwei eminent kluge und erfahrene Gesprächspartner zu haben: Theo Sommer und Helmut Schmidt. Theo Sommer hat vor zwei Jahren die Summe seines Nachdenkens über China in dem Buch «China First» vorgelegt, das ebenfalls im Verlag C.H.Beck erschienen ist. Er hat auch das Manuskript dieses Buches gelesen und mit hilfreichen Anmerkungen versehen. Dafür, und für unsere fortwährende Freundschaft, danke ich ihm sehr.
Ein genauer und aufmerksamer Leser des Manuskripts war auch mein Freund Hans Janus, für dessen Hinweise und Ergänzungen ich sehr dankbar bin. Wir sind einander seit Jahrzehnten in enger Freundschaft verbunden.
Den Anstoß zu diesem Buch hat Detlef Felken gegeben, der Cheflektor von C.H.Beck. Er hat die Arbeit am Manuskript von Beginn an mit seinen Anregungen und kritischen Nachfragen, mit Ansporn und Ermutigung begleitet. Ihm gilt dafür mein großer Dank.
Bettina Spyrou hat auch dieses Manuskript mit liebevoller Sorgfalt betreut. Mit ihr seit vielen Jahren zusammenarbeiten zu dürfen, ist ein Geschenk.
Ohne meine Frau Lisa gäbe es dieses Buch nicht. Sie ist stets meine erste – und kritischste – Leserin. Sie hat mich auf unschätzbare Weise bei der Recherche unterstützt und Tag für Tag geholfen, in der Flut des Materials nicht unterzugehen. Ihr und unseren beiden Kindern Sarah Mie und Stefan Akio ist das Buch gewidmet.
Hamburg, im September 2020
Ahnungslos, voller Vorfreude brechen im Januar 2020 Abermillionen Chinesen in den Neujahrsurlaub auf. Sie steigen in die Bahn, den Bus, das Flugzeug. Das halbe Land macht sich auf den Weg, um Eltern und Großeltern zu besuchen. Chinesisch-Neujahr ist ein Familienfest wie Weihnachten in Deutschland oder Thanksgiving in Amerika, nur viel wichtiger. Nichts wissen die Reisenden davon, dass viele von ihnen ihr eigenes Heim erst Wochen, ja Monate später wiedersehen werden. Dass sie zurückkehren werden in eine Welt, die nicht mehr dieselbe ist.
Am 23. Januar, zwei Tage vor dem Neujahrsfest, wird die zentralchinesische Stadt Wuhan abgeriegelt, kurz darauf die gesamte Provinz Hubei mit fast 60 Millionen Einwohnern. Rund vierhundert Menschen haben sich zu diesem Zeitpunkt mit einem unbekannten Virus infiziert. Und während die Wissenschaftler noch debattieren, ob das Virus von Mensch zu Mensch übertragbar sei, hat der Krankheitserreger bereits seinen zerstörerischen Weg rund um den Globus angetreten. Thailand meldet am 13. Januar den ersten Erkrankten. Am 28. Januar wird in Bayern bei einem Mitarbeiter des Automobilzulieferers Webasto das neue Virus diagnostiziert. Im Herbst 2020 werden sich auf der Erde mehr als 50 Millionen Menschen mit dem Coronavirus angesteckt haben, werden fast 1,5 Millionen Menschen an der vom Virus ausgelösten Krankheit Covid-19 gestorben sein.
Die Pandemie verschont kein Land. Sie verändert alles – wie die Menschen arbeiten, wie sie feiern, wie sie an Schulen und Universitäten lernen, wie sie einkaufen, reisen und gemeinsam essen, wie sie einander auf der Straße begegnen und wie sie sich von ihren Toten verabschieden. Regierungen nehmen Unsummen an neuen Schulden auf, um einen Zusammenbruch der Wirtschaft zu verhindern. Dennoch verlieren Millionen ihren Arbeitsplatz, schließen Fabriken, Büros, Restaurants, Hotels und Museen. Flugplätze und Fußballstadien verwaisen. Gläubige müssen auf Abstand gehen, wenn sie gemeinsam in der Kirche beten, und niemand gibt sich zur Begrüßung mehr die Hand. Eine Heimsuchung ohne Beispiel. Wie konnte es dazu kommen? Und wie blickt die Welt auf China, das Land, in dem die Krise ihren Ausgang nahm?
Rekonstruktionen des zeitlichen Ablaufs ergeben, dass der erste Mensch vermutlich im November 2019 an Covid-19 erkrankte («Patient null»), ein 55 Jahre alter Mann aus der Provinz Hubei. Im Dezember häufen sich die Infektionen in der Nähe des Huanan-Marktes in Wuhan. Dort werden nicht nur Fische und Meeresfrüchte verkauft, sondern auch Schlangen, Gürteltiere, Reptilien und Fledermäuse. Die Ärztin Ai Fen, Leiterin der Notaufnahme in Wuhans Zentralkrankenhaus, berichtet von Patienten mit auffälligen, nicht zu erklärenden Symptomen. Sie wird gezwungen, über das Gesehene zu schweigen. Am 30. Dezember schreibt der Augenarzt Li Wenliang im sozialen Netzwerk WeChat über ein unbekanntes Virus in seiner Klinik. Ein Screenshot seines Posts verbreitet sich rasend schnell. Noch in derselben Nacht wird Li von der Polizei einbestellt. Sie wirft ihm vor, gefährliche «Gerüchte» verbreitet zu haben, und zwingt ihn, ein Geständnis über sein «illegales Verhalten» zu unterschreiben. Wenige Tage später erkrankt der Arzt selbst an Covid-19.
Zum Jahreswechsel hat Chinas Gesundheitsbehörde 27 Krankheitsfälle registriert. Sie informiert das Büro der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Peking. Am 1. Januar wird in Wuhan der Huanan-Markt geschlossen. Auch die Regierung der Vereinigten Staaten wird nun vom Auftauchen des neuen Virus in Kenntnis gesetzt. Nur die eigene Bevölkerung erfährt nichts. Am 7. Januar tagt in Peking das Politbüro. Parteichef Xi Jinping ordnet an, den Kampf gegen das Virus aufzunehmen, um eine drohende Epidemie abzuwenden. Aber erst am 20. Januar wird Xi in einer Rede die Öffentlichkeit informieren. Am selben Tag bestätigt der von vielen Chinesen verehrte Arzt Zhong Nanshan, der 2003 die vom Staat vertuschte Lungenkrankheit Sars publik machte, die Übertragbarkeit des neuartigen Coronavirus von Mensch zu Mensch.
Die WHO hat sechs Tage vorher noch verkündet, chinesische Untersuchungen hätten keine klaren Belege für eine Übertragung von einem Menschen auf den anderen ergeben. An der Spitze der Genfer UN-Behörde steht der Äthiopier Tedros Adhanom Ghebreyesus, ehemals Außenminister in Addis Abeba, der mit Unterstützung Chinas auf den neuen Posten gewählt wurde. Seine Organisation lobt die Pekinger Regierung für ihre Transparenz und Führung. Der WHO-Chef persönlich bescheinigt China, mit der Reaktion auf den Ausbruch einen «neuen Standard» gesetzt zu haben. Bei einem Treffen mit Xi Jinping Ende Januar rühmt er seinen Gastgeber überschwänglich: «China hat bereits Unglaubliches geleistet, um die Übertragung des Virus auf andere Länder einzuschränken.»[1]
Eine detaillierte Recherche der Nachrichtenagentur AP ergibt später genau das Gegenteil. Danach beklagten WHO-Mitarbeiter, zu Beginn der Krise aus Peking nicht die benötigten Informationen erhalten zu haben. Besonders heftig fiel internen Unterlagen zufolge die Kritik von Michael Ryan aus, dem Notfall-Beauftragten der WHO. «Im Kongo ist das nicht passiert», sagte Ryan mit Blick auf den Ebola-Ausbruch in dem afrikanischen Land wenige Jahre zuvor. Und er forderte: «Wir müssen die Daten sehen. Das ist jetzt von absoluter Wichtigkeit.»[2] Erst am 30. Januar 2020 ruft die WHO den internationalen Notstand aus. Im Rückblick eine verheerende Fehlentscheidung.
Wertvolle Zeit ist verstrichen. Zeit, in der die Behörden in Wuhan und die chinesischen Medien die Gefahr leugneten oder herunterspielten. Es empört die Einwohner der Stadt, von ihrem Bürgermeister zu hören: «Als lokaler Regierungskader muss ich, wenn ich diese Art von Informationen erhalte, auf Autorisierung warten, bis ich sie veröffentlichen kann.» Erst als Parteichef Xi Jinping zum Kampf gegen das Virus aufruft, beginnt Ende Januar der Feldzug gegen die Krankheit, mit einer militärisch inszenierten Mobilmachung und mit nationalem Pathos. China zieht in den «Volkskrieg». In Windeseile werden zwei Behelfskrankenhäuser mit jeweils mehr als tausend Betten errichtet. Ärzte und Krankenschwestern aus dem ganzen Land eilen nach Wuhan, Parteimitglieder und Nachbarschaftskomitees organisieren die Versorgung der in ihren Wohnungen eingesperrten Millionenbevölkerung.
Die Krise offenbart die Stärken wie die Schwächen des chinesischen Systems. Die Kommunistische Partei kann eine ungeheure Mobilisierungs- und Kampagnenfähigkeit entfalten. Bis es aber so weit ist, bleiben die Behörden viel zu lange untätig. Weil es keine unabhängigen Medien gibt, die vor Gefahren warnen. Weil lokale Funktionäre es nicht wagen, ohne Befehl von oben die Initiative zu ergreifen. Weil Stabilität das oberste Gebot ist und Zweifel an der Führung durch die Partei nicht erlaubt sind.
Die Wuhaner Schriftstellerin Fang Fang beginnt zwei Tage nach der Abschottung ihrer Stadt, ein Tagebuch zu schreiben. Jeden Tag veröffentlicht sie ihre Beobachtungen und ihre Gedanken im Microblogging-Dienst Weibo. Rund zehn Millionen Leser folgen ihr. Gleich am zweiten Tag ihrer Aufzeichnungen empört sie sich über das Versagen des Staates. «Die Achtlosigkeit und Untätigkeit der Wuhaner Behörden in der Frühphase der Epidemie und die Hilflosigkeit und Unfähigkeit der Funktionäre vor und nach der Verhängung der Abriegelung, haben in der Bevölkerung eine gewaltige Panik ausgelöst und allen Wuhaner Bürgern Schaden zugefügt. (…) Es sind die üblen Folgen der Negativauslese in der Beamtenschaft, des leeren, politischen Geschwätzes und der Missachtung von Tatsachen, die üblen Folgen des Verbots, die Wahrheit auszusprechen, die Verhinderung der Medien, den wahren Sachverhalt zu berichten, die wir jetzt auszubaden haben.»[3]
Die Behörden lassen die Autorin gewähren. Zwar werden ihre Einträge regelmäßig gelöscht. Aber sie kann weiterschreiben. Fang Fang berichtet über das Leben der eingeschlossenen Familien, die Sorgen um die Erkrankten und die Trauer um die Toten. Sie schildert den Heroismus der Ärzte und der Pflegerinnen, die Hilfsbereitschaft der Nachbarn und Freunde. Sie lobt die Behörden, wo sie es verdienen, und kritisiert sie, wo sie versagen. Als «Gewissen von Wuhan» wird sie zur Stimme einer 76 Tage lang von der Welt abgeschirmten Stadt, in der sich neun Millionen Menschen befinden. Die Stimmung schlägt um, als Fang Fangs Aufzeichnungen übersetzt werden und im Ausland als Buch erscheinen. Da wird die Schriftstellerin zur «Verräterin», die ihr Land vor der Welt bloßstelle und dessen Gegner munitioniere. Patriotismus kippt in China heute schnell um in galligen Nationalismus, es bedarf dafür keines bedeutsamen Anlasses und keiner Scharfmacher aus der Partei.
Im Andenken an den Arzt Li Wenliang, der frühzeitig vor dem neuartigen Coronavirus warnte, legen Menschen Blumen vor dem Zentralkrankenhaus Wuhan ab.
Am 7. Februar stirbt Li Wenliang. Der Augenarzt, der sich im Zentralkrankenhaus von Wuhan mit dem Virus ansteckte, wird nur 34 Jahre alt. Sein Tod löst im ganzen Land Bestürzung aus. Selbst die Behörden, die ihn eben noch zum Schweigen brachten, erklären ihn nun zum Volkshelden und entschuldigen sich offiziell bei seiner Familie. Mit seinem mutigen Handeln hat er ein Zeichen gesetzt, für das ihm die Menschen nun auf anrührende Weise ihren Dank abstatten. Das Internet wird zur Klagemauer. Viele tausend Zuschriften sammeln sich auf der Kommentarfunktion zu Li Wenliangs letztem Post bei Weibo vom 1. Februar. Er lautet: «Der Test heute war positiv.» In ihrer Traurigkeit wenden sich die Schreibenden über Wochen hinweg direkt an den Verstorbenen. «Dr. Li, wie ist es im Himmel?» – «Dr. Li, die Kirschbäume blühen.» – «Dr. Li, ich habe mich in ein Mädchen verliebt.» – «Dr. Li, meine Katze ist heute gestorben.» – «Der Tag wird kommen, an dem die Menschen den Untersuchungsbericht über Sie umschreiben werden.» – «Dr. Li, der Lockdown in Wuhan ist vorbei. Er ist vorbei!»[4]
Zur Trauer kommt der Zorn. Im Netz entlädt sich einige Tage lang die Wut auf die Partei. Die Menschen sind der Lügen überdrüssig. Den Ärzten, den Schwestern und Pflegern, die bis zur Erschöpfung arbeiten, sind sie von Herzen dankbar. Aber den Kadern zeigen sie ihre Verachtung. Als die stellvertretende Ministerpräsidentin Sun Chunlan die Stadt besucht, schallt es ihr von den Balkonen der Hochhäuser entgegen: «Schwindel, alles Schwindel!»[5]
Ausländische Korrespondenten, die in Wuhan recherchieren, nachdem am 8. April die Abriegelung der Stadt aufgehoben worden ist, finden in ihren Hotelzimmern ein schmales weißes Buch mit dem Titel «Der chinesische Weg». Darin taucht der Name Li Wenliang nicht auf. Wohl aber enthält das Bändchen eine genaue Chronologie der Ereignisse – aus Pekinger Sicht. So heißt es unter dem Datum 24. März über die Aktivitäten von Staats- und Parteichef Xi Jinping: «Xi betonte, die internationale Gemeinschaft erkennt an, dass China im Kampf gegen Covid-19 enorme Opfer gebracht und der Welt damit wertvolle Vorlaufzeit geschenkt hat.»[6] Damit ist der Ton gesetzt für die offizielle Erzählung von der Überlegenheit des chinesischen Systems. Es ist eine Erzählung von verantwortungsvoller politischer Führung und schnellem Handeln, von Selbstlosigkeit und Heroismus: Kein anderes Regierungssystem wäre in der Lage gewesen, sich der Herausforderung so schnell, so diszipliniert und wirkungsvoll zu stellen.[7]
Aber China verlässt sich nicht allein auf Propaganda. Die Führung in Peking weiß, wie sehr der Ausbruch des Virus Chinas Ansehen geschadet hat. Großzügige Hilfe im Ausland soll dieses Bild aufhellen. Und so gehen ganze Flugzeugladungen mit Masken und Schutzanzügen, Beatmungsgeräten und Schnelltestsätzen in alle Welt – nach Europa, Afrika, selbst in die Vereinigten Staaten. Es dient der Reputation Chinas nicht, dass manches, was da geliefert wird, minderwertig oder schadhaft ist und in den Krankenhäusern rasch wieder aus dem Verkehr gezogen werden muss. Andere Hilfsleistungen dagegen sind hochwillkommen. China schickt Ärzte in Länder, die der Epidemie nicht Herr werden und sich von ihren Nachbarn im Stich gelassen fühlen.
China erwartet allerdings eine Gegenleistung, das ist der Kern seiner «Maskendiplomatie»: Die Empfänger sollen ihre Dankbarkeit bezeugen, vor den Kameras und Mikrofonen der Fernsehsender und sozialen Netzwerke. Der Wunsch ist etwas plump und aufdringlich, aber manche Regierung kommt ihm nach, weil sie entweder wirklich dankbar für die Hilfe ist oder weil es ihr opportun erscheint, sich mit China gutzustellen. Niemand macht dabei einen tieferen Diener als der serbische Präsident Aleksandar Vučić, der seinen Dank an Peking mit einer zornigen Attacke auf die EU verbindet. «Europäische Solidarität existiert nicht. Das war ein Märchen auf Papier.» Und so habe er sich an Xi Jinping gewandt, den «lieben Freund» und Bruder – «nicht nur meinen persönlichen, sondern einen Bruder dieses Landes».[8] Auch Italiens Ministerpräsident Giuseppe Conte bedankt sich bei Xi für «die wertvolle Unterstützung und Hilfe Chinas während dieser schwierigen Zeit». Der erwidert, sein Land sei bereit, eine «Seidenstraße der Gesundheit» zu bauen. Ein Jahr zuvor war Italien als erstes G7-Land der «Neuen Seidenstraße» beigetreten, dem von Xi Jinping vorangetriebenen gigantischen Infrastrukturprojekt.[9]
Wird die chinesische Führung ein Opfer der eigenen Propaganda? Man könnte meinen, sie glaube wirklich, die Welt schulde ihr Dank und Anerkennung für den Sieg im «Volkskrieg». Pekings Außenpolitik legt jedenfalls ein erstaunliches Selbstbewusstsein an den Tag. Und ergreift bisweilen sonderbare Initiativen. Roger Roth, der Präsident des Senats im US-Bundesstaat Wisconsin, erhält eine E-Mail des chinesischen Generalkonsuls in Chicago. Daran angehängt ist der Text einer Resolution, die Roth doch bitte im Parlament verabschieden lassen möge. Die Resolution lobt China dafür, wie erfolgreich das Land mit dem Coronavirus fertig geworden sei. Ein Witz? Nein, der Absender meint es ernst. Er hat offenbar nicht bedacht, dass Roth ein knochenharter Republikaner ist, Ex-Militär und Veteran des Irakkrieges, der die Kommunistische Partei Chinas von ganzem Herzen hasst. Die Resolution, die Roger Roth dann tatsächlich im Senat von Wisconsin zur Abstimmung stellen lässt, wirft der KP Chinas vor, die Welt absichtlich über das «Wuhan-Coronavirus» getäuscht zu haben. So kann es gehen.[10]
In diesen Krisenmonaten tritt ein neuer Typus des chinesischen Diplomaten in das Licht der Öffentlichkeit. Niemand verkörpert ihn besser als Zhao Lijian, einer der drei Sprecher des chinesischen Außenministeriums, der zuvor an der Botschaft seines Landes in Pakistan tätig war. Zhao stellt auf Twitter die These zur Diskussion, möglicherweise hätten amerikanische Soldaten das Virus eingeschleppt, als sie im Oktober 2019 an den Weltspielen der Militärs in Wuhan teilnahmen. Der chinesische Botschafter in Washington nennt diese Mutmaßung «verrückt». Aber das Außenministerium in Peking ruft seinen Sprecher nicht zur Ordnung. So wie es auch die chinesische Botschaft in Paris nicht stoppt. Die hatte auf ihrer Website französische Altenpfleger beschuldigt, sie hätten ihren Arbeitsplatz verlassen und die ihnen anvertrauten Menschen «an Hunger und Krankheit sterben» lassen.
Das Ministerium lässt auch den Botschafter in Canberra gewähren. Australiens Regierung hatte eine internationale, unabhängige Untersuchung des Ursprungs der Pandemie verlangt. Daraufhin droht Chinas Vertreter Cheng Jingye mit einem Wirtschaftsembargo. «Normale Bürger könnten fragen: Warum sollen wir australischen Wein trinken? Warum australisches Rindfleisch essen?» Touristen und Studenten könnten überlegen, ob Australien noch das richtige Ziel für sie sei. Hu Xijin, der immer auf Krawall gestimmte Chefredakteur des Parteiblatts Global Times, heizt die Stimmung auf seine Art an: «Australien macht immer nur Ärger. Ich finde, es ist ein bisschen wie Kaugummi, das an Chinas Schuhsohlen klebt. Manchmal braucht man einen Stein, um es abzukratzen.»[11]
Erpressen und beleidigen lässt man sich in Canberra nicht so gern. Schon vorher hatte in der australischen Politik eine Debatte begonnen, ob die Abhängigkeit von China, des mit Abstand wichtigsten Handelspartners, nicht allmählich zu groß geworden war. Im Jahr 2019 kaufte China Waren für 87 Milliarden US-Dollar in Australien ein – das entsprach gut einem Drittel aller australischen Ausfuhren, mehr als das Land nach Japan, Südkorea und in die Vereinigten Staaten zusammen exportierte. Hinzu kommt, dass sich rund 150.000 chinesische Studenten an Australiens Hochschulen eingeschrieben haben und mit Studiengebühren von rund zwölf Milliarden US-Dollar ein bedeutender Wirtschaftsfaktor geworden sind. Auf all dies will man nicht verzichten. Aber auf die Androhung ökonomischen Zwangs reagieren die Australier allergisch.
Die Regierung in Peking kümmerte dies wenig. Gesten der Einsicht oder gar der Demut waren von ihr nicht zu erwarten, auch nicht im Jahr der Coronakrise. Im Gegenteil, China trat herrisch und anmaßend auf. Seine Botschafter schienen genau zu wissen, welcher Ton von ihnen erwartet wurde, wenn ihre Gastgeberländer China nicht mit der gebührenden Hochachtung begegneten. Und so traten sie dann auf. Als «Wolf Warriors» wurden die forschen Diplomaten daheim gerühmt, so benannt nach zwei Rambo-Filmen aus den Jahren 2015 und 2017, in denen chinesische Spezialeinheiten gegen westliche Söldnertrupps kämpfen. Motto: Wer sich mit China anlegt, muss dafür zahlen.
Noch hässlicher war der Rassismus, wie er sich nach Ausbruch der Krise in der südlichen Metropole Guangzhou zeigte. Dort lebende Afrikaner wurden aus ihren Wohnungen und Hotelzimmern geworfen und mussten auf der Straße schlafen, weil sie angeblich Träger des Virus waren. Der Außenminister Ghanas beklagte die «unmenschliche Behandlung» der Afrikaner in China. Und eine Gruppe afrikanischer Botschafter in Peking verurteilte in einem Brief an das Außenministerium die «Stigmatisierung und Diskriminierung» ihrer Bürger.[12] Die fremdenfeindlichen Übergriffe standen in krassem Gegensatz zum Bild des großherzigen Helfers, um das sich China in Afrika bemüht. Immerhin haben die Finanzinstitute des Landes, darunter die Chinesische Entwicklungsbank, zwischen 2000 und 2018 Darlehen in Höhe von 152 Milliarden US-Dollar an 48 afrikanische Staaten gegeben. Um Afrika wirbt China auch mit gewaltigen Bauprojekten im Rahmen der «Neuen Seidenstraße». Doch in der Coronakrise gewann es dort keine neuen Freunde.
Die außenpolitischen Folgen der Krise waren für China gravierend. Vor allem die Spannungen mit den Vereinigten Staaten nahmen noch einmal dramatisch zu. Donald Trump, der beim Kampf gegen Covid-19 vollkommen versagte, versuchte seine Unfähigkeit zu kaschieren, indem er China zum Alleinschuldigen an der Pandemie erklärte. Beharrlich sprach er vom «chinesischen Virus», das an der Quelle hätte gestoppt werden müssen. Nun hat die Führung in Peking den Ausbruch der Krankheit tatsächlich verschleiert. Aber dann hat sie deren Ausbreitung im eigenen Land umso entschiedener bekämpft – mit Methoden, die so im Westen nicht möglich wären. Jeder noch so kleine Infektionsherd wurde mit einem harten Lockdown eingedämmt. Und es hat funktioniert: Schon im Frühjahr 2020 wurden kaum noch neue Erkrankungen gemeldet. In den USA hingegen geriet Covid-19 völlig außer Kontrolle. Im Herbst hatten sich schon rund zwölf Millionen Menschen mit dem Virus angesteckt, 250.000 Erkrankte waren gestorben. Eine Tragödie. Auf die Trump aber nicht mit Einsicht reagierte, sondern mit immer neuen Attacken gegen China. Pekings Politik bot ihm dafür, ganz unabhängig von der Coronakrise, genügend Anlässe.
Beispiel Südchinesisches Meer. Als Reaktion auf Chinas aggressives militärisches Ausgreifen dort erhöhte die US-Navy die Zahl ihrer «Freedom-of-Navigation-Operations». Im Sommer 2020 schickte sie gleich zwei Flugzeugträger in das von China beanspruchte Seegebiet, durch das etwa ein Drittel des weltweiten Seehandels geht. Die Regierung in Washington wollte demonstrieren: Wenn es um die Freiheit der internationalen Schifffahrt geht, scheuen wir die Konfrontation mit Peking nicht. Schon gar nicht akzeptieren wir Chinas Anspruch auf Souveränität über das Südchinesische Meer und seine Bodenschätze. Diesen Anspruch hatte im Jahr 2016 bereits der Ständige Schiedshof in Den Haag zurückgewiesen. Verhielten sich die USA im Gebietsstreit zwischen China und seinen südostasiatischen Nachbarn wie Vietnam oder den Philippinen viele Jahre neutral, so bezog Außenminister Mike Pompeo im Juli 2020 eindeutig Position: Die Ansprüche Chinas seien «vollkommen rechtswidrig». Die Welt werde nicht dulden, dass «Peking das Südchinesische Meer wie sein maritimes Empire behandelt».
Beispiel Xinjiang. Aus Protest gegen die Unterdrückung muslimischer Minderheiten in der autonomen Region im Nordwesten Chinas verhängten die USA Sanktionen gegen hohe Parteifunktionäre, unter ihnen Xinjiangs KP-Chef Chen Quanguo. Peking antwortete darauf mit einem Einreiseverbot für amerikanische Parlamentarier, darunter die beiden republikanischen Senatoren Marco Rubio und Ted Cruz. Das US-Handelsministerium wiederum setzte elf chinesische Unternehmen, denen es Zwangsarbeit und andere Menschenrechtsverletzungen vorwarf, auf eine schwarze Liste. Unter den Firmen waren Textilfabriken, aber auch Zulieferer von IT-Giganten wie Apple, Amazon und Microsoft.
Beispiel Hongkong. Am 30. Juni 2020 trat in der ehemaligen britischen Kronkolonie das neue «Nationale Sicherheitsgesetz» in Kraft. Faktisch endete damit der seit 1997 geltende Autonomiestatus der Stadt, mit dem Prinzip «Ein Land, zwei Systeme» war es nun vorbei. Denn das Gesetz erstickt mit seinen Strafandrohungen wegen Sezessionismus, Terrorismus, Subversion und Zusammenarbeit mit fremden Mächten jede Opposition. Der Ruf nach Unabhängigkeit der Stadt kann als sezessionistischer Akt mit lebenslanger Haft bestraft werden.
Als Antwort auf das Sicherheitsgesetz hob die amerikanische Regierung die Handelsprivilegien auf, die Hongkong bis dahin genoss. Die Stadt werde nun als «ein Teil Chinas» betrachtet und auch so behandelt, sagte Präsident Trump zur Begründung. Wenig später verhängte das US-Finanzministerium Sanktionen gegen elf führende Repräsentanten Hongkongs. Zu ihnen gehörten Regierungschefin Carrie Lam, der Polizeipräsident und sein Vorgänger. Ihr Vermögen in den USA, soweit vorhanden, wurde gesperrt, sie durften nicht mehr in die Vereinigten Staaten einreisen. Die Sanktionen trafen auch Pekings höchsten Vertreter in der Stadt, Luo Huining. «Die Vereinigten Staaten stehen auf Seiten des Volkes in Hongkong», sagte US-Finanzminister Steven Mnuchin, «und wir werden unsere Mittel und unsere Befugnisse einsetzen, um jene zu treffen, die seine Autonomie unterminieren.»
Beispiel Huawei. Mit immer neuen Sanktionsbeschlüssen verschärfte die Regierung Trump ihre Kampagne gegen den Handyhersteller und Netzwerkausrüster. Mit aller Härte forderte sie von Amerikas Verbündeten, den Technologiekonzern aus Shenzhen vom Bau des superschnellen Mobilfunknetzes 5G auszuschließen. Huawei beteilige sich nicht nur an der Überwachung der Bevölkerung in China; wegen der Nähe des Unternehmens zur KP und zu den chinesischen Sicherheitsbehörden gehe von ihm auch eine Bedrohung durch Spionage und Sabotage aus. In den USA bekam Huawei schon lange keine öffentlichen Aufträge mehr.
Nach Huawei nahm Trump die Video-App Tiktok und das soziale Netzwerk WeChat ins Visier. Beide, argumentierte er, lieferten die Daten amerikanischer Bürger in die Volksrepublik. Deshalb wollte Trump sie in den Vereinigten Staaten verbieten lassen, es sei denn, amerikanische Unternehmen kauften sie auf.
Die Nerven lagen blank zwischen Washington und Peking. Es ging nun Schlag auf Schlag. Chinesische Studenten mit Verbindungen zur Volksbefreiungsarmee durften nicht mehr in die USA einreisen. Wissenschaftler mit Nähe zur VBA, die in den USA arbeiteten, wurden festgenommen und des Landes verwiesen. Chinesischen Journalisten wurde die Aufenthaltsdauer gekürzt. Diplomaten wurde das Gepäck durchwühlt. Trauriger Höhepunkt des immer giftigeren Konflikts war die Schließung des chinesischen Generalkonsulats in Houston. Innerhalb von 72 Stunden mussten die Mitarbeiter das Land verlassen. Man habe die diplomatische Vertretung geschlossen, erklärte das State Department, «um amerikanisches geistiges Eigentum und private Informationen zu schützen». Dahinter verbarg sich der Vorwurf der Wirtschaftsspionage, etwa das Ausspähen moderner medizinischer Zentren im Großraum Houston. Im Gegenzug schloss China das amerikanische Generalkonsulat in Chengdu und beraubte die USA damit eines wertvollen Beobachtungspostens für die Unruheregionen Xinjiang und Tibet.
Langfristig am bedrohlichsten für das Verhältnis der beiden Mächte aber war die demonstrative Hinwendung Washingtons zum alten Verbündeten Taiwan. Im Jahr 1979, als die USA diplomatische Beziehungen zur Volksrepublik aufnahmen, hatten sie die offiziellen Verbindungen zu Taiwan gekappt. An der von Peking geforderten und von Washington seit einem halben Jahrhundert akzeptierten «Ein-China-Politik» sollte sich zwar nichts ändern. Aber Taiwans vorbildliches Verhalten in der Coronakrise trug der Inselrepublik in Washington neue Sympathien ein.
Nicht nur in Washington. Während sich das Bild Chinas in der Krise verdüsterte, hellte sich das Image Taiwans auf. Noch vor den Behörden auf dem Festland hatte die Regierung in Taipei am 31. Dezember 2019 bei der WHO Alarm geschlagen. Dabei gehört Taiwan der WHO gar nicht an. Auf Verlangen Pekings hat die Weltgesundheitsorganisation die Insel ausgeschlossen. In den Jahren 2009 bis 2016, als in Taipei die um ein gutes Einvernehmen mit Peking bemühte Kuomintang die Regierung stellte, durfte Taiwan zumindest an der jährlichen Weltgesundheitsversammlung teilnehmen. Aber auch damit war es vorbei, als die nach Eigenständigkeit strebende Demokratische Fortschrittspartei unter Präsidentin Tsai Ing-wen 2016 wieder die Macht übernahm.
Taiwan konnte die Zahl der Corona-Kranken auf sehr niedrigem Niveau halten. Zur Eindämmung des Virus bedurfte es keines diktatorischen Machtapparats. Disziplin und Transparenz erwiesen sich als ebenso erfolgreicher Weg. Aus aller Welt gab es für die Regierung in Taipei viel Lob. Aber keine Regierung wollte sich mit Solidarität und Sympathie für Taiwan zu weit hervorwagen und den Zorn Pekings auf sich ziehen. Nur die USA lobten bei jeder Gelegenheit das Krisenmanagement der Insel. Im August 2020 schickte die Regierung Trump sogar Gesundheitsminister Alex Azar nach Taipei. Er war der ranghöchste Besucher aus Washington seit Abbruch der diplomatischen Beziehungen 1979. Peking ließ sich von seiner Visite nicht aus der Reserve locken, aber ein kleines, nicht zu übersehendes Zeichen setzte die chinesische Führung doch. Gleich am ersten Tag des Besuchs von Azar stiegen Kampfbomber auf und überquerten die Mittellinie in der Straße von Taiwan, die beide Seiten als faktische, nicht zu überquerende Meeresgrenze akzeptieren. Nur für einen Moment flogen die Militärjets durch die ihnen verbotene Zone, aber lange genug, um Chinas Machtanspruch zu dokumentieren.[13]
Obwohl Pekings Machthaber die Epidemie viel schneller in den Griff bekamen als viele andere Regierungen, war das Jahr 2020 außenpolitisch für China ein Debakel. Der Druck aus Washington offenbarte die Verwundbarkeit des Landes. Trump trieb die Führung in Peking regelrecht vor sich her. Die reagierte konsterniert. Sie wollte nicht nachgeben, aber auch nicht mit gleicher Münze heimzahlen, weil sie die Folgen einer stetig eskalierenden Konfrontation mit der Supermacht fürchtete.
Es blieb nicht beim Konflikt mit Amerika allein. Als suchte Chinas Führung den Streit, legte sie sich während der Coronakrise mit der halben Welt an. Im Juni 2020 starben bei einem Grenzgefecht in der Himalaya-Region Ladakh zwanzig indische Soldaten; die Zahl der Toten auf chinesischer Seite blieb unbekannt. Indiens Regierung reagierte auf den Zwischenfall mit dem Verbot von 59 chinesischen Apps, darunter auch die bei indischen Jugendlichen äußerst beliebte Tiktok-App. Premierminister Narendra Modi schloss chinesische Firmen von Regierungsaufträgen aus. Und er erhöhte die Zahl der Truppen in der umstrittenen Grenzregion um 30.000 Soldaten. «Unser Blick auf China hat sich grundlegend verändert», sagte ein früherer Botschafters Delhis in Peking.[14]
Auch zwischen Australien und China nahmen die Spannungen weiter zu. Aus den Drohungen des chinesischen Botschafters in Canberra wurden konkrete Verbote und Zollerhöhungen beim Import von Wein, Gerste und Rindfleisch. Australiens Premierminister Scott Morrison, der sich im Streit mit China rückhaltlos auf die Seite Amerikas stellte, sagte in einer Rede, sein Land müsse sich auf eine Welt nach Corona vorbereiten, «die ärmer ist, gefährlicher und ungeordneter». Höhere Verteidigungsausgaben seien unvermeidlich.
Mit Japan gab es neuen Ärger um die zwischen beiden Ländern umstrittenen Senkaku-Inseln (chinesisch: Diaoyu). Vietnam war empört über die Versenkung eines Fischerboots durch die chinesische Küstenwache. Großbritannien gab dem Wunsch Washingtons nach und lehnte eine Beteiligung von Huawei am Aufbau seines 5G-Netzes ab. Dem Beispiel Londons folgten nach Besuchen von US-Außenminister Mike Pompeo auch Kopenhagen, Prag und Warschau. Schließlich musste wegen der Epidemie auch ein Gipfel der europäischen Staats- und Regierungschefs mit Xi Jinping abgesagt werden, der unter deutscher Präsidentschaft in Leipzig geplant war. Als Ersatz gab es eine zweistündige Videokonferenz Xi Jinpings mit Bundeskanzlerin Angela Merkel, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel.
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