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Internet über www.dnb.de abrufbar.
1. Auflage 2020
© 2020 Gregor Geißmann und Michael Feuser
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
Umschlagmotiv: »Die Sonne behütet die Blüte«, Wet-on-Wet Watercolour,
Cäcilie Müller, Ahrensburg 2018
Gesetzt in EB Garamond, © 2017 The EB Garamond Project Authors, licensed
under the SIL Open Font License, Version 1.1.
ISBN: 978-3-7534-0942-9
Spiritualität ist vor allem die praktische Hinwendung
zur immerwährenden Präsenz des »Offensichtlichen«
Was passiert, wenn zwei Weggefährten fast zwanzig Jahre lang ihre spirituelle Reise in ein und demselben Boot unternehmen und sich erst dann wirklich begegnen? Sie schreiben ein Buch. Das wird dich jetzt nicht sonderlich überraschen, denn du liest es gerade. Aber wie konnte es zu dieser zeitverzögerten Begegnung und dem Resultat in Form einer literarischen Überreaktion kommen?
Das »Boot« der gemeinsamen Reise mit unbekanntem Ziel war ein spirituelles Gesprächsforum, das Gregor um das Jahr 2000 herum einrichtete. Michael entdeckte es etwa ein Jahr später. Zur Registrierung waren lediglich ein selbstgewählter Nutzername und eine E-Mail-Adresse erforderlich, denn es wurden spirituelle Themen diskutiert, die Teilnehmer standen nicht im Vordergrund und blieben weitgehend anonym. Und so ist es auch heute noch.
Michael nannte sich zunächst sinnigerweise »Micha«, meldete sich nach ein paar Jahren aus dem Forum ab und schrieb noch eine Weile als »Gast« weiter. Weil er nicht der einzige Gast war, wurde er automatisch von der wenig kreativen Intelligenz des Forumsprogramms in »Gast online« umgetauft. Wie herzlos und unästhetisch! Aus »Gast online« machte Michael kurzerhand »Gaston«, und die Mitglieder erfreuten sich an einem vermeintlich neuen Stern am Austauschhimmel. Vermutlich jemand mit französischen Wurzeln!
Im Jahre 2013 tauchte unser falscher Franzose plötzlich wieder als registrierter Nutzer auf, diesmal als »Michael*« (für die jüngeren Leser: Nein, nein, das Sternchen war keine genderspezifische Hervorhebung – es wird euch vielleicht überraschen, aber die gab es damals noch gar nicht. Es war einfach nur notwendig, weil es schon einen »Michael« gab. Beide übrigens nach eigenem Bekunden männlich). Ende 2017 schrieb »Michael*« seinen vorläufig letzten Beitrag. Wir gehen mal davon aus, dass dein Interesse daran, dass er sich inzwischen wieder im Forum zurückgemeldet hat, eher gering ist. Lassen wir diesen Umstand deshalb unerwähnt.
Solltest du, lieber Leser, jetzt mangels einer erkennbaren Zielrichtung des bisher Gesagten in Versuchung kommen, eine Ode an die Harmonie des Austausches zweier Weggefährten komponieren zu wollen, sagen wir mit leisem Lächeln: »Nun ja, hab’ Dank für die Idee, aber – « ... drücken wir es so aus: Es gab in der Tat auch mal Übereinstimmungen zwischen uns.
Im Rahmen einer Online-Veranstaltung Anfang 2020 war es dann schlagartig vorbei mit der Anonymität: Micha/Gaston/Michael* entdeckte Gregor auf dem Bildschirm und sprach ihn an. Die leicht irritierten restlichen vierzig Teilnehmer der Veranstaltung wurden Zeuge eines Dialogs, der in die Geschichte eingehen wird:
»Hi Gregor, ich bin Michael aus dem Forum!«
»Mit oder ohne Sternchen?«
Nach und nach kristallisierte sich die ganze Geschichte heraus – und könnte an dieser Stelle beendet sein. Schön, haben sich zwei Jungs, die sich eigentlich nach landläufiger Meinung bis dato gar nicht wirklich kannten, in 2D am Bildschirm getroffen. Hollywood würde das Drehbuch gähnend ablehnen.
Das »Boot« der gemeinsamen Reise ist jedoch kein Kreuzfahrtschiff mit anonymen Urlaubsbekanntschaften, sondern ein spirituelles Forum. Alle Meinungsverschiedenheiten hatten daher nicht verhindern können, dass jeder den anderen ein ganzes Stück weit in »seine Welt« hineingelassen hatte. Mehr noch: In all den Jahren hatten sie sich aufeinander zubewegt – ohne dass es einem von beiden bewusst gewesen wäre. Es war die ganze »Reise« über um den ewigen Moment der Begegnung gegangen, der im Strom der Zeit auf sie gewartet hatte, um sie jetzt auf höchst originelle Weise über das zu belehren, was zwanzig Jahre lang zwischen ihnen »diskutiert« worden war: die »wirkliche Welt«, das EINE ohne ein Zweites ... die WAHRHEIT ohne ein Gegenteil.
In einem kurzen Mailaustausch im Anschluss an die Online-Veranstaltung stellten beide schnell fest: Der andere hat etwas ganz Spezielles zu sagen. Jeder hatte sein Thema oder eine bestimmte Idee. So komplett unterschiedlich diese Themen waren, so schienen sie sich auf magische Art zu ergänzen. Für einen Augenblick des Einverständnisses funkelte bei beiden die Antwort auf die Frage auf, wie spirituelle Konzepte und direkte Erfahrungen ineinandergehen. So entstand die abwegige und völlig absurde Idee: »Wir schreiben ein Buch!«Worüber eigentlich genau? »Das wird sich zeigen.«
So begann das Schreiben. Mit wirklichen Absprachen hielten sie sich nicht auf. Der ganze Vorgang erinnerte an die Herstellung eines Sandmandalas: Sie fingen einfach an, und da war immer die Bereitschaft, am Ende alles wieder vom Tisch zu wischen, wenn es sich nicht zusammenfügen sollte. Denn beide Autoren hatten außer ihren verschiedenen Schwerpunkten und Themen zu allem Überfluss auch noch höchst unterschiedliche Schreibstile. Unwahrscheinlich, dass am Ende wirklich alles passen würde.
Der eine interessierte sich für die Phasen des spirituellen Weges, vom »Macher« zum ... ja, wohin geht die Reise eigentlich? Was geschieht auf dem Weg, der sich letztlich als Weg ohne Entfernung herausstellt, als Reise zu einem Ziel, das du nie verlassen hast? Bei der dennoch jeder Schritt, jede Übung, jedes Streben, jede »Aktivität« des Machers notwendig ist – aber eben nicht hinreichend? Bis das Lernen zu einer einfachen Einsicht führt: Es gibt nichts zu tun – mit einer einzigen Ausnahme, nämlich sich nicht einzumischen. Und dann?
Der andere hatte sich eine Lernsituation »ausgesucht«, die tief ins Herz jeder spirituellen Praxis mündet. Vielleicht kann man den Lehrplan ganz allgemein so formulieren: Wenn der Geist in dieser Welt der Gegensätze, der Anfänge und Enden, des Lebens und des Todes, die EINE WIRKLICHKEIT, die kein Gegenteil hat, repräsentiert – wie gehe ich dann mit dem Weg der Zerstörung um, den der Geist doch offensichtlich zu gehen scheint? Klingt das zu realitätsfern, abgehoben oder akademisch? Dann ersetze den erwähnten Weg der Zerstörung durch das bekannte Wort »Demenz« und stelle dir vor, du hättest täglich die Gelegenheit, deine »spirituellen Turnübungen« an deinem vermeintlich »kranken Gegenüber« anzuwenden.
Nach rund drei Monaten des Schreibens warfen sie im Vertrauen auf ihr anfängliches Empfinden, dass sich da etwas ergänzen wollte, ihre Elaborate zusammen und kamen zu dem verblüffenden Schluss: Erstaunlich, es passt tatsächlich! Anschließend entstand zusätzlich ein nicht geplanter Übungsteil, und die Entscheidung wurde getroffen, das Buch in drei Teile aufzuteilen.
*
Wir beginnen mit den »spirituellen Karrieren« (im weitesten Sinne) der beiden Autoren (»Werdegang«, kein eigenständiger Teil), um als Nächstes die erforderlichen Leitplanken des nicht existenten Weges zu beschreiben (»Teil I: Der Weg«).
»Teil II: Der Bruder« macht dich weiter mit »Herrn Q.« vertraut, der dir im entsprechenden »Werdegang« bereits vorgestellt wird und der dich vielleicht sogar durch diesen Teil führen wird. Denn »der Bruder« ist das Mittel, das dir zeigt, wer du in WIRKLICHKEIT bist. Der »demente Bruder« ist in diesem Sinne etwas ganz Besonderes: Er räumt die Hirngespinste aus, die du mit dem Begriff »Demenz« verbindest und zeigt dir, was wahre Heilung ist.
Moment! Bruder? Über diesen Begriff bist du ja schon im Buchtitel gestolpert. Hat er dich seltsam berührt, dir Rätsel aufgegeben, dich in die Irre geführt? Schnall dich schon mal an, die Begrifflichkeiten in diesem Buch könnten dir noch an weiteren Stellen ungewohnt vorkommen. Das liegt zum einen daran, dass Spiritualität unsere gewohnten Ansichten und die damit verbundenen Begriffe, Symbole und Namen in Frage stellt. Und zum anderen liegt es an den speziellen »Leitplanken«, welche den beiden Autoren als Orientierung dienen. Denn beide sind vor vielen Jahren bei dem spirituellen Werk »Ein Kurs in Wundern« gelandet und haben für sich festgestellt: Wenn es denn eines Rahmens, eines Konzeptes bedarf, dann holen wir nicht den alten Chemiebaukasten raus und basteln uns ein eigenes Modell auf Basis der einen universellen Erfahrung, sondern lehnen uns weiterhin an das an, was vor vielen Jahren Resonanz erzeugt hat – weil es die scheinbaren Widersprüchlichkeiten der Non-Dualität auflöst und seinen Zweck erfüllt: den Verstand zu befriedigen, damit er sich letztlich aus dem virtuellen Weg heraushält.
Und da kommt auch der Begriff des Bruders her. Nimm ihn zunächst einfach als »Idee des Ungetrenntseins«: Er bezeichnet jeden, dem du begegnest, gestern, heute oder morgen, unabhängig vom Zeitpunkt und unabhängig vom Ort. Ach, und was ist mit den Schwestern? Oder den Weder-Schwestern-noch-Brüdern? In der Idee des Ungetrenntseins sind das alles deine »Brüder«.
Bekommst du nun Bauchschmerzen und suchst schon nach der geeigneten Wand, an der dieses Buch gleich landen wird? Dann ist das die erste Übung, die wir dir in diesem Buch anbieten. Denn es geht um das EINE ohne ein Zweites. Da ist kein Platz für zeitgeistkonforme Differenzierung auf der Ebene der Symbole und Namen. Die erste Übung lautet daher: Wirf nicht das Buch, sondern deine Urteile an die Wand und lies einfach weiter! Gib dir eine Chance.
Dies ist jedoch kein Buch über »Ein Kurs in Wundern«. Es richtet sich auch nicht speziell an Anhänger von »Ein Kurs in Wundern«. Du brauchst über dieses spirituelle Werk nichts zu wissen, um hier weiterzulesen. Wir setzen nichts voraus und wir empfehlen nichts. Dieses Buch befasst sich nicht mit einer universellen »Theorie der Wirklichkeit«. Die Theorie ist nur Mittel zum Zweck. Der Zweck heißt universelle Erfahrung, eingebettet in ein möglicherweise hilfreiches Rahmenwerk.
So kommen wir zum dritten Teil des Buches mit dem Titel »Die Übung«. Spiritualität erschließt sich nicht in eingängigen Theorien, sondern erst in der Anwendung von Theorien. Oder in »kontextfreier« spiritueller Praxis. Oder in einer Mischung aus beidem. Da bietet das Übungsbuch ein paar hilfreiche Schritte an, um die Perspektive zu wechseln. Denn genau darum geht es: Erleuchtung, Erwachen, ein Frieden, der das Verständnis übersteigt, sind »nichts weiter« als eine andere Sichtweise.
Wie du das Buch zu lesen hast, schreiben wir dir selbstverständlich nicht vor. Wir empfehlen noch nicht einmal eine Vorgehensweise. Du wirst es wissen. Genau so, wie du wusstest, dass du das Buch wenigstens einmal aufschlagen wolltest. Und falls du tatsächlich irgendwie deinen Weg vom vorderen zum hinteren Buchdeckel finden solltest, dann lass von dir hören und erzähl uns davon. Wir würden uns jedenfalls sehr darüber freuen.
Ach du liebe Zeit, ist das schon fast sechzig Jahre her, dass ich regelmäßig am Sonntagmorgen in die Kirche gepilgert wurde? In die katholische, versteht sich. Als Kind fragte ich mal meine Mutter, warum denn circa fünfhundert Meter entfernt von unserer Kathedrale in Bulmke-Hüllen eine weitere gebaut werde. Sie sagte, die sei für die Leute mit dem falschen Gebetbuch. Nun gut. Das hat mich nicht daran gehindert, später eine Frau mit falschem Gebetbuch zu heiraten – und wegen der steuerlichen Strukturen sogar seit vielen Jahren evangelische Kirchensteuer zu zahlen! Ich betrachte das als meinen Beitrag zur Vergebung.
Mir kommt öfter zu Ohren, unsere Kultur sei stark durch die Aufklärung geprägt, weniger durch das Christentum. Das ist Quatsch. Es verkennt die Macht der Symbole. Und es täuscht darüber hinweg, welchen enormen Einfluss das Menschen- und Weltbild des uns umgebenden Christentums auf unser alltägliches Denken hat. Das ist völlig unabhängig davon, dass mittlerweile kaum die Hälfte der Deutschen der Religion eine nennenswerte Bedeutung zumisst. Zu dieser Hälfte gehöre ich übrigens auch. Aber vermutlich aus anderen Gründen, als du annimmst.
Wenn ich so zurückdenke, glaube ich allerdings, meine Kultur ist doch eher von Streuselkuchen geprägt. Denn den holte mein Bruder jeden Sonntagmorgen vom Bäcker. Einen ganzen, der dann in seiner beeindruckenden Rundheit beim Frühstück zu viert auf magische Weise ohne jeden Krümelrest verschwand.
Und dann ging es in die Kirche: die weiblichen Kirchgänger in die linke Bankreihe, die männlichen in die rechte. Mein Bruder hat mir eines Tages erklärt, warum nahe des Eingangs so viele Männer stünden. Die brächten ihre Holden in die Kirche, sagte er, wo man sich zwangsweise trenne. Sobald der Gottesdienst begann, ginge es wieder hinaus und gegenüber zur »Andacht« bei Pastor Pils. Ist dir schon mal aufgefallen, dass gefühlt bei jeder Kirche eine Kneipe angesiedelt ist? Die sonntagmorgens gut besucht ist?
Selbstverständlich nahm ich am Religionsunterricht teil. Während der Zeit auf der Penne, ’tschuldigung, auf dem Gymnasium, war ich sogar in einer Jugendgruppe, in der man auch über religiöse Themen fachsimpelte. Dieses »Fachsimpeln« war genau auf meiner Rille. Die Gottesbeweise eines René Descartes oder Anselm von Canterbury kann ich vermutlich heute noch ohne Google rekapitulieren.
Das liegt wahrscheinlich auch daran, dass jedes »Selbstkonzept« (vulgo: Ego) quasi einen Grundstein, ein Fundament hat, auf dem es aufbaut. Es ist so eine Art »spezifisches Grundbedürfnis«. Das »Ich«, das sich mit diesem Konzept identifiziert, geht nun davon aus, es sei für das Glücklichsein notwendig, das Grundbedürfnis zu befriedigen. Es kann jedoch auch bedeuten, dass »Ich« mir nicht erlaube, glücklich zu sein, wenn das Grundbedürfnis nicht befriedigt wird. Ich kann davon ein Liedchen singen!
*
Ich war schon in meiner zarten Jugend eine Leseratte. »Taschenlampe unter der Bettdecke« ist für mich kein Klischee, sondern gelebte Erfahrung. »Wissen« wurde zum besagten Grundstein meines Selbstkonzepts. Gab es auf meine Fragen keine befriedigenden Antworten, war Unwohlsein angesagt. Und so wird es dich nicht erstaunen, dass ich mich schon früh auf jede Menge Bücher gestürzt habe, um die »Wahrheit« zu finden.
Diese Bücher hatten allerdings nur sehr wenig mit christlichen Inhalten zu tun.
Es gibt andere Grundsteine oder Fundamente, die zu einer ganz anderen Herangehensweise führen. Der eine stellt »Erfolg« in den Vordergrund, der nächste will unbedingt hilfreich sein und wiederum der nächste hat einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Dann mag jemand auf Pflichterfüllung Wert legen oder durch Besonderheit aus der Masse hervortreten. In jedem von uns stecken alle diese Grundbedürfnisse, aber eines davon ist in der Regel dominierend.
Mein Grundstein trägt die Aufschrift: »Ich weiß Bescheid!« Mein Weg ist der Weg des Wissens. Und so kam es dann zu diesem denkwürdigen und in keiner Weise besonderen Tag in meinem siebzehnten Lebensjahr – als ich, ohne es zu wissen, den Kopf in den Rachen des Löwen steckte.
Es war ein sonniger Tag, kurz zuvor hatte es geregnet ... papperlapapp, das wird hier kein Abenteuerroman! Eine Gruppe aus meiner Schule war bei unserem Religionslehrer zu Hause eingeladen. Und der hatte Bücherregale – ein Traum! Ich saß merkwürdigerweise ganz in der Nähe eines hochinteressanten Regals. Und dort fiel mein Blick auf ein Buch mit dem schönen Titel »Hara: Die Erdmitte des Menschen« von Karlfried Graf Dürckheim. Musste ich haben. Keine Ahnung, warum.
So begann der Weg zu den »Weisheiten« des Ostens, genauer: zum Zen. Und das zu Anfang der 70er Jahre, als Zen fast so exotisch war wie ein Schneemann im Hochofen. Die Regale in den Buchhandlungen und Büchereien waren zum Thema »Spiritualität« ausgesprochen überschaubar. Ich fand zu Autoren wie Eugen Herrigel, Reinhard Kammer und Horst Hammitzsch, die ihre Erfahrungen mit der japanischen Denkweise im Westen bekannt machten und verbreiteten. Den Schlüssel aber fand ich bei Daisetz Teitaro Suzuki. Sein Büchlein »Die große Befreiung« steht immer noch im Bücherregal, in der Auflage von Februar 1980 – mein Eintauchen in die »Lehre vom Herzen Buddhas«, wie man das Zen auch bezeichnet.
Das war der Rachen des Löwen, der nicht mehr loslässt.
*
Zen hat zweifellos etwas mit Buddhismus zu tun, ist aber nicht Buddhismus. Genauso wenig ist der Buddhismus gleichzusetzen mit Zen. Wie gut für mich! Denn die meisten buddhistischen Lehren sind hoch intellektuell und sehr metaphysisch. Wäre das ein Fest für das Wissen geworden!
Zen ist weder hoch intellektuell noch metaphysisch. Es ist kein System, das auf tiefschürfender Analyse oder stichhaltiger Logik beruht. Es gibt noch nicht einmal feste Lehrmeinungen im Zen. Lehren als solche haben keinen Wert. Es gibt im Zen keine »heiligen Lehren«, im Gegenteil: Man hat manchmal den Eindruck, es ist das besondere Anliegen des »Meisters« oder Lehrers, die heiligen Lehren mit Schwung wegzuwerfen. Zen behauptet von sich, Buddhismus zu sein, sagt aber, dass alle Sutras das Papier nicht Wert sind, auf dem sie geschrieben stehen.
Dieses Verwerfen von Dogmen jeglicher Art faszinierte mich von Anfang an. Da war ein Duft von nicht greifbarer Freiheit, nach all den Glaubenssätzen, die mich bisher begleitet hatten. Die »Einsicht in das eigene Wesen« hatte es mir angetan, Satori, wie es im Zen genannt wird. Oder einfach ausgedrückt: Erleuchtung. Was ich trotz überdeutlicher Hinweise dabei übersehen hatte, ist die Tatsache, dass es sich bei Satori und Erleuchtung nicht um intellektuelles Wissen handelt. Zu dem Zeitpunkt ging es mir jedoch um alternative Antworten – auf vermeintlich intellektuelle Fragen. Hätte ich mich sonst durch den Dürckheim gequält?
Also versuchte ich zu begreifen, was Meister Hakuin meinte, wenn er eine Hand hob und seine Schüler nach dem Geräusch des Klatschens dieser einzelnen Hand fragte. Oder wieso ein Zen-Meister auf die Frage, wie man denn Erleuchtung erlange, antwortete: »Holz hacken und Wasser holen!« Und was soll ich nach der Erleuchtung tun? »Holz hacken und Wasser holen!«
Dann war da Jōshū, der, gefragt nach dem Grundprinzip des Buddhismus, sagte: »Der Zypressenbaum im Hof.« Nicht zu vergessen der kürzlich verstorbene Herbert Feuerstein als Chefredakteur der Kult-Zeitschrift MAD, der in einer Persiflage auf die damalige Fernsehserie »Kung Fu« den kleinen Kwai Chang Caine seinen Meister nach Erleuchtung fragen ließ. Und die klare Antwort erhielt: »Der Mond ist rot, wenn der Adler mit gebrochenen Flügeln fliegt.« Da gibt es in der Tat nur eine Reaktion: »Danke Meister!«
Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich endlich auf die Idee kam, es mal mit einer typischen »Zen-Tätigkeit« zu probieren: Zazen – meditatives Sitzen. Zen-Lehrer gab es nicht in meinem Umfeld, und in dem einen oder anderen Buch fand ich die Behauptung, Zen ohne Zen-Meister sei gar nicht möglich. Aber man muss ja nicht alles glauben, was da so geschriebenwird.
Mit meinen alten religiösen Vorstellungen hatte ich relativ schnell abgeschlossen. Sie hatten einfach den spirituellen Bedarf nicht erfüllt, sie waren nichtssagend geworden. Keine Resonanz mehr.
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Diese Phase dauerte etwa fünfzehn Jahre, bis mehrere Dinge nach und nach zusammentrafen. Im Zen traf ich (literarisch) auf Hugo Makibi Enomiya-Lassalle – Jesuit und Zen-Meister. Was für eine Kombination! Im »richtigen Leben« traf ich auf Channeling: Durchgaben oder von »Geistwesen« diktierte Niederschriften. Ich konnte es kaum glauben, denn dieser Spökenkiekerei war ich bis dahin erfolgreich mit einem abschätzigen Lächeln aus dem Weg gegangen. Motto: Der liebe Gott sieht alles, außer Dallas (für die jüngeren Leser: »Dallas« war eine Seifenoper Ende der 70er bis Anfang der 90er und gehört zu den weltweit erfolgreichsten Fernsehserien).
Wie konnte es nur dazu kommen?! Nun, meine beste Ehefrau von allen (für die jüngeren Leser: Das war ein geflügelter Spruch des erfolgreichen israelischen Satirikers Ephraim Kishon) brachte eines Tages aus der Seniorenresidenz (vulgo: Altenheim), in der sie arbeitete, einige Bücher aus der Grabbelkiste mit. Nach den Auswahlkriterien befragt, antwortete sie: »Die waren am besten erhalten.« Weitere Nachfragen meinerseits sind für den Sachverhalt nicht relevant.
Jedenfalls fand ich darunter ein Buch mit dem schönen Titel »Das ungeschliffene Juwel«. Von Gerda Johst. Die Dame schilderte, wie sie angesichts der weltlichen Gegebenheiten von ihrem Kindheitsglauben an einen gütigen Gott zum Agnostizismus wechselte – Gott wurde ihr schnurzpiepegal. Um eines Tages festzustellen, dass sie medial veranlagt sei und Botschaften von allen möglichen Geistwesen, Engeln und zuletzt von Jesus selbst erhielte. Das Merkwürdige war: Ich las das Buch.
Es folgten weitere Bücher dieses Genres. Ich las sie ebenfalls. Dann kam Jakob Lorber, der Ende des 19. Jahrhunderts eine »innere Stimme« in der Nähe seines Herzens hörte, die ihn zum Schreiben aufforderte. Er ging nicht zum Arzt, sondern identifizierte diese Stimme als »Gnadenstimme des Herrn Jesus Christus« – und schrieb. So machte er ca. 20.000 Manuskriptseiten schwarz. Neben vielen anderen Büchern entstand dabei das »Große Evangelium Johannes« (elf Bände á fünfhundert Seiten), das immer noch meinen Bücherschrank bevölkert. Ich habe es in der Tat komplett einmal durchgelesen.
Ich erinnere mich mit Vergnügen an eine Stelle, als Jesus über die Seele spricht und dass diese sich aus Seelenteilchen zusammensetze. Sie habe sich im Laufe der Jahrtausende vom Mineralreich (»gefrorener Geist«), über das Pflanzenreich und das Tierreich bis zum Menschen entwickelt. Klar doch, es geht hier um Wiedergeburt. Und dann stieß ich auf die köstliche Aussage: »Die Seelen von zwei klugen Hunden ergeben einen dummen Menschen.« Das führe ich jetzt nicht weiter aus.
*
Wie schon gesagt, machte meine »Zen-Schiene« ebenfalls einen erstaunlichen Schwenk zurück zu den Figuren aus der Vergangenheit. Denn der erwähnte Jesuit und Zen-Meister Hugo Makibi Enomiya-Lassalle verband meine alte Welt mit der neuen. Diese Verbindung ist nicht immer konfliktfrei – mit der römisch-katholischen Kirche. Dies durfte beispielsweise Willigis Jäger, Zen-Meister und Benediktiner erleben, der 1969 bei Lassalle mit den Zen-Übungen begann. Zusammen mit Johannes Kopp, Pallottinerpater und Zen-Meister, sowie Niklaus Brantschen, Jesuit und Zen-Meister, bildete er die erste Generation christlicher Zen-Lehrer in Europa.
Was sagt mir das alles? Christliche Symbole, Aussagen und Bilder begegnen uns im näheren und weiteren Umfeld permanent. Begriffe wie Gott, Jesus, Heiliger Geist, Sünde, Buße, Kreuzigung, Auferstehung, Himmel und Hölle sind zumindest geläufig. Das ist unabhängig davon, ob du dich als gläubig bezeichnest, als Agnostiker, dem das alles ziemlich egal ist oder als Atheist, der ablehnt, was sich mit diesen Begriffen verbindet. Niemand, der hier inmitten des christlichen Gedankenguts aufgewachsen ist, kann sagen, dass er nie von Gott, von der Schöpfungsgeschichte oder von Jesus gehört hat.
Solche Begriffe sind nicht »neutral«, sie verbinden sich mit Assoziationen. Ist es nicht erstaunlich, dass diese sich um Konstrukte wie Sünde, Schuld und Angst drehen? Und dass unser heutiges Rechtssystem auf diesem Konstrukt aufbaut? Schuld muss gesühnt werden, die Begnadigung hebt nicht etwa die Sünde auf, sondern sieht »großzügig« von der Strafe ab. Die Sünde bleibt bestehen. Du brauchst gar nicht so weit zu gehen. Denke an jemanden, der dir etwas angetan hat, der dich ungerecht behandelt oder nur deine Bequemlichkeit gestört hat (Sünde). Er trägt die ›Schuld‹ daran, dass du dich schlecht fühlst. Das ruft nach Vergeltung, Angriff, Rache oder Sühne (Angst).
Daher unterschätze ich heute diese Symbolwelt mit ihren Assoziationen nicht, denn sie haben eine Bedeutung, die mit der »kulturellen Muttermilch« eingetrichtert wurde. Ich sage: »Gott«. Und du reagierst unmittelbar auf die Bedeutung, die dieses Wort für dich hat. Die Reaktion wird nicht sein: »Was bedeutet dieser Begriff?«
*
Da waren sie also wieder, die Begriffe und Symbole aus der Kindheit, Jugend und ständig präsenten Gegenwart – mit den Assoziationen und Bedeutungen aus der Vergangenheit. Und ich hatte gedacht, diese »Welt« hätte sich endgültig erledigt. Wie kurzsichtig!
Wenigstens bekam ich nicht mehr sofort Pickel und damit verbundene Schnappatmung, sobald von inneren Diktaten oder Durchgaben die Rede war. Sogar dann nicht, wenn diese Jesus in die Schuhe geschoben wurden. Dabei wunderte es mich durchaus, dass in den Diktaten von Jesus ausgesprochen unterschiedliche, um nicht zu sagen unvereinbare Aussagen rüberkamen. Und warum redete er nur zu diesen No-Names, statt zum Chef-Redakteur von Radio Vatikan?
So kam es, wie es kommen musste: In irgendeinem einschlägigen Blatt las ich eine kurze Notiz, dass Helen Schucman, Professorin für klinische Psychologie an der medizinischen Fakultät der Columbia University in New York, das Werk »A Course in Miracles« als inneres Diktat (von Jesus, von wem sonst?) niedergeschrieben habe und die deutsche Übersetzung dieses Werks nach rund zehn Jahren kurz vor dem Abschluss stünde.
Nein, nicht schon wieder! Und die Dame ist doch an der Quelle, warum konsultiert sie nicht einen Kollegen, wenn sie innere Stimmen hört? Später erfuhr ich, dass sie genau das tat. Als die »Stimme« sie hartnäckig aufforderte: »This is a Course in Miracles, please take notes (Dies ist ein Kurs in Wundern, bitte schreib’ mit)«, meinte ihr Vorgesetzter ausgesprochen pragmatisch: »Dann tu es doch einfach!«
Nicht lange nach der erwähnten Notiz stand an anderer Stelle eine kurze Anzeige: »›Ein Kurs in Wundern‹ auf Deutsch ist da!« Also begab ich mich auf dem schnellsten Wege nach Münster in die Buchhandlung meines Vertrauens. Dort steuerte ich die mir bestens bekannte Regalwand an, wo das Buch stehen musste. Ich fand einen dicken blauen Schmöker in Plastikfolie eingeschweißt, begab mich damit umgehend zur Kasse, legte fast sechzig DM auf den Tisch des Hauses (für ein normales Buch! Na ja, mehr als 1.200 Seiten), fuhr mit meiner Beute direkt gen Heimat und startete sofort mit dem Lesen.
Das war 1995. Ich befasse mich immer noch mit diesem Werk.
*
Mehr Einzelheiten? Nun, sie waren wieder da: die »Helden« aus meiner Vergangenheit – Gott, Jesus, Heiliger Geist, Sühne, Himmel, Sünde, Schuld, Christus, Vergebung und noch ein paar mehr. Nur: Sie wurden umgedeutet, ihrer angstvollen Assoziationen sanft enthoben und dem Frieden, dem Glück und der Liebe auf unwiderstehliche und folgerichtige Art zurückgegeben. Wie soll »Erlösung« auch anders gehen, als deinen kulturellen Mühlsteinen den Mühlsteincharakter zu nehmen, statt sie zu bekämpfen?
Leider war das Lesen nach wenigen Tagen und zwei Dritteln des Textbuchs zunächst beendet. Es ging nicht mehr, meine gewohnte »wissensorientierte« Lesepraxis klatschte voll vor die Wand. Heute weiß ich, warum, aber damals war das ein absolutes Novum für mich. Also war erst einmal Pause angesagt, denn der Urlaub stand kurz vor der Tür: mit dem Wohnmobil nach Schottland. Da kann man ja so einen dicken Schmöker irgendwo noch als Urlaubslektüre verstauen.
Nach einem Abstecher in die Findhorn Community, einer spirituell orientierten Lebensgemeinschaft in Nordschottland, ging es in die Highlands. Und dort, auf einem idyllischen Parkplatz mit traumhaftem Blick auf die Hügel und Berge, einem klischeehaften Dudelsackpfeifer in der Ferne, fiel mir das blaue Buch wieder ein. Ich kramte es raus und tat etwas, was ich bis dahin grundsätzlich nie mit Büchern getan hatte – die darin vorgeschlagenen Übungen durchzuführen, statt sie nur durchzulesen. Ich schlug also den Praxisteil auf (Übungsbuch) und begann mit der ersten Lektion: »Nichts von dem, was ich sehe, bedeutet etwas.«
Wie sinnig!
Diese Praxis mit 365 Lektionen (ach was!) dauerte etwa eineinhalb Jahre. In dieser Zeit begann mich eine neue Spielwiese zu reizen, die sich World Wide Web oder Internet nannte. Lange vor Boris Becker »war ich drin« (für die jüngeren Leser: Das bezieht sich auf einen Werbespot mit Boris Becker, Tennislegende, für einen Internet-Provider) und häkelte eine Internetseite in direkter Kodierung zusammen. Thema? »Ein Kurs in Wundern«, was sonst!
Beim Surfen in diesem neuen Medium stieß ich auf die Vorläufer heutiger »Social Media«: Gesprächsforen. So nahm ich denn eine Weile (na ja, einige Jahre) an einem »Satsangforum« zeitgenössischer Erleuchteter aus der Advaita-Szene teil. »Ein Kurs in Wundern« und zeitgenössisches Advaita (vulgo: Neo-Advaita) parallel, war das ein Fest! Die »Champignon-Methoden« fand ich klasse: Immer dann, wenn jemand den Kopf herausstreckte, um sich in Richtung Praxis oder »Wie kann ich ...« zu verirren, machte es »Ratsch« und ihm schallte ein »Du kannst nichts tun!« oder »Wer ist es, der das fragt/tut/will?« entgegen. Aus einem Byron-Katie-Forum bin ich mal rausgeflogen, weil ich dem staunenden Publikum erklären wollte, dass alle Methoden Mumpitz sind.
Allein diese wunderbar verschwurbelte Erleuchtetensprache! Es war die Zeit, in der gefühlt an jeder Straßenecke ein neuer Erleuchteter mit Satsang-Angeboten auftauchte und in einschlägigen Zeitschriften spaltenweise Satsangtermine erschienen. Irgendwie bin ich dann auch auf eine der im Netz kursierenden Listen mit Erleuchteten geraten, ohne zu wissen, wer das empfohlen hat.
Wie das mit dem Kurs zusammenging? Die Schnittstelle war Non-Dualität, das EINE ohne ein Zweites, die Einheit des SEINS. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis mir klar wurde, dass Non-Dualität oder Einheit in Zen, Advaita und »Ein Kurs in Wundern« nicht wirklich kompatibel sind. Was für ein herrliches Paradoxon!
Nach ein paar kostenlosen selbst eröffneten Gesprächsforen kam es dann im Jahr 2000 zum ersten »Gesprächsforum zu dem Buch ›Ein Kurs in Wundern‹«. Das überlebte bis 2007, weil da der Betreiber den Dienst einstellte, und zog an seinen heutigen Platz bei forum.globalchange.de um.
Und dort tauchte 2018 ein kurzer Hinweis auf den »Finders Course« auf. Man könnte ihn auch als »Finders Course Experiment« bezeichnen, denn er ist der wesentliche Meilenstein eines Projekts, das seine ersten Anfänge im Jahr 2006 genommen und sich das hehre Ziel gesetzt hatte, Erfahrungen wie nicht-duales Gewahrsein, Erleuchtung, Erwachen und ... und ... und wissenschaftlich zu ergründen. In der ersten Projektphase hatte man in mühevoller Kleinarbeit nicht nur »Erleuchtete« erforscht, sondern auch herausgefunden, was die denn so methodisch treiben. Um in einer zweiten Phase herauszufinden, wie denn der Übergang vom kläglichen Ego-Dasein zum grundsätzlichen Wohlbefinden, dem umgangssprachlichen Begriff für die untersuchte Erfahrung, erfolgt, war der »Finders Course« entstanden. Ja ja, ich weiß, Erleuchtung kann man nicht machen, sie ist eine Form der Gnade, du kannst nichts tun usw. usw. Der alte Advaita-Sprech existiert in der Tat heute noch. Hatte ich schon erwähnt, dass wir mittlerweile im 21. Jahrhundert leben? Und dass die Welt seit dem Hype der Satsänger aus den 80er und 90er Jahren nicht stehen geblieben ist? Erleuchtung lässt sich tatsächlich nicht machen, daran hat sich nichts verändert. Aber Erleuchtung ist kein willkürlicher Zufall. Für Anhänger von »Ein Kurs in Wundern« sowieso nicht.
Seit 2014 läuft nun der »Finders Course« in betreuter Form für die Dauer von 17 Wochen. Richtig Arbeit für die Teilnehmer und Crowdfunding, kostet also auch noch Kohle: Ca. 26 Meditationsmethoden, Gruppenübungen zweimal die Woche (90 Minuten), 2-4 Stunden am Wochenende für Instruktionen und Übungen und mindestens eine Stunde Übungen am Tag. Und siehe da, »Erfolgsquote« von ca. 70%. Der erste Ansatz war ein kostenloser Internetkurs. Erfolgsquote: 0%. Es ist ein merkwürdiges, aber bekanntes Phänomen: Was nichts kostet, ist nichts wert. Das hat offenbar tiefenpsychologisch Auswirkungen auf Erfolg und Misserfolg.
Mitte 2019 endeten 45 Berufsjahre. Genau auf den Punkt. Hat meine Frau ausgerechnet. Ja, in der Tat, neben dem Betreiben von Internetforen, dem Sitzen im Zazen, dem intensiven Lernen von »Ein Kurs in Wundern« und so einigen anderen spirituellen Liebhabereien ging ich diversen beruflichen Tätigkeiten nach: als Verteidigungsbeamter (vulgo: Soldat), als Gründer mehrerer Firmen nebst notwendigem Selbststudium des Insolvenzrechts und als Informatiker der ersten Stunde mit richtigem Uni-Diplom, was sich zuletzt in IT-beratender Tätigkeit ausdrückte. Da lag es nahe, mich gleichzeitig mit dem Übergang zum Ruheständler spontan zum »Finders Course« anzumelden. Könnte ja sonst langweilig werden.
Und dann tauchte Michael auf. Aber die Geschichte kennst du ja bereits. Wozu das dient? Nach über 25 Jahren »Ein Kurs in Wundern« und diversen längeren Ausflügen in Zen, Advaita und was weiß ich, kann ich eines mit Sicherheit sagen: Das liegt nicht in »meiner« Hand. Ich weiß es nicht im Geringsten. Und ich reime mir auch nichts zusammen.
Der Bescheidwisser weiß endlich, dass er nicht Bescheid weiß. Und das auch gar nicht braucht.
Darf ich dir kurz Herrn Q. vorstellen? Ich weiß, an dieser Stelle sollte ich eigentlich meinen eigenen Werdegang schildern, aber es ergibt sich gerade die Gelegenheit: Herr Q. sitzt mir zufälligerweise just in diesem Moment gegenüber, und es kann keinen Zweifel daran geben, dass er mir mit seinem feinen Lächeln aufträgt, dich herzlich von ihm zu grüßen. Das sei hiermit getan, und bitte glaube mir, es ist genau so gemeint wie gesagt.
Herr Q. ist mir Lehrer, Zen-Meister und Freund, er ist mein Wegbegleiter und Bruder, er ist noch immer meine bange Frage, vor allem aber ist er ihre Antwort. Herr Q. ist derjenige, der mich, wenn man so will, in dem Augenblick am Tor der geistigen Grundschule meiner Weltanschauung abgeholt hat, als sie mich endgültig entlassen hat in den Alltag der Anwendung dessen, was ich in ihr gelernt habe. Gemeint ist das spirituelle Werk »Ein Kurs in Wundern«, das mir über zwanzig Jahre lang als freundlicher und zugleich kompromissloser Begleiter meiner Suche nach Wahrheit und Sinnhaftigkeit nicht von der Seite gewichen ist.
Mit der Hilfe dieses »Kurses« habe ich das Abenteuer begonnen, den Übertrag einer Sichtweise, die man »spirituelle Perspektive« nennen kann, auf die vielfältigen Aspekte der Wahrnehmung, auf jede Begegnung und alle äußeren Umstände einzuüben, was der Bereitschaft zu einer stetig weiter werdenden Öffnung des Geistes bedarf. Dabei zielt diese besondere Form der Unterweisung wie alle anderen ernstzunehmenden spirituellen Lehren darauf ab, sich selbst, nachdem sie eine Weile hilfreich gewesen ist, überflüssig zu machen. Es ist kein metaphysisches System, sondern die allgegenwärtige Wahrheit, die mir wie allem Leben die einfachste Lektion anbietet, die es zu lernen gibt: die Lektion der Liebe, die in die Beantwortung der Frage mündet, wer ich bin. Wenn du dich vorhin gefragt hast, wieso Herr Q., den du nicht zu kennen glaubst, ausgerechnet dich grüßen lässt, dann kannst du vielleicht ahnen, dass dieser dir scheinbar noch Unbekannte schon sehr viel näher an der Antwort ist als du und ich.
Hier also, am Ende der Systematik, der vorgegebenen Struktur und jenseits des Planbaren, stehe ich mit meinem Weggefährten, hier hat er mich aufgesucht, um die Reise gemeinsam mit mir fortzusetzen.
Ich liebe ihn aus tiefstem Herzen, das sei nicht verschwiegen, denn ohne dieses Bekenntnis vorauszuschicken, würde das, was ich hier schreiben werde, keinerlei Sinn ergeben. Der Blick auf die Liebe als der lebendigen Kraft und Quelle unserer wie jeder anderen Beziehung ist nichts weiter als eben jene »spirituelle Perspektive«, um die es in diesem Buch gehen soll. Es zeigt sich zwischen mir und Herrn Q. immer wieder, dass die geistige Sichtweise nichts weiter »leisten« kann und will als lediglich den Blick freizugeben auf die schlichte Wahrheit unserer gemeinsamen Herkunft und Identität. Und doch ist dies wunderbarerweise oft mit dem sehr konkreten Erleben verbunden, dass in einer derart entlasteten Sicht alle Heilung geschehen und jede Schuldzuweisung, jedes Urteil vergessen ist, das bislang einer wahren, glücklichen Beziehung im Wege gestanden hat. Und es sind genau diese Erfahrungen, die überzeugen.
Vor allem von solchen ganz persönlichen Einblicken in die Heilsamkeit der spirituellen Perspektive möchte ich dir gern erzählen in unserem Buch, vom Heil-Werden, vom Heil-Sein und vor allem auch von einem immanenten Aspekt dieses Heil-Seins, der seltsamerweise oft übersehen wird: dem Heilsam-Sein.
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Äußerlich betrachtet – man mag hier ermessen, wie unvollkommen eine solche »äußerliche Betrachtung« ist – habe ich die Aufgabe übernommen, Herrn Q. während der so genannten Corona-Krise zu betreuen. Er lebt in einem Seniorenheim und man hat ihm die Diagnose »Demenz« zugedacht. Vor etwa zwei Jahren habe ich begonnen, Herrn Q. zu besuchen, jeden Tag der Woche am Nachmittag für vier bis fünf Stunden, manchmal ist es auch länger geworden, wenn die Nacht nicht die Ruhe gebracht hat, die wir von ihr erhoffen. Noch am selben Tag, als das Besuchsverbot für Seniorenheime erlassen worden ist, haben meine Frau und ich beschlossen, Herrn Q. mit seinem und dem Einverständnis seiner Angehörigen zu uns nach Hause zu holen, um ihn vor der Isolation zu bewahren, in der eine angemessene oder gar heilsame Betreuung nicht mehr möglich gewesen wäre.
Die »Demenz« ist wie jede »Krankheit«, jedes »Gekränktsein«, ein Ausdruck von existenzieller Angst. Dies ist erst einmal nicht mehr als eine Behauptung. Hier kommt die nächste: Angst aber ist – auch wenn sie sich in Krankheit kleidet – nichts weiter als der Ruf nach einer einfachen Antwort auf eine banale Frage, an die man sich lediglich ein wenig zu stark klammert, als dass man die Antwort noch ohne Hilfe hören könnte.
Erzeugen diese Aussagen in dir eine Resonanz? Hier geht es nicht um meine »persönlichen Weisheiten«, sondern um die Anwesenheit und Hilfe einer universellen Wahrheit, die sich nur dadurch »beweist«, dass wir ihre Widerspiegelungen in uns finden. Die »Wahrheiten«, die sich in Sätzen ausdrücken, welche sowohl vom Ruf nach Heilung und Erlösung sprechen als auch von der Einfachheit ihres Erlangens, werden »geistig gehört«, wie Heilung vor allem geistige Resonanz ist: das Erkennen des Bruders als mich selbst. Im »Geben« von Hilfe jedweder Art, wenn es in geistiger Offenheit für die uns alle umgebende Wahrheit geschieht, erfahre ich Heilsamkeit und Heilung, was mich von der Wahrhaftigkeit der Hilfe überzeugt: Was uns heilt und eint, ist unsere gemeinsame Identität in Gott – wenn man der Wahrheit in Anerkennung eines die Getrenntheit aufhebenden Willens diesen Namen geben will.
Demenzkranke zu betreuen heißt im Wesentlichen – oder sagen wir optimalerweise – diese Hilfe zu geben. In gewisser Weise ist dies einfach, weil die heilende Antwort – wie Herr Q. es uns mit seinem Gruß an dich zu zeigen versucht hat – diesen hochempfindsamen Menschen bereits sehr, sehr nahegekommen ist. Allerdings ist ihre Angst groß und beherrscht ihren Geist – das macht die Hilfe des Bruders notwendig.
Dies also ist mein »Hier und Jetzt«, in dem ich diese Zeilen schreibe.
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Der Altmeister geistiger Diktatur ist unser aller Ego, das ich im netten Versuch, ihm etwas Sympathisches abzugewinnen, gerne »Egon« nenne. Wenn Egon mich daraufhin mit seinem ganz speziellen Lächeln anschaut, wird mein Entschluss, ihn abzuwählen, allerdings ganz schnell wieder erneuert: Er ist arroganterweise und unverbesserlich davon überzeugt, dass seine Vorschläge zur Beurteilung von was auch immer alternativlos sind! Seine schon wegen ihrer monotonen Wiederholungen nervende Botschaft ist immerzu dieselbe: dass ich angeblich von dir getrennt dächte, fühlte und handelte. Daraus, meint Egon, leite sich meine Autonomie und Verantwortung ab und dies sei meine Rechtfertigung für Abgrenzung, Angriff und Verteidigung. Egon sagt mir, dass ihm zu folgen für mich letztlich »lohnend« sei, allerdings: Was ich mit ihm unternehme, hat immer seinen Preis, es kostet. Dabei ist er nicht einmal günstig, Egon will für alles den Höchstpreis: Ihm zu glauben, kostet mich in jedem Fall die gesamte Wahrheit.
Egon hört sofort auf zu lächeln, wenn ich mich über seine Doktrin der Alternativlosigkeit hinwegsetze – und das kann wegen der Vertrautheit dieses »treuen« Begleiters einen Moment lang bedrohlich wirken. Um so erstaunlicher ist es dann aber, immer wieder zu beobachten, wie das Erbitten einer zu Egon alternativen geistigen Führung – die »Ein Kurs in Wundern« beispielsweise »Heiliger Geist« nennt – in ein Heilung-Geben dessen leitet, was man dieser Führung anvertraut hat – und dieses Geben und gleichzeitige Empfangen aus derselben Quelle von keiner Seite Bezahlung fordert außer dem Aufgeben der Angst.
Heilung, in welcher Form auch immer, gehört zu den ermutigendsten und überzeugendsten Erfahrungen des spirituellen Weges und zu denen, die ohne den Begriff »Wunder« wahrlich nicht mehr auskommen.
Und damit bin ich am Ausgangspunkt meiner spirituellen Reise.
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Dass ich jetzt in einer helfenden Funktion unterwegs bin, bei der die Angstproblematik eine große Rolle spielt, spiegelt im besten Sinne des Wortes wahrheitsgetreu meine allerersten Schritte wider:
Es war kein plötzliches Erleben eines Einheitsgefühls, von dem oft als dem Beginn der weiteren Suche berichtet wird, nicht das intellektuelle Bedürfnis nach der Erforschung meiner Seele trieb mich um, kein Nahtoderleben katapultierte mich in die Wahrheit, ich war mir nicht einmal einer Sehnsucht nach »Gott« als einer allumfassenden Liebe bewusst.
Es war die nackte Angst, die mir begegnete in einer Phase der Orientierungslosigkeit – oder besser: Es war die Hilfe, die ich unmittelbar und ohne ein Zögern erfuhr im selben Augenblick, als ich um sie bat.
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Das ist gut fünfundzwanzig Jahre her. Ich hatte mein Medizinstudium abgeschlossen und danach ein Jahr lang als Arzt im Krankenhaus gearbeitet. Schon gegen Ende des Studiums war mir mulmig geworden, ich hatte gespürt, dass mein Weg hier nicht weitergehen würde und schließlich die für meine gesamte soziale Umgebung unverständliche Entscheidung getroffen, noch einmal ganz von vorn zu beginnen und vor allem die Fragen zu klären, die sich in mir auftürmten und von denen ich noch lange nicht wusste, dass sie nur die eine Frage danach waren, wer ich bin und was es ist, das mich trägt. Eine Weile jobbte ich noch in Krankenhäusern, dann kehrte ich der Welt der Schulmedizin – wie ich dachte – endgültig den Rücken. Es kam, wie es kommen musste: Meine Freundin verließ mich, meine Familie und die Freunde zogen sich von mir zurück.
Wer war zuerst da, die Hilfe oder die Angst? Aus jetziger Sicht weiß ich: Die Hilfe war längst da, als ich in Angst geriet, sie war da, wie sie jetzt und immer zur Verfügung steht, sobald sie eingeladen wird.
Die Angst kam in einer relativ zivilisierten Form zu mir: Wenn es irgendwo zu eng wurde, stieg sie in mir auf – in Aufzügen, im Menschengedränge, im Konzertsaal, im Kino, wenn sich die Türen schlossen, im Flugzeug ...
Das Problem mit der Angst ist, dass sie das Selbstbewusstsein untergräbt. Ich konnte mich kaum davon freihalten, mir meine Entscheidung zum Vorwurf zu machen, eine sichere soziale und berufliche Karriere aufgegeben zu haben. Diese Phase dauerte ein paar unangenehme Monate, inzwischen hatte ich begonnen, als Taxifahrer mein Geld zu verdienen.
Bis ich eines Tages – den Wagen voll besetzt mit Fahrgästen, die auf dem Weg zu einem Geschäftstermin eisig vor sich hin schwiegen – mitten im drei Kilometer langen Elbtunnel, am tiefsten Punkt mit der größten Elbwasserlast über mir – in einen Stau geriet. Nichts ging mehr. Der Wagen kam zum Stillstand, die Eisschicht über dem Schweigen meiner Mitreisenden wurde immer dicker, ich schaltete den Motor aus. Unerbittlich kroch die Angst in mir hoch, machte sich groß und wollte sich zur Panik ausweiten.
Die Hilfe war da, sie wartete genau an diesem Ort, um mir alles zu geben, was ich brauchte, um mich in einem einzigen Moment in eine komplett neue Richtung orientieren zu können. Wieso mir dabei der Jesus meiner Kindheit einfiel, kann ich nicht sagen, dem katholischen Weltbild, das mir meine Eltern nahegelegt hatten, war ich nicht treu geblieben und zu der biblischen Figur Jesus hatte ich nie eine bewusste Beziehung gehabt. Jetzt aber betete ich in dieser für mich äußerst bedrängenden Lage zu ihm mit Worten, die ich kurz zuvor in Stephen Kings »The Green Mile« gelesen hatte und die ich so erinnerte:
»Kleines Kind Jesus,
Sanft und gelind,
Bete für mich, das Waisenkind,