Ein Freund wie kein anderer
Im Tal der Wölfe
Ein
Freund wie kein
anderer
Mit Bildern von
Barbara Scholz
Oliver Schorz
Im Tal der Wölfe
Thienemann
Für Zenop, den alten Wolf
Inhalt
Der Frühling kommt
7
Auf Yaruks alten Spuren
11
Das Wolfsrudel
27
Wolfshunger
39
Yaruks Geständnis
52
Ruuk
63
Die Jagd
71
Die Brücke
84
Zu Hause
94
Wolfsgeheul über dem Erdhörnchen-Dorf
107
Ein Freund wie kein anderer
117
7
Der Frühling kommt
Habbi öffnete die Augen und blinzelte in die Dunkelheit
des Erdhörnchen-Baus.
»Yaruk?«, flüsterte er verwirrt.
Eben noch hatte er von seinem Wolfsfreund geträumt,
wie schon den ganzen Winter über. Und im Traum hatte
er das dichte Wolfsfell zwischen seinen Pfoten gefühlt.
Aber es war nicht Yaruk, den er fest mit seinen Armen
umklammert hielt, sondern seine dicke Schwester Hum-
ma. In tiefem Schlummer lag sie neben ihm, genau wie
sein Bruder Hebbe und seine übrigen Geschwister.
Habbi setzte sich auf. Nur langsam begriff er, dass
er sich in der Schlafhöhle des Erdhörnchen-Baus be-
fand.
Er spürte das weiche Heu unter sich und hörte das
wohlige Schnaufen. Von allen Seiten umgab ihn eine
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friedliche Geborgenheit. Es kam ihm vor, als hätte er
diesen sicheren, heimeligen Bau noch nie verlassen.
Hatte es seine Wolfsfreundschaft vielleicht nur im
Traum gegeben?
In der Schlafhöhle war es feuchtwarm. Der Schnee
draußen auf den Wiesen musste geschmolzen sein. Und
Habbi war dünn geworden wie ein junger Baumtrieb. So
viel Zeit war seit dem letzten Herbst vergangen!
Plötzlich hatte Habbi wieder Yaruks klaren Blick vor
Augen. Wie viele Male hatte er davon geträumt! Und
dieser Blick hatte bei ihrem Abschied keinen Zweifel
daran gelassen, dass sie sich im Frühling wiedertreffen
würden!
Habbi reckte seine Schnauze Richtung Ausgang. Fri-
sche Frühlingsluft zog in den nach Schlaf riechenden
Bau. Sie vertrieb das Schwindelgefühl aus seinem Kopf
und sein Herz schlug schneller. Er würde ganz sicher
nicht wieder einschlafen können. Wenn Yaruk tatsäch-
lich auf ihn wartete?
Habbi stieg über seinen Bruder hinweg.
»Wo … wo … willst du hin?«, fragte Hebbe auf ein-
mal schlaftrunken.
»Zu Yaruk«, flüsterte Habbi.
Nichts im müden Blick seines Bruders verriet ihm, ob
Hebbe diesen Namen jemals gehört hatte. Dabei musste
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er ihn doch kennen! Er hatte Habbis heimliche Freund-
schaft zu Yaruk schließlich im Erdhörnchen-Dorf ver-
raten. Oder etwa nicht?
»Ich muss ihn wiedersehen! Ich muss wissen, ob es
ihn wirklich gibt …«, sagte Habbi schnell.
Er war inzwischen hellwach und schielte zu seiner
Mutter hinüber. Sie schien zu schlafen. Er konnte nicht
warten, bis sie aufwachte!
Und statt sich wenigstens erst einmal in der Vorrats-
kammer zu stärken, schüttelte er bloß die Erdkrumen
von sich ab und rannte aus dem Bau.
Natürlich hatte Habbis Mutter mit ihren wachsamen
Ohren genau gehört, was in ihrem Bau vor sich ging.
Aber sie seufzte ihrem Sohn nur leise hinterher, als
wüsste sie schon, wohin es ihn zog, und als könnte sie
ihn ohnehin nicht davon abhalten …
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Auf Yaruks alten Spuren
Habbi musste sich erst an das blendende Sonnenlicht
gewöhnen. Mit zusammengekniffenen Lidern rannte er
aus dem Erdhörnchen-Dorf, in dem noch niemand sonst
aus seinem Bau gekommen war.
Nach dem langen Winter waren die alten Futterpfade
der Erdhörnchen verschwunden. Schneestürme hatten
sie fortgewischt und der Frühling ließ längst überall fri-
sches Gras in die Höhe schießen.
Aber Habbi brauchte die alten, ausgetretenen Pfade
nicht. Er lief einfach in die Richtung, in die er auch im
Traum immer gelaufen war.
Schon bald kam er an den Bach, der ihn durch den
Wald zum großen Wasserfall führte, dem Ende der Erd-
hörnchen-Welt.
Angespannt schaute Habbi das Geröllfeld neben dem
Wasserfall hinab, als könn-
te Yaruk wieder dort un-
ten liegen wie damals,
mit seinem verschütteten
Bein.
Dann hüpfte er zum Fuß
des Geröllfelds und beschnupper-
te die Steine in der Hoffnung, Yaruks
alte Spuren wiederzuentdecken. Ohne Er-
folg. Nicht einmal den feinsten Dufthauch
hatte der Winter übrig gelassen.
Und wieder überkamen Habbi Zweifel, ob
es Yaruk überhaupt gab.
Er lief am See entlang und den Hügel zur Höhle
hinauf. Hier hatte er seinen Wolfsfreund gepflegt.
Da war er sich fast sicher. Nein. Er wusste es! Am
liebsten hätte er in der Höhle nach Wolfshaaren
oder dem Moosbett gesucht, das er für Yaruks
verletztes Bein gebaut hatte. Bloß drang aus der
Höhle ein kräftiger Bärengeruch.
Schnell und geduckt lief Habbi weiter. Er muss-
te vorsichtig sein. Nicht nur Bären erwachten
hungrig aus der Winterruhe. Auch Falken und Ad-
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ler fütterten ihre Jungen und spähten nach geeigneter
Beute.
Durchs Unterholz kriechend, im Schutz von Büschen
und Wurzelgeflecht, gelangte Habbi schließlich zum
oberen Ende der Schlucht. Hier konnte man den breiten
Strom überqueren, um ins Niemandsland zu gelangen.
Und genau dort wollte er hin!
Zum Glück führte der Strom gerade so wenig Wasser,
dass überall Steininseln daraus hervorschauten.
Vorsichtig sprang Habbi von einem glitschi-
gen Stein zum nächsten. Nur für das
letzte Stück musste er sich ins Was-
ser wagen. Die Kälte fuhr ihm
stechend in die Glieder und
die Strömung wollte ihn
wieder in die Mitte des
Flusses zerren. Aber der Gedanke an seinen Freund
zog ihn bis zum anderen Ufer hinüber wie eine kräftige
Wolfspfote.
Als Habbi triefnass das Niemandsland betrat, zitterte
er vor Kälte und Aufregung. Im Niemandsland hatte er
mit Yaruk die letzten gemeinsamen Tage verbracht. Hier
wollten sie sich wiedersehen!
Suchend lief Habbi durch die blühende Grasland-
schaft. Die hohen Gräser versperrten ihm die Sicht, also
beschnupperte er den warmen Boden. Er erinnerte sich
ganz deutlich an jede Feinheit von Yaruks Geruch. Bloß
schien es unmöglich zu sein, ihn in diesem Meer von
Frühlingsdüften aufzuspüren.
Die Sonne stand schon hoch am Himmel, da hatte Hab-
bi noch keine einzige Spur von Yaruk erschnuppert. Er
hielt am Rand der Schlucht inne und blickte zurück:
Das Niemandsland war riesig. Es erstreckte sich von
der Schlucht bis zu den Bergen. Wie sollte er Yaruk hier
finden?
Auf einmal kam es Habbi verrückt
und gefährlich vor, dass er herge-
kommen war. Wahrscheinlich
hatte Yaruk ihn über den lan-
gen Winter hinweg verges-
sen. Vielleicht war er auch
mit dem Rudel weitergezo-
gen, zu anderen Jagdgrün-
den. Oder ihm war etwas
zugestoßen!
Habbi spürte die Erschöpfung
in seinen vom Winterschlaf noch schwa-
chen Beinen und fühlte sich verloren. Er reckte die
Schnauze in den Himmel und begann zu heulen wie ein
Wolf. Sein einsames Heulen hallte von den Wänden der
Schlucht wider. Fast klang es, als wäre er nicht allein.
Schließlich setzte er sich niedergeschlagen hin und
schwieg. Aber ein Heulen war weiterhin zu hören …
Habbi hob verwundert den Kopf. Das konnte nicht
mehr sein Echo sein. Wieder vernahm er es
deutlich, wenn auch leise. Er stellte seine
Ohren auf: Das Heulen kam nicht aus
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Richtung der Schlucht, sondern von der Ebene
her!
»Yaruk …«, flüsterte Habbi. Er hielt den
Atem an. »Yaruk??«
Dann sprang er auf. Die Müdig-
keit in seinen Beinen war auf einen
Schlag vergessen.
Im nächsten Moment stürmte er
zurück auf die grasbewachsene
Ebene, zwischen den hohen Hal-
men hindurch, dem Wolfsheulen
entgegen. Und als die Wiesen in tro-
ckenes Flachland übergingen, hatte
er endlich freie Sicht: Zunächst konnte er
nur einen schwarzen Punkt in der Ferne er-
kennen. Aber der Punkt wurde größer und
größer und bald zu einem grau-schwarzen Wolf,
der rasend schnell auf ihn zukam, hinter sich eine Wol-
ke aus Staub. Und da war der letzte Zweifel verflogen!
Habbi und Yaruk rannten sich so ungestüm entgegen,
dass sie aneinander vorbeirutschten, als sie sich trafen.
Dann jagten sie im Kreis umeinander her, versuchten
den anderen am Schwanz zu packen, zogen den Kreis
immer enger, bis sie sich in einem wirbelnden Durchei-
nander verknäulten.
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»Yaruk!!«, rief Habbi. »Yaruk!!«