HERIBERT PRANTL
Not und Gebot
GRUNDRECHTE
IN QUARANTÄNE
C.H.Beck
Im Kampf gegen die Corona-Pandemie ergreifen Staaten Maßnahmen, die sonst nur in Kriegszeiten denkbar wären. Es werden beispiellose Einschränkungen der Freiheit beschlossen und umgesetzt. Müssen auch die Grundrechte in Quarantäne, um das Virus zu besiegen? Die aktuelle Notlage ist das eine, die Gebote des Grundgesetzes sind das andere. Heribert Prantls Buch ist eine Streitschrift für die Grundrechte. Der große Journalist und Jurist erzählt vom Leben im Ausnahmezustand und den Lehren daraus. Dabei durchmisst er das Spannungsfeld von Not und Gebot. Grundrechte heißen Grundrechte, weil sie immer gelten, auch im Katastrophenfall, gerade dann. Wenn Grundrechte in Notzeiten weichen müssten, dann wären sie keine. Die Angst vor dem Virus darf nicht benutzt werden, um diese abzuschaffen. Wir müssen uns vor dem Virus schützen, zugleich aber auch vor Schäden am Betriebssystem Demokratie. Wenn ein Kind nicht zur sterbenden Mutter vorgelassen wird, wenn Gottesdienste verboten, Demonstrationen untersagt und Menschen in Altenheimen weggesperrt werden, dann wird das Infektionsschutzgesetz über das Grundgesetz gestellt. Doch nicht jede Freiheitseinschränkung ist auch eine Verletzung der Grundrechte. Die Politik muss abwägen, Maß halten und die Verhältnismäßigkeit der Mittel wahren. Prantls Buch zeigt, wie mit Angst Politik gemacht wird. Es zeigt aber auch, wie man mit der Besinnung auf Grundrechte und Grundwerte eine gute Zukunft bauen kann. Es ist ein Buch zur Lage der Nation, das vor neuem Nationalismus und dem Gift des Populismus warnt. Und es ist ein Buch, das zeigt, was die Zivilgesellschaft zivil und frei macht.
Heribert Prantl war lange Jahre Leiter des Ressorts Innenpolitik und Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung.
Was auf dem Spiel steht
Die neue Fremdheit
der alten Welt
Grundrechte in Coronien
Vater Staat und seine Kinder
Gott allein zu Haus
Das Virus R
Um Leben und Tod
Endzeiterzählungen, Zombiegeschichten
Von Corona aufgefressen
Vom Aufatmen
Quellen
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Es ist eine Stimmung entstanden, die Grundrechte
in Krisenzeiten als Ballast und Gefahr betrachtet.
Was tun?
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Es gibt Tage, an denen schon überholt ist, was gestern noch für undenkbar gehalten wurde. Wir haben viele solche Tage in der Corona-Krise erlebt: Schulen geschlossen, Kindergärten geschlossen, Theater geschlossen, Museen geschlossen, Geschäfte geschlossen, Sportanlagen geschlossen, Gaststätten geschlossen, Hotels geschlossen, Grenzen geschlossen, Versammlungen und Demonstrationen verboten. Wir haben erlebt, wie Kontakte kontrolliert, Maskenpflicht vorgeschrieben und Abstandsregeln verordnet wurden, wie Kindern das Ballspielen verwehrt wurde und Spaziergängern das Sitzen auf der Parkbank. Wir haben erlebt, wie dekretiert wurde, ob und wo man sich mit wem treffen darf. Wir haben erlebt, dass man sterbende Angehörige nicht mehr besuchen, nicht einmal mehr sehen durfte. Wir haben erlebt, wie diese Regeln penibel kontrolliert und bei Zuwiderhandeln stattliche Bußgelder kassiert wurden. Die Alten in den Pflegeheimen wurden isoliert, die Kranken in Krankenhäusern auch. Wir haben erlebt, wie Ostern entfestlicht und Weihnachten entweihnachtet wurde – weil strenge Kontaktregeln das gewohnte Feiern unmöglich gemacht haben.
Wir haben erlebt, dass der Staat sehr detaillierte und kleinteilige Regeln erlassen hat, um die Bürgerinnen und Bürger vor Corona und vor sich selbst zu schützen. Auf sehr kleinkariertem Papier, auf Millimeter-Papier quasi, war eingezeichnet, was die Bürgerinnen und Bürger gerade dürfen und was nicht. Das Leben der Menschen wurde, wie man das sonst mit Geschenken und Geschenkpapier macht, in dieses Millimeterpapier eingewickelt. Noch nie in der Geschichte ist das Leben der Menschen außerhalb von Gefängnissen so strikt reguliert worden wie in der Corona-Zeit. Jede einzelne der vielen Verbots- und Kontrollregeln hätte in anderen Zeiten zu Aufständen geführt. In der Corona-Zeit wurden sie überwiegend akzeptiert, begrüßt, ja es wurden sogar noch Verschärfungen gefordert, weil man sich davon Sicherheit und Gesundheit versprach. Die Sicherheitsgesetze, die zur Zeit des Terrorismus verhängt wurden, fanden in der Corona-Zeit nicht nur ihre begrüßte Fortsetzung, sondern ihre willkommene Potenzierung. Der israelische Historiker Yuval Noah Harari meint daher: In fünfzig Jahren werden sich die Menschen gar nicht so sehr an diese Epidemie erinnern; stattdessen werden sie im schlimmsten Fall sagen, dass im Jahr 2020 mithilfe der Digitalisierung die allgegenwärtige Überwachung durch den Staat begann.
Wir haben erlebt, dass das Sichere nicht mehr sicher ist und das Sichergeglaubte nicht mehr hält, und dass Grundrechte als Ballast und als Gefahr gelten im Kampf gegen Covid-19. Was eigentlich Irrsinn ist, galt und gilt, wenn es um Corona-Prävention geht, als sinnhaft, als geboten, als alternativlos, als absolut notwendig, als noch lang nicht ausreichend. Der Big Brother, also der Präventionsstaat, der sich zuvor mit Video- und Kommunikationsüberwachung, Vorratsdatenspeicherung und Gendateien bei vielen verdächtig gemacht hatte, wurde in der Corona-Zeit ein Freund und Partner. Und nicht wenige schauten mit sehnsüchtigen Augen nach Fernost, wo der Big Brother, zur Prävention und Repression von Corona, noch viel bigger ist als in Europa – wo die Kreditkartendaten an die staatlichen Stellen weitergemeldet werden, wo Überwachungskameras dicht an dicht stehen; wo Menschen ein iPhone bei sich tragen müssen, mit dem ihre Bewegungen nachverfolgt werden können (und wer kein Handy hat, kriegt einen Token, eine Art Bewegungsmelder, an den Schlüsselbund).
Corona, die Angst davor und die Maßnahmen zum Schutz vor Covid-19 haben geschafft, was die Weltkriege nicht geschafft haben: Selbst die Kirchen wurden geschlossen, Hochzeiten und Taufen fielen aus, Firmungen wurden abgesagt und Konfirmationen; Beerdigungen durften nur noch im kleinsten Kreis stattfinden. Der Ausnahmezustand lugte nicht mehr nur um die Ecke, er war da. Und es herrschte eine allgemeine Stille, auch darüber.
Vor dem Lockdown des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens im Frühjahr kam der politische Selbst-Lockdown des Parlaments. Der Bundestag hat es ermöglicht, dass von der Exekutive Rechtsverordnungen erlassen werden können, die von den Gesetzen abweichen. Auf diese Weise ist in den Corona-Monaten eine untergesetzliche Parallelrechtsordnung entstanden. Das hat ungute Auswirkungen; zu diesen Auswirkungen gehören auch die zum Teil völlig irrationalen Proteste gegen die staatliche Pandemiebekämpfung.
Der Bundestag hat in der historischen Corona-Zeit auf intensive Diskussionen zu Covid-19 weitgehend verzichtet; er hat es zugelassen, dass parlamentarische Beratungen und Abstimmungen ersetzt wurden durch Merkel-Söder-Laschet-Prozeduren. Der Bundestag hat es geduldet, dass per Verordnung Grundrechte auf- und zugedreht wurden – gerade so, als hätte ein Grundrecht Armaturen wie ein Wasserhahn. Der Lockdown und dessen Verlängerungen wurden nach vertraulichen Beratungen der Kanzlerin und der Ministerpräsidenten in Pressekonferenzen verkündet – ex cathedra, ohne jede Beteiligung des Parlaments.
Der Bundestag hat es billigend in Kauf genommen, dass mit kleinem untergesetzlichem Recht große fundamentale Entscheidungen getroffen wurden. Mit begründungslosen Verordnungen hat die Verwaltung die Versammlungs- und Religionsfreiheit aufgehoben, die Freizügigkeit abgeschaltet, gewerbliche Tätigkeiten massiv beeinträchtigt, das Recht auf Bildung und Erziehung verdünnt; alte und behinderte Menschen wurden nur noch unzureichend versorgt. Die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips bei all diesen Maßnahmen hat die Exekutive an die Gerichte ausgelagert. Und also wurde verordnet, dass selbst das Sitzen auf einer Parkbank als Gefahrenquelle für das Gesundheitssystem zu gelten habe.
Der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt war seiner Zeit weit voraus. Er hat sein Stück zur Corona-Krise schon im Jahr 1952 geschrieben. Es ist dies eine surreale Kurzgeschichte, die heute, Jahrzehnte später, gar nicht mehr so surreal ist. Sie heißt «Der Tunnel». Es ist dies ein Stück über den Schrecken, der plötzlich in den Alltag eindringt, ein Stück über das Leben, das eigentlich in geregelten Bahnen verläuft – aber auf einmal aus der Bahn geworfen wird. Hauptperson ist ein 24-jähriger Student, der im Zug sitzt auf einer Strecke, die er oft fährt. Es fällt ihm auf, dass der Zug ungewöhnlich lange durch einen eigentlich sehr kurzen Tunnel rast. Die Unruhe des Studenten wächst, während die Mitreisenden nicht beunruhigt sind. Der Schaffner versichert auf Anfrage, dass alles in Ordnung sei. Der Zugbegleiter kann sich den langen Tunnel nicht erklären. Der Führerraum der Lokomotive ist leer, der Lokführer ist nach fünf Minuten abgesprungen, der Zugbegleiter an Bord geblieben, aus Pflichtgefühl und weil er schon «immer ohne Hoffnung gelebt» habe. Die Notbremse funktioniert nicht, der Zug rast immer schneller und schneller in den dunklen Abgrund. In der Erstfassung endet die Geschichte mit dem Schlusssatz: «Gott ließ uns fallen und so stürzen wir denn auf ihn zu.» In einer neuen Fassung von 1978 strich Dürrenmatt diesen Satz. Am Ende steht hier das Wort «Nichts».
Corona verunsichert. Corona treibt die Menschen um. Corona macht Angst. Corona trägt Stress in Familien und Freundschaften. Corona zerstört Lebensrhythmen. Corona ist Entheimatung. Corona hat nicht nur eine andere Beziehung zu den Mitmenschen hergestellt, Corona stellt eine andere Weltbeziehung her. Corona macht Flächen zu Angriffsflächen, die Tiere zu Virenträgern, die Dinge zu Bedrohungen. Die Welt wird fremd. Bleibt das so? Werden die Entfremdungsregeln künftig bei jedem neuen Virus von Neuem aktiviert? Der permanente politische und mediale Alarmismus hat der Gesellschaft nicht gutgetan: «Fürchtet euch», war die Botschaft, die Politik und Medien über Monate verbreitet haben. Die Weihnachtsbotschaft heißt: «Fürchtet euch nicht». Mitten im zweiten Lockdown hatte diese Botschaft die Kraft nicht, die sie gebraucht hätte.
Nicht die Freiheit muss sich rechtfertigen, sondern ihre Beschränkung und Begrenzung: So lernen es die Juristen schon im Anfängerseminar. In der Corona-Zeit begann dieser Satz zu wackeln und zu bröckeln. Daher war die Lehre von der Verhältnismäßigkeit der Mittel noch nie so wichtig wie in der Corona-Krise. Wenn diese Verhältnismäßigkeit der Politik, wenn sie den Regierungen und den Verwaltungen nicht so wichtig ist, dann sind die Gerichte dazu da, Recht und Freiheit auch gegen das Virus tapfer zu verteidigen. Der Satz von der Verhältnismäßigkeit der Mittel ist kein Wischi-Waschi-Satz. Es ist ein Satz mit Substanz, ein Kernsatz des Rechts. Und «Maß halten» – das ist kein Wort zum Schmunzeln, sondern ein Wort, das die Grundrechte vor übermäßigen Eingriffen schützen soll. Die Verwaltungsgerichte in Baden-Württemberg, Niedersachsen, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein haben das getan, als sie im Herbst 2020 die von der Verwaltung angeordneten Beherbergungsverbote aufgehoben haben.
Unlängst hat mir ein Leser wegen solcher Kritik geschrieben, ich sei ein «juristischer Erbsenzähler». Ich sei einer, der «immer besorgt mit dem Grundgesetz in der ersten Reihe sitzt». Und ein anderer Leser riet mir: «Hören Sie doch endlich einmal auf mit Ihren Grundrechten». Für alle, die Ähnliches schreiben möchten, vorweg: Das lohnt nicht, ich werde nicht aufhören; deshalb dieses Buch.
Meine Grundrechte? Ich habe geantwortet, dass es doch auch seine und unser aller Grundrechte seien. Aber mein Kritiker erklärte mir, ihm sei jetzt ein guter Impfstoff gegen Covid-19 lieber als der Grundrechtekatalog. Und bis dahin sei keine Zeit, um zu lamentieren und zu kritisieren; es sei vielmehr höchste Zeit, gemeinsam, geschlossen und entschlossen alles zu tun, um der Corona-Gefahr zu begegnen. Es gehe um Leben und Überleben, um Leben und Tod – und da müssten halt die Freiheitsrechte einige Zeit kürzertreten.
Um Leben und Tod, ja. Darum geht es übrigens nicht nur bei Corona, sondern auch bei Entscheidungen über Umwelt- und Klimaschutz, über Verkehrspolitik, Asyl und Waffenexporte, wo man die Toten oft nicht zählt und ihren Angehörigen nicht kondoliert. Die Corona-Gefahr aber rückt uns stärker auf den eigenen Pelz als zum Beispiel die Feinstaub-Gefahr. Der Wille, Covid-Kranke zu retten – er ist populärer als der Wunsch, Kriegsopfer zu retten; von Flüchtlingen gar nicht zu reden. Wer aber bei Corona absoluten Lebensschutz zur Maxime erhebt, der macht Politik unmöglich. Ziel in der Corona-Pandemie ist ja nicht, alle Ansteckungen zu verhindern. Ziel ist, die Bevölkerung so vor dem Virus zu schützen, dass auch andere lebenswichtige Bedürfnisse zum Zuge kommen können. Ziel ist es, das Gesundheitssystem aufrechtzuerhalten, so dass die Covid-Kranken, die Krebskranken und die Herzkranken weiter Hilfe zur Heilung finden, ohne Triage.
Im Übrigen, so meinte ein dritter Kritiker zu meiner Klage über die coronale Verzwergung der Parlamente, sei es doch völlig egal, ob diese Entschlossenheit nun in einem parlamentarischen Gesetz oder in einer Verwaltungsverordnung zum Ausdruck komme und wer die Entschlossenheit dekretiere. Gewiss: Eigentlich sei in der Demokratie das Parlament der Souverän, derjenige also, der das Sagen haben müsse. Aber die Hauptsache sei doch: «Die vorgeschriebene Maßnahme wirkt, koste es, was es wolle.» Was das kostet, kann und muss man dann genauer sagen: Es kostet Menschenleben an anderer Stelle. Alte Menschen sterben früher; an Isolation. Patienten werden später operiert; vielleicht zu spät, weil sich alles auf Corona konzentriert. Die Zahl der Suizide steigt. Und Unzählige verlieren ihre wirtschaftliche Existenz.
Aber das habe ich nicht geantwortet, weil eine weitere Mail mit einer ganz anderen Sorge bei mir eintraf: «Ich wende mich an Sie, weil mich eine ziemlich große Verzweiflung befällt, wie man seiner zweifelnden Stimme Ausdruck verleihen kann, ohne dass man sofort gemein gemacht wird mit Virus-Leugnern, Rechtsradikalen oder Menschen, denen das Leben anderer Menschen egal zu sein scheint.» Die widerlichen Belästigungen von Bundestagsabgeordneten im November 2020 im Reichstagsgebäude zu Berlin wollten diese Gemeinheit aktivieren. Auf Einladung von AfD-Abgeordneten waren Störer in das Parlament gelangt, die am Rand der Debatte über das neue Infektionsschutzgesetz Parlamentarier anderer Parteien bedrängt, belästigt und beschimpft hatten und dabei bis in Abgeordnetenbüros vorgedrungen waren. Man muss das Infektionsschutzgesetz, das die Grundlage für die Anti-Corona-Maßnahmen ist, wirklich nicht mögen, um solche Attacken als schwerwiegende Entgleisung zu bezeichnen. Solche Methoden der Nötigung erinnern daran, wie in der Weimarer Republik die braune Bagage den Parlamentsbetrieb verhöhnt und gesprengt hat. Solche Aktionen sollen die Demokratie gezielt von innen zersetzen, indem sie demokratische Kritik braun kontaminieren.
Es ist alarmierend, dass selbst honorigste Rechtsprofessoren sich sorgen, in die rechte Schublade gesteckt zu werden. In der Einleitung ihres großen Aufsatzes in der Juristenzeitung vom 18. September 2020 zur Verteidigung der Verfassung gegen Corona («Why constitution matters») schrieben Hans Michael Heinig, Thorsten Kingreen, Oliver Lepsius, Christoph Möllers, Uwe Volkmann und Hinnerk Wißmann, allesamt Koryphäen des Faches, vorsichtshalber: «Dieses Engagement im juristischen Ernstfall stellt sich nicht auf die Seite absurder Gefahrenleugner oder Wissenschaftsfeinde.» Aber die Professoren, sie lehren Öffentliches Recht an den Universitäten Berlin (Humboldt), Frankfurt, Göttingen, Münster und Regensburg, sind überzeugt: Die Existenz des freiheitlichen Verfassungsstaats sei eben nicht per se und überzeitlich gesichert. Man müsse daher auch dem Corona-Krisenmanagement Grenzen ziehen und diese Grenzen kundtun, «damit Politik, Öffentlichkeit und Rechtsprechung wissen, was auf dem Spiel steht».
Es ist eine Stimmung entstanden, die Grundrechte in Krisenzeiten als Gefahr betrachtet. Man konnte und kann beobachten, wie ansonsten kritische, aber sehr gesundheitsbesorgte Menschen schon aggressiv reagieren, wenn einer zu fragen wagt, ob es denn angemessen und verhältnismäßig sei, was der Staat da an Verboten verordnet. Wer sich nicht daran gewöhnen möchte, dass massivste Einschränkungen der Grundrechte zu den Bewältigungsstrategien einer Krise gehören, sieht sich schnell in eine Reihe mit «Querdenkern», «Covidioten» oder gar mit Neonazis gestellt, die sich die Grundrechte, die sie sonst verachten, jetzt auf einmal wie einen Tarnanzug überziehen.
Die Aufregung über echte und angebliche Verschwörungsphantasten überlagert die notwendige Diskussion über die Einschränkung von Grundrechten. Es darf nicht so weit kommen, dass diejenigen, die die Grundrechte verteidigen oder die aus existenzieller Angst gegen die Schutzverordnungen protestieren, weil diese sie wirtschaftlich und psychisch zum Absturz bringen, auf einmal als Verschwörungsfuzzis abgefertigt werden. Das Wort «Verschwörungstheoretiker» ist ein Diskussions-Totschlag-Wort geworden, mit dem denen, die anderer Meinung sind, der Mund gestopft werden soll. Und wer zu oft «Grundgesetz» sagt, macht sich verdächtig.
Das erinnert an das pointiert-bissige Lied des Liedermachers Franz Josef Degenhardt über «Die Befragung eines Kriegsdienstverweigerers» aus dem Jahr 1972. Es war seinerzeit so: Junge Männer mussten ihr Grundrecht auf Verweigerung des Wehrdienstes in einem schriftlichen und mündlichen Verfahren zur Gewissensprüfung erstreiten. So eine Prüfung also nahm Degenhardt aufs Korn, indem der Prüfer im Lied den Kriegsdienstverweigerer so abfertigt: «Grundgesetz, ja Grundgesetz, ja Grundgesetz! Sie berufen sich hier pausenlos aufs Grundgesetz. Sagen Sie mal, sind Sie eigentlich Kommunist?» So war das vor Jahrzehnten. Heute kann man das Wort «Kommunist» ersetzen durch die Bezeichnungen, die für Kritiker von Corona-Maßnahmen üblich geworden sind. Zum Grundrechtsjubiläum vor einem Jahr hat sich der Bundespräsident ein lebendiges Grundrechtsbewusstsein gewünscht. In der Corona-Krise macht sich verdächtig, wer es hat.
Demokratie stellt nicht soziale Distanz her, Demokratie will soziale Distanz überwinden. Und Grundrechte sind nicht eine Art Konfetti für schöne Zeiten. Sie heißen Grundrechte, weil sie sich in Notzeiten grundlegend bewähren müssen. Demokratie lebt von mündigen Bürgerinnen und Bürgern und vom permanenten Aushandeln von Kompromissen – die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen, aber alle anderen Interessen, Bedürfnisse und Notwendigkeiten in den Blick nehmen. Die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse sind wie die geisteswissenschaftlichen meist nicht völlig eindeutig; sie unterliegen einem Wandel und unterschiedlichen Einschätzungen. Eine Politik, die schlechtes Gewissen, Panik und Angst schürt, ist da kontraproduktiv.
Die Pressefreiheit heißt Pressefreiheit, weil die Presse die Freiheit verteidigen soll. Es gilt heute, die Freiheit unter der Gefahr des Coronavirus zu verteidigen. Die Verteidigung besteht darin, die Grundrechte zu schützen – zu schützen davor, dass die Maßnahmen gegen das Virus von den Grundrechten nur noch die Hülle übriglassen. Pressefreiheit besteht in der Warnung davor, dass Notgesetze einfach immer wieder verlängert werden. Pressefreiheit ist dafür da, hemmungslos zu fragen und zu recherchieren, was die Verbote nützen und welche Schäden sie verursachen. Pressefreiheit ist dafür da, die Bewegungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Gewerbefreiheit zu verteidigen – und das Grundrecht auf Leben auch derer, deren Leben jetzt durch den Aufschub von Operationen oder das Ausbleiben von Lebenshilfen gefährdet wird. Eine Demokratie leidet massiv an Kontaktverboten, so notwendig sie kurzzeitig sein mögen. Darum, noch einmal: Aus Notmaßnahmen darf nicht maßlose Not werden.
In Corona-Zeiten gibt es nicht wenige Menschen, die beim Wort «Grundrechte» allergisch reagieren. Das ist kein Grund zurückzuweichen, im Gegenteil: Das ist der beste Grund für Journalisten, sie umso größer zu schreiben. Die Presse ist nicht der Lautsprecher der Virologie, sondern der Lautsprecher der Demokratie. Das gilt auch dann, wenn Menschen auf Demos und in Diskussionen schiefe Vergleiche ziehen und die Diktatur schon um die Ecke biegen sehen. Das tut sie nicht; der Eifer und das Gefühl, gegen einen mächtigen Mainstream zu stehen, führt bisweilen zu geschichtsblinder Übertreibung. Das ist nicht gut und schadet dem Protest. Aber es kann trotzdem gefährlich werden, diesen Protest zu verachten: Wer dauernd Idiot genannt wird, fängt womöglich an einer zu werden, stur und trotzig, irrational und unsozial. Demonstranten pauschal zu Idioten zu erklären ist darum idiotisch.
Es wird neue Viren geben. Die werden auch gefährlich sein, womöglich noch gefährlicher als Corona. Wir werden auch in Zukunft Pandemien erleben. Wie wird der Staat dann reagieren? Wie bei Corona? Wird es dann zackig heißen: Maske auf, Klappe halten? Wird dann wieder die Bewegungsfreiheit eingeschränkt, wieder die Versammlungsfreiheit entzogen? Ein grundsätzliches Verbot der Versammlungsfreiheit, Versammlungen zum Gebet inbegriffen, hatte es vor Corona noch nie gegeben. Wird ein solches Verbot künftig Usus? Aus den Grundrechten würden dann virtuelle Grundrechte, sie stünden unter Pandemievorbehalt.
Werden künftig bei jeder Pandemie Grenzen, Kitas und Schulen geschlossen? Müssen die Menschen mit immer neuen Ausgangsverboten und Kontaktsperren leben – die von ängstlichen Parlamenten wenig kontrolliert werden und von einer womöglich künftig kritischeren Öffentlichkeit nicht hinterfragt werden können, weil praktisch jedes Grundrecht davon abhängt, dass man das Haus verlassen kann? Symbol für eine solche Infektions-Demokratie wären Ziehharmonika und Bandoneon: Da wird der Balg immer wieder zusammengequetscht und dann wieder auseinandergezogen. Bei den Musikinstrumenten kommen auf diese Weise harmonische Töne zustande. In einer Demokratie eher nicht. Der Kollege Heinrich Wefing hat in der Zeit gemeint, dass jeden Tag so wie über die neuesten Infektionszahlen auch über die Lage der Grundrechte berichtet werden sollte, «übersichtlich, mit Trends und Kurven». Das klingt lustig, ist es aber nicht. Es gab wohl noch nie in so kurzer Zeit so viele im Einzelfall unverhältnismäßige Grundrechtseingriffe. Verordnungen, aus der Not des Augenblicks geboren, haben Gesetze nicht mehr vollzogen, sondern ersetzt. Das Versammlungsverbot wurde im März und April 2020 «ohne Sinn und Verstand exekutiert»; so analysierte das Oliver Lepsius, Professor für Öffentliches Recht in Münster. Er konstatierte eine «regelrechte Lust» der Exekutive, ihre Macht zu demonstrieren. Es gab und gibt aber auch Lust, sich dieser Macht zu unterwerfen und deren Anforderungen noch zu überbieten, weil man hofft, so die Gefahr zu bannen. Im Kleinen, unter Nachbarn, blüht das Denunziantentum.
Wer kontrolliert die Exekutive? Die gesetzgebende Gewalt, die Legislative, hat es im Corona-Jahr 2020 kaum getan. Die rechtsprechende Gewalt, die Judikative, hat im Mai 2020, nach dem ersten Schock, mit der Kontrolle begonnen. Gerichte haben Versammlungs- und Beherbergungsverbote aufgehoben, die selbst dann verhängt worden waren, wenn die Veranstalter sich zu rigorosen Vorsichtsmaßnahmen verpflichtet hatten. Die Prüfung ging und geht hin und her und dauert lange, zu lange, um auf den politischen Gang der Dinge Einfluss zu nehmen. Und wenn die gerichtlichen Direktiven einmal völlig klar sind – wie beim Beherbergungsverbot, das gerichtlich einhellig abgelehnt wurde –, schert sich der Gesetzgeber nicht darum. In das dritte Bevölkerungsschutzgesetz wurde es im November 2020 so ungerührt hineingeschrieben, als habe es nie Gerichtsurteile darüber gegeben.
Der Gesetzentwurf wurde am Buß- und Bettag im Bundestag diskutiert und angenommen; da war schon vielen klar, dass weder das Gesetz noch Buße noch Gebet einem zweiten Lockdown abhelfen würden, der Mitte Dezember verhängt wurde. Und je länger die Schließungen und Kontaktverbote andauerten ohne die erhoffte Wirkung zu bringen, desto größer wurde die Hoffnung, dass das Impfen bald losgehen könne. Der ersehnte Wirkstoff lag tatsächlich in der Weihnachtswoche in der Krippe, und die Rolle des Verkündigungsengels übernahm Ursula von der Leyen: «Heute schreiben wir ein neues Kapitel in unserem Kampf gegen COVID-19. Wir haben beschlossen, den europäischen Bürgerinnen und Bürgern den ersten COVID-19-Impfstoff zur Verfügung zu stellen», erklärte sie am 21. Dezember und stellte in Aussicht, direkt nach Weihnachten mit den Impfungen zu beginnen.
Und sogleich war da die Menge der Heerscharen, die lobten das und kündigten an, dass die Grundrechtseinschränkungen für alle Geimpften ein Ende hätten. So propagierte es unter anderem Hans-Jürgen Papier, der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Das klingt erst einmal plausibel, weil es sehr unverhältnismäßig ist, den Menschen, von denen keine Infektionsgefahr mehr ausgeht, solche Belastungen aufzuerlegen. Also sollen die Geimpften, so meinen Papier und Co, die Grundrechte genießen dürfen, die Ungeimpften aber nicht.
Wie gesagt, das klingt erst einmal plausibel und richtig – auch wenn man sich sogleich fragen mag, was denn der Einzelne zum Beispiel dafür kann, dass er nach der von der Staatsverwaltung festgelegten Impfreihenfolge erst in vielen Monaten mit seiner Impfung an der Reihe ist und also auch solange auf den Genuss der vollen Grundrechte warten muss. Es ist erstens hochproblematisch, dass diese Impfreihenfolge von der Verwaltung und nicht vom Gesetzgeber festgelegt wird; alle wesentlichen Entscheidungen müssen, das gehört zum rechtsstaatlichen Einmaleins, vom Gesetzgeber getroffen werden. Und es ist zweitens hochproblematisch, dass der Staat es auf diese Weise in der Hand hat, Grundrechte zuzuteilen.
Das führt zum sehr grundsätzlichen Haupteinwand gegen die sogenannten Privilegien für Geimpfte: Grundrechte sind keine Privilegien, die man sich erst durch ein bestimmtes Handeln oder durch ein bestimmtes Verhalten verdienen kann oder verdienen muss. Grundrechte sind keine Belohnung, keine Gratifikation, kein Bonus, kein dreizehntes Monatsgehalt. Sie sind einfach da, jeder hat sie, jeder darf sie in Anspruch nehmen. Grundrechte heißen Grundrechte, weil sie dem Menschen als Mensch und/oder als Staatsbürger zustehen. Das ist ja das ganz Besondere, das ist das Wunderbare an den Grundrechten: Sie gelten unabhängig vom Alter, unabhängig vom Einkommen, unabhängig von Rang und Hautfarbe, unabhängig von Glauben und Weltanschauung. Ein Grundrecht steht einem auch dann zu, wenn man sich dessen gar nicht bewusst ist, dass man ein Grundrecht hat. Die Grundrechte sind auch nicht irgendwo gelagert, sie müssen nicht in einem Grundrechtslager abgeholt werden gegen Vorlage bestimmter Bescheinigungen, so wie ein Paket bei der Post.
Gewiss: Grundrechte sind einschränkbar. Aber ihr Wesenskern darf nicht angetastet werden. Haben die Schul- und Betriebsschließungen, die Kontaktverbote, Ausgangssperren und Bewegungsbeschränkungen den Wesenskern unberührt gelassen? Wo verläuft die Linie, die in Zeiten der Not nicht überschritten werden darf? Man wünscht sich Leitlinien vom Bundesverfassungsgericht: Zu einer großen verfassungsrechtlichen Überprüfung des Ausnahmezustandes wird es wohl erst, wenn überhaupt, viel zu spät und nur für einen kleinen Teil der Maßnahmen kommen. Das ist bitter, schade und schädlich, weil so die Lehren für künftige Pandemien vage bleiben. Es geht um Fundamentalfragen für Demokratie und Rechtsstaat.
Man wünscht sich eine Kompetenz zurück, die das Bundesverfassungsgericht bis 1956 hatte: Es konnte, auf Antrag des Bundespräsidenten oder auf gemeinsamen Antrag von Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung, ein Rechtsgutachten erstatten. Zweimal wurde davon Gebrauch gemacht, dann der einschlägige Paragraf abgeschafft. Die eigentliche Aufgabe der Justiz sei, so hieß es, die Entscheidung von Streitfällen, nicht die Erstellung von Gutachten. Eigentlich. Aber wir leben in uneigentlichen Zeiten.
Dieses Buch ist auf dem Sachstand von Anfang Januar 2021. Und die uneigentlichen Zeiten dauern nun eigentlich schon viel zu lang.
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Wie Corona den Kopf auf den Kopf stellt und die Probleme sowie die Sicht auf die Probleme verschärft
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In der Hamburger Speicherstadt und in vielen anderen Großstädten weltweit gibt es Ausstellungen, die «Dialog im Dunkeln» heißen. Es sind dies Ausstellungen, in denen sehende Menschen zu blinden Menschen werden. Die eigentlich sehenden Menschen gehen, geleitet von blinden Menschen, durch stockdunkle Räume. Am Eingang erhalten sie einen Blindenstock; dann geht es durch einen Vorhang hinein ins schwarze Nichts. In der Corona-Krise habe ich mich an diese Ausstellung erinnert.
Man sieht nicht, wie groß die Räume sind. Man sieht nicht, ob sie Ecken haben. Man sieht nichts von der schwankenden Holzbrücke, über die man gehen soll. Man sieht nichts vom Wald und nichts von Bäumen. Der Stock verfängt sich in Blätterwerk, man ertastet einen Stamm, spürt erst Moos und später Kies unter den Schuhen. Man sieht nichts von der lauten Straße, die es zu überqueren gilt; auch nichts vom Markt, über den man dann tappt; man riecht ihn nur, man riecht den Kaffee, man riecht das Obst, man riecht die Gewürze. Man tastet sich an Mauern, an Hauseingängen und an der eigenen Hilflosigkeit entlang. Es ist, als schrumpfe die Welt auf den Radius des Blindenstocks; man ist ein Blindgänger.
Eingehüllt von Alltagslärm klammert man sich an die beruhigende Stimme von Matthias, dem Guide, der einem sagt, wo es langgeht, und der die Leute ermuntert, sich frei im Raum zu bewegen. Die Dunkelheit macht ihm nichts, er ist sie gewohnt, er ist blind; behindert sind jetzt die anderen, die die Dunkelheit nicht kennen; sie erleben zum ersten Mal, wie es ist, nichts zu sehen, nicht einmal die Hand vor den Augen. Sie sind bestrebt, körperlichen Kontakt zum Nachbarn zu halten: Dialog im Dunkeln. Manche sind versucht, die Beklemmung, die sie spüren, durch Kalauerei zu vertreiben; es gelingt nicht. Die bekannte Welt ist auf einmal so fremd. Es ist sehr beklemmend, es ist erschreckend, sich so hilflos zu fühlen.
Die Erfahrungen, die die Besuchergruppen in der Ausstellung machen, macht in der Corona-Krise die Gesellschaft global und real: Sie tappt mit dem Blindenstock durch die Finsternis. Sie weiß aber nicht, anders als in den Ausstellungsprojekten, wie lange diese Finsternis dauert und wie sie endet. Die Gesellschaft weiß auch nicht, ob und wie weit man den Guides, die einen führen, also den Virologen und den Politikern trauen kann – die anders als die Guides in «Dialog im Dunkeln» keinen Erfahrungsvorsprung haben. Viele Menschen suchen in ihrer Angst eigentlich Nähe, sind aber amtlich gehalten, auf physische Distanz zu gehen.
Der «Dialog im Dunkeln» ist ein sozial motiviertes Experiment, das nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen geführt wird. Andreas Heinecke, studierter Historiker, Literaturwissenschaftler und Philosoph, hat es vor Jahrzehnten erfunden. Er ist das, was man einen «Social Entrepreneur» nennt, der Pionier des sozialen Unternehmertums in Deutschland. Es geht ihm um soziales Lernen, um einen Perspektivenwechsel: «Nur wer die Welt mit anderen Augen sieht», sagt er, «kann sich in ihr zurechtfinden – und dabei Neues entdecken». Dies ist eine Gabe, die man in der Corona-Krise gut brauchen kann. Es geht um den Umgang mit dem Anders-Sein. Niemand verlässt die Ausstellung so, wie er hineingegangen ist.
Heinecke hat bewiesen, dass man einen sozialen Zweck mit unternehmerischen Mitteln verfolgen kann – bis Corona kam. Ausgerechnet. Dann brach das soziale Unternehmen, das Solidarität gelehrt hat, zusammen. Das Unternehmen stand vor dem Aus; es konnte nicht mehr finanziert werden, weil die Ausstellungen geschlossen sind oder lange geschlossen waren. Konkurs drohte, bis staatliche Förderprogramme wenigstens Überbrückungshilfen gewährten. Es wird viele erschreckende wirtschaftliche Folgen der Corona-Krise geben. Der Fall «Dialog im Dunkeln» zeigt exemplarisch, wie es auch Projekte trifft, die Solidarität organisiert haben. Führt der Dialog im Dunkeln wieder aus dem Dunkel heraus? In der Ausstellung dieses Namens sieht man am Ende einen Spalt Licht und geht erleichtert auf diesen Spalt zu. Das braucht die Gesellschaft auch in der Corona-Wirklichkeit: das Licht der Zuversicht.
Corona ist die Geschichte einer Entfremdung, einer Entheimatung. Es gibt eine Geschichte von Selma Lagerlöf, die auf einfache und berührende Weise beschreibt, was und wo eigentlich Heimat ist. Es ist dies eine Weihnachtsgeschichte, sie heißt «Die Heilige Nacht», aber es ist dies eigentlich eine Heimatgeschichte. Sie lehrt: Heimat ist da, wo einem die Menschen, die Tiere und die Dinge freundlich entgegenkommen; Heimat ist da, wo einem die Welt vertraut ist oder vertrauenswürdig begegnet und wo das potenziell Gefährliche nicht gefährlich ist.
Selma Lagerlöfs Geschichte erzählt von einer Nacht, in der die Hunde nicht beißen und die Schafe nicht erschrecken, in der die Lanze nicht tötet und glühende Kohlen nicht verbrennen; der Vater des neugeborenen Kindes kann die Kohlen mit bloßen Händen nehmen und in seinen Mantel legen, ohne ihn zu versengen. Er will mit dem Feuer Frau und Kind wärmen. Die Geschichte erzählt von einer Nacht, in der die Menschen und die Dinge keine Gefahr darstellen und einem zugeneigt sind. Das ist Heimat.
Die Pandemie ist die Geschichte des Gegenteils. Corona ist Entheimatung. Corona hat eine andere Beziehung zu den Mitmenschen hergestellt; die sind eine potenzielle Gefahr; man geht daher auf Abstand zu ihnen, man schützt sich vor ihnen, man begegnet ihnen mit Maske, man vermeidet Kontakt, sei es beim Einkaufen, beim Wandern im Wald oder beim Joggen im Park. Wenn einer an der Supermarktkasse zu nahe an uns herantritt, werden wir nervös. Und man spürt böse Blicke, wenn man sich auf Unbekannte zubewegt.
Sprache besteht nicht nur aus Wörtern, sondern auch Gesten. Corona hat diese Sprache verändert. In der westlichen Kultur war das Händeschütteln ein Ritual, um anfängliche Unsicherheit zwischen zwei Menschen zu überbrücken, zeigt es doch dem anderen: Sieh, ich trage keine Waffe in der Hand. Noch kürzlich erhob sich heftige Empörung, als Muslime aus religiösen Gründen Frauen den Handschlag verweigerten. Die Handschlags-Rituale sind entfallen. Die einen meiden jeden Körperkontakt. Die anderen suchen einen Ersatz für das Händeschütteln, sie stoßen sich mit den Ellenbogen – und machen ungewollt die alte Rede von der Ellenbogengesellschaft anschaulich.