Dieses Buch enthält Beschreibungen fiktiver Figuren und Ereignisse, die für manche Betroffenen eventuell Auslösereize enthalten. Für eine Liste möglicher Trigger blättere gerne ans Ende des Buchs.
Über die Autorin
Joe Rain ist mit französischen Eltern zweisprachig in Deutschland aufgewachsen, hat in London auf der Schauspielschule studiert und ein Semester in Tschechien verbracht. Sie reist gerne – durch Kontinente oder in die Zukunft, am liebsten jedenfalls in Büchern.
Wir leuchten basiert auf einer Geschichte, die auf Wattpad den Wattys Award 2016 in der Kategorie Vorreiter gewonnen hat. Das Schreiben dieses Debutromans war ihr erster gedanklicher Road Trip, den sie allerdings selbst noch erleben will. Zurzeit arbeitet sie an ihrem nächsten Abenteuer – einer romantisch-dystopischen Trilogie – und anderen kreativen Projekten (Kinderbüchern, Kurzfilmen, Sprecherrollen und daran wie sie möglichst viel erledigen kann ohne ihre 9 Stunden Schlaf zu vernachlässigen).
Wenn du mehr über ihr Gedankenwirrwarr erfahren willst, findest du sie auf ihrem Instagramprofil @JoeRain.books. Für mehr Hintergrundwissen schaue dir gerne ihre Website unter www.joerain.de an und abonniere dort ihren Newsletter.
Wir leuchten
Die Meinungslose,
die Kommunistin und der Nazi
Joe Rain
WREADERS E-BOOK
Band 75
Dieser Titel ist auch als Taschenbuch erschienen
Vollständige E-Book-Ausgabe
Deutsche Erstausgabe
Copyright © 2021 by Wreaders Verlag, Sassenberg
Bestellung und Vertrieb: Nova MD GmbH, Vachendorf
Umschlaggestaltung: Emily Bähr
Illustration: Solène Joublin
Lektorat: Lena Kamenzin, Cara Kolb
Satz: Lena Weinert
www.wreaders.de
ISBN: 978-3-96733-149-3
An meinen Vater, der meine Fakten kontrolliert hat.
An meine Mutter, durch die ich die Buchwelt entdeckt habe.
An meine Schwester, die so viele Fassungen hiervon gelesen und kommentiert hat.
Und an alle, die gerne davonfliegen würden.
Hier waren wir also, drei Kinder noch, die sich der Welt stellten und träumten, den Mond zu ersetzen, um die Sterne zu bestärken. Wir waren die Symbole unserer Gesellschaft; Beispiele der Erziehung, die so individuell war wie wir selbst. Wir waren … wie die Haribokirschen. Zusammengehalten von diesem dünnen, grünen Gummi, das so schnell zerkaut werden konnte. Drei Jugendliche und ein orangefarbener Pick-up. Flüchtlinge im eigenen Land. Auf dieser Menschenwelt.
Begegnung, die: Substantiv, feminin
Zusammentreffen, das Veränderungen herbeiführt
Wenn ich eine Zahl wäre, wäre ich eine Acht.
Zwei Nullen übereinander, die meine derzeitige Schulleistung repräsentieren würden. Ein falsches Unendlichkeitszeichen, weil ich für ein »für immer« nicht gut genug bin. Rundlich. Und durchschnittlich, weil acht von fünfzehn Notenpunkten die ungefähre Mitte darstellt.
Acht ist die Anzahl der Buchstaben in meinem Vornamen, wenn man den ersten Buchstaben meines Zweitnamens mitzählt. Estelle M. Schneider. Wobei mir die Abkürzung M. deutlich lieber ist als der tatsächliche Name: Marie – übrigens der häufigste Zweitname Deutschlands. Typisch.
Acht also.
Ich hasse die Acht. Dabei mag ich die meisten anderen Zahlen. Mathe war in der Grundschule auch noch mein Lieblingsfach – bevor im Gymnasium die Zahlen durch Buchstaben ersetzt wurden. Mit Buchstaben kann ich in Mathe wenig anfangen.
Es gibt im Leben Kategorien.
Zahlen, zum Beispiel, auf der einen Seite und Buchstaben auf der anderen. Mischungen enden so gut wie immer in Desastern.
Lasst es mich erklären: Nehmen wir eine normale deutsche Schülerin. Durchschnittliche Schulleistung. Eltern, die sich nicht zu sehr einmischen. Eine klare Linie zwischen Schule und Zuhause. Gut so.
Bis diese Linie zu verschwimmen beginnt, weil unser Durchschnittsmädchen anfängt zu schwänzen und ihr klar wird, dass sie nicht einmal mehr Durchschnittsnoten erhält. Wegen der zahlreichen Fehlstunden werden die Eltern verständigt und was nicht passieren darf, passiert: Schule und Zuhause werden verbunden. Schluss mit Ausgehen. Schluss mit Lieben und Leben. Die sonst so nachsichtigen Eltern verwandeln sich in besorgte Psychologen, die ihr auf Schritt und Tritt folgen und mit ihr Gespräche führen wollen. Ein Desaster.
Das bin ich.
Es ist nicht so, dass ich meine Eltern nicht verstehen könnte. Ich kann absolut nachvollziehen, dass sie sich sorgen. Ich wäre an ihrer Stelle wohl ganz genauso. Sie wollen nur mein Bestes, wenn sie mir mit siebzehn zum ersten Mal in meinem Leben Hausarrest geben, und ich versuche, ihnen entgegenzukommen. Ich lerne. Ich lese. Ich markiere. Fasse zusammen. Vernachlässige Leon, meinen Freund, und schlucke die Tränen herunter, als er mir eine Woche lang nicht mehr zurückschreibt, weil ich keine Zeit habe, mich mit ihm zu treffen.
Wie kann ich erwarten, dass er mich versteht? Er hat meine Eltern nie kennengelernt. Er weiß nicht, dass ich sie niemals hassen, ihnen niemals widersprechen könnte. Dass ich sie, so sehr sie mich nerven mögen, niemals willentlich verletzen würde. Sie meinen es gut. Mama, die mir abends einen Teller mit Apfelstückchen und Keksen zur Nervennahrung ins Zimmer bringt, während ich auf dem Boden sitze, umgeben von herumfliegenden Blättern, aufgeschlagenen Büchern, Stiften, Post-Its und leeren Tassen heißer Schokolade. Papa, der mir aufmunternd zulächelt, wenn ich am Morgen das Haus verlasse und die Politikklausur antrete.
Willkommen in meinem Alltag.
Jedes Leben besteht aus Milliarden Augenblicken, die sich in zwei Kategorien einteilen lassen: Erstens, die Ich-fühle-mich-anwesend-Kategorie, in der ich die Welt bis in meine Haarwurzeln spüre und ausnahmsweise voll und ganz hier bin, und zweitens die Ich-bin-woanders-Kategorie, die die meiste Zeit auf mich zutrifft. Natürlich befindet sich in solchen Momenten mein Körper im Hier und Jetzt – über physikalische Gesetze bin ich leider nicht erhaben –, aber die Informationen, die meine Sinne an mein Gehirn schicken, wirken versetzt. Alles scheint irreal. Die Wirklichkeit entgleitet mir. Es fühlt sich fast so an, als befände ich mich außerhalb meines Körpers, würde von außen auf mein Leben schauen und alles beurteilen.
Am schlimmsten ist es, wenn ich Fieber habe. Dann höre ich meine eigene Stimme, die mir alles in Gedanken aufsagt, alles kommentiert. Es ist meine Stimme, aber zugleich auch nicht. Ich kann sie nicht kontrollieren, und sie hat einen merkwürdigen Unterton. Als wäre alles, was sie sagt, ein Vorwurf.
Genauso ergeht es mir an diesem Freitagmorgen in der Politikklausur. Die erste der zwölften Klasse. Ein neuer Versuch, mein Leben in die richtige Bahn zu lenken.
Der Text verschwimmt zeitweise vor meinen Augen und es ist schwer, mich zu konzentrieren.
Ich soll irgendetwas zur Flüchtlingskrise schreiben. Die Fakten habe ich gelernt. Die merkwürdige Stimme in meinem Kopf rattert sie schön fleißig herunter und verwirrt mich noch mehr.
Ich hoffe, es ist kein richtiges Fieber, sondern nur der Stress. Eine Woche krank im Bett brauche ich jetzt wirklich nicht.
Also. Flüchtlinge.
Fleißig schreibe ich die Fakten auf. Die Anzahl der Flüchtlinge, die täglich in Deutschland anreisen und wie die Behörden damit umgehen.
Weiter komme ich nicht. Wie soll ich so etwas beurteilen? Das ist Politik. Das ist zu kompliziert, um es wirklich zu verstehen. Lösungen kenne ich erst recht keine. Es betrifft mich so oder so nur in geringen Maßen.
Ich werfe einen Blick auf meine silberne Armbanduhr.
Noch elf Minuten.
Nennt man es Arbeitsverweigerung, wenn man die Aufgabenstellung nicht erfüllt, weil man keine klare Meinung hat? Woher soll ich wissen, was ich dazu denken soll? Flüchtlinge sind arme Menschen auf der Flucht. Natürlich muss man ihnen helfen. Aber das ist keine Antwort.
Ich lege den Stift beiseite und zähle die Wörter, bevor ich meine Blätter zusammenlege und aufstehe. Ich bin nicht die Erste, die abgibt, aber bei weitem nicht die Letzte.
Durchschnitt.
Meine Nerven sind am Ende, meine Nase ist verstopft und ich habe das Gefühl, bald umzukippen, als ich zurück zu meinem Platz laufe, mir meine Schultasche umhänge und den Raum verlasse.
Ich will weg.
Flüchten.
Das ist das Wort des Tages. Die Idee ein Keim, der langsam zu sprießen beginnt, Knospen heranbildet und noch am selben Abend anfangen wird, zu blühen.
Ich sitze die restlichen fünf Schulstunden ab, treffe Kyra, meine beste Freundin, im Schulbus und verhalte mich wie immer. Sie fragt nicht nach der Klausur, weil sie meinen Blick lesen kann, und ich erzähle ihr nicht davon, dass ich seit acht Tagen nichts von Leon gehört habe, und er mich in der Schule zu ignorieren scheint. Kyra und ich, wir sind wie ein altes Ehepaar, das sich so gut kennt, dass Worte überflüssig sind. So gut, dass wir denken, wir wüssten über den anderen Bescheid. Wir haben ein Bild von uns im Kopf und merken nicht, wie sich unser Gegenüber ändert, dem Bild zu widersprechen beginnt und sich von uns entfernt.
Wir reden über Lehrer und Gerüchte, lachen etwas fälschlich und verabschieden uns mit einer kurzen Umarmung voneinander.
Ich steige aus dem Bus aus und laufe mit hängenden Schultern nach Hause. Obwohl ich weiß, dass ich in acht Monaten die Schule endgültig verlassen werde, fühle ich mich in einem Kreis gefangen, aus dem es keinen Ausweg gibt. Ich kann mein Leben schon vor mir sehen. Dreier-Abi, Ausbildung oder Studium mit Wartezeit, Ehemann, wenn mich jemand erträgt, Kinder vielleicht – eineinhalb, um dem Durchschnitt zu entsprechen. Dann werde ich mit dreiundsiebzig in Rente gehen, wenn das Rentenalter weiterhin steigt, und mich fragen, wie ich mit so wenig Geld das Altenheim bezahlen soll, in dem ich einsam dahinvegetieren werde, weil mein Zukünftiger statistisch gesehen fünf Jahre vor mir stirbt.
Nein, ich bin nicht depressiv, sondern realistisch.
Zuhause fahre ich den PC hoch, will mich gerade an die Hausaufgaben setzen, als Leon zum ersten Mal seit verdammten acht Tagen ein Lebenszeichen von sich gibt: »Ich mache Schluss«, sagt die E-Mail. War ja klar. Ich kann mich noch genau an das Gespräch erinnern, als ich ihm gesagt habe, wie taktlos es wäre, per WhatsApp Schluss zu machen. Er hat sich also für eine E-Mail entschieden. Wunderbar.
Ich schließe die Augen und denke: Arschloch. Ich ignoriere das kleine Stechen der Zurückweisung, das sich in meiner Brust bemerkbar macht, und stelle fest, dass ich nicht das Gefühl habe, weinen zu müssen. Ich bin nicht traurig. Nur wütend. Und enttäuscht.
Ich fische mein Handy aus der Schultasche und schicke zwei WhatsApp-Nachrichten ab. Die erste ist an Lisa, eine Schulfreundin, die mich für heute Abend zur Party eines gewissen Toms eingeladen hat.
Ich komme – tippe ich.
Die zweite ist an Leon und besteht aus einem Wort:
Danke.
Acht Stunden und sechsunddreißig Minuten später stehe ich in Toms Küche, habe besagten Tom genau einmal erblickt und bin mir immer noch nicht sicher, ob er überhaupt auf unsere Schule geht oder einfach ein Bekannter Lisas ist. Diese hat mich übrigens direkt am Anfang des Abends für einen großen blonden Kerl stehengelassen, sodass mich niemand mehr davon abhalten konnte, Jägermeister um Jägermeister hinunterzukippen. Ich war noch nie betrunken, aber ich garantiere heute für nichts. Das Leben kann mich mal. Und Leon auch.
Ich strecke gerade die Hand nach der Flasche aus, um mein leeres Glas aufzufüllen, als ein Mädchen in meinem Alter, Stöckelschuhen, enger schwarzer Jeans, Lederjacke und kurzen, dunkelrot gefärbtem Haar, durch die weiße Tür hereintritt. Für einen kurzen Moment dringt die ohrenbetäubende Musik aus dem Wohnzimmer in die Küche, bevor die Tür wieder ins Schloss fällt, und ich nur noch den Bass in meinem Herzen spüren kann.
»Hey«, grinst das Mädchen und zeigt mir eine Reihe hübscher, weißer Zähne, bevor sie auf mich zustürmt – oder besser, stöckelt – und mich leidenschaftlich umarmt. Die Flasche, die ich in der Hand halte, stelle ich gerade noch rechtzeitig zurück.
»Ich bin Isy und du?« Sie lässt mich wieder los und tritt zwei Schritte zurück.
Etwas überrumpelt stottere ich ein »Äh … hi«.
»Wie heißt du?«, fragt die Rothaarige – Isy – nochmal nach. Ihre Augen leuchten und erinnern mich an Sterne. Nur nicht auf beruhigende Art, sondern eher auf physikalischer Ebene. Wie Feuerbälle, deren Hitze dich schon aus über einer Million Kilometern zu Asche verbrennen.
»Äh … Estelle.«
»Komm mit.«
Nicht in der Lage, mit so viel Energie und Direktheit klarzukommen, lasse ich mich an der Hand mitziehen. Durch die Tür. Wir pressen uns an Mädchen in Miniröcken und an oberkörperfreien Jungs vorbei, die sich gegenseitig Wasser und Cocktails überschütten. Durch die zwei gläsernen Schiebetüren geht es in den Garten. An der Hecke steht ein Trampolin. Eines dieser blauen Teile, die sich alle als Kind zu Weihnachten gewünscht, bekommen und nur dann genutzt haben, wenn Freunde kamen, die selbst keins hatten. Isy streift ihre Pumps von den Füßen ab, bedeutet mir, ihr zu folgen und klettert auf das schwarze Trampolin, das von einem halb zerrissenen Netz umrandet wird. Ich krabbele auf die elastische Fläche, die unter mir nachgibt und mich in die Mitte rutschen lässt. Die Federn quietschen in der lauten Stille. Isy steht auf und fängt an zu springen, wobei ich im Sitzen selbst auf und ab hopse.
Wir sagen eine lange Zeit nichts. Ich blicke in den Himmel, wünschte, ich wäre an einem anderen Ort. Weit weg von allem, was mich hier an den Boden kettet. Ich fange an zu springen, immer höher, bis ich einen Blick über die Hecke in den Garten des Nachbarn erhasche. Eine verschmutzte Kinderrutsche aus rotem Plastik steht dort auf dem ungemähten Gras. Verlassen.
»Hast du mal davon geträumt, davonzufliegen? Weit weg von allem?«, fragt mich Isy, als habe sie meine Gedanken gelesen.
»Oh ja!«
Ich spanne all meine Muskeln, ziehe die Knie an und schließe die Augen, als könnte ich so in ein Paralleluniversum springen. Leider erschwert der Alkohol die Koordination meiner Glieder. Anstatt Raum und Zeit zu durchqueren, verdrehe ich mir beim Aufkommen auf das Trampolin beinahe den Knöchel, weil ich die Beine nicht rechtzeitig ausgestreckt habe.
Als ich einige Zeit später wieder auf der Party bin, weiß ich nicht mehr, wie ich hergekommen bin. Mein Kopf dröhnt, und ich kann den Alkohol deutlich spüren.
Ich sehe bunte Lichter und Menschen.
Cocktails und lachende Gesichter.
Jemanden, der sich im Bad übergibt.
Noch mehr lachende Gesichter.
Zwei Jungs, die aufeinander losgehen und den klatschenden Kreis darum herum.
Ich fühle mich verloren. Weiß weder, wo Lisa ist, noch, wo sich Isy befindet. Ansonsten kenne ich niemanden.
Ich will weg. Die Entscheidung fällt mir plötzlich nicht mehr schwer, und was heute Morgen in der Politikklausur angefangen hat, wird heute Nacht noch vollzogen. Ich drängele mich mit meinen Ellbogen durch die Menge, direkt zur Haustür. In meinem Kopf höre ich immer noch Isys Stimme: »Hast du mal davon geträumt, davonzufliegen?«
Ich wühle durch den Jackenstapel auf dem Treppengeländer und greife nach dem braunen Herbstmantel, den mir meine Mutter beim Rausgehen vorhin noch in die Hand gedrückt hat. Sie hat mich hierherkommen lassen, obwohl sie wusste, dass die Klausur heute Morgen nicht gut gelaufen ist. Sie hat mich gehen lassen, weil sie mir vertraut. Will ich dieses Vertrauen wirklich brechen?
»Estelle!«, höre ich plötzlich meinen Namen. Ich drehe mich um und entdecke Isy, die durch den Flur in meine Richtung stöckelt.
»Wo bist du plötzlich hingegangen? Ich dachte, du wartest auf mich! Ich wollte doch nur schnell aufs Klo!«
Ich kann mich nicht erinnern. Ich bin zu müde für so etwas.
»Ich muss weg«, sage ich.
»Wohin?«
»Was kümmert dich das?«
Sie zuckt die Schultern, runzelt die Stirn und schaut mich aus großen, runden Feueraugen an. »Kann ich mitkommen?«
»Was?«
»Kann ich mitkommen?«, wiederholt sie.
Ich gebe ein kurzes Lachen von mir. »Ich glaub, du verstehst es nicht. Ich komm nicht mehr hierher zurück. Ich geh nicht mal schnell um den Block herum. Ich will weg hier.«
»Wohin?« Isy wirkt überhaupt nicht überrascht.
»Ähm … Ich weiß nicht, einfach weg. Vielleicht … nach … München?«, sage ich und habe keine Ahnung, was ich mir damit einbrocke.
»Super! Ich komm mit.« Und weil es keine Frage ist, kann ich wohl nicht Nein sagen.
Flucht, die: Substantiv, feminin
Weglaufen vor der Wirklichkeit
Es ist fünf Uhr sechzehn am Morgen, behauptet mein Handy. Der 26. September 2015.
Ich sitze in der Bahn neben einem fast-fremden Mädchen, das mich die ganze Zeit volllabert, während ich gedankenverloren Löcher in die Luft starre. Ich habe es getan. Ich bin mit Isy in die S-Bahn von Rodgau, Nieder-Roden, nach Frankfurt am Main gestiegen, mit dem spontanen Ziel, von dort aus nach München zu kommen.
Es stinkt nach Rauch und Alkohol und nach einem anderen, beißenden Geruch, den ich aus dem verhassten Chemieunterricht kenne und von Autobahnrastplätzen.
Urin – flüstert mir meine langsame Erinnerung das Wort zu.
Unter normalen Umständen würde ich die Nase rümpfen, angeekelt bei der nächsten Station aussteigen und alles tun, um so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Stattdessen versuche ich mich daran zu erinnern, wie lange der Körper braucht, um Alkohol zu verarbeiten. Wenn ich weglaufe, dann wenigstens nüchtern.
Ich drehe den Kopf in Isys Richtung, will sie fragen und merke, dass sie immer noch am Reden ist. Mein Blick fällt auf ihre roten Lippen, die sich die ganze Zeit bewegen.
Zehn Stunden. Der Körper braucht ungefähr zehn Stunden, um Alkohol komplett abzuarbeiten. Wie lange ist mein letztes Glas her?
Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr und erschrecke, weil ich anfangs die Zeiger verwechsle, es kann doch unmöglich plötzlich sechs Uhr zwanzig sein! Nein, es ist fünf Uhr dreißig. Also schlage ich meine Handtasche auf und wühle nach meinem Handy. Dabei zähle ich im Kopf nacheinander die Dinge auf, die ich auf dieser spontanen Reise dabei habe: ein Ladekabel, Hausschlüssel, eine halb volle Flasche Deo, eine halbe Packung Taschentücher und ein Portemonnaie, in dem sich genau drei Euro sechsundvierzig befinden. Ach, und natürlich mein Handy. Perfekte Ausrüstung zum Davonlaufen – nicht!
Ich lehne mich zurück, senke den Blick auf meine Hände und lasse den Tag Revue passieren. Mein Kopf fühlt sich an, als seien meine Gedanken darin zu einem Knäul zusammengewachsen, mit dem eine alte Katze spielt, die sich selbst nur langsam bewegen kann. Ich überlege eine Millisekunde, ob ich Kyra Bescheid sagen soll, wo ich hingehe, verwerfe den Gedanken allerdings gleich darauf, weil sie um die Uhrzeit mit Sicherheit schon – oder eher noch – schläft.
Fünf Uhr einundvierzig.
Isy nimmt meine Hand und zieht mich aus dem Wagen heraus in die kühle Luft des Frankfurter Hauptbahnhofs. Die Anzahl der Gleise in dieser riesigen Halle ist mit Sicherheit doppelstellig. Ich blicke mich um. Die gewölbte Decke wird von dutzenden Pfeilern gehalten, deren metallene Architektur mich an die des Eifelturms erinnert.
Meine Beine zittern unter meinem Gewicht, als wir an den Fahrplantafeln vorbeilaufen und den Bahnsteig verlassen. Auf der Plattform am Ende der Gleise tummeln sich die Bäckereien und Zeitungsstände, und der Duft von frisch gebackenem Brot strömt in meine Nase. Ich würde mich am liebsten hier direkt auf den Boden legen und schlafen.
Stattdessen übergebe ich mich vier Minuten später auf der Damentoilette.
Auf dem Boden liegt Klopapier. An den Türen kleben getrocknete Kaugummis. Jemand hat seine Nummer mit schwarzem Edding über das Waschbecken geschrieben.
Ich stütze mich mit beiden Händen am Becken ab und schließe die Augen.
Was mache ich hier?
Das Mädchen mit den kurzen roten Haaren, die in alle Richtungen abstehen und das sich selbst so gerne in den Vordergrund rückt – ja, richtig: Isy – legt mir eine bekräftigende Hand auf die Schulter. Sie lächelt mich im Spiegel an und singt:
»Lass uns verschwinden.
Lass uns wegfahren,
wegrennen,
wegfliegen!
Lass uns Welten bereisen und nie wieder zurückkehren.
Lass uns davonlaufen und Träume leben.
Lass uns wegfahren,
wegrennen,
wegfliegen.
Lass uns einfach wir selbst sein. Frei und unbekümmert.
Lass uns gehen.«
Ich runzele die Stirn, ziehe die Brauen hoch.
»Hab’ ich selbst geschrieben«, sagt sie lächelnd. Sie sieht überhaupt nicht so fertig aus wie ich, obwohl sie mit Sicherheit auch einen satten Alkoholspiegel im Blut vorzuweisen hat.
»Komm«, flüstert sie mir ins Ohr.
Sechs Uhr vier.
Wir verlassen den Hauptbahnhof und Isy schlägt vor, ein paar Fahrräder zu klauen.
»Sehr witzig«, antworte ich. Als sie anhält und sich auf die Fahrradständer zubewegt, greife ich schnell nach ihrer Hand und ziehe sie zurück. Sie ist so anders als ich, dass ich es ihr sogar zutrauen würde. Sie dreht sich zu mir um, schmunzelt.
»Hast recht. Ich weiß was Besseres.«
Wir überqueren die Straße, ohne dass ich sie frage, was genau ihr neuer Plan ist. Frankfurt wird langsam wach, die ersten Autos werden auf die Straßen manövriert, und LKWs fahren ihre Bestellungen aus, bevor der ganze Arbeitsverkehr beginnt. Wir laufen die Kaiserstraße entlang, an Apotheken und Restaurants vorbei, deren Türen allesamt noch verschlossen sind. Während ich langsam erfasse, was es für mich und meine Familie bedeutet, davonzulaufen, und was die Konsequenzen sein könnten, schaut sich Isy konzentriert die Umgebung an. Dabei hält sie mehrmals mitten auf dem Bürgersteig an. Obwohl es außer den gelegentlichen Parkbänken, parkenden Autos und geschlossenen Läden nichts zu sehen gibt, murmelt sie vor sich hin und nickt mehrmals.
Wir biegen in leere Seitenstraßen ab, und ich weiche mehrmals dem Blick von Obdachlosen aus, die in Mülleimern wühlen oder sich in Decken kuscheln und Schilder mit der Aufschrift »Please help« hochhalten.
Die kühle Morgenluft weckt mich langsam, als wir den Main erreichen. Während ich den Blick über das gegenüberliegende Ufer gleiten lasse, untersucht Isy einen orangefarbenen Pick-up, von dem ich mir nicht sicher bin, ob er vielleicht ein Sondermodell ist. Anders kann ich mir ihr Interesse an der Schrottkiste, deren Farbe bereits abblättert, nicht erklären.
Während ich laut überlege, dass wir doch eine Tour durch ganz Deutschland starten könnten – erst Richtung München, dann Dresden, Berlin, Hamburg und schließlich Köln – und Isy mir zustimmt, ohne den Blick von dem Auto abzuwenden, färben sich die Wolken langsam lila. Die ersten Sonnenstrahlen brechen durch sie hindurch und bringen die gläsernen Fassaden der Hochhäuser am Horizont zum Glitzern.
Überall um uns herum liegen abgefallene Herbstblätter, die unter den Schritten der wenigen Passanten knistern. In dem schummrigen Licht, das vom bewölkten Himmel kommt, sehen die Blätter aus wie riesige Schmetterlinge, die im Wind hin und her flattern und trotzdem am Boden bleiben. Wieso fliegen sie nicht weg? Wieso lassen sie nicht alles hinter sich, was sie hier festhält?
Ich drehe mich zum Pick-up, werfe einen Blick in einen der Seitenspiegel und betrachte meine durchschnittlich dunkelblonden, schulterlangen Haare, meine durchschnittlich braunen Augen und meine durchschnittlich weiße Haut. Ich denke daran, dass dieses Durchschnittsmädchen heute endlich den Teufelskreis von Schul- und Beziehungsstress durchbrochen hat. Selbst im nüchternen Zustand werde ich mir allmählich sicher, dass das, was ich mache, das ist, was ich brauche.
Ich will gerade Isy fragen, ob sie einen Plan hat, wie wir Geld verdienen können, um für öffentliche Verkehrsmittel zu zahlen, als ein lautes Klirren ertönt. Ich reiße den Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch kommt und weite erschrocken die Augen, als ich sehe, dass Isy durch das verschwundene Beifahrerfenster greift und die Tür des Pick-ups von Innen entriegelt.
»Spinnst du?!«, schreie ich auf.
»Nicht so laut!«, keift sie und klettert auf den Fahrersitz.
»Bist du bescheuert? Hast du gerade wirklich das Fenster mit einem High Heel zerbrochen?«
»Wie sollen wir das Auto denn sonst klauen?«, entgegnet sie vollkommen ungerührt.
»Du willst einen fremden Pick-up klauen?«, frage ich ungläubig.
»Ja, würde ja keinen Sinn ergeben, den eigenen zu klauen«, antwortet sie, als sei ich bescheuert und beugt sich nach vorn, um wie in Filmen mit den Kabeln unter dem Lenkrad zu hantieren.
»Und … warum?« Ich kann nicht fassen, dass sie das ernst meint.
»Wie sollen wir denn sonst wegfahren? Du stellst echt dumme Fragen«, antwortet sie genervt, ohne mir einen Blick zu schenken. »Ach fuck!«, schimpft sie stattdessen mit dem Auto und steckt den Zeigefinger in den Mund, weil sie sich offenbar geschnitten hat.
»Was stehst du so blöd rum? Steig endlich ein und schließ die Tür ab!«
Ich tue, wie befohlen, ohne darüber nachzudenken, was für Konsequenzen das mit sich ziehen wird. Das kann doch nicht sein!
So viel zu: Ich laufe weg, das wird super. Wahrscheinlich sitzen wir schon heute Mittag im Gefängnis, und ich muss mich dann vor meinen Eltern rechtfertigen, wie mir so ein Fehltritt passieren konnte. Ich stöhne.
»Yes!«, ruft Isy plötzlich und setzt sich wieder gerade hin. »Gleich sind wir weg«, grinst sie selbstgefällig und tritt auf irgendwelche Pedale. Nichts geschieht.
»Am Ende ist diese Karre gar nicht mehr fahrfähig«, murmelt sie. Ich sitze schweigend daneben, kann mich nicht entscheiden, ob ich aussteigen und wegrennen oder ihr helfen soll, weil ich mich nicht traue, allein davonzulaufen und mit Sicherheit nicht nach Hause will.
»Wenn diese Schrottkiste beim nächsten Versuch immer noch nicht anfährt, dann holen wir uns einen der Audis da hinten und zeigen es mal den ganzen Kapitalistenschweinen, die sich sowas leisten können! Ich dachte, das wäre mit dem Ding hier einfacher, weil das Sicherheitssystem nicht so kompliziert ist, aber dieser verfickte Motor will einfach nicht anspringen!«
Ich starre sie an. Das kann nicht ihr Ernst sein. Das kann einfach nicht ihr Ernst sein.
»Jetzt stell dich nicht so an!«, seufzt Isy und schenkt mir nach einer halben Ewigkeit wieder einen Blick. Ich schüttele den Kopf. Das kann nicht ihr Ernst sein.
»Komm her und halt das mal kurz«, sagt sie und deutet auf ein loses Kabel, das unter dem Lenkrad hängt.
Wenn ich das tue, bin ich definitiv mitschuldig, wenn die Polizei uns ertappt.
Falls sie uns ertappt.
Ich gebe nach und tue, was sie von mir verlangt, als ich von draußen Schritte höre. Erschrocken darüber und in Panik, jemand könnte uns sehen, drehe ich mich um. Eine dunkle Gestalt kommt auf uns zu. Es ist ein Junge, der mit Sicherheit einen halben oder ganzen Kopf größer ist als ich und dessen Gesicht von dem Schatten seiner Kapuze verdeckt wird. Er ist schlank, aber sicherlich nicht unsportlich.
»Isy«, stoße ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Ich bin für einen Moment vollkommen erstarrt, kann nicht anders, als regungslos dabei zuzuschauen, wie der Junge immer näherkommt, direkt auf uns zu.
Problem, das: Substantiv, Neutrum
Die neutrale Form von Komplikation
Der Junge läuft direkt in unsere Richtung, zögerlich, als sei er sich nicht sicher. Als traue er seinen Augen nicht. Unsere Blicke kreuzen sich, als seine Kapuze ein Stück abrutscht und die ersten Sonnenstrahlen auf sein markantes Gesicht fallen.
Ich senke hastig den Blick, bin mir nur zu bewusst, dass ich gerade in einem fremden Auto sitze. Adrenalin strömt durch meine Adern. Ich sehe mich um. Isy ist weg. Wo ist sie hin?
Ich muss mich verstecken – ist der erste halbwegs vernünftige Gedanke. Nur wo? Unter das Armaturenbrett, im Fußraum? Nein, weg hier. Aber er hat mich schon gesehen. Ganz ruhig. Tue so, als wäre es dein Auto. Ja, genau. Lächele.
Ich schiebe meine Mundwinkel nach oben, lehne mich zurück und gebe vor, auf jemanden zu warten. Ich fange sogar fast an zu pfeifen, bis mir einfällt, dass ich gar nicht pfeifen kann. Ein Seitenblick zum Jungen. Er ist nur noch beängstigende vier oder fünf Meter entfernt. Wieso kommt er hier her? Hat er Isy gehört, als sie die Scheibe eingeschlagen hat? Verdammt. Mein Herz schlägt mir bis zum Halse, und ich spüre, wie das Adrenalin durch meinen Körper gepumpt wird und mir zuschreit, wegzulaufen. Ganz ruhig. Ich kann das erklären, wenn er fragt. Irgendwie. Wo ist Isy verdammt nochmal?! Ich lächele den Jungen an. Seine Stirn legt sich in Falten, und seine Augen wirken alles andere als freundlich. Er ist keine zwei Meter von der Tür entfernt.
»Was m–«, setzt er gerade an und ich denke: Das war’s. Hallo Polizei und Jugendhaft, als plötzlich blitzschnell etwas gegen den Kopf des Fremden stößt und ein dumpfer Schlag ertönt. Ich blinzle und sehe, erstarrt vor Schock, wie der Junge in Isys Arme fällt. Sie lässt etwas erschrocken den High Heel in ihrer Hand zu Boden fallen. Etwas ungeschickt legt sie den Jungen auf der Straße ab, und ich falle aus meiner Starre. Mit zitternden Händen ziehe ich am Türgriff und springe aus dem Pick-up.
DAS KANN NICHT IHR ERNST SEIN!
Isy steht, den roten Schuh musternd, über dem Fremden und zieht sich gleichzeitig flache Chucks aus ihrer Handtasche an.
»Diese High Heels sind genial«, grinst sie. Wie kann sie jetzt noch grinsen?
»Was hast du gemacht?«, schreie ich auf, als ich den armen Jungen auf der Straße liegen sehe, und erschrecke vor dem Blut, das neben seinem Kopf viel zu schnell auf den Asphalt tropft. Eine Adrenalinwelle überflutet mich, und ich falle auf die Knie. Ich ziehe meine Herbstjacke aus und streife die dünne Bluse, die ich darunter trage, ab. Ich fröstele im T-Shirt und ziehe hastig die Jacke wieder an. Unsicher, wie ich es anstellen soll, hebe ich vorsichtig den Kopf des Fremden an und drücke die Bluse auf die Stelle an seinem Hinterkopf, aus der das ganze Blut strömt.
Das kann doch nicht wahr sein. Das kann nicht sein!
»Lebt er noch?«, frage ich entsetzt.
»Natürlich!«, antwortet Isy und verdreht die Augen, kniet sich jedoch neben mich und tastet nach dem Puls des Jungen.
»Ja, alles in Ordnung. Hab’ ihn nur für kurze Zeit K.O. geschlagen. Wir können ihn ja vor eine der Haustüren legen, bevor wir wegfahren. Es gibt bestimmt irgendwen, der sich um ihn kümmern wird.«
»Sag mal, hast du sie noch alle?!«, schnauze ich sie an. »Das kannst du nicht machen! Bist du vollkommen bescheuert?« Ich schüttele den Kopf, wische mir mit einer blutigen Hand eine Strähne aus den Augen und fasse eine Entscheidung: Wir werden diesen Jungen mitnehmen. Jetzt gibt es kein Zurück.
Daniel, so heißt er zumindest auf dem Personalausweis, den Isy im Portemonnaie in der Hosentasche des Jungen gefunden hat, liegt auf der Rückbank des Pick-ups. Offensichtlich wurden wir von seinem Besitzer ertappt, denn Isy hat das Auto mit den Schlüsseln, die wir ebenfalls in den Taschen gefunden haben, starten können. Sie hat noch keinen Führerschein und hatte bisher nur einige wenige Fahrstunden. Die Fahrt aus Frankfurt heraus ist der reinste Wahnsinn. Das ganze Hupen und die Beschimpfungen scheint Isy gewöhnt zu sein, denn sie sagt erst einmal gar nichts, konzentriert darauf, keinen Unfall zu bauen. Was, wenn wir jetzt angehalten werden? Wir haben einen bewusstlosen Jungen auf der Rückbank. Dann noch das zerbrochene Fenster und Isys Fahrstil. Da kann jedes Grundschulkind eins und eins zusammenzählen.
Ich weiß nicht, welche Fügung des Schicksals oder welcher Gott uns zur Hilfe kommt, aber wir schaffen es, nachdem wir den Motor gefühlte tausendmal abgewürgt haben, heil auf eine Landstraße. Mein Herz beruhigt sich allmählich, und ich glaube, Isy gewöhnt sich langsam an das Auto. Ich will gerade vorschlagen, irgendwo anzuhalten, um den Weg zu besprechen, als mir plötzlich die Luft abgeschnitten wird. Mein Kopf wird nach hinten an den Sitz gedrückt und ein starker Arm presst sich gegen meine Luftröhre. Ich schlucke, gebe einen merkwürdigen Laut von mir, der überhaupt nicht wie ein Schrei klingt. Ich kralle meine Fingernägel in Daniels Arm – er muss derjenige sein, der mich hier fast erwürgt.
»Lass los«, krächze ich. »Ich. Krieg. Keine. Luft«, bringe ich Stück für Stück heraus. Meine Augen fangen an zu tränen, und ich zerre immer wilder an dem Arm. Mein Herz erreicht ein ungekanntes Tempo. Wie kann er nur so stark sein?
Ich kann den Kopf nicht bewegen, kann Daniel nicht sehen, bis Isy endlich den Kopf zur Seite dreht und uns vor Schreck fast direkt in den Straßengraben fährt.
»Was zu Hölle?!«, ruft sie aus. »Lass sie los, du Arsch!«
»Wo bringt ihr mich hin?«, fragt Daniel hinter mir mit gefasster Stimme.
»Wir – Estelle wollte…«, stottert Isy. Ihr Blick wechselt hin und her zwischen Straße und Rückspiegel, wo sie offensichtlich Daniel sehen kann.
»Ihr habt mich K.O. geschlagen und meinen Pick-up geklaut und jetzt kidnappt ihr mich auch noch?«
»Nein!«, krächze ich. Ich kann das Blut in meinem Kopf spüren und kratze Daniels Arm so fest ich kann. »Bitte!«, fange ich an zu flehen. Tränen laufen aus meinen Augenwinkeln heraus. Ich brauche Luft.
»Lass sie los! Ich halte gleich an, und zwar auf einem Parkplatz, wo alle sehen werden, was du hier mit uns treibst! Spinnst du? Willst du sie wirklich ermorden?«
»Ermorden?«, wiederholt Daniel. »Sie kann noch atmen!«
»Nein, kann sie nicht! Du bist also nicht nur ein Mörder, sondern auch noch blind?!«
Während die zwei anfangen, sich zu streiten, fällt mir ein, dass meine Handtasche auf dem Boden liegt. Wenn ich mit den Füßen herankomme, könnte ich … Mit beiden Füßen hebe ich die Tasche hoch und strecke eine Hand aus, um nach ihr zu greifen. Daniel scheint nichts bemerkt zu haben. Ganz leise, um die beiden nicht auf mich aufmerksam zu machen, ziehe ich die Schlüssel aus der Tasche und will sie Daniel gerade in den Arm oder in die Seite bohren, als der Schlüsselbund aus Versehen klirrt und Daniel sich plötzlich wieder mir zuwendet.
»Was –!?«, setzt er an und bückt sich zwischen den zwei Sitzen hervor, um zu sehen, was ich mache. Eine Welle Adrenalin überschwemmt mich und in einem Zug hole ich das Deospray heraus und sprühe ihm direkt ins Gesicht.
Vor Schreck lockert er seinen Griff, und ich schnappe erleichtert nach Luft, bevor ich ihm die gesamte Tasche über den Kopf ziehe und damit direkt gegen seinen Verband schlage, den ich vorhin improvisiert habe. Vor Schmerz zieht er seinen Arm komplett weg und klappt in sich zusammen.
»Wow. Estelle!«, ruft Isy halb begeistert, halb erstaunt. Ich wusste ehrlich gesagt auch nicht, dass ich dazu in der Lage bin und bin mir nicht sicher, ob ich darauf stolz sein sollte.
Während Isy an einer Tankstelle abfährt und dort neben dem Hauptgebäude parkt, behalte ich Daniel im Auge. Er liegt zusammengekrümmt auf der Rückbank, hält sich den Kopf und sagt kein Wort. Ich lasse das Deospray nicht los, als wäre es die ultimative Waffe. Träum weiter, Estelle – sagt mir mein Verstand, den ich gekonnt ignoriere.
Isy stellt den Motor ab, sieht mich an, dreht sich zu Daniel um und sieht wieder zurück zu mir. »Fuck.« Sie dreht sich nochmal um und erneut in meine Richtung. »FUCK! Was sollen wir denn jetzt mit ihm machen? Wir hätten ihn dalassen sollen!«
»Dann wäre er da wahrscheinlich verblutet!«, kontere ich, auch wenn mir klar ist, dass die Kopfwunde vielleicht doch nicht so tief ist, wie sie anfangs schien. Kraft hatte er ja genug, als er mich im Würgegriff an den Sitz gepresst hat.
»Okay. Ich werde jetzt versuchen, irgendetwas Brauchbares an der Tankstelle zu kaufen. Du bleibst hier und passt auf ihn auf«, befiehlt Isy und reicht mir die Stöckelschuhe aus ihrer Handtasche. »Wir müssen ihn mitnehmen. Wenn wir ihn frei lassen, petzt er.«
Ich schlucke. Ich soll auf ihn aufpassen?
»Beeil dich!«, bitte ich Isy. Sie nickt und steigt mit den Autoschlüsseln aus.
Die nächsten drei Minuten fühlen sich an wie Stunden. Ich lasse den regungslosen Daniel nicht aus den Augen und werde das ungute Gefühl nicht los, dass er vielleicht nicht mehr … Nein, ihm geht es gut. So fest hab’ ich ihn nicht geschlagen. Aber was, wenn er Erste Hilfe braucht, und ich gerade tatenlos zuschaue, wie er …?
»Daniel?«, sage ich unsicher.
Keine Antwort.
»Daniel?«, wiederhole ich etwas lauter. Sein Körper dreht sich, und ich atme erleichtert auf. Nur bewusstlos. Sein Gesicht wird sichtbar und zum ersten Mal nehme ich mir die Zeit, ihn zu mustern. Er hat eine gerade Nase, mittelhohe Stirn und etwas abstehende Ohren, die mich ein klein wenig an Dumbo erinnern. Sein braunes Haar ist relativ kurz, etwas gelockt. Im Großen und Ganzen sieht er ganz gut aus. Harmlos.
Seine Augenlider flattern auf. Shit.
»Nicht – nicht bewegen!«, sage ich mit so fester Stimme wie möglich, während ich am liebsten davonlaufen würde.
Er antwortet nicht, schaut mich nur schweigend an. Er hat eine grünbraune Iris und einen durchdringenden Blick, bei dem mir die Knie weich werden.
»Tut mir leid, dass wir dich mitschleppen. Das war nicht geplant«, sage ich, weil ich ehrlich sein will. Es überrascht mich nicht wirklich, dass er auch diesmal nicht antwortet.
»Ich …« Wie soll ich ihm sagen, dass ich das niemals wollte? Dass das Kriminellste, was ich je gemacht habe, Schule schwänzen war und auch nur, weil ich mich in einen Idioten verliebt hatte, der mich dazu angestiftet hat? Wie soll ich ihm sagen, dass ich ihm gerne vertrauen würde? Dass ich ihn trotz dem, was er mir angetan hat, irgendwie auch verstehen kann? Wer hätte nicht so gehandelt? Es war Selbstverteidigung.
»Wie heißt du?«, will er schließlich wissen.
»Estelle.«
»Klingt schön.« Toll. Er muss echt keine Angst vor uns haben, wenn er mich schon komplimentiert. Oder er schleimt und denkt, wir würden ihn dadurch gehen lassen. Andererseits – er scheint genug Kraft zu haben, um jetzt das Auto zu verlassen, wenn er wollte. Ich könnte ihn wahrscheinlich selbst mit Stöckelschuhen und Deospray nicht aufhalten – vor allem auf einem öffentlichen Parkplatz, auf dem es alle mitbekommen würden. Er könnte auch um Hilfe schreien und alle würden es hören, wo das Beifahrerfenster doch zerbrochen ist.
»Wie … wie geht’s deinem Kopf?«, ignoriere ich meine eigenen Gedanken und verziehe schuldbewusst das Gesicht.
»Geht«, antwortet er und tastet mit den Fingern nach dem ›Verband‹. »Was ist das?«, will er wissen.
Ich presse die Lippen aneinander. »Meine Bluse. Wir hatten nichts Besseres und … es tut mir echt leid! Das war Isy und –«, setze ich an.
»Schon klar.«
»Was hast du vorhin denn um die Uhrzeit draußen gemacht? Ich meine, es ist Samstag.«
»Ich bin von einer Party zurück und hab’ das Geräusch gehört, als ihr meine Fensterscheibe zerstört habt. Ich wohne direkt gegenüber … was auch Sinn ergibt, weil es mein Pick-up ist. Aber das habt ihr bestimmt gemerkt.« Der Vorwurf in seiner Stimme ist nicht zu überhören.
Ich gehe nicht auf das gestohlene Auto ein. »Du wohnst direkt in der Innenstadt? Seid ihr reich?«
Shit. Das habe ich jetzt nicht laut gesagt, oder?
Ein kleines Lachen rollt überraschenderweise aus seiner Kehle heraus, und er stützt sich mit den Händen ab, um sich aufzusetzen. Meine Hand um Isys rechten Stöckelschuh verkrampft sich. Ich könnte ihn nicht nochmal schlagen. Nicht, wenn ich mich dabei nicht selbst verteidige.
»Meine Mutter ist Rechtsanwältin. Aber reich würde ich das nicht nennen. Wobei ihr bestimmt genug Geld bei uns finden würdet, wenn ihr beide wirklich auf Diebesgut aus seid. Was ich nicht glaube, ihr seht nicht sehr professionell aus.«
Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen, schließe ihn jedoch wieder. Was soll ich schon sagen?
»Wahrscheinlicher wäre, dass ihr einfach nur ein Auto gebraucht habt. Aber wieso?«
»Ich –«, setzte ich an, als Isy plötzlich wieder am Pick-up steht und die Fahrertür aufreißt. Sie wirft Daniel einen tödlichen Blick zu, bevor sie mir einen Cafébecher und ein Taschenmesser überreicht.
Ich nehme ihr beides ab und sehe sie fragend an. Sie hebt den Finger, um mir zu bedeuten zu warten, nimmt einen großen Schluck ihres Cappuccinos, verbrennt sich, heult auf und hüpft fluchend von einem auf das andere Bein.
»Fuck it! Fuck! Fuck! Fuck!«, kreischt sie.
»Tief einatmen«, rät ihr Daniel und erntet ein gebelltes »Schnauze!«.
»Isy«, versuche ich, auf sie einzureden, aber sie bedeutet mir mit der Hand und einem unmissverständlichen Blick, dass ich leise sein soll.
»Okay«, sagt sie, als sie sich wieder im Griff hat. »Es gibt keine Seile und das einzige Messer, das ich auftreiben konnte, ist das hier. Für mehr reichte auch das Kleingeld in Daniels Portemonnaie nicht.« Sie wendet sich an Daniel. »Damit das klar ist: Wir hauen ab. Wir haben beide keinen Bock auf dieses verfickte Scheißsystem–« Schön, dass sie für mich mitspricht … »Und brauchen den Pick-up und dein Geld. Unter anderen Umständen würde ich lieber einen alten kapitalistischen Sack ausbeuten, aber du bist wohl die praktischere Wahl. Tut mir leid.« Sie klingt ganz und gar nicht, als würde es ihr leidtun. »So. Jetzt lassen wir dir die Wahl: Entweder du rennst zur Polizei, während wir samt deiner Kreditkarte und deinem Pick-up schon über alle Berge sind oder –«
»Oder du versprichst uns, nichts zu sagen, und wir fahren dich heim«, sage ich, weil ich doch irgendwie noch an das Gute im Menschen glauben möchte. Isy verdreht die Augen. »Du bist so naiv, Estelle! Vielleicht hätte ich doch noch drüber nachdenken sollen, bevor ich dich mitgeschleppt habe …«
Ich sauge die Luft ein. Bevor sie mich mitgeschleppt hat? Wer wollte hier denn bitte zuerst abhauen?
»Oder ich komme mit?«, schlägt Daniel vor und tauscht mit mir einen kurzen Blick aus.
»Du willst freiwillig mitkommen?«, fragt Isy überrascht nach und vergisst für einen Moment, ihn mit Blicken zu töten. Er sieht uns beide mit ernster Miene an.
»Du willst wirklich mit?«, frage auch ich nach. Das kann er nicht ernst meinen. Andererseits hätte er vorhin die Chance gehabt, wegzulaufen und ist hiergeblieben.
»Ja.«
Ich bin mir nicht sicher, ob ein Funken Ironie in seiner Stimme mitschwingt. Doch als er selbst nach weiterem Nachfragen nicht mehr sagt als Ja, er wolle mit, er wolle auch weg, wird letztendlich klar, dass wir diese Reise, wo immer sie uns auch hinführt, zu dritt angehen werden.
»Wie können wir dir vertrauen?«, will Isy schließlich wissen.
»Du darfst meine Papiere, Kreditkarte und die Schlüssel behalten. Unter einer Bedingung –«
»Ich glaube nicht, dass du dich in der Position befindest, Bedingungen aufzustellen«, unterbricht ihn Isy. Ich glaube schon, dass er das kann – denke ich. Egal, was Isy sagt, Daniel scheint sich von der Kopfwunde wieder genug erholt zu haben und wirkt ganz und gar nicht mehr schwach. Ich bezweifle stark, dass Isy und ich zusammen eine Chance gegen ihn hätten.
Daniel schüttelt den Kopf und fährt fort: »Ich fahre oder ich bringe es euch bei, aber so wie wir hierhergefahren sind, werden wir nicht lange überleben.«
Isy wirft ihm einen tödlichen Blick zu, sodass er auf der Stelle verstummt, verdreht die Augen und grummelt schließlich: »Von mir aus.«
Ein kleines Lächeln bildet sich auf meinen Lippen.
»Willst du zum Aufwachen etwas Kaffee? Ich trinke nur heiße Schokolade«, erkläre ich und überreiche Daniel als freundschaftliche Geste den Kaffeebecher, den Isy mir mitgebracht hat.
»Danke«, antwortet er und schmunzelt.
Vielleicht wird das ja doch noch etwas mit uns dreien. Vielleicht schaffen wir es, miteinander klarzukommen, ohne uns die Kehlen aufzuschneiden. Vielleicht war es die richtige Entscheidung, mit Isy wegzulaufen.
allein: unglückliches Adjektiv
Einsam, hilflos
Ich stehe mit Daniels Kreditkarte an der Kasse, während die anderen beiden im Auto auf mich warten. Wir haben getankt, und ich habe mir das getrocknete Blut von Daniels Wunde von den Händen gewaschen, bevor ich eine Tüte Haribo-Kirschen, Chips, drei Sandwiches, ein paar Konservendosen, und auf Isys Wunsch eine Sektflasche gekauft habe. Isy ist übrigens diejenige, die mir eingeredet hat, ich hätte keine andere Wahl, als mit Daniels Karte zu bezahlen. Als der Kassierer eine Unterschrift von mir will, kopiere ich so gut es geht Daniels unlesbares, geschwungenes D-irgendwas und laufe mit gefüllten Plastiktüten zum Auto zurück.
Sobald ich auf der Beifahrerseite einsteige, werde ich von der hitzigen Stimmung einer Diskussion umgeben. Trotz Vereinbarung bin ich etwas überrascht, Daniel vorn am Lenkrad zu sehen, Isy hinter ihm mit ausgeklapptem Taschenmesser.
»Ich werde dich schon nicht erstechen, nur weil du eine andere Meinung hast! Aber ich versteh nicht, wie du Überwachungskameras und Datenspeicherung befürworten kannst.«, erklärt Isy.
»Datenspeicherung habe ich doch gar nicht erwähnt!«, entgegnet Daniel.
»Natürlich, das gehört doch zusammen. Wenn du annimmst, alles, was diese Kameras aufnehmen, würde nicht gespeichert werden, bist du ja naiver als Estelle hier!«
»Hey!«, wehre ich mich.
»Na, was hast du denn zum Überwachungsstaat zu sagen?«, wendet sich Isy an mich.
»Überwachungswas? Wie kommt ihr darauf?«
»Ich hab’ laut überlegt, was wir tun könnten, um Daniel zu vertrauen und hab’ den Fehler begangen, Kameraüberwachung vorzuschlagen, was an sich natürlich komplett nutzlos wäre, weil wir es erstens niemals als Beweis anführen könnten – wir verstoßen ja in gewisser Weise selbst gegen das Gesetz – und weil es zweitens zu hundert Prozent gegen meine eigenen Ideale verstößt.«
»Ooookaay?«, antworte ich etwas verdutzt. Allmählich habe ich das Gefühl, im falschen Film gelandet zu sein.
»So, die Frage war also: Was sagst du dazu? Daniel hier scheint wohl Datenspeicherung, Vollüberwachung und den Verstoß gegen das Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung gutzuheißen.«
Ich starre sie verwirrt an. Meint sie das gerade ernst? Willkommen zurück im Politikunterricht. Isy schaut mich weiterhin fragend an, als erwarte sie eine Antwort. Auch Daniel begutachtet mich interessiert.
»Ähm«, ist meine einfallsreiche Entgegnung.
Vier hochgezogene Augenbrauen verspotten mich.
»Und?«, hakt Isy nach.
»Ähm.« Ich schlucke. Ich könnte so tun, als hätte ich irgendeinen Plan und irgendwelche schlauen Fremdwörter von mir geben, die ich irgendwann mal aufgeschnappt habe.
Ich könnte es auch lassen.
»Keine Ahnung.«
»Echt jetzt?«
Langsam bin ich echt genervt von den beiden. Besonders von Isy.
»Ja, echt jetzt!« Ich verdrehe die Augen.
»Wieso nicht? Du hast doch wohl eine Meinung«, meldet sich Daniel ganz neutral. Was will er denn jetzt? Er kennt mich doch gar nicht! Und Isy übrigens auch nicht, selbst wenn sie die ganze Zeit so tut, als wären wir beste Freundinnen.
Ich zucke nur genervt mit den Schultern und wechsle das Thema: »Also, wenn ihr beiden darüber diskutieren wollt, kann ich mich auch gerne nach hinten setzen. Dann können wir auch endlich wieder losfahren.« Ohne auf eine Antwort zu warten, steige ich mit den Einkäufen aus dem Auto und auf der Rückbank wieder ein. Isy schenkt mir einen Was-ist-los-ich-versteh-überhaupt-nicht-was-du-hast-Blick, klettert aber samt Taschenmesser auf den Beifahrersitz. Als ob so ein kleines Messer Daniel davon abhalten könnte, uns direkt zur Polizei zu fahren.