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© 2021 Thomas Ranft
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 9783753484235
Der Autor freut sich über Lob, Kritik und Fragen.
thoranft@gmail.com
Nach fast fünf Jahren Russlandaufenthalt kehre ich nun in meine Heimat Deutschland zurück und fasse die Erlebnisse der letzten beiden Jahre in Buchform zusammen. In der größten Universität der Stadt Ulan-Ude, in der in Deutschland weitgehend unbekannten russischen Republik Burjatien, habe ich die deutsche Sprache und Landeskunde unterrichtet. In dieser Zeit hatte ich die Gelegenheit, andere Länder der ehemaligen Sowjetunion sowie Russlands Nachbarn Mongolei und China zu bereisen. Jedes dieser Länder befindet sich heute auf seine ganz eigene Weise zwischen Verfall und Aufbruch, zwischen Vergangenheit und Zukunft. Während die baltischen Länder ihr kommunistisches Erbe wie ein lästiges Stück Geschichte abschütteln möchten, wird die Sowjetunion in Transnistrien verklärt und konserviert. In der Mongolei nähere ich mich auf staubigen Buckelpisten vorbei an rauchenden Jurten der Hauptstadt; in China sitze ich im Hochgeschwindigkeitszug und fahre mit fast vierhundert Stundenkilometern an einem Meer von Wolkenkratzern vorbei. Während viele russische Dörfer von jungen Leuten verlassen sind und überall Ruinen stehen, quellen in Tadschikistan Kinder aller Altersstufen aus den Eingängen der armen, aber ganz reinlichen und aufgeräumten Gehöfte. Georgien vermarktet seine Bergschönheiten mit westlicher Professionalität; das benachbarte Abchasien liegt noch zwanzig Jahre nach dem Unabhängigkeitskrieg abseits der Touristenströme und zu großen Teilen in Trümmern.
Russland, mein Lebensmittelpunkt der vergangenen Jahre, ist ein Land faszinierender und mit dem Verstand nicht zu erfassender Gegensätze. Der Herzlichkeit, Wärme und Gastfreundschaft vieler Menschen im Privaten stehen Grobheit und Ignoranz im öffentlichen Raum gegenüber. Unkomplizierte Großzügigkeit paart sich mit kleinteiligster, umständlicher und sinnloser Bürokratie. Große Projekte und Aufbruchsstimmung gehen einher mit Resignation und Verfall: die Goldene Zukunft, ein Terminus noch aus Sowjetzeiten, sie steht kurz bevor, ein Ruck noch, und alles wird gut – so ist es allerdings schon seit über hundert Jahren. Hier die endlosen Weiten der Steppe und Taiga, dort die kleinen Wohnungen, in denen sich drei Generationen zusammendrängen. Gemütlichkeit und Ordnung in den eigenen vier Wänden, lieblose stinkende Treppenhäuser, sobald man die Wohnungstür hinter sich lässt. Schick gekleidete Männer und sorgfältig geschminkte Frauen, die an Müllbergen am Straßenrand vorbeigehen. Deutschland dagegen nehme ich als Land der Mitte wahr, wo sich in Jahrhunderten der Hochkultur Ausgleich und Ebenmaß etabliert haben, Absicherung, Planungszwang und Vermeidung der Extreme. Als Johann Sebastian Bach im lieblichen Mitteldeutschland sein segensreiches Wirken entfaltete, hatten den Baikalsee gerade mal die ersten Kosaken erreicht und machten sich daran, das wilde Land zu zivilisieren.
Die Berichte sind dem Blog entnommen, den ich während der Jahre im Ausland geführt habe. Es ist die Fortsetzung meines ersten Buches „Drei Jahre am Baikalsee“, ein Versuch, die eigene Begeisterung weiterzugeben, Faszination zu wecken und neugierig zu machen.
Königstein (Sächsische Schweiz), Juni 2020
Ich stehe in Bargusin bei Sergej vor der Tür, einfach so, ohne Voranmeldung. In Russland ist es ganz legitim, spontan bei einem Bekannten aufzutauchen. Sergej öffnet die Tür zu seinem großen Gartengrundstück und freut sich, mich zu sehen. Ob vielleicht sein Telefon kaputt sei, möchte ich wissen, warum ich ihn nicht erreichen könne. Er habe doch versprochen, mit mir zwei Tage in die Berge zu gehen, Ende August? Das wäre dann jetzt so weit.
Sergej bittet mich, auf der Bank vor dem Haus Platz zu nehmen, setzt sich daneben und kratzt sich nachdenklich am Kopf. Eigentlich gäbe es ja zu tun: Heu einholen, Kartoffenernte, und dann habe man ihm ein Arbeitsangebot gemacht, einen Schafstall bauen, irgendwo im Norden des Tals. Aber gut, versprochen ist versprochen, vielleicht gibt es ja wenigstens Beeren in den Bergen, meint er, dann hat die Zeit, die wir dort verbringen, wenigstens auch einen Nutzen.
Mein Gastgeber hat schnell seine Sachen zusammengesucht: einen aus Blech und Holz selbstgezimmerten Kanister als Rucksack, ein Trinkgefäß mit Henkel, eine Feldflasche, Brot, Gurken, Tomaten, einen Pullover und zwei Blaubeerkämme. Unterdessen klagt mir seine Frau Mascha das neueste Unglück: die Ziegen auf der Farm sind verschwunden. - Wahrscheinlich hat der dort wohnende Arbeiter, dieser Taugenichts, sie vertrunken, abgegeben gegen Wodka, aber behaupten tut er jetzt, die Wölfe hätten sie geholt. Diesen Penner muss man verjagen und lieber ein junges Paar aufs Gut holen, aber finde erstmal jemanden, der da wohnen will! - Mascha seufzt. Ich schultere meinen LoweAlpine-Rucksack mit Hightech-Daunenschlafsack und zwei Schaumstoffmatratzen. Auf Zelt und Gaskocher verzichte ich bewusst: ich möchte von Sergej lernen, am Feuer unter freiem Himmel zu übernachten. Aufbruch!
Der Pfad, dem wir folgen wollen, heißt „Weg zum sauberen Baikal“ und wurde schon vor Jahren von jungen Freiwilligen der Organisation „Great Baikal Trail“ für wandernde Touristen ausgebaut und mit Markierungen versehen. In etwa drei Tagen gelangt man über den Bargusin-Bergrücken zum Baikalsee. Entweder dort wartet ein Boot auf einen, oder man geht den Weg wieder zurück, fünfzig Kilometer durch Taiga und Bergtundra.
Zunächst biegen wir falsch ab und folgen versehentlich einem schmalen Jägerpfad. Sergej sieht sehr viel mehr als ich: umgeknickte Äste – offensichtlich war der Jäger erst vor Kurzem hier; Axtmarkierungen an Baumstämmen, damit es auch im Winter Orientierung gibt; Zobelfallen, im Moment deaktiviert, da noch keine Jagdsaison ist: das kleine Pelztier, das den an einem Draht hängenden Lebendköder verspeist, wird von einer zuschnappenden Schelle festgehalten und an einem langen, wie eine Wippe befestigten Ast mit einem Gewicht auf der anderen Seite nach oben in die Luft geschleudert, wo ihn kein anderes Tier anknabbern und der Jäger einsammeln kann – der Zobel, das Gold Sibiriens, schon für die Pioniere seiner Erschließung im 17. Jahrhundert Anreiz und Einkommen.
Später folgen wir dem richtigen Weg, der trotz längst verblichener Markierungen und einiger halb verrotteter, in Holz gefräster Schautafeln immer gut erkennbar bleibt. Gegen Abend, nach etwa einem Kilometer Aufstieg, haben wir den Wald verlassen und kommen auf den bloßen Fels. Der 62jährige Sergej ist am Ende seiner Kräfte. Oben auf dem Pass wachsen mannshohe Latschenkiefern, dazwischen eine bereits angelegte Feuerstelle. Zeit, das Nachtlager aufzuschlagen: mit Nadeln und dünner Rinde entfacht mein Begleiter ein Feuer; ich packe meine kleine Fiskars-Axt aus, neueste Technik, ideales Verhältnis von Gewicht zu Leistung und so weiter, ein Geschenk von meinem Bruder, und mache mich daran, Brennholz zu hacken. Sergej schüttelt den Kopf und zeigt, wie es richtig geht: nicht gerade, sondern schräg ins Holz schlagen, von beiden Seiten. Dann noch ein paar Zweige mit dichten Nadeln als Kopfkissen für die Nacht. Das Metallkesselchen an einem Ast über die glühende Asche gehängt, nach wenigen Minuten kocht das Teewasser. Abendbrot.
- Jaja, Romantik, - stöhnt Sergej. - Wenn ich unten erzähle, dass wir einfach so zum Spaß hier herumstiefeln, greifen sich die Leute an den Kopf. Touristen!
Das Wort klingt aus seinem Mund merkwürdig abfällig, eine Bezeichnung für von irgendwoher kommende Sonderlinge, Fremdkörper in der Taiga, die weder jagen, fischen noch etwas sammeln.
Es wird dunkel, ein windstiller, wolkenfreier Abend, Großer und Kleiner Wagen erscheinen am Himmel, Kassiopeia und das Sommerdreieck, dann geht der Vollmond über dem Felskamm auf und die Sterne verblassen. Sergej hüllt sich in den Rauch meiner für ihn aus Deutschland mitgebrachten Zigarillos, deren Geschmack er prüfend mit dem seines selbst angebauten Tabaks vergleicht. Ewig reicht das Geld nicht, zwölftausend Rubel Rente, davon fünftausend gleich weg an die Bank für einen Kredit von früher, der Arbeiter auf der Farm möchte auch etwas zu Essen haben; wenn er nach Ulan-Ude fährt, wollen alle Verwandten mit Geschenken versorgt sein. Ewig dreht sich alles nur um das verfluchte Geld, eine Zeit lang habe er mit dem Gedanken gespielt, in den Bergen auf Goldsuche zu gehen, es gäbe Stellen, da sei es einfach aus dem Sand der Flüsse zu holen, aber jetzt, verdammt, ist er zu alt dafür.
Ich lausche seinen mit kräftigen Fluchwörtern durchmischten Worten und krieche in den Schlafsack. Sergej schichtet dickere Stämme aufs Feuer und legt sich in Pullover und Jacke einfach daneben. Vom Kondenswasser in der Luft wird mein Daunenschlafsack von außen klitschnass, bleibt aber innen schön warm. Um vier Uhr morgens ist das Feuer fast erloschen, mein Begleiter, der bis dahin wohl kaum geschlafen und immer wieder nachgelegt hatte, schnarcht. Ich erhalte die Flammen, hacke neues Holz und harre des Sonnenaufgangs.
Zum Frühstück verspeisen wir zwei von unbekannten Vorgängern hinterlassene Kartoffeln: in die heiße Asche geworfen, sind sie nach wenigen Minuten kohlschwarz und innen richtig durchgebraten.
Der anderthalb Kilometer hohe Pass war unser Ziel, wir machen uns auf den Rückweg und finden dann doch noch Blaubeeren, auf dem Hang an der Baumgrenze. Die selbstgebauten Blaubeerkämme kommen zum Einsatz, nach einer Stunde sind sieben Kilo zusammen, nun kehren wir wenigstens nicht mit leeren Händen zurück. Weiter unten im Wald kommen wir an Sibirischen Zirbelkiefern vorbei – von den Einheimischen von der gewöhnlichen Kiefer sofort zu unterscheiden; auf der Erde unter ihnen liegen frische Zapfen, gefüllt mit leckeren Pinienkernen, das klassische sibirische Exportgut aus der Natur. An einem frisch herausgerissenen, von Wildbienen umschwirrten Totholz-Stamm machen wir Halt.
- Das war gestern noch nicht, - sagt Sergej und beginnt rhythmisch mit dem metallenen Beerenkamm an seinen Wanderstock zu schlagen. - Hier hat wohl ein Bär Honig genascht!
- Wenn die Bären hier Leute anfallen würden, hätte man wohl keinen Touristenpfad angelegt, - meine ich, - sie wittern doch die Menschen und weichen ihnen aus?
- Klar, nur unerwartet erschreckt zu werden mögen sie nicht…
Möglichst geräuschvoll, klappernd und hin und wieder rufend laufen wir weiter. Gut, dass meine Freundin nicht dabei ist, Bärenangst ist für sie im Wald immer ein Thema, geht es mir durch den Kopf. Der Pfad geht nun an einem schnellen Flüsschen entlang und verbreitert sich zu einem von Geländewagen befahrbaren Weg, wir passieren die Reste eines hölzernen Staudammes – ein Wasserkraftwerk aus den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts.
- Holzdiebstahl, - kommentiert Sergej etwas später und weist auf einige Haufen chaotisch durcheinanderliegender Stämme und Zweige, - normalerweise wird es nach dem Fällen ordentlich aufgeschichtet und dann im Winter verbrannt. Jeder hat das Recht auf den Kauf von vierzig Kubikmetern Holz im Jahr, das sind etwa vierzig Bäume.
Wir erreichen Bargusin. Mein Gastgeber übergibt unsere Beerenernte an die Frau, ich sitze wenig später in seiner geheizten Banja.
Gestern legte die siebenjährige Maja ihren zehnminütigen Schulweg zum ersten Mal ganz allein zurück. Seit dem ersten September geht sie in die zweite Klasse. Der Unterricht findet in der „zweiten Schicht“ statt: die Schule beginnt mittags und endet am späten Nachmittag. Vormittags besucht Maja an drei Tagen in der Woche die Musikschule. Ich finde diese Reihenfolge gar nicht schlecht: so ist die morgendliche Frische und Aufmerksamkeit der musikalischen Ausbildung vorbehalten. Im ersten Lehrjahr gibt es die Fächer Chor, Musiktheorie, Musikalische Literatur und das eigentliche Hauptfach, in Majas Fall Klavier.
Die Musikschule Nummer Eins in Ulan-Ude ist stolz auf ihre 70jährige Tradition. „Alle Kultur in Burjatien hat mit uns begonnen“, erfahren die beim Elternabend versammelten Väter und Mütter. Zwei ältere Pädagogen, geformt in sowjetischer Strenge und Ordnung, erläutern, was sie von den Schülern erwarten: unbedingte Anwesenheit, eine Entschuldigung von den Eltern bei Fehlen. Die achtjährige kostenlose Ausbildung gilt als berufsvorbereitend, gelehrt wird nach einem straffen staatlichen Programm, das keine Abweichungen zulässt, mit halbjährlichen Prüfungs- und Konzertterminen. Das war mir so nicht klar: Ich hatte den entspannten Hobby-Charakter einer deutschen Musikschule im Hinterkopf. Am Ende unterzeichnen die Eltern noch eine Vereinbarung über einen freiwilligen monatlichen Pflichtbeitrag von fünfhundert Rubel: damit wenigstens Geld für Klopapier, Einweg-Trinkbecher und Strom da sei. -
Der Burjate Maxim, ehemaliger Bass-Sänger am Ulan-Ude’er Operntheater, dem ich geholfen hatte, in Deutschland einen Studienplatz zu finden, ist für eine Weile wieder hier in seiner Heimat. Wir machen einen Ausflug an den Baikal, vorbei an zwei Klöstern und durch die Dörfer im Mündungsgebiet der Selenga. Ich gebe ihm ein Exemplar der Zeitung Prawda – etwa das russische Äquivalent zum Neuen Deutschland; ich weiß, dass er bei den letzten Wahlen zum burjatischen Parlament, dem Narodnyj Chural, für die Kommunisten gestimmt hat.
Ob ich wisse, wer den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat, fragt mich Maxim.
Die vier alliierten Siegermächte, es sei doch wohl nicht nötig, sie aufzuzählen, antworte ich verwundert.
Eigentlich habe die Sowjetunion den Zweiten Weltkrieg gewonnen, sagt Maxim. Eine Tatsache, die die westliche Propaganda heute verschweige.
Die Sowjetunion hatte unzweifelhaft die meisten Opfer, aber könne doch wohl kaum als alleiniger Sieger bezeichnet werden?
Die Westfront sei erst 1944 eröffnet worden, davor habe die Sowjetunion praktisch allein gekämpft gegen Hitler, unter ihrem großen Führer Stalin.
Wenn es nach Stalins Willen gegangen wäre, der erbarmungslos Geistliche erschießen ließ, würde jetzt dort, wo wir jetzt gleich ein Kloster sehen werden, ein kahles Feld sein!
Ohne Opfer gehe es eben nicht, dafür habe Zucht und Ordnung geherrscht unter den Kommunisten; Stalin sei ein einfacher, armer Mann gewesen, hingebungsvoll seinem Volke dienend, nicht so korrupt wie die heutigen Politiker, und überhaupt wären die Menschen gleich gewesen, kein Vergleich mit der heutigen Ungerechtigkeit. Er lese gerade Stalins Werke, sagt Maxim, und ob ich ihm nicht helfen könne, die zweiundfünfzigbändige Lenin-Gesamtausgabe irgendwo aufzutreiben?
Die kleine Maja möchte jeden Tag stundenlang auf dem großen Spielplatz vor dem Haus spielen. Wenn sie aus der Schule kommt, müssen erst die Hausaufgaben gemacht werden, bevor es ins Freie geht. Niso oder ich sitzen dabei auf einer Bank am Rande und beobachten das Geschehen. Neulich kam ich neben der zweiundachtzigjährigen Großmutter einer von Majas Spielplatz-Freundinnen zu sitzen, eine ganz wache, kultivierte, sich in Würde haltende Frau. Sie erzählte von Kriegszeiten, als sie mangels Schuhen durch den Schnee barfuß in die Schule gehen musste, und vom guten Staatsmann Brezhnev, unter dem es für die einfachen Leute immer Rabatte gab, der dann aber leider krank wurde und starb.
Und Stalin, frage ich. Erinnern Sie sich, als er starb? War die Erleichterung im Volk groß?
Wovon ich sprechen würde, ruft die alte Dame und sieht mich an, als die Meldung über das Ableben des großen Führers im Radio bekanntgegeben wurde, haben die Menschen geweint, egal, wo sie gerade saßen oder standen! Eine große Trauer habe das sowjetische Volk ergriffen!
Und von Repressionen haben Sie nichts mitbekommen?
Wie denn das, nichts mitbekommen! Ihr Vater sei erschossen worden, als sie elf Monate alt war. Er hatte beim Telegrafenamt gearbeitet, und jemand habe ihn denunziert. Wofür, warum? Niemand weiß es. Aber dafür kann doch Stalin nichts, fügt sie nach einer Pause hinzu, er sei ein ganz einfacher Mann gewesen, nicht mal ein eigenes Auto habe er gehabt. Die Repressionen, keiner weiß es warum, vielleicht seien das ja die Leute vom KGB gewesen. -
Niso und ich waren im SAGS – Zapis aktov grazhdanskovo sostojania, dem Gegenstück zum deutschen Standesamt, um unsere geplante Eheschließung anzumelden. In dem kleinen Raum sitzen oder stehen etwa zwölf Leute, so etwas wie Privatsphäre oder Diskretion ist unbekannt. Wir treten an den Schalter und sagen „Einmal Heiraten, bitte“. Unsere Dokumente werde kurz geprüft, die beglaubigte Übersetzung meines Passes und das im Potsdamer Standesamt eingeholte Ehefähigkeitszeugnis, dann bekommen wir ein kleines Zettelchen mit den Daten des Kontos, auf welches wir eine Gebühr zu überweisen haben, je nach Bedarf für den gewünschten Vorgang: Eheschließung 350 Rubel, Scheidung 650 Rubel, Namensänderung 1400 Rubel. -
Nach dreimonatiger Pause hat der Arbeitsalltag an der Universität begonnen. Kollegin Svetlana fragt mich, ob ich nicht Lust hätte, im ersten Semester zu unterrichten, eine Gruppe von zwölf Studenten. Ich sage zu und bereue es nicht: die jungen Leute sind noch frisch und motiviert, erhoffen sich etwas vom Studium und erwarten einen interessanten Unialltag – ermüdet und desillusioniert von haufenweise unnützen, langweiligen Nebenfächern, die mit ihrem Hauptfach Deutsch nichts zu tun haben, werden sie erst in zwei oder drei Jahren sein.
Am siebzehnten Oktober haben meine Freundin Niso und ich geheiratet, genau zwei Jahre und sieben Monate, nachdem wir zusammengekommen sind. Am Abend vor der Heirat blättern wir in der Hochglanzbroschüre zum Thema „Hochzeit“, die uns vor einem Monat ausgehändigt wurde, als wir den Termin beim Standesamt vereinbart hatten, und lesen auf der ersten Doppelseite zwei Grußworte, verfasst von Vertretern der beiden größten Religionen in Burjatien.
„Grundlage eines langen Eheglücks ist die Weisheit“, schreibt der Lama, der in leuchtend roten und orangen Kleidern von seinem Porträtfoto blickt. „Ist die Grundlage der Ehe von geistiger Natur, dann wird die Beziehung eine ewige werden, ähnlich der Lotosblume, welcher der Schmutz der materiellen Welt nichts anhaben kann.“
„Die orthodoxe Kirche schlägt das Modell einer christlichen Familie vor“, lesen wir bei dem in düsteres Schwarz gekleideten Metropoliten Saawatij. „Frauen, folgt euren Männern nach wie dem Herrn, denn der Mann ist das Haupt der Familie, wie Christus das Haupt der Kirche ist; wie die Kirche sich Christus unterordnet, so auch die Frau dem Manne in allem.“
Würden wir mit einer religiösen Institution heiraten, dann wohl lieber mit den Buddhisten, stellen Niso und ich fest und müssen lachen.
Das Standesamt Ulan-Ude befindet sich – wahrscheinlich vorläufig, während das eigentliche Gebäude renoviert wird – im Erdgeschoss eines tristen Plattenbaus. Um neun Uhr morgens sind wir zur Stelle. Nachdem festgestellt wurde, dass kein Übersetzer nötig ist, bittet uns die Standesbeamte in den repräsentativen Raum mit dem doppelköpfigen russischen Adler an der Wand, hält eine kurze Ansprache und erklärt uns zu Mann und Frau.
„Ihnen als Oberhaupt der Familie überreiche ich die Heiratsurkunde“, sagt sie und händigt mir das Dokument aus, auf der einen Seite in Russisch und auf der Rückseite auf Burjatisch abgefasst, das allerdings weder meine Frau noch ich verstehen.
„Und der Ehefrau als Hüterin der häuslichen Heimstätte gebe ich den Pass mit Stempel zurück“, bekommt Niso zu hören und nimmt ihren Inlands-Pass in Empfang, in dem sich nun auf der Seite „Familienstand“ ein Stempel über die Registrierung der Eheschließung befindet. Der nun folgende Teil einer typisch russischen Hochzeit, das Durch-die-Stadt-Ziehen mit lärmendem, trinkendem Gefolge, Fotografiertwerden vor dem Hintergrund von Opernhaus und Lenindenkmal und abendlichem Versacken an übervoll gedeckten Restauranttafeln ist nichts für uns; wir heiraten ohne große Party ähnlich meinem Freund Robert, auf dem Kühlschrank in dessen Berliner WG ich eines schönen Tages die standesamtliche Urkunde erblickte. Still und unspektakulär fahren Niso und ich nach Hause und dann in die Musikschule, wo Maja einen kleinen Auftritt mit dem Kinderchor hat und die „Musikanten-Weihe“ bekommt.
Die mit einer russisch-deutschen Heirat verbundene Bürokratie ist etwa gleich aufwändig, ob man nun in Russland oder in Deutschland heiratet. Russische Standesämter verlangen ein Ehefähigkeitszeugnis des ausländischen Partners, in Deutschland müsste man eine Befreiung von der Vorlage des Ehefähigkeitszeugnisses für den russischen Partner beantragen. Deutlich einfacher soll es in Drittländern wie zum Beispiel Dänemark sein. Die Kombination „Frau aus Russland und deutscher Mann“ ist wohl wesentlich häufiger als umgekehrt. Bei youtube gibt es stundenlange Lehrvideos für die russischsprachige Damenwelt - „Heiraten nach Europa mit Olga Schröder“ und so ähnlich – in denen erklärt wird, was zu tun ist, um das Eheglück in Westeuropa zu finden; rein statistisch kommen in Russland auf sechs Frauen nur fünf Männer.
In Russland wird der Ehering wie in Deutschland an der rechten Hand getragen. Ich finde das ungewöhnlich – die rechte ist doch die Arbeitshand, die Hand des Alltags. Wir tragen ihn an der linken.
Sie sind an der Burjatischen Staatlichen Universität immatrikuliert, und jetzt beginnt Ihr neues, studentisches Leben. Täglich werden Sie viel Zeit in den Gebäuden der Universität verbringen, in den Lehrräumen und Räumen der Verwaltung. Wie in jeder Organisation haben sich auch in unserer Universität bestimmte Verhaltensnormen herausgebildet, Regeln des Umgangs miteinander, die jeder beachten sollte.
Einlasskontrolle. Um die allgemeine Ordnung aufrechtzuerhalten und Straftaten zu verhindern, gibt es an der Universität eine strenge Einlasskontrolle. Die Wache kontrolliert alle Gebäude und das Territorium der Universität. Jeder Eintretende muss sein Eintrittsdokument vorweisen – in Ihrem Falle ist das die elektronische Spezialkarte der Sparkasse.
Begrüßung. Im Unterschied zur Schule werden Sie an der Universität als erwachsene Leute wahrgenommen, welche allgemein anerkannte Umgangsregeln beherrschen. Wenn sich am Eingang oder an Fahrstühlen Schlangen bilden, müssen Studenten die Lehrkräfte und Männer die Frauen vorlassen. Gut erzogene Leute grüßen, wenn sie sich begegnen. Studenten grüßen zuerst: den Rektor, die Universitätsmitarbeiter und alle Lehrer, unabhängig davon, ob sie bei ihnen Unterricht haben.
Kleidung. An der Universität gibt es eine Reihe unbedingter Anforderungen an die Kleidung. Beim Betreten des Gebäudes müssen Männer die Kopfbedeckung abnehmen, egal ob Pelzmützen oder Baseball-Caps. Die Oberbekleidung ist an der Garderobe zu lassen. Manchmal zwingt uns die Kälte, von dieser Regel Abstand zu nehmen – auf keinen Fall jedoch dürfen Verwaltungsräume in Jacken oder Mänteln betreten werden. Den Studenten wird geraten, zum Unterricht ordentlich gekleidet und frisiert zu erscheinen, vorzugsweise in einem Business-Stil: Jackett und Hose bzw. Röcke bei Frauen. Wenn Sie nach dem Unterricht noch in die Disco oder zum Sport wollen, denken Sie lieber rechtzeitig darüber nach, wo Sie sich umkleiden.
Sprachregelungen. Sprechen Sie einen älteren oder unbekannten Menschen mit „Sie“ an.
Erlauben Sie sich keinen familiären Ton den Lehrkräften und Mitarbeitern gegenüber.
Vermeiden Sie Jargon-Ausdrücke und Füllwörter.
Verwenden Sie niemals Flüche, das ist eine Beleidigung für alle in der Umgebung und in den Wänden der Universität streng verboten.
Essen und Hygiene. Die Esseneinnahme hat an den dafür vorgesehenen Orten zu erfolgen und nicht in den Lehrräumen oder im Gehen. Müll auf den Tischen zu hinterlassen, spucken und überall den Kaugummi zurückzulassen ist unzulässig.
Gesunde Lebensweise. Das Trinken von Alkohol einschließlich Bier und der Aufenthalt in betrunkenem Zustand an der Universität ist streng verboten und hat die Exmatrikulation zur Folge. Das Rauchen in den Gebäuden und auf dem Gelände der Universität ist verboten auf Grundlage des Gesetzes vom 23.02.2013 „Über den Gesundheitsschutz der Bürger“.
Und noch zum Benehmen: Leider gibt es in den Korridoren der Universität keine Sitzmöglichkeiten, auch wenn Sie mitunter ein großes Bedürfnis zum Hinsetzen haben. Gehen Sie in diesem Falle in die Mensa, in die Bibliothek oder finden Sie einen leeren Raum, aber knien Sie sich niemals entlang der Wände oder sitzen Sie nicht auf den Treppen – das ist sehr unschön.
Sie sind alle junge, gesunde und schöne Menschen. Bald werden sich bei Ihnen die ersten romantischen Sympathien entwickeln, darunter auch ernste. Denken Sie daran, dass das demonstrative Zeigen intimer Verhältnisse in der Öffentlichkeit (Umarmen, langes Küssen usw.) von tiefer Nichtachtung nicht nur den Mitmenschen, sondern auch sich selbst gegenüber zeugt.
Aus einer Broschüre für Erstsemestler, Herbst 2018
Vier Autostunden südlich von Ulan-Ude endet die Herrschaft Moskaus, es beginnt das Reich der Nachkommen Dschinghis-Khans. Die Grenzabfertigung dauert über zwei Stunden. Auf russischer Seite müssen sämtliche Türen, Kofferraum und Motorhaube des Autos geöffnet werden, die Zollbeamten schauen mit einem Spiegel in alle Ritzen von unten und fragen mich, was für ein unüblicher Luftfilter in meinem Lada eingebaut sei. Während Drogenhunde unser Gepäck umschnüffeln, entleere ich den Kofferraum, damit noch die Reserverad-Mulde besichtigt werden kann. Auf dem Rückweg, bei der Wiedereinreise nach Russland, kein Fleisch und keine Milchprodukte, belehrt man uns, Wodka maximal drei Liter.
Auf der mongolischen Seite geht es informeller zu. Nachdem wir durch einen vielleicht mit einem Desinfektionsmittel getränkten Sandkasten gefahren sind, werde ich hierhin und dorthin geschickt, bis sich der richtigen Beamte findet, der die Daten unseres Autos in den Computer einzugeben bereit ist. Währenddessen fragt sein sich offenbar langweilender Kollege Niso und mich in gebrochenem Russisch über unsere Familiensituation und möchte wissen, was wir denn eigentlich nachts machen würden, da wir noch keine gemeinsamen Kinder hätten. Kurz vor der Ausfahrt werden wir noch einmal gebeten zu halten. Ein junger, keiner Fremdsprache mächtiger Soldat geleitet mich in ein kleines Häuschen mit mongolischer Aufschrift und lässt mich dort zunächst allein mit einem kleinen Kind, das mich von der anderen Seite des Tisches neugierig beäugt. Meine Vermutung bestätigt sich, als nach einer Weile die Mitarbeiterin erscheint: hier wird die obligatorische Auto-Haftpflichtversicherung abgeschlossen.
Ziel unserer Reise – man könnte sagen: unserer Hochzeitsreise, schließlich haben Niso und ich vor Kurzem geheiratet – ist die mongolische Hauptstadt Ulan-Bator. In Altanbulag, der kleinen Siedlung hinter der russischen Grenze, funktioniert mangels Strom gerade kein Bankautomat, weshalb wir zunächst ohne mongolische Tugrik die Fahrt fortsetzen. Die nicht schlecht asphaltierte Straße führt durch weite, braungelbe Streppentäler mit großen Viehherden, die sich als hunderte kleine Punkte an den Hängen der Hügel abzeichnen oder sich beim Überqueren der Fahrbahn aus der Nähe studieren lassen. Zwischen Kühen, Pferden, Schafen und Ziegen schreitet stolz ein mächtiges Kamel dahin. Kilometerweit geht es geradeaus, dann wieder in Windungen einen kleinen Pass hinauf, links und rechts mitunter ein paar Häuser oder eine verlorene Jurte, ansonsten ist die Mongolei vor allem eines: leer.
Irgendwann dann – größer könnte der Kontrast nicht sein – taucht die Silhouette Ulan-Bators auf. Rauchende Schlote der Heizkraftwerke und ein Meer von Hochhäusern: die Hälfte aller Mongolen wohnen inzwischen hier, anderthalb Millionen. Auf der sechsspurigen Straße anstrengender Stop-and-go-Verkehr, an den Kreuzungen wedelnde und pfeifende Polizisten, und doch ist ein Hauch Weichheit und Harmonie im Chaos spürbar. Unser russischer Lada erntet neugierige Blicke, die Mongolen fahren fast ausschließlich Japaner, und zwar vor allem Toyota Prius mit Hybridantrieb.
Wir quartieren uns in ein einfaches Hotel einige Kilometer vor dem Zentrum ein. Am zweiten Abend flitzt eine Maus in unserem Zimmer über den Fußboden, wo die wohl herkommt – in der dritten Etage? Ich schlage das Wort im Wörterbuch nach und begebe mich zur Dame an der Rezeption, die nur Mongolisch spricht.
„Chulgana!“, sage ich.
Die junge Frau versteht nicht.
„Chulgana“, wiederhole ich und imitiere mit der Hand die Bewegungen einer Maus über den Fußboden.
Ungläubige Blicke. Ich schreibe ihr das Wort auf einen Zettel.
„Ah, chlgn!“ ruft die Rezeptionistin erstaunt – in ihrem Mund schrumpfen die Laute zu einem kratzigen, spuckigen Konsonantenknäuel zusammen – und ruft sofort den Chef, der ein wenig Russisch kann und uns sofort ein neues Zimmer gibt. Mongolische Wörter sind hart und kurz, auch wenn man das kyrillische Alphabet lesen kann, scheint es noch ein weiter Weg bis zur richtigen Aussprache.
Im Zentrum der mongolischen Hauptstadt wird der sowjetischen Stalin-Klassizismus von Theater und Opernhaus durch futuristisch anmutende Wolkenkratzer überragt, dazwischen globalisierte Coffee-Kultur und Tourist Information-Zentren. Ein wenig außerhalb dann das alte Ulan-Bator, schmutziggraue Jurten hinter einfachen, hohen Bretterzäunen, Rußgeruch in der Luft, an einer Wasserausgabestelle mit Kanistern anstehende Menschen. An einem buddhistischen Tempel baumelt an einem holzgeschnitzen Drachenkopf ein Hakenkreuz. Die Lebensmittel im Supermarkt kommen zu großen Teilen aus Deutschland, der Inhalt einiger Regale könnte unverändert in einem Edeka-Supermarkt stehen.
Auf dem Rückweg kommen wir wieder durch Altanbulag vor der russischen Grenze, wo wir diesmal übernachten. Auf einer Anhöhe steht überlebensgroß Suchebator, der mongolische Revolutionär, der mit Lenins Unterstützung das Land von China unabhängig und nach der Sowjetunion zum zweiten kommunistischen Staat der Welt machte: Ulan bedeutet rot. Im Schein der untergehenden Sonne fällt unser Blick auf den sich über die Hügel hinziehenden, beidseitig von Stacheldraht umgebenen lehmgelben Ackerstreifen, der die Grenze bildet, und dahinter auf die silbriggrau leuchtenden Dächer der orthodoxen Kirche in der russischen Stadt Kjachta, einst ein blühendes Zentrum an der Tee- und Seitenstraße, heute eine unbedeutende Grenzsiedlung, für Ausländer nur mit Sondergenehmigung betretbar. Auch das ruinöse Altanbulag sieht aus, als hat es bessere Zeiten erlebt – zu unserer großen Verwunderung hat jedoch das Museum geöffnet, das Revolutionsmuseum, ein Geschenk des sowjetischen Volkes an das mongolische Brudervolk im Jahre 1971, anlässlich des fünfzigsten Jahrestages des kommunistischen Umsturzes.
Der Verkauf von Zigaretten in der Mongolei ist verboten, entsprechend sieht man sie in den Geschäften nirgendwo. In den Hotelzimmern jedoch steht der Aschenbecher bereit: es darf geraucht werden. Jedes Land hat wohl seine Widersprüche.
Mit Maja zusammen betrete ich an einem Donnerstagmorgen die Musikschule Nummer Eins. Beim Elternabend zu Beginn des Schuljahres hatte man verkündet, dass sich die Eltern durchaus auch mit in den Unterricht setzen könnten. Wir betreten das zweigeschossige Ziegelgebäude und lenken unsere Schritte in das als Garderobe fungierende Zimmer gegenüber dem Eingang, aus dem eine Wächterin mit ausdruckslosem Gesicht auf alle Eintretenden blickt.
„Eltern vor der Garderobe warten“, sagt sie.
In Russland wird man entweder ignoriert, angeranzt oder die Menschen ergießen vor einem die warme Fülle ihrer reichhaltigen Seele. Neutrale, sachliche Freundlichkeit ist weitgehend unbekannt.
„Ich möchte mich gern mit in den Unterricht setzen“, erkläre ich.
„Bei wem?“, bellt sie ungläubig weiter.
Ich nenne die Namen der Pädagogen. Die alte Dame nickt streng. Ich darf meine Jacke aufhängen und mit Maja die Treppe zur ersten Etage hinaufgehen.
Wir sind ein paar Minuten zu früh und warten vor der Tür, hinter dem die Probe des Kinderchores stattfinden wird.
„Eltern werden gebeten, unten zu warten“, sagt eine vorbeischreitende Lehrkraft und mustert mich wie einen ungebetenen Eindringling.
„Ich möchte mir gern einmal den Unterricht anhören“, sage ich freundlich.
Etwas später betreten wir mit fünfzehn anderen kleinen Kindern den Raum, in dem schon die junge Chorleiterin am Flügel steht. Mit entschuldigender Mine kommt sie auf mich zu.
„Sie wollen mit in den Unterricht? Ja, wissen Sie, vor kurzem hat der Pädagogische Rat getagt – es ist jetzt eigentlich doch nicht mehr erwünscht, dass die Eltern mitkommen. Die Musikschule erwartet eine Überprüfung, ob die Anti-Terror-Maßnahmen eingehalten werden, und dazu gehört, dass keine Begleitpersonen zugelassen sind. Tut mir leid!“
Ich zucke mit den Schultern und gehe nach Hause. Wenig später komme ich trotzdem wieder, zu Majas zweiter Stunde, dem Klavierunterricht. Die Wächterin scheint über die neuen Anti-Terror-Maßnahmen noch nicht vollständig informiert und lässt mich wortlos durch.
Als ich eintrete, spielt Maja gerade das „Schnelle Bächlein“, flinke Achtelbewegungen in der rechten Hand, kurze Bässe in der linken, Dreiertakt. Elena Wasiljewna, eine hagere ältere Dame mit Lederhose und dünner Nase, sitzt daneben und verzieht das Gesicht.
Pause.
„Und, hast du wenigstens selbst deine Fehler bemerkt?“, sagt sie und seufzt, nachdem sie meine Anwesenheit mit einem Kopfnicken zur Kenntnis genommen hat.
„Die vollen Zählzeiten hier mehr betonen, hier nicht unnötig beschleunigen, hier die rechte Hand mehr hervorheben. Das sage ich schon seit zwei Wochen. Du musst üben. Bald kommt die Prüfung. Du musst vor einer Kommission spielen. Was sollen die sagen? Nochmal.“
Maja beginnt von neuem.
„Nein!“, sagt Elena Wasiljewna und unterbricht sie nach zwei Takten. Wieder ein Schwall von detaillierten Informationen, hier etwas lauter, dort nuancierter, hier geringfügig Crescendo, dort ein leichtes Riterdando. Ich vermute, das meiste geht an den Ohren des siebenjährigen Mädchens eher vorbei.
Maja beginnt erneut.
„Nein!“, sagt Elena Wasiljewna. „Was habe ich gerade gesagt? Du musst zuhause üben!“
„Wir üben zuhause…“, erlaube ich mir einen vorsichtigen Kommentar von hinten.
„Ich sehe kein Resultat“, unterbricht die Pädagogin säuerlich, ohne mich anzusehen. „Nochmal. Guckst du überhaupt in die Noten? Was ist das hier? Welche Länge hat diese Note? Na also!“
Maja schaut in die Noten – ich weiß allerdings, dass sie dort nicht allzuviel sieht: Maja spielt per Nachahmung und auswendig. Das Thema „Notenlesen lernen“ wurde weitgehend übersprungen – offensichtlich hat das schon zu können, wer Musikschule Nummer eins betritt, die Wiege aller burjatischer Musikkultur.
Nach zehn Minuten das nächste Stück, ein ähnlicher Schwall an freudloser Detailinformation, dann das dritte. Maja gähnt.
„Bist du schon müde oder was? Ja, das ist wirklich keine Freude mit dir heute“, sagt Elena Wasiljewna und holt ein neues Notenheft aus dem Schrank. „Jetzt üben wir Vom-Blatt-Lesen!“
Ich sitze ratlos grübelnd auf meinem Stuhl und überlege, dass ich gern einmal mit der Lehrerin sprechen würde, ihr etwas von motivierender Pädagogik und von Freude beim Musizieren erzählen, spüre aber deutlich, dass es keinen Zweck hat – die Frau würde mich anschauen wie einen Außerirdischen. Eigentlich könnte sie mir ja mal ein paar Fragen stellen, statt mich weitgehend zu ignorieren, geht es mir durch den Kopf: was ich für einen Bezug zur Musik habe und wie denn unser tägliches Üben so verläuft? Wahrscheinlich wären meine Bemerkungen aber überflüssig: sie stören das strenge Programm. Die Kommission. Das Examen. Die Disziplin. Das ist die Welt der sowjetischen Pädagogik. Eine eiserne Schule: wohl dem, der dem Druck standhält, gequält, aber gestählt und leistungsfähig wird er daraus hervorgehen und sein eigenes Gequält-worden-sein an die nächste Generation weitergeben, weil er nichts anderes kennengelernt hat. Wer ein Schwächling ist, wird zerbrechen, wird nach einem halben, einem oder drei Jahren weinend davonlaufen und nie wieder ein Instrument anfassen.
„Geht Maja wirklich in dieses Irrenhaus?“, hatte mein Bekannter Mischa vor kurzem gefragt, dessen eigene Tochter nach drei Monaten Musikschule frustriert das Handtuch geworfen hatte, und ich hatte ihn gebeten, in Majas Gegenwart nicht so zu sprechen, da sie die Freudlosigkeit und Strenge im Moment ganz gut aushält, noch perlt es an ihrem kindlichen Gemüt ab.
„Molodjéz“, sage ich zu Maja auf dem Heimweg, „gut gemacht heute!“ Sie freut sich über mein Lob. Ich freue mich auf unsere Übersiedlung nach Deutschland. Die trockene, kleinliche und verkrampfte Pädagogik, deren Geist wohl als ein Erbe aus vergangenen Zeiten in Russland noch heute überall weht, steht ganz oben auf der Liste von Dingen, von denen ich die Nase, nein: die Schnauze ordentlich voll habe.
Seit etwa zwei Wochen liegt in Ulan-Ude eine dünne, aber feste und dauerhafte Schneedecke. Unser Außenthermometer vor dem Küchenfenster zeigt in den Morgenstunden minus zehn Grad. Alle zwei Tage begebe ich mich zu meinem Lada, freue mich, dass er noch anspringt und lasse den Motor eine Viertelstunde laufen, damit er nicht einfriert.
Wenige Schritte neben meinem Institut im Zentrum der Stadt gibt es einen netten Souvenirladen, eine Art burjatischer Ethno-Shop mit Postkarten und Büchern, Schmuck, Skulpturen und Nationalkleidung. Aus Lautsprechern vor dem Gebäude erklingen die Stimmen burjatischer Sänger, mit den Lauten einer Pferdekopfgeige untermalt; Ansagen auf Englisch, Russisch und Burjatisch laden vorübergehende Touristen und Einheimische zum Verweilen ein. Wie üblich schweifen meine Blicke zuerst Richtung Bücherregal. Ich ordere einen überhaupt nicht typisch burjatischen, sondern sehr westlichen Latte macchiato und nehme mit dem Pappbecher in der Hand und einem kleinen Büchlein über die Geschichte Burjatiens auf einem der gemütlichen Sofas Platz. Wladimir Chamutaev: „Der Anschluss Burjatiens an Russland – Geschichte und gegenwärtige Politik“, ich wusste, dass der Autor vor einigen Jahren nach einem Skandal in die USA ausgewandert war und beginne mich interessiert in die ersten Seiten zu vertiefen.
In der Tat steckt hinter dem unauffälligen Titel politischer Sprengstoff: Chamutaev schreibt, dass Burjatien 1661 keineswegs freiwillig der Russischen Föderation beigetreten sei, wie offiziell behauptet und alle runden Jahre wieder groß gefeiert. Vielmehr habe es sich um eine Eroberung gehandelt, eine unfreiwillige Kolonisierung und Russifizierung, die sich bis in die Gegenwart fortsetzt. Burjatische Politiker sollen stillhalten, Moskaus Anweisungen ausführen und sich nur nicht daran erinnern, dass das burjatische Volk kulturell und sprachlich eigentlich den Mongolen viel näher steht. Als Belege Quellenangaben, Zitate und historische Dokumente; Chamutaev war Wissenschaftler an der Burjatischen Akademie der Wissenschaften, wo er nach Erscheinen des Buches 2012 hinausgeworfen wurde. Ich kaufe das Büchlein - dritte Auflage, gerade mal hundert Exemplare - und mache mich auf den Heimweg.
Wahrscheinlich hat er recht, der Mann, geht es mir durch den Kopf, warum sonst sollten denn die Kosaken, die gefeierten Pioniere der Erschließung Sibiriens, überall Festungen errichtet haben, die bisweilen gestürmt und niedergebrannt wurden, wenn sich die örtliche Bevölkerung ihnen doch freiwillig unterordnete? Heute dürfen die Burjaten gern ihr Brauchtum und ihre Sprache pflegen, Tänze und Sportfeste veranstalten und in Ethno-Shops schamanische Souvenirs verkaufen, solange ihre Eigenständigkeit keine politische Komponente annimmt und das Verhältnis zum russischen Brudervolk nicht hinterfragt wird. Ich erinnere mich an die junge Amerikanerin in meinem Chor, die eine Umfrage unter den Burjaten über ihre nationale Identität durchführen wollte und die nach wenigen Wochen sehr plötzlich verschwand – wohl unter einem formellen Vorwand ausgewiesen wurde, weil das Umfragethema eine Tabulinie überschritt.
Aber ist nicht auch die offizielle russische Haltung verständlich? Wo kommen wir hin, wenn Anschauungen wie die Chamutaevs sich durchsetzen? Soll Russland zusammenfallen wie ein Kartenhaus, weil jedes größere und kleinere Volk eigene Souveränität beansprucht? Wo wären die Burjaten heute ohne Russland? Es gäbe nichts außer Steppe und ein paar Jurten, und schreiben könnte auch fast niemand, weil Bildung erst nach der Oktoberrevolution und der Einführung des kyrillischen Alphabetes unter das Volk gebracht wurde. Moskau hat einer entlegenen und rückständigen Region den Anschluss an die Zivilisation ermöglicht, vielleicht ist es besser, die Burjaten im Glauben eines freiwilligen Anschlusses zu belassen, eine Sage, die das friedliche Zusammenleben heute mehr befördert als das Bewusstsein, unfreiwillig kolonisiert worden zu sein.
Trotz der verschiedenen Völker ist die Gesellschaft in Ulan-Ude in gewisser Weise sehr viel homogener als in Deutschland. Fast nie zu sehen beispielsweise sind physisch Behinderte. Kürzlich wurde am Eingang unseres Institutes eine schräge Rampe angebracht, und vor den Schwellen einiger Lehrräume im Erdgeschoss wurden Bretter befestigt, damit die Stufen verschwinden: mit Beginn dieses Semesters ist eine Studentin im Rollstuhl aufgetaucht. Nach drei Jahren die erste an der Uni, die ich sehe! „So viel Aufwand für einen einzigen Menschen“, meint der Wächter zu mir, als ich die Errichtung der Rollstuhlrampe lobe. Er kommt nicht auf die Idee, dass andere Behinderte beim Anblick der Treppe bisher einfach zuhause geblieben sein könnten.
In meinem Chor singt seit diesem Semester der Student Makan aus Mali. Wahrscheinlich ist er der einzige Schwarzafrikaner in der ganzen Stadt. Makan fühlt sich auf der Straße unwohl, sagt er: man betrachtet ihn – nicht feindselig, aber unverhohlen neugierig, manche möchten sich mit ihm fotografieren lassen oder den Mann aus Schokolade mal anfassen.
Minus fünfundzwanzig Grad. Mehr als ein kurzes Röcheln ist dem Motor meines Lada nicht zu entlocken. Nachbar Anatoli schleppt hilfsbereit eine Ersatzbatterie herbei und verbindet ihn mit zwei Kabeln mit dem meinen, vergebens, auch für die Starthilfe ist es zu kalt.
Am nächsten Morgen lege ich eine aus drei Verlängerungskabeln zu je zehn Metern zusammengestückelte Leitung aus dem Balkonfenster zum Auto – zum Glück habe ich es vorsorglich auf unserer Straßenseite geparkt – und schließe den kleinen elektrischen Heizer an, der sich unter der Motorhaube befindet. Das Kabel führt schräg durch die kahlen Bäume nach unten, am Eingang unseres Lebensmittelgeschäftes vorbei, wo ich ein Holzbrett darüberlege, damit niemand stolpert, und einmal quer über den Bürgersteig, wo ich es mit einer Isomatte und vier Ziegelsteinen absichere. Ein paar Stunden bleibt es so liegen, am Anfang fühle ich mich unwohl ob des von mir im öffentlichen Raum gebildeten Hindernisses, später wird es mir egal – Russen sind es gewohnt, über Baustellen, durch Löcher und entlang von Kabeln zu spazieren.
Fünf Stunden später: trotz angewärmter Schläuche springt der Motor immer noch nicht an. Dabei ist meine Batterie ganz neu und die Zündkerzen auch! Anatoli, dessen hinter meinem schlanken Lada stehender Toyota Landcruiser inzwischen auch nicht mehr anspringt, gibt wieder Starthilfe, diesmal klappt es. Gemeinsam fahren wir zu ihm auf die Datsche, um von dort seine Heißluftkanone zu holen. Mit dem benzinbetriebenen Apparat will er von unten seinen Motor erwärmen, vergebens: leider erweist sich der Motor der Heißluftkanone als eingefroren. Ich fluche auf meine Lederhandschuhe, in denen meine Finger in Minutenschnelle vereisen, und flüchte in die Wohnung. Für morgen sind minus Dreißig angesagt. -
Letzte Woche klingelte der Kurier an unserer Tür und brachte den Pass meiner Frau aus dem Novosibirsker Konsulat, mit beantragtem Visum, diesmal ein bis Ende 2020 gültiges Mehrfach-Einreisevisum, wie es an Reisende erteilt wird, die bereits mehrfach ihre Bereitschaft zum ordnungsgemäßen Verlassen Deutschlands unter Beweis gestellt haben. Am nächsten Samstag wird Niso in Irkutsk eine Deutschprüfung ablegen und ihre Deutsch-Grundkenntnisse unter Beweis stellen. Ihr Zertifikat über das Sprachniveau „A1“ ist Bedingung für unsere spätere gemeinsame Übersiedlung in meine Heimat.
Ob ich wohl später im Leben noch einmal ein eigenes Büro in bester Innenstadtlage haben werde? Wohl kaum. Ich bemühe mich darum, es jeden Tag zu schätzen, auch wenn es Momente gibt, in denen ich gelangweilt und übermüdet bin. Die Arbeit mit den Studenten macht mir, so scheint es, weniger Spaß als früher, mich nervt ihre Trägheit und Unselbständigkeit, ich muss ihnen hinterherlaufen und auf sie einreden wie kleinen Kindern, damit sie etwas tun, bemuttert wollen sie werden, als hätte man es nicht mit erwachsenen Leuten zu tun. Vielleicht liegt es daran, dass ich älter werde und mein eigener Lebenshorizont sich immer mehr von dem eines typischen russischen Studenten unterscheidet? Für ein Stipendium hätten sich viele bewerben können, um im nächsten Sommer für einen Monat nach Deutschland zu fahren, alle Kosten werden übernommen, die Chancen, angenommen zu werden, liegen bei fünfzig Prozent – ach, ich weiß nicht, sagt der eine und schaut auf den Boden, die Bewerbung schaffe ich wohl nicht, sagt der andere und lächelt gequält. Wie kann es sein, dass die jungen Leute nicht in das Land reisen möchten, dessen Sprache und Kultur sie studieren? Eine gewisse Langsamkeit, Trägheit und Unentschlossenheit scheint mir typisch vor allem für die Burjaten, eine schwer zu greifende Schlaffheit, vielleicht hat das zu tun mit dem sandigen Boden hier, der alle Energie absaugt, ich kann es nicht herausfinden.
Meine Bürotür lasse ich gern offen stehen. Mitunter kommen interessante Leute herein und es ergeben sich unerwartete Gespräche wie neulich mit Reiseführerin Larisa, die deutschen Touristen Stadt und Umgebung zeigt und im Sommer den deutschen Botschafter aus Moskau betreute, der für ein paar Tage in der Region Urlaub machte. Ein ganz aristokratischer, kultivierter, vornehmer Herr, erzählt sie, ganz steif und kontrolliert in all seinen Bewegungen, als die Altgläubigen in Tarbagatai bei ihrer touristischen Darbietung ihn zum Tanzen aufforderten und es nicht recht klappte, fuhr ihn eine der festlich kostümierten Babuschkas an, was er denn herumstehe wie ein Stock und er solle jetzt gefälligst in die Gänge kommen, nicht wissend, wer vor ihr steht – Anonymität hatte für den Botschafter hohe Priorität. Ob ich schon von der Lev-Bardamov-Galerie gehört habe, fragt mich Larisa, ein großartiges Privatmuseum mit einem Exemplar der Büßenden Magdalena im Bestand, ein Gemälde, das seinen Weg von Dresden bis hierher gefunden habe und kürzlich vergammelt in einem Schuppen aufgefunden worden war.
Wolga