Aus dem amerikanischen Englisch von Heike Brillmann-Ede, Harriet Fricke, Tanja Handels, Elke Link, Kristin Lohmann, Andrea O’Brien, Jan Schönherr und Henriette Zeltner-Shane
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Copyright © 2021 by Michelle Obama
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2021 bei Delacorte Press,
an imprint of Random House Children’s Books,
a division of Penguin Random House LLC, New York.
Dieses Werk basiert auf der amerikanischen Originalausgabe von »Becoming«,
Copyright © 2018 by Michelle Obama,
erschienen bei der Crown Publishing Group,
a division of Penguin Random House LLC, New York/
der deutschsprachigen Ausgabe »Becoming – Meine Geschichte«,
Copyright © 2018 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Lektorat: Jacob Thomas · Redaktion: Antje Steinhäuser
© 2021 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Aus dem amerikanischen Englisch von Heike Brillmann-Ede, Harriet Fricke, Tanja Handels, Elke Link, Kristin Lohmann, Andrea O’Brien, Jan Schönherr und Henriette Zeltner-Shane
Überarbeitet von Heike Brillmann-Ede und Kristin Lohmann
Lektorat: Birte Hecker
Covergestaltung: © Geviert, Grafik & Typografie,
nach einem Design von Christopher Brand und unter Verwendung eines Fotos von Miller Mobley
he · Herstellung: AJ
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-28261-5
V001
www.cbj-verlag.de
Für all diejenigen,
die mein Werden und meine Geschichte unterstützt haben:
die Menschen, die mich großgezogen haben –
Fraser, Marian, Craig und meine riesige erweiterte Familie,
meinen Kreis aus starken Frauen,
die mir immer wieder Kraft geben,
mein loyales und engagiertes Team,
das mich fortwährend mit Stolz erfüllt.
Für die Lieben meines Lebens:
Malia und Sasha, meine beiden allergrößten Schätze
und mein Grund zu leben,
und schließlich für Barack,
der mir immer eine spannende Reise versprochen hat.
An meine Leserinnen und Leser
Prolog
Becoming Me – Ich werden
Becoming Us – Wir werden
Becoming More – Mehr werden
Epilog
Als ich begann dieses Buch zu schreiben, war ich mir nicht sicher, welche Form es letztlich haben würde, und schon gar nicht, welchen Titel es bekommen sollte. Eine Sache wusste ich aber ganz genau: Ich wollte ehrlich sein. Das gilt genauso für diese Buchausgabe, die sich an jüngere Leserinnen und Leser richtet.
Als ich in den 1960er- und 1970er-Jahren in der South Side von Chicago aufwuchs, waren meine Eltern, Marian und Fraser Robinson, immer aufrichtig zu meinem Bruder Craig und mir. Nie beschönigten sie bittere Wahrheiten oder präsentierten uns die Wirklichkeit in einem falschen, freundlicheren Licht – weil sie wussten, wir würden damit klarkommen. Mit demselben Respekt möchte ich euch begegnen.
Deshalb verspreche ich euch, meine Geschichte in ihrem ganzen beeindruckenden Auf und Ab zu erzählen – angefangen in der Zeit, als ich vor meiner Vorschulklasse mit einer schwierigen Frage zu kämpfen hatte, über meinen ersten Kuss bis hin zu der Verunsicherung, die ich als Jugendliche oft empfand. Später kamen Dinge dazu wie die Turbulenzen auf einer Wahlkampftour oder die einzigartige Erfahrung, als ich der englischen Königin die Hand schüttelte.
Ich hoffe, ihr lasst euch nicht zu sehr vom Glamour des Weißen Hauses blenden, denn bedeutsam für mich sind nicht Ballkleider und Bankette mit Staatsoberhäuptern. Wirklich bedeutsam sind die kleinen Dinge: wie mein Grandpa Southside lächelte, wenn er seine Lieblingsschallplatte auflegte. Wie unser Haus roch, wenn meine Mom den Frühjahrsputz machte. Wie der Eiskratzer auf einer Autoscheibe im tiefsten Chicagoer Winter klang.
Während des Schreibens wurde mir klar, dass es keine Erinnerungen gibt, die zu unbedeutsam sind. Noch die kleinste Erinnerung in unserer eigenen Geschichte ist von Bedeutung. Manche von ihnen verursachen einen schmerzhaften Stich, vor allem wenn sie Erlebnisse berühren, die in unserer Kindheit passiert sind. Ich kann immer noch spüren, wie ich mich schämte, als ich in jungen Jahren einmal vor meiner Klasse versagte. Ich kann immer noch den Knoten in meinem Bauch spüren, nachdem jemand an mir gezweifelt hatte. Und ich spüre heute noch den Schmerz und die Leere, die ich empfand, als ich Menschen verlor, die mir am meisten bedeuteten. Irgendwann erleben wir alle diese Art Schmerz, den wir selbst nicht heilen können.
Aber diese empfindlichen Stellen – bei denen wir uns die größte Mühe geben, sie vor anderen zu verbergen – berühren oft die Anteile unserer Persönlichkeit, die anderen zu zeigen sich am ehesten lohnen. Denn Gefühle wie Unbehagen oder die Mühe, die wir uns mit etwas geben, sind Anzeichen dafür, dass wir hart daran arbeiten, die größten Wahrheiten über uns selbst zu erfahren. Und wenn ich auf mein eigenes Leben zurückblicke, dann sehe ich, dass ich nur durch diese besonders schwierigen Momente die Kraft gefunden habe, mich zu verändern oder zielstrebiger zu erforschen, wer ich tatsächlich sein wollte und sein will.
Davon erzählen wir einander meist nicht so gern. Am meisten sorgen wir uns um das, was ich gerne unsere »Statistik« nenne – Punkte bei Prüfungen, sportliche Leistungen, welche Jeansmarke unsere Familie sich leisten kann. Dabei ist in Wahrheit unsere gesamte Lebensgeschichte wichtig, zu der gerade die Momente gehören, in denen wir uns verletzlich fühlen. Wenn wir diese Momente mit anderen teilen, passiert es oft, dass wir nicht nur die Schönheit unseres eigenen Wegs erkennen, sondern auch die Schönheit in den Wegen der anderen.
So hoffe ich, dass ihr, wenn ihr meine Geschichte lest, auch über eure eigene nachdenkt – weil sie das schönste Geschenk ist, das ihr je besitzen werdet. Trauer und Schmerz, Freude und Erfolg, schallendes Gelächter – all das zusammen macht aus, wer ihr seid. Denn wer ihr seid, das ist keine statische, keine unverrückbare Sache. Jeder von uns verändert sich Tag für Tag und Jahr für Jahr, und keiner weiß, welche Gestalt unser Leben letztlich annehmen wird. Genau darum geht es beim Werden. Bei »Becoming«. Und gerade so wie ihr habe auch ich noch eine Menge vor mir.
März 2017
Als Kind hatte ich einfache Träume. Ich wollte einen Hund haben. Ich wollte ein Haus mit einer Treppe – zwei Stockwerke für eine Familie. Und aus irgendeinem Grund wünschte ich mir einen viertürigen Kombi statt des zweitürigen Buick, der der ganze Stolz meines Vaters war. Ich erzählte allen, dass ich Kinderärztin werden wollte, wenn ich groß war. Warum? Weil ich gern mit kleinen Kindern zusammen war und außerdem schnell heraushatte, dass Erwachsene so etwas gerne hörten. Ach, Ärztin! Das ist aber eine prima Entscheidung! Damals hatte ich Zöpfe, kommandierte meinen großen Bruder herum und schaffte es, immer und unter allen Umständen, in der Schule die besten Noten zu bekommen. Ich war ehrgeizig, obwohl ich nicht so genau wusste, was ich dabei eigentlich im Sinn hatte. Inzwischen glaube ich, dass Erwachsene einem Kind kaum eine sinnlosere Frage stellen können als: Was willst du mal werden, wenn du groß bist? Als ob man irgendwann etwas geworden ist, und damit hat es sich dann.
Bisher wurde ich in meinem Leben Anwältin. Ich wurde Vizepräsidentin eines Krankenhauses und habe eine gemeinnützige Organisation geleitet, die junge Menschen dabei unterstützt, sich eine erfüllende Karriere aufzubauen. Ich war eine schwarze Studentin aus der Arbeiterschicht an einem renommierten, mehrheitlich weißen College. Ich war oft die einzige Frau, die einzige Afroamerikanerin, in den unterschiedlichsten Räumen. Ich war eine Braut, eine gestresste junge Mutter, eine von Trauer zerrissene Tochter. Und bis vor Kurzem war ich die First Lady der Vereinigten Staaten von Amerika. Die First Lady zu sein hat mich herausgefordert, mich demütig gemacht, mich emporgehoben und niedergestreckt, nicht selten sogar beides gleichzeitig. Ich fange gerade erst an, all das zu verarbeiten, was in den vergangenen Jahren geschehen ist – angefangen mit dem Moment im Jahr 2006, als mein Mann erstmals von einer Präsidentschaftskandidatur zu sprechen begann, bis zu dem Tag, an dem wir heute stehen. Was für ein Ritt!
Als First Lady erlebt man die USA in all ihren Extremen. Ich war bei Fundraising-Veranstaltungen in Privathäusern, die eher an Kunstmuseen erinnern; Häuser, deren Bewohner Badewannen aus Edelstein besitzen. Ich habe Familien besucht, die durch Hurrikan Katrina alles verloren hatten und Tränen der Dankbarkeit weinten, wenn ihnen wenigstens noch ein funktionsfähiger Kühlschrank und Herd geblieben waren. Ich habe Menschen kennengelernt, die ich oberflächlich und falsch fand, und andere – Lehrer, Ehepartner von Militärangehörigen und so viele mehr –, die von ganz erstaunlicher Tiefe und Stärke waren. Und ich bin Kindern begegnet – zahllosen Kindern, überall auf der Welt –, die mich zum Lachen gebracht, mich mit Hoffnung erfüllt haben und wunderbarerweise meine Stellung einfach vergaßen, sobald wir anfingen, gemeinsam in der Erde eines Gartens zu graben.
Man hat mich als mächtigste Frau der Welt hochgehalten und gleichzeitig als »zornige schwarze Frau« niedergemacht. Am liebsten hätte ich diese Leute gefragt, was genau sie nicht an mir mochten: dass ich »zornig«, »schwarz« oder »Frau« war? Ich habe für Fotos mit Leuten gelächelt, die meinen Mann im Fernsehen aufs Übelste beschimpfen, aber trotzdem ein gerahmtes Andenken behalten wollen. Im Internet haben einige Leute alles an mir in Zweifel gezogen, bis hin zu der Frage, ob ich überhaupt eine Frau oder nicht doch ein Mann bin. Ein Kongressabgeordneter hat sich über meinen Hintern lustig gemacht. Ich war gekränkt. Ich war stinksauer. Aber meistens habe ich mich einfach bemüht, über solche Dinge nur zu lachen.
Es gibt noch so vieles, was ich nicht weiß, über mein Land, über das Leben, darüber, was die Zukunft bringen wird. Aber mich selbst kenne ich. Mein Vater Fraser hat mir beigebracht, hart zu arbeiten, viel zu lachen und immer Wort zu halten. Meine Mutter Marian hat mir gezeigt, wie ich selbstständig denken und meine Stimme einsetzen kann. Gemeinsam haben sie mir in unserer beengten Wohnung in der South Side von Chicago dazu verholfen, den Wert unserer Geschichte, meiner Geschichte und der größeren Geschichte unseres Landes, zu erkennen. Selbst dann, wenn sie weder schön noch perfekt ist. Selbst wenn sie realer ist, als einem eigentlich lieb wäre. Denn die eigene Geschichte ist das, was wir haben, was wir immer haben werden. Wir müssen sie für uns beanspruchen.
Ich habe acht Jahre lang im Weißen Haus gelebt, einem Ort, der mehr Treppen hat, als ich zählen kann – und dazu noch Aufzüge, eine Kegelbahn und einen hauseigenen Floristen. Ich schlief in einem Bett, das mit schicker Bettwäsche bezogen war. Unsere Mahlzeiten wurden von einem Team erstklassiger Köche zubereitet und von Fachleuten serviert, die besser ausgebildet sind als das Personal in einem Fünf-Sterne-Restaurant oder – Hotel. Agenten des Secret Service – bewaffnet, mit Knopf im Ohr und ernster Miene – standen vor unseren Türen und gaben sich alle Mühe, sich aus unserem Familienleben herauszuhalten. Irgendwann hatten wir uns mehr oder weniger daran gewöhnt – an die eigentümliche Pracht unseres neuen Zuhauses und auch an die ständige stumme Gegenwart anderer.
Das Weiße Haus ist der Ort, an dem unsere Töchter auf den Fluren Ball spielten und auf dem South Lawn, dem großen Rasen südlich des Hauses, auf Bäume kletterten. Es ist der Ort, an dem mein Ehemann Barack Obama bis spät in die Nacht im Treaty Room Lageberichte und Redeentwürfe las, und es ist der Ort, an dem Sunny, einer unserer Hunde, hin und wieder auf den Teppich kackte. Ich konnte auf dem Truman-Balkon stehen und den Touristen dabei zuschauen, wie sie mit ihren Selfie-Sticks posierten, durch den eisernen Zaun spähten und zu erkennen versuchten, was dahinter wohl so vor sich ging. Es gab Tage, da verursachte es mir Beklemmungen, dass wir die Fenster aus Sicherheitsgründen immer geschlossen halten mussten, dass ich nicht einfach ohne großes Brimborium kurz frische Luft schnappen konnte. Und dann wieder gab es Zeiten, da erfüllten mich die weißen Magnolien, die draußen blühten, der emsige Alltag des Regierungsbetriebs und die eindrucksvollen militärischen Begrüßungszeremonien mit tiefer Ehrfurcht. Es gab Tage, Wochen und Monate, da hasste ich die Politik regelrecht. Und es gab Momente, da war ich von der Schönheit dieses Landes und seiner Menschen derart überwältigt, dass mir die Worte fehlten.
Dann war es vorbei. Obwohl man weiß, dass dieser Tag kommen wird, obwohl die vorangehenden Wochen von einem emotionalen Abschied nach dem anderen erfüllt sind, rauscht der Tag selbst einfach so vorbei. Eine Hand wird auf die Bibel gelegt; ein Eid wird gesprochen. Die Möbel des einen Präsidenten werden aus-, die des anderen eingeräumt. Innerhalb weniger Stunden werden Schränke geleert und wieder neu gefüllt. Und einfach so ruhen plötzlich neue Köpfe auf neuen Kissen – neue Persönlichkeiten ziehen ein und neue Träume. Und wenn es dann vorbei ist, wenn man zum letzten Mal aus der Tür der berühmtesten Adresse der Welt getreten ist, muss man in vielerlei Hinsicht wieder zu sich selbst finden.
Darum möchte ich mit einem kleinen Erlebnis beginnen, das noch gar nicht lange zurückliegt. Ich war daheim, in dem roten Backsteinhaus, das wir kurz zuvor bezogen hatten. Unser neues Haus liegt etwa zwei Meilen von unserem alten entfernt, in einer ruhigen Straße inmitten einer Wohngegend. Wir sind noch dabei, uns einzurichten. Im Wohnzimmer sind die Möbel genauso wie vorher im Weißen Haus angeordnet. Überall haben wir Andenken verteilt, die uns daran erinnern sollen, dass das alles auch wirklich passiert ist: Fotos von unseren Familienurlauben in Camp David, die handgetöpferten Gefäße, die ich von der Abschlussklasse einer Schule für amerikanische Ureinwohner geschenkt bekommen habe, ein von Nelson Mandela signiertes Buch. Das Seltsame an diesem Abend war, dass alle fort waren. Barack war auf Reisen. Meine jüngere Tochter Sasha war mit Freundinnen unterwegs. Meine ältere Tochter Malia lebte und arbeitete in New York, bevor sie mit dem Studium beginnen würde. Ich war ganz allein mit unseren beiden Hunden und einem stillen, leeren Haus; etwas, das ich seit acht Jahren nicht mehr erlebt hatte.
Und ich war hungrig. Gefolgt von den Hunden ging ich aus dem Schlafzimmer die Treppe hinunter. In der Küche angekommen, öffnete ich die Tür des Kühlschranks. Ich nahm eine Packung Toast heraus und steckte zwei Scheiben in den Toaster. Dann machte ich den Schrank auf und holte mir einen Teller. Mir ist klar, wie seltsam sich das anhört, aber mir selbst einen Teller aus dem Küchenschrank zu nehmen, ohne dass irgendwer darauf beharrt, ihn für mich zu holen, und dann allein neben dem Toaster zu stehen und zu warten, bis die Scheiben braun sind, kommt mir wie die größtmögliche Wiederannäherung an mein altes Leben vor. Vielleicht ist es aber auch mein neues Leben, das sich allmählich ankündigt.
Am Ende beließ ich es nicht beim Toast – ich machte mir einen Käsetoast, legte die Brotscheiben in die Mikrowelle und ließ eine dicke Schicht sämigen Cheddarkäse dazwischen zerschmelzen. Dann ging ich mit meinem Teller in den Garten hinaus. Ich brauchte niemandem zu sagen, wo ich hinging. Ich ging einfach. Barfuß und in Shorts. Die Winterkälte war endlich verflogen. Es roch nach Frühling. Ich setzte mich auf die Stufen unserer Veranda, spürte die Wärme der Sonne, die sich noch in den Schieferplatten unter meinen Füßen hielt. Irgendwo bellte ein Hund und meine beiden Hunde horchten auf und wirkten kurz etwas verwirrt. Mir kam der Gedanke, dass es für sie ein irritierender Klang sein musste, im Weißen Haus hatten wir ja keine Nachbarn gehabt, geschweige denn Nachbarshunde. Für sie war das alles noch neu. Und während die Hunde lostrotteten, um den Garten zu erkunden, aß ich im Dunkeln meinen Toast und fühlte mich im allerbesten Sinn allein. Ich dachte nicht an die bewaffneten Wachleute, die – keine hundert Meter entfernt – in dem extra eingebauten Kommandoposten in unserer Garage saßen. Ich dachte nicht daran, dass ich auch weiterhin nicht ohne Personenschutz auf die Straße gehen könnte. Ich dachte nicht an den neuen Präsidenten – und in diesem Moment auch nicht an den alten.
Stattdessen dachte ich daran, dass ich in ein paar Minuten ins Haus zurückkehren, meinen Teller abspülen und dann ins Bett gehen würde. Vielleicht würde ich sogar ein Fenster auflassen, um die Frühlingsluft zu spüren. Und ich dachte daran, was für eine Wohltat das sein würde! Außerdem dachte ich daran, dass diese Stille mir die erste richtige Gelegenheit bot, so vieles neu zu bedenken. Als First Lady konnte ich mich am Ende einer hektischen Woche oft kaum noch erinnern, wie sie angefangen hatte. Jetzt bekommt die Zeit allmählich wieder eine andere Qualität. Meine Töchter, die mit ihren Polly-Pocket-Püppchen, einer Schmusedecke namens Blankie und einem Plüschtiger namens Tiger ins Weiße Haus gezogen waren, sind inzwischen Teenager, junge Frauen mit eigenen Plänen und eigenen Stimmen. Mein Mann findet sich auf seine Weise in das Leben nach dem Weißen Haus ein, versucht, auf seine Weise durchzuatmen. Und ich? Ich bin hier, an diesem neuen Ort, und habe vieles zu sagen.
ICH WERDEN
Ich verbrachte einen Großteil meiner Kindheit damit, nach dem Klang des Strebens zu lauschen. Er drang in Form von schlechter oder zumindest amateurhaft gespielter Musik durch die Ritzen der Bodendielen in mein Zimmer herauf – das Geklimper von Schülerinnen und Schülern, die unten bei meiner Großtante Robbie am Klavier saßen und langsam und fehlerhaft ihre Tonleitern übten. Meine Familie lebte in South Shore, einem Stadtviertel im Süden von Chicago, in einem hübschen Backsteinhäuschen, das Robbie und ihrem Mann Terry gehörte. Meine Eltern hatten die Wohnung im ersten Stock gemietet, Robbie und Terry wohnten im Erdgeschoss. Robbie war die Tante meiner Mutter und hatte sich ihr gegenüber jahrelang sehr großzügig gezeigt, für mich aber hatte sie etwas Bedrohliches. Steif und ernst dirigierte sie den Chor einer nahe gelegenen Kirche und sie war die Klavierlehrerin in unserem Viertel. Sie trug vernünftige Schuhe und um den Hals eine Lesebrille an einer Kette. Sie konnte verschmitzt lächeln, hatte im Gegensatz zu meiner Mom jedoch nichts für Sarkasmus übrig. Manchmal stauchte sie ihre Schüler zusammen, weil sie nicht genug geübt hatten, oder sie stauchte deren Eltern zusammen, weil sie die Kinder zu spät zum Unterricht brachten.
»Gute Nacht!«, rief sie dann mitten am Tag, genauso entnervt, wie man sonst »Herrgott noch mal!« herauspoltern würde. Nur wenige, so schien es, konnten Robbies Anforderungen gerecht werden.
Das Geräusch von Menschen, die sich bemühen, wurde zum Soundtrack unseres Lebens. Geklimper am Nachmittag, Geklimper am Abend. Manchmal kamen die Damen aus der Gemeinde, um Kirchenlieder zu üben. Bei Robbie galt die Regel, dass ihre Klavierschüler immer nur an einem Lied üben durften. Von meinem Zimmer aus hörte ich, wie sie unsicher, Note für Note, versuchten, Robbies Anerkennung zu erlangen, und sich nach vielen Anläufen von Kinderliedern wie »Hot Cross Buns« zum »Wiegenlied« von Johannes Brahms hocharbeiteten. Die Musik störte nicht, aber sie war ständig da. Sie schlich das Treppenhaus hinauf, das unseren Teil des Hauses von Robbies Etage trennte. Im Sommer wehte sie durch die offenen Fenster und begleitete meine Gedanken, wenn ich mit meinen Barbiepuppen spielte oder kleine Königreiche aus Klötzchen baute. Es gab nur dann eine Unterbrechung, wenn Dad von seiner Frühschicht in der städtischen Wasseraufbereitungsanlage zurückkehrte, den Fernseher einschaltete, um ein Baseballspiel der Chicago Cubs zu sehen, und die Lautstärke gerade so aufdrehte, dass davon alles andere übertönt wurde.
Es waren die Ausläufer der 1960er-Jahre in der South Side von Chicago. Die Cubs waren nicht schlecht, aber sie waren auch nicht gerade gut. Ich saß im Lehnsessel auf dem Schoß meines Vaters, und er erklärte mir, dass die Cubs spielten oder warum »sweet-swinging« Billy Williams, der gleich bei uns um die Ecke in der Constance Avenue wohnte, von der linken Seite der Homeplate so traumhaft den Ball schlug. Außerhalb der Baseballstadien befanden sich die USA inmitten eines enormen Umbruchs mit ungewissem Ausgang. John F. Kennedy und Robert Kennedy waren tot. Martin Luther King Jr. war auf einem Balkon in Memphis erschossen worden, worauf es im ganzen Land zu Krawallen kam, auch in Chicago. Auf dem Parteitag der Demokraten im Jahr 1968 gab es blutige Ausschreitungen, als die Polizei im Grant Park, etwa neun Meilen nördlich von uns, mit Schlagstöcken und Tränengas auf Gegner des Vietnamkriegs losging. Weiße Familien zogen weg in die Vorstädte, angelockt von dem Versprechen, dort bessere Schulen, mehr Platz und wahrscheinlich auch mehr Weiße zu finden.
Nichts davon nahm ich damals bewusst wahr. Ich war bloß ein Kind, ein Mädchen mit Barbiepuppen und Bausteinen, mit Eltern und einem älteren Bruder, dessen Kopf nachts etwa einen Meter entfernt von meinem lag. Meine Familie war meine Welt, das Zentrum von allem. Meine Mom brachte mir früh das Lesen bei, ging mit mir in die öffentliche Bücherei und setzte sich zu mir, während ich die Wörter auf den Buchseiten erkundete. Mein Dad verließ jeden Morgen in der blauen Uniform der städtischen Angestellten das Haus, abends aber zeigte er uns, was es bedeutete, Jazz und Kunst zu lieben. Als Kind hatte er Kurse am Art Institute of Chicago belegt und auf der Highschool hatte er gemalt und Skulpturen gemacht. Als Schüler war er außerdem Leistungsschwimmer und Boxer gewesen, und als Erwachsener schaute er leidenschaftlich gerne Sportübertragungen im Fernsehen, von Profi-Golf bis zur National Hockey League. Er sah gerne zu, wie starke Menschen sich selbst übertrafen. Als mein Bruder Craig sich für Basketball zu interessieren begann, legte Dad ihm Münzen auf den Türrahmen in der Küche und spornte ihn dazu an, nach ihnen zu springen.
Alles, was wichtig war, war in einem Radius von fünf Blocks erreichbar – meine Großeltern, meine Cousins und Cousinen, die Kirche an der Ecke, wo wir, nicht gerade regelmäßig, die Sonntagsschule besuchten. In der Nähe lagen die Tankstelle, zu der mich Mom manchmal schickte, um eine Schachtel Zigaretten zu holen, und der Spirituosenladen, in dem es Toastbrot der Marke Wonder Bread, Süßigkeiten, die man sich selbst zusammenstellen konnte, und Milch in Gallonenflaschen gab. An heißen Sommerabenden schliefen Craig und ich zu den Anfeuerungsrufen der Softballspieler ein, die aus dem nahe gelegenen öffentlichen Park zu uns drangen, wo wir tagsüber das Klettergerüst erklommen und mit anderen Kindern Fangen spielten.
Craig und ich sind nicht ganz zwei Jahre auseinander. Er hat die sanften Augen und den optimistischen Geist unseres Vaters und die unerschütterliche Ruhe unserer Mutter geerbt. Wir hatten immer ein sehr enges Verhältnis, nicht zuletzt dank einer unbeirrbaren und natürlichen Loyalität, die er gleich von Beginn an für seine kleine Schwester verspürte. Es gibt ein frühes Familienfoto, auf dem wir vier auf einem Sofa sitzen. Mom lächelt und hält mich auf dem Schoß, Dad hat Craig auf den Knien und wirkt ernst und stolz. Wir sind für den Kirchgang gekleidet, vielleicht auch für eine Hochzeit. Ich bin etwa acht Monate alt, ein pausbäckiges, moppeliges, durchaus selbstbewusstes Baby in Windeln und einem gebügelten weißen Kleid. Ich sehe aus, als würde ich mich jeden Moment dem Griff meiner Mutter entwinden, und starre dabei in die Kamera, als würde ich sie gleich fressen wollen. Craig neben mir, mit Fliege und Sakko, sieht aus wie ein kleiner Gentleman. Sein Gesichtsausdruck ist ernst. Er ist zwei Jahre alt und bereits die Verkörperung brüderlicher Wachsamkeit und Verantwortung – er streckt den Arm nach mir aus, seine Finger umschließen schützend mein speckiges Handgelenk.
Zu der Zeit, als das Foto entstand, lebten wir gegenüber dem Haus der Eltern meines Vaters; sie wohnten in Parkway Gardens, einem bezahlbaren Wohnprojekt in der South Side, das aus modernen Mehrfamilienhäusern bestand. Es war in den 1950er-Jahren gebaut worden, um den Wohnungsmangel unter schwarzen Arbeiterfamilien nach dem Zweiten Weltkrieg zu lindern. Aufgrund bitterer Armut und gewalttätiger Gangs verkam es später zusehends und verwandelte sich in eines der gefährlichsten Wohnviertel Chicagos. Doch da waren wir schon lange weg. Mom und Dad hatten sich als Teenager kennengelernt und mit Mitte zwanzig geheiratet. Als ich noch ein Kleinkind war, hatten sie Robbies und Terrys Angebot angenommen, ein paar Meilen weiter südlich bei ihnen einzuziehen, in einer angenehmeren Nachbarschaft.
In der Euclid Avenue lebten also zwei Haushalte unter einem nicht allzu großen Dach. Ihrem Grundriss nach zu urteilen war die Wohnung im Obergeschoss als Einliegerwohnung für ein oder zwei Leute geplant gewesen, aber wir passten auch zu viert hinein. Meine Eltern schliefen in dem einzigen Schlafzimmer, Craig und ich teilten uns einen größeren Bereich, der wohl ursprünglich als Wohnzimmer gedacht gewesen war. Später, als wir größer wurden, brachte mein Großvater – Purnell Shields, der Vater meiner Mutter, der ein begeisterter, wenn auch nicht besonders talentierter Schreiner war – ein paar billige Sperrholzplatten vorbei und zog damit eine notdürftige Wand ein, um aus dem einen Raum zwei halbwegs getrennte Zimmer zu machen. Jedem dieser Zimmerchen fügte er noch eine Falttür aus Plastik hinzu und ließ davor noch etwas Platz für einen kleinen Bereich, wo wir unsere Spielsachen und Bücher aufbewahren konnten.
Ich liebte mein Zimmer. Es war gerade groß genug für ein Einzelbett und einen schmalen Schreibtisch. Meine ganzen Plüschtiere kamen auf das Bett. Ich steckte sie mir jeden Abend um den Kopf herum fest, als eine Art Einschlafritual. Craig lebte auf seiner Seite der Wand ein spiegelgleiches Leben. Sein Bett war parallel zu meinem an die Trennwand geschoben. Diese war so dünn, dass wir uns, wenn wir nachts im Bett lagen, problemlos unterhalten konnten. Manchmal warfen wir dabei eine zusammengeknüllte Socke durch einen etwa fünfundzwanzig Zentimeter großen Spalt zwischen Trennwand und Zimmerdecke hin und her.
Tante Robbie hingegen hatte ihren Teil des Hauses wie ein Museum eingerichtet. Die Polstermöbel steckten in Schutzhüllen aus Plastik, die kalt an meinen nackten Beinen pappten, wenn ich mich traute, mich daraufzusetzen. Die Regale quollen über vor lauter Porzellanfigürchen, die wir ja nicht anfassen durften. Manchmal ließ ich für einen Moment lang meine Hand über einer Familie aus niedlichen Glaspudeln schweben – einer filigranen Hündin mit ihren drei kleinen Welpen –, nur, um sie aus Furcht vor Robbies Zorn ganz schnell wieder zurückzuziehen. Wenn gerade kein Klavierunterricht stattfand, war es im Erdgeschoss totenstill. Nie lief der Fernseher und auch das Radio war nie an. Ich weiß noch nicht einmal, ob sich die beiden dort unten viel unterhalten haben. Robbies Mann hieß mit vollem Namen William Victor Terry, aber aus irgendeinem Grund sprachen wir ihn nur mit seinem Nachnamen an. Terry war wie ein Schatten, ein vornehm aussehender Mann, der an jedem Tag der Woche einen dreiteiligen Anzug trug und so gut wie nie auch nur ein Wort sagte.
Das Oben und das Unten wurden für mich schließlich zu zwei unterschiedlichen Universen. Oben machten wir Lärm, und zwar völlig unverfroren. Craig und ich warfen uns Bälle zu und jagten uns gegenseitig durch die Wohnung. Wir polierten die Holzdielen im Gang mit Möbelspray, sodass wir in Socken weiter und schneller rutschen konnten und deshalb auch mehr als einmal gegen die Wände krachten. Die Küche war der Boxring, in dem Bruder und Schwester gegeneinander antraten. Dabei trugen wir die Boxhandschuhe, die wir von unserem Dad, zusammen mit einer Anleitung, wie man einen guten Jab platzierte, zu Weihnachten geschenkt bekommen hatten. Abends spielte die ganze Familie Brettspiele, erzählte Geschichten und Witze und drehte Jackson-Five-Platten laut auf. Wenn es Robbie unten zu viel wurde, schaltete sie das Licht in unserem gemeinsamen Treppenhaus immer wieder an und aus – und teilte uns auf ihre eigene, na ja, höfliche Art und Weise mit, jetzt aber endlich mal die Luft anzuhalten.
Robbie und Terry waren älter. Sie waren in einer anderen Zeit aufgewachsen, mit anderen Sorgen. Sie hatten Dinge mitbekommen, die meine Eltern nicht erlebt hatten – Dinge, die Craig und ich als lärmende Kinder nicht einmal im Ansatz erahnen konnten. So oder so ähnlich vermittelte uns das Mom, wenn wir uns zu sehr über die Nörgelei von unten aufregten. Selbst wenn wir den Hintergrund nicht kannten, wurden wir dazu angehalten, uns immer daran zu erinnern, dass es einen solchen gab. Unsere Eltern erklärten uns, dass jeder Mensch auf der Welt seine unsichtbare Geschichte mit sich herumträgt und allein deshalb Toleranz verdient. Viele Jahre später sollte ich erfahren, dass Robbie die Northwestern University wegen Diskriminierung verklagt hatte. Sie hatte sich 1943 für ein Chormusik-Seminar eingeschrieben und kein Zimmer im Studentinnenwohnheim bekommen. Sie sollte stattdessen in einer Pension in der Stadt unterkommen – in einem Haus »für Farbige«, wie man ihr zu verstehen gab. Terry hatte früher bei einer der vielen Nachtzuglinien von und nach Chicago als »Pullman Porter« gearbeitet. Das war ein angesehener, wenn auch nicht sehr gut bezahlter Beruf, der nur von schwarzen Männern ausgeübt wurde. In ihren tadellos gepflegten Uniformen trugen sie das Gepäck, servierten Mahlzeiten und kümmerten sich allgemein um die Bedürfnisse der Zugreisenden, sie putzten ihnen sogar die Schuhe.
Noch Jahre nach seiner Pensionierung lebte Terry in einem Zustand stumpfer Förmlichkeit – er war stets makellos gekleidet und ohne eigene Wünsche, zumindest bekam ich nie etwas anderes mit. Ich sah ihm oft dabei zu, wie er bei brütender Sommerhitze mit einem schicken Paar Schuhe von Brogues, seinen Hosenträgern und einem schmalkrempigen Filzhut auf dem Kopf den Rasen mähte, die Hemdsärmel sorgfältig hochgekrempelt. Er schien einen Teil von sich aufgegeben zu haben, um mit dem Leben zurechtzukommen. Irgendwie wünschte ich mir immer, dass Terry einmal erzählen, seine Geheimnisse preisgeben würde. Er musste doch jede Menge interessanter Geschichten auf Lager haben, über all die Städte, die er mit der Eisenbahn besucht hatte. Oder über die reichen Leute, wie sie sich in Zügen benahmen, oder eben nicht. Doch wir hörten nichts davon. Aus irgendeinem Grund erzählte er nie etwas.
Mit ungefähr vier Jahren beschloss ich, das Klavierspielen lernen zu wollen. Craig, der schon in die erste Klasse ging, verschwand bereits regelmäßig nach unten, um bei Robbie seine wöchentliche Unterrichtsstunde zu absolvieren. Und er kehrte immer relativ unversehrt zurück. Ich fand, ich sei jetzt so weit. Ich war auch einigermaßen überzeugt, ich hätte das Klavierspielen schon gelernt, und zwar wie durch Magie – die vielen Stunden, die ich damit zugebracht hatte, anderen Kindern zuzuhören, wie sie sich durch ihre Stücke quälten. Die Musik hatte ich bereits im Kopf. Ich wollte nur nach unten gehen und meiner anspruchsvollen Großtante beweisen, was für ein talentiertes Mädchen ich war und dass es mich nicht die geringste Mühe kosten würde, ihre Starschülerin zu werden.
Robbies Klavier stand in einem kleinen rechteckigen Zimmer auf der Rückseite des Hauses, in der Nähe eines Fensters mit Blick auf den Garten. In der einen Ecke stand eine Topfpflanze, in der anderen ein Klapptisch, an dem die Schüler Notenblätter beschreiben konnten. Während des Unterrichts saß Robbie kerzengerade in einem hohen Polstersessel, klopfte mit einem Finger den Takt mit und lauschte mit geneigtem Kopf aufmerksam nach Fehlern. Ob ich Angst vor Robbie hatte? Nicht gerade Angst, nein, aber sie hatte durchaus etwas Furchteinflößendes an sich. Sie stand für eine strenge Art von Autorität, die mir bis dahin noch nirgendwo sonst begegnet war. Sie verlangte Perfektion von jedem Kind, das bei ihr auf der Klavierbank saß. Ich betrachtete sie als jemanden, den ich für mich gewinnen oder vielleicht irgendwie erobern musste. Bei ihr hatte man immer das Gefühl, man müsste etwas beweisen.
Bei meiner ersten Stunde baumelten meine Beine noch von der Klavierbank herab, zu kurz, um bis zum Boden zu reichen. Robbie gab mir ein eigenes Anfänger-Übungsheft, worüber ich ganz begeistert war, und zeigte mir, wie ich die Hände richtig über die Tasten halten musste.
»Jetzt aber, pass auf.« Sie schimpfte schon mit mir, bevor wir überhaupt angefangen hatten. »Such das eingestrichene c.«
Wenn man noch klein ist, kann es einem so vorkommen, als hätte ein Klavier tausend Tasten. Man starrt auf eine schwarz-weiße Fläche, die sich weiter erstreckt, als zwei kurze Ärmchen reichen können. Das eingestrichene c war der Ankerpunkt, das lernte ich bald. Dort befand sich die Trennlinie zwischen dem Bereich, in dem sich die linke, und dem Bereich, in dem sich die rechte Hand bewegt, genau zwischen dem Violin- und dem Bassschlüssel. Wenn man den Daumen auf das eingestrichene c legt, ergibt sich alles andere automatisch. Die Tasten von Robbies Klavier hatten kleine Unregelmäßigkeiten in Farbe und Form, Stellen, an denen im Lauf der Zeit ein bisschen Elfenbein abgesplittert war – sie sahen aus wie eine Reihe schlechter Zähne. Dem eingestrichenen c fehlte zum Glück eine ganze Ecke, ein Keil etwa in der Größe meines Fingernagels, sodass ich jedes Mal die Mitte fand.
Wie sich herausstellte, mochte ich das Klavierspielen. Es fühlte sich ganz natürlich an, an dem Instrument zu sitzen, ganz so, als wäre ich dafür bestimmt. In meiner Familie gab es eine Menge Musiker und Musikliebhaber, besonders auf der Seite meiner Mom. Ich hatte einen Onkel, der in einer professionellen Band spielte. Mehrere meiner Tanten sangen im Kirchenchor. Robbie leitete zusätzlich zu ihrem Chor und den Klavierstunden auch noch ein kleines Musiktheaterprogramm für Kinder im Untergeschoss der Kirche, an dem auch Craig und ich jeden Samstagvormittag teilnahmen. Das musikalische Herz unserer Familie war jedoch mein Großvater Shields, der Schreiner, Robbies jüngerer Bruder. Er war ein unbekümmerter, rundlicher Mann mit einem ansteckenden Lachen und einem zotteligen grau melierten Bart. Als ich noch kleiner war, hatte er im westlichen Teil der Stadt gewohnt, und Craig und ich nannten ihn damals unter uns »Westside«. Doch in dem Jahr, in dem ich mit dem Klavierunterricht anfing, zog er in unser Viertel, weshalb wir ihn ab sofort »Southside« nannten.
Southside hatte sich schon vor Jahrzehnten von meiner Großmutter getrennt, als meine Mom noch ein Teenager war. Er lebte mit meiner Tante Carolyn, der ältesten Schwester meiner Mutter, und meinem Onkel Steve, ihrem jüngsten Bruder, nur zwei Straßen von uns entfernt in einem gemütlichen einstöckigen Haus, das er von vorne bis hinten verkabelt hatte, um Musik hören zu können. Er hatte in jedem Raum Lautsprecher installiert, sogar im Bad. Ins Esszimmer baute er ein aufwendiges Schranksystem für seine Musikanlage, für die er viele Teile auf Flohmärkten ergattert hatte. Er besaß zwei vollkommen unterschiedliche Schallplattenspieler, und die Regale waren vollgepackt mit Platten, die er über die Jahre hinweg angesammelt hatte.
Es gab vieles in der Welt, dem Southside nicht traute. Er traute keinem Zahnarzt, was dazu führte, dass er so gut wie keine Zähne mehr hatte. Er traute der Polizei nicht und als Enkel eines Sklaven aus Georgia traute er auch den Weißen nicht immer. Seine frühe Kindheit hatte er während der Jim-Crow-Ära – die Zeit zwischen der Abschaffung der Sklaverei (1865) und dem Ende der Rassentrennung (1965) – in Alabama verbracht und dort Rassentrennung und Diskriminierung erlebt, bevor er in den 1920er-Jahren in den Norden nach Chicago gekommen war. Als er eigene Kinder hatte, tat Southside alles Erdenkliche, um ihre Sicherheit zu gewährleisten: Er schüchterte sie mit echten und erfundenen Geschichten darüber ein, was jungen Schwarzen passieren könnte, wenn sie in das falsche Viertel gerieten. Vor allem schärfte er ihnen ein, der Polizei aus dem Weg zu gehen.
Musik schien ein Gegenmittel zu sein, eine Möglichkeit, sich zu entspannen und Sorgen zu vertreiben. Wenn Southside für seine Schreinerarbeiten Geld bekam, prasste er manchmal und gönnte sich ein neues Album. Er veranstaltete regelmäßig Familienfeste, aber wenn man sich unterhalten wollte, musste man die Musik übertönen, die alles beherrschte. Die meisten größeren Ereignisse feierten wir bei Southside, sodass wir viele Jahre lang unsere Weihnachtsgeschenke auspackten, während wir Ella Fitzgerald singen hörten, und Geburtstagskerzen ausbliesen, während John Coltrane sein Saxofon spielte. Mom erzählte, dass Southside als junger Mann seine sieben Kinder geradezu mit Jazz vollgepumpt und oft die ganze Familie bei Sonnenaufgang mit voll aufgedrehter Musik geweckt habe.
Seine Liebe zur Musik steckte mich an. Sobald Southside in unser Viertel gezogen war, verbrachte ich ganze Nachmittage bei ihm zu Hause, zog wahllos Alben aus dem Regal und legte sie auf. Jedes war ein neues Abenteuer, das mich in seinen Bann zog. Obwohl ich noch klein war, gab es bei ihm keinerlei Verbote, was ich anfassen durfte und was nicht. Später kaufte er mir meine erste Platte, »Talking Book« von Stevie Wonder. Ich bewahrte sie bei ihm zu Hause in einem speziellen Regal auf, das er mir für meine Lieblingsplatten überlassen hatte. Wenn ich Hunger hatte, machte er mir einen Milkshake oder briet uns ein ganzes Huhn, während wir Aretha Franklin, Miles Davis oder Billie Holiday lauschten. Für mich war Southside groß wie der Himmel. Und der Himmel, so stellte ich ihn mir vor, musste ein Ort voller Jazz sein.
Zu Hause arbeitete ich weiter an meinen musikalischen Fortschritten. An Robbies Klavier lernte ich schnell die Tonleitern, und ich machte mich mit Eifer an die Arbeitsblätter mit den Fingerübungen, die sie mir gab. Weil wir kein eigenes Klavier hatten, musste ich unten bei ihr üben. Ich wartete also, bis niemand mehr Unterricht hatte, und schleppte häufig meine Mutter mit nach unten, die sich in den Sessel setzen und mir zuhören sollte. Ich lernte ein Stück nach dem anderen aus dem Notenheft. Wahrscheinlich war ich weder besser noch geschickter als die anderen Schüler, aber ich war ehrgeizig. Für mich lag ein Zauber im Lernen. Ich bekam davon ein kribbelndes Gefühl der Genugtuung. Zum einen bemerkte ich den einfachen, anspornenden Zusammenhang zwischen der Zeit, die ich geübt hatte, und meinen Fortschritten. Und zum anderen spürte ich auch etwas bei Robbie – etwas, das zu tief vergraben war, als dass es offene Freude hätte sein können. Und trotzdem: Sie wirkte irgendwie leichter, froher, wenn ich es durch ein Stück schaffte, ohne es zu vermasseln, wenn die rechte Hand eine Melodie spielte, während die linke einen Akkord griff. Ich bemerkte es aus dem Augenwinkel heraus – Robbie war dann ein winziges bisschen weniger schmallippig, und der Finger, mit dem sie den Takt angab, federte ein bisschen mit.
Diese Zeit entpuppte sich letztlich als unsere »Flitterwochen«-Phase. Womöglich hätten wir beide, Robbie und ich, so weitermachen können, wäre ich weniger neugierig gewesen und dafür etwas respektvoller, was ihre Lehrmethode anging. Aber das Lehrbuch war einfach so dick, und ich kam nur so langsam über die ersten paar Stücke hinweg, dass ich bald ungeduldig wurde und weiterblätterte – und zwar nicht nur ein paar Seiten, sondern bis weit hinten im Buch. Ich las die Titel der schwierigeren Stücke und wagte mich während des Übens auch an ein paar heran. Als ich Robbie stolz eines dieser Stücke vorspielen wollte, explodierte sie und machte meine Leistung mit einem grausamen »Gute Nacht!« zunichte. Ich wurde genauso zusammengestaucht wie die vielen Schüler vor mir. Dabei hatte ich doch nur versucht, mehr und schneller zu lernen, aber Robbie betrachtete das als ein gewichtiges Verbrechen. Sie war nicht im Mindesten beeindruckt.
Und ich zeigte keinerlei Einsicht. Ich war ein Kind, das klare Antworten auf seine Fragen haben wollte, das gerne alles erörterte und die Dinge zu einem logischen, wenn auch anstrengenden Ende brachte. Ich vertrat energisch meine Meinung und tendierte auch ein bisschen zum Diktator, was mein Bruder, der oft von mir aus unserem gemeinsamen Spielbereich verbannt wurde, bezeugen kann. Wenn ich glaubte, eine gute Idee zu haben, ließ ich sie mir nicht verbieten. Und so gerieten meine Großtante und ich gewaltig aneinander, beide ungestüm und unnachgiebig.
»Wie kannst du mir böse sein, nur weil ich ein neues Stück lernen will?«
»Du bist noch nicht so weit. So lernt man nicht, Klavier zu spielen.«
»Und ob ich so weit bin. Ich habe es doch gerade gespielt.«
»So geht das aber nicht.«
»Aber warum?«
Die Klavierstunden wurden nun langwierig und mühsam, hauptsächlich wegen meiner Weigerung, Robbies Methode zu folgen. Und wegen Robbies Weigerung, irgendetwas Positives an meinem ungewöhnlichen Umgang mit ihrem Notenheft zu finden. So ging das hin und her, Woche um Woche, wenn ich mich richtig erinnere. Ich blieb stur, genau wie sie. Ich hatte meinen Standpunkt, genau wie sie. Zwischen unseren Wortwechseln spielte ich weiterhin Klavier und sie hörte mir weiterhin zu und machte alle möglichen Verbesserungsvorschläge. Ich führte meine Fortschritte nur in geringem Maß auf sie zurück. Und sie führte meine spielerischen Fortschritte nur in geringem Maß auf mich zurück. Dennoch fand der Unterricht weiter statt.
Oben fanden meine Eltern und Craig das alles unglaublich lustig. Sie lachten sich am Esstisch krumm und schief, wenn ich von meinen Schlachten mit Robbie berichtete und immer noch innerlich kochte, während ich meine Spaghetti mit Hackbällchen aß. Craig hatte keinerlei Probleme mit Robbie, denn er war ein fröhliches Kind und ein Klavierschüler, der brav nach Vorschrift lernte. Meine Eltern hatten angesichts meiner Nöte kein Mitgefühl mit mir, aber auch keines mit Robbie. Ganz allgemein mischten sie sich nicht in Dinge ein, die nicht direkt die Schule betrafen, und sie erwarteten schon früh von meinem Bruder und mir, dass wir uns selbst um unsere Angelegenheiten kümmerten. Für sie schien ihre Aufgabe eher darin zu bestehen, zuzuhören und uns, wenn nötig, innerhalb der eigenen vier Wände zu unterstützen. Und während andere Eltern mit ihrem Kind vielleicht geschimpft hätten, weil es, wie ich, frech zu einem Erwachsenen gewesen war, ließen sie auch das geschehen. Mom hatte, seit sie sechzehn war, immer wieder mit Robbie zusammengelebt und hatte jede noch so altmodische Regel befolgt, die sie aufgestellt hatte. Es ist deshalb gut möglich, dass sie insgeheim ganz froh darüber war, Robbies Autorität infrage gestellt zu sehen. Im Rückblick glaube ich heute, dass meine Eltern meine Resolutheit schätzten, und dafür bin ich ihnen dankbar. In mir brannte eine Flamme, die sie nicht kleinhalten wollten.
Einmal im Jahr veranstaltete Robbie einen Klavierabend, damit ihre Schüler live vor Publikum auftreten konnten. Bis heute weiß ich nicht, wie sie es schaffte, aber irgendwie bekam sie dafür Zugang zu einem Probenraum an der Roosevelt University mitten in Chicago. Das Konzert fand also in einem prächtigen Steingebäude in der Michigan Avenue statt, ganz in der Nähe der Spielstätte des Chicago Symphony Orchestra. Allein die Vorstellung, dorthin zu fahren, machte mich nervös. Unsere Wohnung in der Euclid Avenue lag etwa neun Meilen südlich des Chicago Loop, des Innenstadtbezirks, der mir mit seinen funkelnden Wolkenkratzern und vollen Gehsteigen vorkam wie eine andere Welt. Meine Familie fuhr nur wenige Male pro Jahr ins Stadtzentrum, etwa, um das Art Institute zu besuchen oder sich ein Theaterstück anzusehen. Wir vier reisten dann wie Astronauten in der Kapsel des Buick meines Vaters.
Dad nutzte jeden Vorwand, um Auto zu fahren. Er liebte sein Auto, einen bronzefarbenen, zweitürigen Buick Electra 225, den er voller Stolz als »Deuce and a Quarter« bezeichnete. Er polierte und wachste ihn und hielt sich penibel an den Inspektionsplan. Er brachte ihn zum Reifen- und zum Ölwechsel zur Werkstatt von Sears, so wie Mom uns Kinder zu Vorsorgeuntersuchungen beim Kinderarzt fuhr. Wir liebten den Wagen ebenfalls. Er hatte weiche Linien und schmale Rücklichter, die ihn cool und futuristisch aussehen ließen. Er war innen so geräumig, dass er uns vorkam wie ein Haus. Ich konnte mich darin quasi aufrecht hinstellen und mit der Hand über die mit Stoff bespannte Decke streichen. Damals musste man sich noch nicht unbedingt anschnallen, und so turnten wir die meiste Zeit auf dem Rücksitz herum und lehnten uns weit über den Vordersitz, wenn wir mit unseren Eltern sprechen wollten. Ich zog mich meistens zur Nackenstütze hoch und reckte das Kinn vor, sodass ich mit dem Kopf neben dem meines Vaters war und wir genau dieselbe Blickrichtung hatten.
Das Auto bot unserer Familie eine weitere Form der Nähe, eine Gelegenheit, sich gleichzeitig zu unterhalten und sich fortzubewegen. Abends, nach dem Essen, bettelten Craig und ich Dad an, mit uns noch eine Spritztour zu machen. Etwas Besonderes war es, wenn wir an Sommerabenden zu einem Autokino südwestlich von unserem Viertel fuhren, um die »Planet der Affen«-Filme anzuschauen. Wir stellten den Buick in der Abenddämmerung ab und machten es uns für den Film gemütlich. Mom verteilte gebratenes Hühnchen und Kartoffelchips, die sie von zu Hause mitgebracht hatte. Craig und ich aßen auf dem Rücksitz, das Essen auf dem Schoß, sorgfältig darauf bedacht, die Hände an unseren Servietten abzuwischen und keinesfalls am Sitz.
Es sollte Jahre dauern, bis ich ganz verstand, was das Autofahren für Dad bedeutete. Als Kind konnte ich es nur erahnen – die Freiheit, die er hinter dem Steuer spürte, die Freude, die er an einem rundlaufenden Motor und perfekt ausgewuchteten Reifen unter sich hatte. Er war noch in seinen Dreißigern, als ein Arzt ihm mitteilte, dass die gelegentliche Taubheit, die er in einem Bein zu spüren begann, nur der Anfang einer langen und wahrscheinlich schmerzhaften Entwicklung war. Der Arzt erklärte ihm, dass wahrscheinlich eine rätselhafte Krankheit sein Gehirn und das Rückenmark angriff – irgendwann würde er gar nicht mehr laufen können. Ich weiß nicht mehr genau wann, aber wahrscheinlich kam der Buick ungefähr um dieselbe Zeit in Dads Leben wie die Multiple Sklerose. Und auch wenn er es nie aussprach, das Auto muss für ihn eine Art Ausgleich gewesen sein.