© 2020 Cordula Reimann

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9783749418817

Coverbild: © Etienne Boulanger/unsplash.com
Buchlayout: Laura Werksnies

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis
Vorwort

Beim Ausbruch der Pandemie COVID-19 Anfang 2020 war das Buchmanuskript eigentlich schon abgeschlossen. Als ich das Buch in den letzten Jahren schrieb, war in keiner Weise abzusehen, dass Alleinsein und Einsamkeit angesichts politisch verordneter physischer Distanz, Quarantäne und Isolation eine so ganz andere Bedeutung bekommen würden.

Ich habe COVID-19 zum Anlass genommen, die wichtigsten Thesen zu aktualisieren und an einigen Stellen anzupassen. An der grundlegenden Argumentation habe ich festgehalten, nicht zuletzt auch weil sie trotz der Pandemie nicht an Aktualität eingebüßt hat.

Die Pandemie, Alleinsein und Einsamkeit haben vielleicht mehr gemeinsam als uns lieb ist. Die auffälligste Gemeinsamkeit scheint, dass die drei Zustände alle Menschen – unabhängig von Geschlecht, Alter, sozialem Status, ethischer Zugehörigkeit und sexueller Zugehörigkeit – betreffen können. Einsamkeit, Alleinsein und Pandemie sind Gleichmacher einer Gesellschaft – zumindest vordergründig.

Wie komplex, widersprüchlich und paradox Alleinsein und Einsamkeit bei genauer Betrachtung sind, ist mir nicht zuletzt auch während der Diskussionen und Befragungen weltweit, vor allem aber in Deutschland, Österreich, Großbritannien, Syrien und der Schweiz, aufgefallen.

All den über 150 Interviewteilnehmenden gilt mein großer Dank – namentlich erwähnen darf ich Salam Alawie, Ranya Assassa, Catrina B., Danny Burns, Racha Chamoun, Janine Chittka, Clémentine D., Ankica Dragin, Ute Marianne Düsseldorf, Anne-Marie E., Natalie Ehrenzweig, Katharina E., Björn Eser, Tatjana Fuhrmann, Tobias Denskus, Joshua G., Daniza Grabitz, Andrea Gros, Ursula G., Simone Greminger, Hanny Haller, Kelly Heyes, Akira Hokamura, Aleem Ahmad Khan, Cathérine K., Peeyusha Keiser, Sara Modalal, Cecilia Milesi, Michaela Nagl, Ulrike Neufeld, Anna P., Jina Park, Sandra Pfluger, Christan R., Dalilah Reuben-Shemia, Heike Richter, Tom S., Carola Schneiders, Bettina Schulz, Karin Schwenzner, Medet Suleimen, Anette Schwitzke, Ulrike Stöhring, Tatian, Tomas, Katrin Ücker, Firuza Umarova, Johanna Vögeli, Ute V., Marie W., Julian W. und Cathérine Zaun-Stocker.

Der Kreis der Befragten war so heterogen wie die Länder und Orte, in denen ich das Buch geschrieben habe: Teile des Buches sind in meinen persönlichen Lieblingsgegenden in der Schweiz, in Barcelona, Strasbourg, Brighton, Costa Rica und in meiner Heimatstadt Wuppertal verfasst worden. Diese Orte – und Fremde, die zu Freunden wurden – haben mich inspiriert.

Herzlichen Dank an Natalie Ehrenzweig, Karolin Eva Kappler, Hannah Prinz, Mark Moser, Natalie Trummer und Johanna Vögeli, die erste Teile des Manuskriptes gelesen und kommentiert haben. Und natürlich auch einen großen Dank an Vera Heyes-Johannsen, Kerstin Heine, Natalie Ehrenzweig und Kathrin Jehle, die mich mit diversen Artikeln, Liedern und Veranstaltungstipps zum Thema beglückt und begleitet haben.

Ich danke meinen Freundinnen Vera, Ulrike, Hannah, Johanna, Andrea, Nati, Kerstin, Frauke und Martina für ihre Freundschaft und mehrere Diskussionen zum Thema Alleinsein und Einsamkeit – und ohne Nati und Kerstin gäbe es dieses Buch in dieser Form wahrscheinlich (noch) nicht.

Mein größter Dank – auch für den Buchtitel – gilt meinem Partner Danny Burns “while we may be alone, we will never be lonely.”

Falls Sie mir Ihre Gedanken und Ideen zum Thema oder zum Buch mitteilen möchten, freue ich mich, von Ihnen zu hören. Meine Kontaktdaten finden Sie hier core und core change coaching.

Brighton & Langenthal, Juni 2020

Einleitung

Vor einigen Jahren an einem lauen Sommerabend in Bern: Ein entspannter Abend unter Freunden, es wird gelacht und geredet, ein Wirrwarr von Stimmen und Geräuschen. Die Gastgeberin schaut mich an und fragt „Und was machst du jetzt so?“. „Ich schreibe ein Buch zum Thema Einsamkeit“, antworte ich.

Es wird ruhiger, sehr ruhig, und die Gastgeberin fragt sichtlich nachdenklich „Oh, warum?”. Ich fange an zu erzählen und nehme in den Blicken der Freunde eine Mischung aus Irritation, Beklommenheit und diffuser Neugierde wahr. Später in der Küche nimmt die Gastgeberin mich zur Seite, redet auffällig leise und schaut mich nachdenklich mit ernster Miene an: „Vielleicht musst du mal wieder mehr ausgehen und mit anderen wegfahren – so viel Alleinsein ist ja nicht gesund.“

Irritiert schaue ich sie an und suche nach Worten und einer treffenden Antwort. Ein dumpfes Gefühl von Einsamkeit überkommt mich – dieses ungute Kribbeln in der Magengegend und dieser bittere Beigeschmack der Wahrheit, die mir anscheinend verdeutlichen wollen, ich gehöre hier nicht hin.

Warum dieses Buch

So wie meinen Freunden, will ich auch Ihnen die Antwort auf die Frage nach dem Warum nicht vorenthalten. Die unmittelbare und offensichtliche Motivation für dieses Buch resultiert aus dem Zusammenspiel von drei persönlichen Ereignissen und dem begleitenden nagenden Gefühl von tiefer und schmerzhafter Einsamkeit: der sehr plötzliche und relativ frühe Tod meiner Mutter, die Trennung von meinem depressiven, damaligen Ehemann und das Akzeptieren meiner Kinderlosigkeit. Bei genauerem Nachspüren wurde mir schnell klar, dass Einsamkeit und Alleinsein mich schon viel länger auf verschiedenen Ebenen beschäftigten (siehe Kapitel 1).

Ich kenne Einsamkeit seit ich denken kann – Einsamkeit als tiefes und gleichzeitig diffuses Gefühl von Anderssein, des Nichtgesehenwerdens und des Abgeschiedenseins – mal präsenter, mal schmerzhafter und mal als melancholische Grundstimmung. Meistens fühlte ich mich einsam in Gruppen, seltener wenn ich allein unterwegs war. Mein Gefühl von Einsamkeit fühlte sich besonders schmerzhaft in vermeintlicher trauter Zweisamkeit an. Ich habe lernen dürfen, dass Einsamkeit auch entstehen kann, wenn man seinen ganz eigenen Weg geht – fernab von dem gesellschaftlichen Mainstream und vorgegebenen und tradierten Geschlechterrollen und Lebensmodellen (siehe Kapitel 1). Gleichzeitig liebte ich es immer allein zu sein, allein zu reisen und allein zu wandern. Je älter ich wurde, umso mehr nahm ich wahr, dass über Einsamkeit nicht wirklich geredet wurde und längeres Alleinsein ohne Partner erklärungsbedürftig und als nicht normal galt.

Das Buch möchte zu einer persönlich und öffentlich differenzierten Auseinandersetzung zu den Themen Alleinsein und Einsamkeit beitragen: Ich möchte ermutigen, Alleinsein und Einsamkeit als wichtige Lebensbegleiter zu sehen – und Lust machen, sich auf sie einzulassen. Und so Alleinsein und Einsamkeit als wichtige Lebensprinzipien aufzuwerten, denen sich jeder Mensch – in und außerhalb von Liebesbeziehungen, Freundschaften und Familien – bewusst stellen sollte, um lebendig und selbstbestimmt leben zu können.

Hier wird weder dem Hedonismus das Wort geredet noch einem Egoismus, in dem sich alles um die Genuss- und Spaßmaximierung sowie Selbstoptimierung der/s Einzelnen dreht. Das Ziel ist nicht eine Gesellschaft von Hedonist*innen, die zum asozialen Wesen verkümmern, unfähig auf andere zuzugehen und Empathie zu entwickeln. Gesunde Empathie beinhaltet das Alleinsein und die eigene Einsamkeit als wichtige Ressourcen des Lebens anzuerkennen und zu lernen, sie in das eigene Leben zu integrieren.

So ist das Buch auch eine Einladung mit dem eigenen Alleinsein und der Einsamkeit ehrlich umzugehen und sich selber auszuhalten. Das bewusste Erleben und Aushalten des eigenen Ichs ermöglicht nicht nur ein freies und eigenständiges Leben, sondern auch einen ehrlicheren und bewussteren Zugang zu den eigenen Zweifeln, Ängsten und Schattenenergien.

Eine meiner Hauptthesen ist deshalb auch ein scheinbares Paradox: Ein bewusstes und achtsames Leben und Erleben von Alleinsein ist die beste Art der Prävention vor Einsamkeit. Alleinsein, verstanden als wichtiger Prozess und persönliche Ressource, die ermöglichen, sich über seine eigenen Wünsche, Ängste und Bedürfnisse bewusst zu werden: Was oder wer tut mir gut, welche Art von sozialen Kontakten brauche ich, und welche Menschen und Situationen nehmen mir Energie und Kraft? Das bedeutet zu Ende gedacht auch: Je früher wir lernen, mit dem Alleinsein umzugehen, umso mehr verfügen wir auch über eine gesunde und selbstbestimmte Prophylaxe vor Einsamkeit.

Gleichzeitig sind Alleinsein und Einsamkeit nicht nur persönliche Gefühle und Zustände, sondern auch immer Spiegelbild sozialer und politischer Entwicklungen. Wie wir mit beiden Phänomenen gesellschaftlich umgehen, sagt viel über uns als (post)moderne Gesellschaft und Wertegemeinschaft aus. Somit wirft das Buch auch sozialkritische und philosophische Fragestellungen auf, wie aktuell gesellschaftlich und politisch mit den Themen Alleinsein und Einsamkeit in westlichen Ländern umgegangen wird und wessen Interessen damit bedient werden (siehe Kapitel 5).

Alleinsein und Einsamkeit sind sehr vielschichtige und komplexe Phänomene. Das Buch spiegelt einen Teil dieser Komplexität wider, hat aber nicht den Anspruch, allen Aspekten gleich gerecht zu werden. Die Schwerpunktsetzung ergibt sich aus meiner Lesart der aktuellen Literatur zu diesem Thema, meinem persönlichen und politischen Interesse und den Inhalten der Interviews, die ich für dieses Buch geführt habe. Viele Bereiche werden entweder nur erwähnt oder gar nicht diskutiert – nicht weil sie gesellschaftlich weniger bedeutend sind, sondern, weil sie den Rahmen des Buches sprengen würden: Dazu gehört die Einsamkeit unter Kindern und Jugendlichen, Trans*Individuen, Geflüchteten, Führungspersonal in Politik und Wirtschaft, bekannten Persönlichkeiten aus Kunst, Film und Fernsehen, Kranken, Obdachlosen und Gefängnisinsassen.

Der Inhalt ist in fünf Kernthesen zusammengefasst. Diese Thesen sollen provozieren und sind eine Einladung, über das Alleinsein und die Einsamkeit neu oder anders zu denken.

Wie dieses Buch entstanden ist

Drei sehr persönliche Ereignisse in einem halben Jahr (der sehr plötzliche Tod meiner Mutter, die Trennung von meinem depressiven Ehemann und das Akzeptieren meiner Kinderlosigkeit) waren Lebensabschnitte, die mich zwangen, mich mit der eigenen Einsamkeit verstärkt auseinanderzusetzen.

Ich begann, viel über Einsamkeit zu lesen, nachzuspüren, zu meditieren (wenn auch nicht sehr erfolgreich) und irgendwie ließ mich das Thema nicht mehr los. Nach einem Gespräch mit einer guten Freundin, stand eines Tages unter der Dusche – wo mir oft neue Ideen kommen – fest, ich muss dieses Buch einfach schreiben.

In den letzten Jahren habe ich unzählige Bücher zum Thema Einsamkeit verschlungen und die aktuelle Einsamkeitsforschung verfolgt.

Lange habe ich mit mir gehadert, wie persönlich das Buch werden soll – auch gerade, weil es sich um kein Selbsthilfebuch handeln sollte. Mir wurde relativ schnell klar, dass ich kein Buch über Einsamkeit und Alleinsein schreiben kann, ohne meine eigene Betroffenheit zu schildern. Es war ein kontinuierliches innerliches Ringen – mal rationaler, mal emotionaler – wie offen und ehrlich ich über sehr persönliche Erfahrungen von Einsamkeit schreiben will. Nicht zuletzt auch, weil ich mich damit sehr verletzbar mache. Am Ende habe ich mich von meiner Intuition leiten lassen, die richtige Dosis von Emotionalität und Sachlichkeit und damit eine stimmige Balance von biographischen, sozialen und politischen Aspekten zu treffen.

Zu dieser richtigen Dosis haben auch die Interessierten aus verschiedenen Teilen der Welt – primär aus dem Nahen Osten, Südasien und Europa – beigetragen, die ich interviewen durfte. Wie vielschichtig und widersprüchlich Alleinsein und Einsamkeit in westlichen und nicht-westlichen Kulturkreisen wahrgenommen wird, ist mir erst bei der Recherche für das Buch richtig bewusst geworden.

Meinen Aufrufen auf Facebook 2017, 2018 und 2020, mit mir über ihre Einsamkeit und ihr Alleinsein zu reden, folgten gut 150 Interessierte: Gut ein Viertel kannte ich persönlich – die anderen waren über Bekannte und Freunde auf die Einladung aufmerksam geworden. Die älteste Interviewpartnerin war zum Zeitpunkt der Interviews 89 Jahre, die Jüngste 17 Jahre alt. Die Befragten kamen aus Europa, Südasien, Lateinamerika, Westafrika und dem Nahen Osten.

Im Vorwort finden sich nur die Befragten, die ich namentlich erwähnen durfte. Der Großteil der Interviewten wollte nicht namentlich genannt werden. Um die Vertraulichkeit zu wahren, werden Interviewteilnehmende nicht namentlich zitiert. Dem Wunsch von einigen, ihre Berufsbezeichnung in den Zitaten zu erwähnen, habe ich versucht, bestmöglich Rechnung zu tragen.

Meine Beratung und mein Coaching für Einzelpersonen und lokale und internationale Friedens- und Entwicklungsorganisationen1 ermöglichten mir, Menschen aus anderen Kulturen persönlich und in ihrem jeweiligen Kulturkreis zu dem Thema zu befragen. Darüber hinaus hatte ich die Möglichkeit, knapp 40 sogenannte Kriegsenkel*innen2 aus primär Deutschland und Österreich zu interviewen. Während des Corona-Virus interviewte ich Interessierte vor allem aus Deutschland, Großbritannien und Syrien. An COVID-19 schwer Erkrankte habe ich nicht interviewen können. Wie sie diese Zeit erlebt haben, ist eine wichtige Perspektive, die in diesem Buch fehlt.

Interviews wurden in Deutsch, Englisch und Französisch geführt, übersetzt und anonymisiert. Wenn Interviews und Zitate im Original wiedergegeben werden, dann, um den Inhalt der Aussage zu unterstreichen.

Die Interviews wurden entweder über Skype/Zoom, telefonisch oder persönlich durchgeführt. Gut 1/10 der Gesprächsteilnehmenden bevorzugten, mir persönliche Stellungnahmen zu allgemeinen Fragen von Alleinsein und Einsamkeit schriftlich zukommen zu lassen.

Die Interviewantworten haben keinen repräsentativen Anspruch: Sie haben mir vor allem geholfen, meine eigenen Ideen zu dem Thema zu schärfen. Die Antworten auf meine (offenen) Fragen und die Inhalte der Diskussionen spiegeln zum Teil stereotypische Glaubensätze wider und zum Teil radikal andere Perspektiven auf die Themen Alleinsein und Einsamkeit. Zusammengefasste Beobachtungen bezüglich der Themen Kultur und Geschlecht sollen Tendenzen aufzeigen und werden dabei unweigerlich gewisse Stereotype bedienen, ohne diese (vollständig) aufzulösen.

Wie groß der Redebedarf und das Bedürfnis nach Austausch zu dem Thema sind, wurde mir erst während der Interviews vollumfänglich bewusst. Eine Synthese der Antworten sind in die Formulierung der Thesen geflossen.

Wie dieses Buch gelesen werden kann
(oder eben auch nicht)

Nach einer begrifflichen und gesellschaftspolitischen Kontextualisierung des Themas Alleinsein und Einsamkeit diskutiere ich fünf Thesen. Natürlich können Sie das Buch chronologisch lesen, Kapitel für Kapitel. Oder sie greifen sich immer wieder eine der Thesen heraus.

Die einzelnen Thesen stehen für sich und können unabhängig voneinander gelesen und verstanden werden. Gleichzeitig folgt die Ordnung der Thesen einer inhärenten Logik und hilft, mein zugrunde liegendes Gesamtverständnis von Alleinsein und Einsamkeit zu erläutern und auszuführen.

Begrifflichkeiten

Für viele – vielleicht auch für Sie – beschreiben Alleinsein und Einsamkeit oberflächlich die gleichen emotionalen Alltagsphänomene. Viele Menschen scheinen sich schnell einsam zu fühlen, wenn sie physisch allein sind – ohne Freunde, Bekannte, Familie, Haustiere und eine vertraute Umgebung. Auch wenn in der Alltagssprache beide Begriffe oft und schnell synonym verwendet werden, beschreiben Alleinsein und Einsamkeit in der Tat unterschiedliche persönliche und soziale Phänomene: Wer allein ist, fühlt sich nicht automatisch einsam. Und sich einsam zu fühlen, bedingt nicht zwingend, dass man allein ist.

Alleinsein beschreibt erstmal einen objektiven Tatbestand, dass man physisch allein d. h. ohne andere ist. Einsamkeit definiert einen subjektiven Gefühlszustand, der bei manchen Menschen vor allem präsent ist, wenn sie allein sind und/oder sich in Gemeinschaft nicht gesehen oder (an)erkannt fühlen.

Gleichzeitig gilt tendenziell, – und die Interviews mit Menschen aus verschiedenen sozialen Kontexten und Kulturen haben das unterstrichen – dass Menschen, die über längere Zeit allein leben, auch verstärkt dazu neigen, sich einsam zu fühlen. In den meisten nicht-westlichen Kulturen, wie z. B. in Asien und dem Nahen Osten, wird beides tendenziell immer zusammen gedacht, und die Unterscheidung seltener bis gar nicht gemacht: Man ist allein und einsam, wenn man nicht mit anderen ist. So werden im Volksmund, zum Beispiel im Arabischen, Kurdischen, Türkischen und in Hindi oder Urdu, Alleinsein und Einsamkeit oft als Synonyme verwendet.

Die Interviewten aus dem globalen Norden betonen, dass Alleinsein eine Alltagssituation beschreibe, in die sie sich freiwillig und selbstbestimmt begeben – eine Situation, in der sie nicht Rücksicht auf andere nehmen müssen und „ihr Ding machen“ können, wie es eine Interviewpartnerin auf den Punkt bringt. Alleinsein könne auch durchaus wichtig, angenehm und heilsam sein – auch weil der Mensch seiner Natur nach nicht nur nach Kontakten und sozialer Einbindung suche, sondern auch nach Unabhängigkeit und Autonomie. Dieses Verständnis kommt dem englischen und französischen Begriff von solitude am nächsten, einem positiven Verständnis von Alleinsein. Oder wie der norwegische Philosoph Lars Svendsen reflektiert:

“In loneliness, one is alone with oneself, whereas in so litude, one is together with oneself.” (Svendsen 2017: 104)

Nur wenige Befragte schildern, dass sie dieses Alleinsein – unabhängig von der Zeitdauer – wirklich und offen genießen oder es immer wieder proaktiv suchen. Wieweit kulturelle Unterschiede das Erleben von Einsamkeit und Alleinsein beeinflussen, wird ausführlicher in These 3 diskutiert.

Unabhängig des kulturellen Kontextes zeigt die Einsamkeitsforschung, wie schwierig es ist, eine eindeutige Definition von Einsamkeit zu geben, da Einsamkeit ein sehr subjektives Empfinden darstellt: Jede/r von uns hat ein anderes Verständnis von Einsamkeit und ab wann genau man sich einsam fühlt.

In der aktuellen Einsamkeitsforschung in Europa und den USA werden Befragte nach ihrem subjektiven Verständnis und Gefühl von Einsamkeit und sozialer Verbundenheit gefragt (siehe z. B. Cacioppo und Patrick 2008). Da Einsamkeit mit Scham und sozialem Versagen assoziiert wird, bleibt offen, inwiefern Befragte Informationen ehrlich teilen oder stereotypische Glaubenssätze unhinterfragt weitergeben.

Was in den von mir durchgeführten Interviews auffällt ist, dass Einsamkeit für alle Interviewteilnehmende – ungeachtet des kulturellen Hintergrundes – ein ausschließlich negativ konnotierter Begriff ist:

Die meisten Befragten verstehen Einsamkeit als unfreiwillige und fremdbestimmte Form des Alleinseins. Für viele geht Einsamkeit mit physischen und psychischen Symptomen wie Müdigkeit, depressiver Grundstimmung, emotionaler Leere, Orientierungslosigkeit, Nervosität, Traurigkeit und tiefer Melancholie einher. Einsamkeit bedeutet „mit der Welt und dem sozialen Umfeld“ nicht verbunden zu sein: sich nicht geliebt und nicht „ganz“ oder „komplett“ zu fühlen. Bedürfnisse nach sozialer Nähe, Kommunikation, Resonanz oder Austausch können nicht befriedigt oder kompensiert werden.

Für viele Befragte trifft der Begriff mutterseelenallein das Grundgefühl von Einsamkeit am besten – der/die Einzelne kann (bestehende) Kontakte über einen längeren Zeitraum nicht mehr aktivieren und sich selbst nicht mehr aus der Einsamkeit herausbringen. Der letzte Punkt unterstreicht die Bedeutung der Dauer – Einsamkeit ist ein gefühlter Zustand, der über einen längeren Zeitraum anhält.

Der US-amerikanische Psychologe und vielleicht bekannteste Einsamkeitsforscher John Cacioppo hat in verschiedenen Studien gezeigt, dass Menschen, die sich einsam fühlen, es schwierig finden, sich zu motivieren, zu konzentrieren und schneller aufgeben, nach kreativen Problemlösungen zu suchen (siehe Cacioppo und Patrick 2008).

Forschungen haben auch ergeben, dass Menschen, die sich regelmäßig einsam fühlen, oft ein generelles Misstrauen gegenüber anderen Menschen hegen: Das misstrauische Verhalten, und die fehlende Motivation erschweren Sozialkontakte. Unbefriedigende Kontakte verstärken dieses Verhalten, und einsame Menschen finden sich dann schnell in einem Teufelskreis (siehe Ernst und Cacioppo 1998).

Diesen Teufelskreis zu unterbrechen erscheint für die meisten Betroffenen sehr schwierig - auch weil sich die Gründe und Bewältigungsstrategien für Einsamkeit sehr oft gegenseitig beeinflussen und bedingen, wie die Erzählung einer 40-jährigen Lehrerin aus Österreich zeigt:

„Nachdem mein Mann mich verlassen hat, habe ich mich zurückgezogen und wollte alleine sein. Ich merkte schnell, dass dieses Alleinsein mir nicht guttat, da sich die Gedanken nur um meinen Ex-Partner drehten …. die Trennung hat mich in meinem Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühlt sehr getroffen – ich fühlte mich verletzt, hilflos und ausgenutzt. Ich hatte vielleicht schon vor der Beziehung kein großes Selbstbewusstsein. Die Trennung hat mich auf jeden Fall weiter runter gezogen … Für mich war es sehr schwer, auf neue Menschen zuzugehen, auch weil ich mich gekränkt fühlte…und wenn ich ehrlich bin, auch sehr einsam fühlte. Die Kontakte zu neuen Bekanntschaften, die sich ergaben, haben mich aber noch einsamer und trauriger fühlen lassen, weil sie alle nicht das versprachen, was ich suchte. Vielleicht habe ich zu hohe Ansprüche…aber ich bin nun mal so… Als ich dann an eine neue Schule versetzt wurde, fühlte ich mich noch einsamer.“

Verschiedene Studien haben darüber hinaus belegt, was auf den ersten Blick erstaunen mag: Einsamkeit steigt mit der Zahl der Freunde und Bekanntschaften. Menschen, die mehr Freunde haben, als für sie emotional richtig und ideal erscheint, fühlen sich eher einsam als Menschen mit weniger Freunden (siehe Russell et al. 2012)3.

Chronische Einsamkeit grenzt an die extreme und krankmachende Form der sozialen Vereinsamung und Isolation, die sich ob