Über das Buch:
Vergessen hat Siegfried Moldenhauer die Grauen des Krieges nie. Und auch nicht die Zeit danach, als er sich als »Wolfskind« durchschlagen musste. Aber es hat viele Jahre gedauert, bis er die Kraft fand, anderen von seinem Schicksal zu erzählen. Zu belastend waren all die furchtbaren Erinnerungen. Erst im hohen Alter hat er sein Schweigen gebrochen und sich Eckart zur Nieden anvertraut. Herausgekommen ist eine Geschichte, die ihresgleichen sucht, die Geschichte eines Wolfskindes, das schließlich ein Gotteskind wurde.

Über den Autor:
Eckart zur Nieden arbeitete nach seiner theologischen Ausbildung in einem Missionswerk und dann 35 Jahre beim Evangeliums-Rundfunk (ERF) in Wetzlar. Er schrieb viele Bücher für Kinder und Erwachsene.

Kapitel 6

Meine Geschichte als »Wolfskind« endet hier und es beginnt meine Geschichte als Gotteskind.

In Musikstücken gibt es das manchmal, dass eine Phrase, eine Melodie auf einem Akkord endet, der aber zugleich der Anfangsakkord einer neuen Melodie ist, manchmal mit anderen Instrumenten gespielt. So ähnlich empfinde ich meine Hinwendung zu Jesus damals in Bad Harzburg. Meine Übergabe an ihn war das Ziel, der Endpunkt einer Entwicklung. Die ganze chaotische Zeit ist zu einem Schluss gekommen.

Gleichzeitig ist es der Beginn einer neuen Lebensmelodie. Von nun an bestimmt Christus als Dirigent, er wird Takt und Tonart vorgeben. Oder, um es mit dem Bibelwort zu sagen, das mich seit damals begleitet: Er wird mich nicht mit dem Taktstock, aber »mit seinen Augen leiten«.

Mein Vater musste mit allen seinen Brüdern bei seinem Vater das Schneiderhandwerk lernen, obwohl er eigentlich nicht wollte. Aber mir macht er keine Vorschriften. Ich will auch kein Schneider werden, sondern beginne eine Lehre als Bäcker. Ob meine Hungerzeit in Königsberg ein besonderes Verhältnis zum Brot in mir hat entstehen lassen?

Die Arbeit in der Bäckerei macht mir Spaß. Es gibt nur ein Problem: Ich muss immer früh aufstehen. Das klappt bei mir überhaupt nicht. Ich verschlafe jeden Morgen und komme meistens eine Stunde zu spät zur Arbeit. Auch dass ich meinen Wecker auf eine umgedrehte Blechschüssel stelle, damit er besonders viel Lärm macht, nützt nichts. Entweder höre ich ihn trotzdem nicht oder ich schlafe sofort wieder ein.

Mein Meister sagt: »So geht das nicht, Junge! Wenn du regelmäßig zu spät kommst, kannst du hier nicht deine Lehre machen.«

Ich bin geknickt. »Aber… aber, was soll ich denn tun?«

»Ich schlage vor, du ziehst hier in der Bäckerei ein und wohnst nicht mehr zu Hause. Dann kann ich dich jeden Morgen wecken und dann kannst du sicher sein, dass du auch wach wirst.«

So wird es beschlossen. Es gibt in der Bäckerei zwar ein zusätzliches Zimmer, das sich als Unterkunft für mich eignen würde, aber dort müssen nach der Anordnung der städtischen Behörden Flüchtlinge untergebracht werden. Es steht also nicht zur Verfügung. So muss ich auf dem Mehlboden zwischen den Säcken schlafen.

Das ist keine gute Lösung. Es ist unbequem und kalt.

Eines Tages ergreife ich die Initiative, ohne einem der Erwachsenen etwas davon zu sagen. Ich bin es ja gewöhnt, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Daher schreibe ich in meiner jugendlichen Einfalt an den Bundespräsidenten, Herrn Dr. Theodor Heuß. In meiner noch sehr ungelenken, krakeligen Schrift berichte ich ihm, was mir in Königsberg widerfahren ist und dass ich doch auch so etwas wie ein Flüchtling bin, und bitte darum, ob er nicht dafür sorgen kann, dass ich das Zimmer in der Bäckerei beziehen kann.

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Einige Zeit später bekomme ich eine Antwort, zwar nicht vom Bundespräsidenten selbst, aber aus seinem Büro. Jemand schreibt mir freundlich, mit gleicher Post sei ein Schreiben an die örtliche Behörde hinausgegangen mit der Bitte, mein Ersuchen um die Erlaubnis, das Zimmer beziehen zu dürfen, wohlwollend zu prüfen. Und tatsächlich – wenige Tage später kann ich in das erbetene Zimmer umziehen, das ich allerdings mit einem Bäckergesellen teilen muss.

Eines Tages stoße ich auf eine Zeitungsanzeige. Es werden junge Männer gesucht für eine Arbeit in Südafrika. Die sollen da wohl als Aufseher in den Diamantminen arbeiten. Das reizt mich. Es ist wohl die innere Unruhe, die von der aufregenden Kindheit noch in mir steckt, die mich zu weiteren Abenteuern treibt. Ich bewerbe mich und muss mich einem Gesundheitstest unterziehen, den ich auch bestehe. Aber ehe es dazu kommt, »leitet Gott mich mit seinen Augen« anders.

Ein Christ, den ich nicht kannte, der aber von mir gehört hat, schreibt mir eines Tages einen Brief. Er wisse, schreibt er, dass es in Nürnberg eine Gruppe von christusgläubigen Bäckern gibt, die sich sicher freuen würden, wenn ich zu ihnen käme. Ob ich nicht meine Kenntnisse des Bäckerhandwerks in der Stadt der Lebkuchen vervollständigen wolle.

Das ist für mich ein überraschender Gedanke. Ich zeige meinem Vater den Brief. »Geh nur nach Nürnberg, wenn du möchtest!«, sagt er.

Also reise ich nach Nürnberg. Ich erfahre, dass es dort eine eigene Jugendarbeit des CVJMs nur für Bäcker gibt, und sogar einen Posaunenchor, der ausschließlich aus gläubigen Bäckern besteht. Das ergibt auch insofern einen Sinn, weil Bäcker immer früh aufstehen müssen und sich so mit ihrem üblichen Tagesrhythmus nicht gut mit anderen treffen und zusammen mit ihnen musizieren können. Ich schließe mich dem Posaunenchor und dem Jugendkreis an und leite ihn später auch.

Aber weil mich Gott »mit seinen Augen leitet«, merke ich, dass er noch etwas anderes mit mir vorhat. Ich soll mit meiner ganzen Zeit am Bau seines Reiches mithelfen. Dazu muss ich aber ausgebildet werden.

Ich erkundige mich, wie und wo das möglich ist, und lasse mir Informationsmaterial von verschiedenen Einrichtungen kommen. »Tabor« scheint mir das Richtige zu sein, eine Ausbildungsstätte, die damals »Brüderhaus Tabor« oder auch »Missionsseminar« heißt, heute »Evangelische Hochschule Tabor«.

In dem Prospekt lese ich, der Eintritt sei jederzeit möglich. Das ist offenbar etwas anders gemeint, als ich es verstehe. Ich fahre nämlich einfach hin und will eintreten. Nun, ganz so einfach geht das nicht, sagt man mir. Aber nach einem Vorstellungsgespräch und einem kurzen Aufenthalt in Bad Harzburg ist es dann doch so weit – ich beginne meine Ausbildung.

Gott hat sein Versprechen wahr gemacht, mich weiter »mit seinen Augen zu leiten«, in der Jugendarbeit, beim Dienst als Prediger und Evangelist und später in der Krankenhausseelsorge.

Allerdings musste ich feststellen, dass mit dem Heil, das ich in ihm gefunden habe, nicht automatisch die Heilung von all den belastenden Erinnerungen aus meiner Kindheit verbunden ist.

Manchmal, wenn ich die Augen zumache, sehe ich mich in den Bombennächten im Schutzraum zwischen all den ängstlichen Menschen sitzen und die Angst würgt auch mich und ich höre die Bomben – bis mir wieder einfällt: Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt, ist bei ihm geborgen. Ich bin jetzt unter seinem Schirm, in seiner Schutzburg. Was für ein Glück! Das lässt mich wieder frei aufatmen.

Und manchmal sehe ich mich noch unter einem Eisenbahnwagen hängen und frieren und Halt suchen. Und es schaudert mich wieder wie damals. Aber dann denke ich daran: Ich bin ja nun von Gott gehalten. Ich kann nicht ins Verderben stürzen, weil seine starke Hand niemanden loslässt, der sich ihm anvertraut. Und dann friere ich nicht mehr, weil seine Wärme mich umgibt.

Oder ich erinnere mich an den quälenden Hunger. Jetzt habe ich genug zu essen, aber doch wirken die Schmerzen von damals in mir nach, der Hunger seelischer Art. Dann mache ich mir bewusst, dass ich leben kann von dem »Brot des Lebens«, das Jesus für mich ist.

In Krisen oder Gefahren – manchmal im Traum, der mich plötzlich mit Herzrasen aufschrecken lässt, manchmal aber auch ohne besonderen Anlass – bin ich in Gedanken und Gefühlen wieder in der Fremde, in dunklen, kalten Kellern voller Ratten.

Oder ich bin gezwungen, über endlose eisige Schneefelder zu wandern, erschöpft und kraftlos, ohne ein Ziel zu erkennen. Verzweiflung quält mich. Dann rufe ich meinen himmlischen Vater um Hilfe an. Und er schenkt mir die Gewissheit ins Herz: Ich bin nicht mehr heimatlos. Ich habe eine ewige Geborgenheit bei ihm.

Die äußere Not von damals habe ich hinter mir gelassen. Gott sei Dank! Aber nicht immer die quälenden Erinnerungen. Da hilft das Wissen, dass es ja vorbei ist, wenig. Argumente und nüchterne Überlegungen reichen oft nicht bis in die Tiefen der Seele. Da hilft nur, dass ich mich in der Liebe Gottes bergen kann wie ein Kind in den Armen von Vater oder Mutter.

Heute bin ich fünfundachtzig Jahre alt. Was ich hier erzählt habe, umspannt nur etwa ein Sechstel meines Lebens. Aber von dieser Kindheit geht bis heute eine Wirkung aus. Immer noch stehen mir bestimmte Bilder vor Augen: etwa, wie die Männer Mama mitnehmen oder wie sie mich beim letzten Abschied anschaut. Aber auch das Bild eines toten Soldaten ohne Stiefel in einer Pfütze oder einer steif gefrorenen, sterbenden Frau im Straßengraben.

Noch sehr viel kürzer als dieses Sechstel meines Lebens ist die Stunde mit Arthur – oder besser: die Stunde mit Gott. Die Nachwirkung dieses Ereignisses ist noch viel prägender für die folgenden Jahre. Weil es nicht nur eine Erinnerung ist, sondern der Anfang von etwas, das ich täglich neu erleben kann: die Begegnung mit Gott.

Man hat mir oft gesagt – und ich selbst habe das anderen auch oft gesagt: Im Glauben an Jesus sind wir erlöst. Erlöst vom Fluch unsrer Sünde, befreit zur Gotteskindschaft.

Für mich persönlich bedeutet Erlösung auch noch etwas anderes: Erlösung von den Schatten der Vergangenheit. Befreiung von den Ängsten, die nun zwar nicht mehr begründet sind, seit ich in äußerer Sicherheit lebe, die aber trotzdem Spuren in meiner Seele hinterlassen haben. Jesus hat durch seinen Tod und seine Auferstehung nicht nur all meine Schuld vor Gott gelöscht, »den Schuldschein zerrissen«, wie es in der Bibel heißt, sondern er hat auch die Ängste durchgestrichen und für ungültig erklärt, die sich damals in meiner kindlichen Seele festgesetzt hatten. Er hat Verletzungen geheilt und Licht auf die Schatten der Vergangenheit geworfen. Denn er ist das Licht in Person, das Heil, die Erlösung.

Und ich weiß – auch wenn ich um dieses Wissen manchmal im Gebet ringen muss –, dass er mein Heiland bleibt, der heil macht, was Menschen und auch ich selbst unheil gemacht haben. Und dass er mich weiter liebevoll anschaut und mit seinen Augen leitet.

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Die Hölle des Krieges und der Friede des Himmels

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