Richard Wagner: Über das Dirigieren
Neuausgabe.
Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.
ISBN 978-3-86199-991-1
Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:
ISBN 978-3-8430-4859-0 (Broschiert)
ISBN 978-3-8430-4862-0 (Gebunden)
Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.
Entstanden 1869. Hier nach: Richard Wagner: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Band 8, Leipzig: Breitkopf und Härtel, o.J. [1911]. Die Eigentümlichkeit der Orthographie wurde bei der vorliegenden Ausgabe beibehalten.
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Motto nach Goethe:
»Fliegenschnauz' und Mückennas'
Mit euren Anverwandten,
Frosch im Laub und Grill' im Gras,
Ihr seid mir Musikanten!«
Mit dem Folgenden beabsichtige ich meine Erfahrungen und Beobachtungen auf einem Felde der musikalischen Wirksamkeit mitzutheilen, welches bisher für die Ausübung nur der Routine, für die Beurtheilung aber der Kenntnißlosigkeit überlassen blieb. Ich werde für mein eigenes Urtheil über die Sache mich nicht auf die Dirigenten selbst, sondern auf die Musiker und Sänger berufen, weil diese allein das richtige Gefühl dafür haben, ob sie gut oder schlecht dirigirt werden, worüber sie allerdings nur dann sich aufklären können, wenn sie, was eben nur sehr ausnahmsweise geschieht, einmal gut dirigirt werden. Hierfür gedenke ich nicht mit der Aufstellung eines Systemes, sondern durch Aufzeichnung einer Reihenfolge von Wahrnehmungen zu verfahren, welche ich gelegentlich fortzusetzen mir vorbehalte.
Unstreitig kann es den Tonsetzern nicht gleichgiltig sein, in welcher Weise vorgetragen ihre Arbeiten dem Publikum zu Gehör kommen, da dieses sehr natürlich erst durch eine gute Aufführung von einem Musikwerke den richtigen Eindruck erhalten kann, während es den durch eine schlechte Aufführung hervorgebrachten unrichtigen Eindruck als solchen nicht zu erkennen vermag. Wie es nun aber um die allermeisten Aufführungen nicht nur von Opern, sondern auch von Konzertmusikwerken in Deutschland steht, wird Manchem zu Bewußtsein kommen, wenn er meiner Beleuchtung der Elemente solcher Aufführungen mit Aufmerksamkeit und einiger Kenntniß folgt.
Die dem hierin Erfahrenen sich bloßstellenden Schwächen der deutschen Orchester, sowohl im Betreff ihrer Beschaffenheit als ihrer Leistungen, rühren zu allermeist von den nachtheiligen Eigenschaften ihrer Dirigenten, als Kapellmeistern, Musikdirektoren u.s.w. her. Die Wahl und Anstellung derselben wird von den obersten Behörden der Kunstinstitute ganz in dem Maaße kenntnißloser und nachlässiger ausgeführt, als die Anforderungen an die Orchester schwieriger und bedeutender geworden sind. Als die höchsten Aufgaben für das Orchester in einer Mozart'schen Partitur enthalten waren, stand an der Spitze desselben der eigentliche deutsche Kapellmeister, stets ein Mann von gewichtigem Ansehen (mindestens am Ort), sicher, streng, despotisch, und namentlich grob. Als letzter dieser Gattung wurde mir Friedrich Schneiderin Dessau bekannt; auch Guhr in Frankfurt gehörte noch zu ihr. Was diese Männer und ihre Gleichen, welche man in ihrem Verhalten zur neueren Musik als »Zöpfe« zu bezeichnen hatte, in ihrer Art Tüchtiges zu leisten vermochten, erfuhr ich noch vor etwa acht Jahren durch eine Aufführung meines »Lohengrin« in Karlsruhe unter der Leitung des alten Kapellmeisters Strauß. Dieser höchst würdige Mann stand offenbar mit besorglicher Scheu und Befremdung vor meiner Partitur: aber seine Sorge trug sich nun eben auch auf die Leitung des Orchesters über, welche nicht präziser und kräftiger zu denken war; man sah, ihm gehorchte Alles, wie einem Manne, der keinen Spaß versteht und seine Leute in den Händen hat. Merkwürdiger Weise war dieser alte Herr auch der einzige mir vorgekommene namhafte Dirigent, welcher wirkliches Feuer hatte; seine Tempi waren oft eher übereilt als verschleppt, aber immer körnig und gut ausgeführt. – Einen ähnlichen guten Eindruck erhielt ich von der gleichen Leistung H. Esser's in Wien.
Was diese Gattung von Dirigenten alten Schrotes, wenn sie weniger begabt waren als die Genannten, beim Aufkommen der komplizirteren neueren Orchestermusik für die Bildung der Orchester endlich ungeeignet machen mußte, war zuvörderst eben ihre alte Gewöhnung im Betreff der früher nöthig oder genügend dünkenden Besetzung derselben, wofür man sich genau nur nach den dargebotenen Aufgaben gerichtet hatte. Mir ist kein Beispiel bekannt geworden, daß irgendwo in Deutschland der Etat eines Orchesters aus Rücksicht auf die Erfordernisse der neueren Instrumentation grundsätzlich umgestaltet worden wäre. Nach wie vor rücken in den großen Orchestern die Musiker nach dem Anziennitätsgesetze zu den Stellen der ersten Instrumente herauf, und nehmen folgerichtig erst bei eingetretener Schwächung ihrer Kräfte die ersten Stimmen ein, während die jüngeren Kräfte und tüchtigeren Musiker an den zweiten sitzen, was besonders bei den Blasinstrumenten sehr nachtheilig bemerkbar wird. Ist es nun wohl in neuerer Zeit einsichtigen Bemühungen, und namentlich auch der bescheidenen Erkenntniß der betreffenden Musiker selbst zu verdanken, daß diese Übelstände sich immer mehr vermindern, so hat hingegen ein anderes Verfahren zu andauernd nachtheiligen Folgen geführt, nämlich in der Besetzung der Streichinstrumente. Hier wird ohne alles Besinnen fortwährend die zweite Violine, vor allem aber die Bratsche aufgeopfert. Dieses letztere Instrument wird überall zum allergrößten Theile von invalid gewordenen Geigern, aber auch von geschwächten Bläsern, sobald diese irgend einmal auch etwas Geige gespielt haben, besetzt; höchstens sucht man einen wirklich guten Bratschisten an das erste Pult zu bringen, namentlich der hie und da vorkommenden Soli wegen; doch habe ich auch erlebt, daß man für diese sich mit dem Vorspieler der ersten Violine aushalf. Mir wurde in einem großen Orchester von acht Bratschisten nur ein einziger bezeichnet, welcher die häufigen schwierigen Passagen in einer meiner neueren Partituren korrekt ausführen konnte. Das hiermit erwähnte Verfahren war nun, wie es aus humanen Rücksichten zu entschuldigen war, von dem Charakter der früheren Instrumentation, nach welchem die Bratsche meist nur zur Ausfüllung der Begleitung gebraucht wurde, eingegeben, und fand auch bis in die neuesten Zeiten eine genügende Rechtfertigung durch die unwürdige Instrumentirungsweise der italienischen Opernkomponisten, deren Werke ja einen wesentlichen und beliebten Bestandtheil des deutschen Opernrepertoir's ausmachen. Da auf diese Lieblingsopern auch von den großen Theaterintendanten, nach dem rühmlichen Geschmacke ihrer Höfe, am allermeisten gehalten wird, so ist es auch nicht zu verwundern, daß Anforderungen, welche sich auf diesen Herren durchaus unbeliebte Werke begründen, bei ihnen nur dann durchzusetzen sein würden, wenn der Kapellmeister eben ein Mann von Gewicht und ernstem Ansehen wäre, und wenn er namentlich selbst recht ordentlich wüßte, was für ein heutiges Orchester nöthig ist. Dieses Letztere entging nun größtentheils unseren älteren Kapellmeistern; ihnen entging namentlich auch die Einsicht in die Nothwendigkeit, die Saiteninstrumente unserer Orchester, gegenüber der so sehr gesteigerten Anzahl und Verwendung der Blasinstrumente, im entsprechenden Maaße zu vermehren; denn was auch neuerdings in dieser Hinsicht nothdürftig geschah, da das Misverhältniß nun doch gar zu offenbar wurde, genügte nie, um hierin die so berühmten deutschen Orchester auf gleiche Höhe mit den französischen zu bringen, welchen sie in der Stärke und Tüchtigkeit der Violinen, und namentlich auch der Violoncelle, durchweg noch nachstehen.
Was nun jenen Kapellmeistern vom alten Schrot entging, das zu erkennen und auszuführen wäre jetzt die erste und rechte Aufgabe der Dirigenten neueren Datum's und Styles gewesen. Dafür war aber gesorgt, daß diese den Intendanten nicht gefährlich wurden, und daß namentlich auf sie nicht die wuchtvolle Autorität der tüchtigen »Zöpfe« der früheren Zeit überging.
Es ist wichtig und lehrreich zu ersehen, wie diese neuere Generation, welche jetzt das gesammte deutsche Musikwesen vertritt, zu Amt und Würden gelangte. – Da wir zunächst dem Bestehen der großen und kleinen Hoftheater, sowie der Theater überhaupt, die Unterhaltung von Orchestern zu verdanken haben, müssen wir es uns auch gefallen lassen, daß durch die Direktionen dieser Theater der deutschen Nation diejenigen Musiker bezeichnet werden, welche sie für berufen halten, oft halbe Jahrhunderte hindurch die Würde und den Geist der deutschen Musik zu vertreten. Die meisten dieser so beförderten Musiker müssen wissen, wie sie zu dieser Auszeichnung kamen, da an den wenigsten unter ihnen es für das ungeübte Auge ersichtlich ist, durch welche Verdienste sie dazu gelangten. Der eigentliche deutsche Musiker erreichte diese »guten Posten«, als welche sie von ihren Patronen wohl einzig betrachtet wurden, zumeist durch die einfache Anwendung des Gesetzes der Trägheit: man rückte aufwärts, schubweise. Ich glaube, daß das große Berliner Hoforchester seine meisten Dirigenten auf diesem Wege erhalten hat. Mitunter ging es jedoch auch sprungweise her: ganz neue Größen gediehen plötzlich unter der Protektion der Kammerfrau einer Prinzessin u.s.w. Von welchem Nachtheile diese autoritätslosen Wesen für die Pflege und Bildung unserer allergrößten Orchester und Operntheater geworden sind, ist nicht genug zu ermessen. Gänzlich verdienstlos, konnten sie sich in ihrer Stellung nur durch Unterwürfigkeit gegen einen kenntnißlosen, gewöhnlich aber allesverstehenwollenden obersten Chef, sowie durch eine schmeichelnde Anbequemung an die Forderungen der Trägheit gegen die ihnen untergebenen Musiker behaupten. Durch Preisgebung aller künstlerischen Disziplin, zu deren Aufrechterhaltung sie andererseits gar nicht befähigt waren, sowie durch Nachgiebigkeit und Gehorsam gegen jede unsinnige Zumuthung von oben, schwangen sich diese Meister sogar zu allgemeiner Beliebtheit auf. Jede Schwierigkeit des Studiums ward mit einer salbungsvollen Berufung auf den »alten Ruhm der N.N. Kapelle« unter gegenseitigem Schmunzeln überwunden. Wer bemerkte es nun, daß die Leistungen dieses ruhmreichen Institutes von Jahr zu Jahr tiefer sanken? Wo waren die wirklichen Meister, diese zu beurtheilen? Gewiß nicht unter den Rezensenten, welche nur bellen, wenn ihnen der Mund nicht zugestopft wird; auf dieses Stopfen aber verstand man sich allseitig.
In neueren Zeiten werden nun diese Dirigentenstellen aber auch durch besonders Berufene besetzt: man läßt, je nach Bedürfniß und Stimmung der obersten Direktion, von irgend woher einen tüchtigen Routinier kommen; und dieß geschieht, um der Trägheit der landesüblichen Kapellmeister eine »aktive Kraft« einzuimpfen. Dieß sind die Leute, welche in vierzehn Tagen eine Oper »herausbringen«, sehr stark zu »streichen« verstehen, und den Sängerinnen effektvolle »Schlüsse« in fremde Partituren hineinkomponiren. Einer solchen Geschicklichkeit verdankt die Dresdener Hofkapelle einen ihrer rüstigsten Dirigenten.
Aber auch nach wirklichem Rufe wird zu Zeiten ausgegangen: es müssen »musikalische Größen« herbeigezogen werden. Die Theater haben keine solche aufzuweisen: aber die Singakademien und Konzertanstalten liefern deren welche, namentlich nach den Anpreisungen der Feuilleton's der großen politischen Zeitungen, ziemlich alle zwei bis drei Jahre. Dieß sind nun unsere heutigen Musikbanquier's, wie sie aus der Schule Mendelssohn's hervorgegangen sind, oder durch dessen Protektion der Welt empfohlen wurden. Das war nun allerdings ein anderer Schlag Menschen als die hilflosen Nachwüchse unserer alten Zöpfe, – nicht im Orchester oder beim Theater aufgewachsene Musiker, sondern in den neu gegründeten Konservatorien wohlanständig aufgezogen, Oratorien und Psalmen komponirend, und den Proben der Abonnementskonzerte zuhörend. Auch im Dirigiren hatten sie Unterricht bekommen, und besaßen zudem eine elegante Bildung, wie sie bisher bei Musikern gar nicht vorgekommen war. An Grobheit war jetzt gar nicht mehr zu denken; und was bei unseren armen eingeborenen Kapellmeistern ängstliche, selbstvertrauenslose Bescheidenheit war, äußerte sich bei ihnen als guter Ton, zu welchem sie außerdem durch ihre etwas befangene Stimmung unserem ganzen deutsch-zöpfischen Gesellschaftswesen gegenüber sich angehalten fühlten. Ich glaube, daß diese Leute manchen guten Einfluß auf unsere Orchester ausgeübt haben: gewiß ist viel Rohes und Tölpelhaftes hier verschwunden, und manches Detail im eleganten Vortrage seitdem besser beachtet und ausgebildet worden. Ihnen war das neuere Orchester bereits viel geläufiger, denn in vieler Beziehung verdankte dieses ihrem Meister Mendelssohn eine besonders zarte und feinsinnige Ausbildung auf dem Wege, welchen bis dahin Weber's herrlicher Genius zuerst neu erfinderisch betreten hatte.
Zunächst fehlte diesen Herren aber Eines, um der nöthigen Neugestaltung unserer Orchester und der mit ihnen verbundenen Institute förderlich zu sein: – Energie, wie sie nur ein auf wirklich eigener Kraft beruhendes Selbstvertrauen geben kann. Denn leider war hier Alles, Ruf, Talent, Bildung, ja Glaube, Liebe und Hoffen, künstlich. Jeder von ihnen hat so viel mit sich und mit der Schwierigkeit, seine künstliche Stellung zu behaupten, zu thun, daß er an das Allgemeine, Zusammenhangvolle, Konsequente und Neugestaltende nicht denken kann, weil dieses ihn, ganz richtig, auch eigentlich gar nichts angeht. Sie sind in die Stellung jener alten schwerschrötigen deutschen Meister eben nur getreten, weil diese gar zu tief herabgekommen und unfähig geworden waren, die Bedürfnisse der neueren Zeit und ihres Kunststyles zu erkennen; und es scheint, daß sie sich in dieser Stellung nur wie eine Übergangsperiode ausfüllend empfinden, während sie mit dem deutschen Kunstideale, dem wieder alles Edle doch einzig zustrebt, nichts Rechtes anzufangen wissen, weil es ihnen im tiefsten Grunde ihrer Natur fremd ist. So verfallen sie schwierigen Anforderungen der neueren Musik gegenüber auch nur auf Auskunftsmittel. Meyerbeer war z.B. sehr delikat; er bezahlte aus seiner Tasche einen neuen Flötisten, der ihm in Paris eine Stelle gut blasen sollte. Da er recht gut verstand, was auf einen glücklichen Vortrag ankommt, außerdem reich und unabhängig war, hätte er für das Berliner Orchester von außerordentlicher Verdienstlichkeit werden können, als ihn der König von Preußen als Generalmusikdirektor dazu berief. Hierzu war nun gleichzeitig aber auch Mendelssohn berufen, dem es doch wahrlich nicht an ungewöhnlichsten Kenntnissen und Begabungen fehlte. Gewiß stellten sich Beiden dieselben Hindernisse entgegen, welche eben alles Gute in diesem Bereiche bisher gehemmt haben: allein, diese eben sollten sie hinwegräumen, denn dazu waren sie, wie nie Andere wieder, in jeder Hinsicht ergiebig ausgerüstet. Warum verließ sie ihre Kraft? Es scheint: weil sie eben keine Kraft hatten. Sie ließen die Sache stecken: nun haben wir das »berühmte« Berliner Orchester vor uns, in welchem auch noch die letzte Spur selbst der Spontini'schen Präzisionstradition geschwunden ist. Und dieß waren Meyerbeer und Mendelssohn! Was werden nun anderswo ihre zierlichen Schattenbilder ausrichten?