Mehr als ein Thriller – Ken Folletts neuester, actiongeladener Roman führt tief in die Verstrickungen unserer globalisierten Welt und stellt die Frage »Was wäre, wenn …?«
»Eine fesselnde Geschichte, und nur allzu realistisch« Lawrence H. Summers, ehemaliger US-Finanzminister
In der Sahara folgen westliche Geheimdienstagenten der Spur mächtiger Drogenschmuggler. Die Amerikanerin Tamara und ihr französischer Kollege Tab gehören zu ihnen. Für ihre Liebe riskieren sie ihre Karriere – und im Einsatz für ihr Land ihr Leben. Nicht weit entfernt macht sich die junge Witwe Kiah mit Hilfe von Schleusern auf den Weg nach Europa. Als sie sich gegen Übergriffe verteidigen muss, hilft ihr ein Mitreisender. Doch er scheint nicht zu sein, was er vorgibt.
In China kämpft der hohe Regierungsbeamte Chang Kai gegen die kommunistischen Hardliner. Er hat ehrgeizige Pläne, und er befürchtet, dass die Kriegstreiberei seiner Widersacher das Land und dessen Verbündeten Nordkorea auf einen Weg leitet, der keine Umkehr zulässt.
In den USA führt Pauline Green, die erste Präsidentin des Landes, ihre Amtsgeschäfte souverän und bedacht. Sie wird alles tun, was in ihrer Macht steht, um zu verhindern, dass die USA in einen unnötigen Krieg eintreten müssen. Doch wenn ein aggressiver Akt zum nächsten führt, wenn alle diplomatischen Mittel ausgereizt sind, die letzte Entscheidung gefallen ist – wer kann dann noch das Unvermeidliche verhindern?
In Ken Folletts neuestem Roman begegnen sich Heldinnen und Schurken, falsche Propheten und mutige Kämpfer, Liebe und Hass. Er fragt: Wenn sich die Welt nur einen Schritt vor dem Abgrund befindet – was kann jeder Einzelne dann noch tun? NEVER ist atemberaubend – und ein Weckruf.
Ken Follett, Autor von über zwanzig Bestsellern, wird oft als »geborener« Erzähler gefeiert. Betrachtet man jedoch seine Lebensgeschichte, so erscheint es zutreffender zu sagen, er wurde dazu »geformt«.
Ken Follett wurde am 5. Juni 1949 im walisischen Cardiff als erstes von drei Kindern des Ehepaares Martin und Veenie Follett geboren. Nicht genug, dass Spielsachen im Großbritannien der Nachkriegsjahre echte Mangelware waren – die zutiefst religiösen Folletts erlaubten ihren Kindern zudem weder Fernsehen noch Kinobesuche und verboten ihnen sogar, Radio zu hören. Dem jungen Ken blieben zur Unterhaltung nur die unzähligen Geschichten, die ihm seine Mutter erzählte – und die Abenteuer, die er sich in seiner eigenen Vorstellungswelt schuf. Schon früh lernte er lesen; er war ganz versessen auf Bücher, und nirgendwo ging er so gern hin wie in die öffentliche Bibliothek.
»Ich hatte kaum eigene Bücher und war immer dankbar für die öffentliche Bücherei. Ohne frei zugängliche Bücher wäre ich nie zum eifrigen Leser geworden, und wer kein Leser ist, wird auch kein Schriftsteller.«
Als Ken Follett zehn Jahre alt war, zog die Familie nach London. Nach seinem Schulabschluss studierte er Philosophie am University College; dass der Sohn eines Steuerinspektors sich für dieses Fach entschied, mag auf den ersten Blick befremden, aber bedenkt man, dass Kens religiöse Erziehung viele Fragen aufgeworfen und offengelassen hatte, erscheint sie gar nicht mehr so untypisch. Ken Follett ist der Überzeugung, dass die Entscheidung für dieses Studienfach ihm die Weichen in seine Zukunft als Schriftsteller gestellt hat.
»Zwischen der Philosophie und der Belletristik besteht ein Zusammenhang. In der Philosophie beschäftigt man sich mit Fragen wie zum Beispiel: ‚Wir sitzen hier an einem Tisch, aber existiert der Tisch überhaupt?’ Eine verrückte Frage, aber beim Studium der Philosophie muss man solche Dinge ernst nehmen und braucht eine unorthodoxe Vorstellungsgabe. Beim Schreiben von Romanen ist es genauso.«
In einem Hörsaal danach zu fragen, was wirklich ist, war eine Sache – doch plötzlich sah sich Ken mit einer ganz anderen Wirklichkeit konfrontiert: Er wurde Ehemann und Vater. Er heiratete seine Freundin Mary am Ende seines ersten Semesters an der Universität. Im Juli 1968 kam ihr Sohn Emanuele zur Welt. »So etwas plant man nicht, wenn man erst achtzehn ist, aber als es geschah, war es ein unglaubliches Erlebnis. Ich fühlte mich doppelt bereichert: Ich verbrachte eine herrliche Zeit an der Universität, aber es war auch äußerst aufregend, ein Baby zu haben und sich darum zu kümmern. Wir hatten Emanuele sehr lieb, und er war überaus liebenswert. Das ist er noch heute.«
An der Universität, in der hitzigen Atmosphäre der späten Sechzigerjahre und des Vietnam-Kriegs, entdeckte Ken Follett auch seine Leidenschaft für Politik.
»Ständig wurde über Politik diskutiert. Uns kam es vor, als wären die Studentenproteste zu einem weltweiten Phänomen geworden. Und obwohl wir jung und voller jugendlicher Arroganz waren – wenn ich mir die Kernfragen betrachte, für die wir eintraten, glaube ich, dass wir im Großen und Ganzen richtig lagen.«
Im September 1970, gleich nach der Universität, trat Ken Follett mit einem dreimonatigen Journalistenkurs den Weg an, der ihn zur Schriftstellerei führte. Zuerst arbeitete er als Zeitungsreporter für das South Wales Echo in Cardiff, nach der Geburt seiner Tochter Marie-Claire 1973 als Kolumnist für die Evening News in London.
Als Ken Follett sah, dass sein Traum, ein »berühmter Enthüllungsjournalist und Starreporter« zu werden, nicht in Erfüllung gehen würde, begann er, an den Abenden und Wochenenden Romane zu schreiben. 1974 verließ er die Zeitungswelt und nahm eine Stellung bei dem kleinen Londoner Verlag Everest Books an.
Seine Feierabend-Schriftstellerei führte zwar zur Veröffentlichung einiger Bücher, von denen sich aber keines gut verkaufte. Schon in dieser Zeit wurde er vom amerikanischen Literaturagenten Al Zuckerman ermutigt und beraten. Dann kam der Tag, an dem sie beide wussten, dass Kens neuer Roman das Zeug zum Bestseller besaß, und Zuckerman sagte: »Dieser Roman wird eine ganz große Sache – mach dich auf Steuerprobleme gefasst.«
Die Nadel (Eye of the Needle) war dieser Roman; er wurde 1978 veröffentlicht und machte Ken zum Bestseller-Autor. Die Nadel gewann den Edgar-Award und verkaufte sich mehr als 10 Millionen Mal. Der Erfolg dieses Buches ermöglichte es Ken, seinen bisherigen Beruf aufzugeben, eine Villa im Süden Frankreichs anzumieten und sich völlig seinem nächsten Roman namens Dreifach (Triple) zu widmen. »Ich machte mir große Sorgen, dass ich es nicht wieder schaffen würde. Das passiert vielen Schriftstellern. Sie schreiben ein hervorragendes Buch, aber das nächste ist schon schwächer und verkauft sich auch nicht mehr so oft. Das dritte Buch ist dann nicht sonderlich gut, und ein viertes schreiben sie nicht mehr. Ich war mir voll bewusst, dass mir das Gleiche passieren könnte. Deswegen arbeitete ich sehr hart an Dreifach, um ihn ebenso spannend wie Die Nadel zu machen.«
Drei Jahre später kehrten die Folletts nach England zurück, denn Ken vermisste Kino und Theater und die anregende Atmosphäre in London. Auch wollte er wieder von seinem Wahlrecht Gebrauch machen können. Das Paar ließ sich in Surrey nieder, wo Ken sich bei der Beschaffung von Geldern und den Wahlkampagnen der Labour Party engagierte. Dort lernte er auch Barbara Broer kennen, die Sekretärin des dortigen Parteibüros, verliebte sich in sie und heiratete sie 1985 nach seiner Scheidung. Die beiden leben jetzt in Hertfordshire in einem alten Pfarrhaus, das auch Kens Kindern aus erster Ehe sowie Barbaras Sohn und ihren beiden Töchtern sowie deren Partnern und Kindern offensteht.
Barbara war Parlamentsabgeordnete von Stevenage – ihren Sitz hatte sie 1997 erstmals errungen und wurde 2001 und 2005 wiedergewählt. Als Gleichstellungsministerin gehörte sie 2007 der Regierung Gordon Browns an. 2010 zog sie sich aus der aktiven Politik zurück und ist seither nicht nur CEO des Ken Follett Office, sondern auch die Agentin ihres Mannes, die ihn international vertritt. Ken unterstützte sie beim Wahlkampf und durch seine Mitarbeit an anderen Aktivitäten der Partei. Obwohl Ken sich politisch engagiert, lässt er sich durch die Politik niemals von der Schriftstellerei abhalten. Er beginnt schon vor dem Frühstück zu schreiben und arbeitet bis etwa siebzehn Uhr: »Ich bin ein Morgenmensch. Sobald ich aufgestanden bin, möchte ich an den Schreibtisch. Am Abend entspanne ich mich gern, möchte essen und trinken und Dinge tun, die mich nur wenig belasten.«
In den letzten 40 Jahren hat Ken Follett 30 Romane verfasst. Seine ersten fünf Bestseller waren Spionageromane: Die Nadel (1978), Dreifach (1979), Der Schlüssel zu Rebecca (The Key to Rebecca – 1980), Der Mann aus St. Petersburg (The Man from St. Petersburg – 1982) und Die Löwen (Lie Down with Lions – 1986). Auf den Schwingen des Adlers (On Wings of Eagles – 1983) ist die wahre Geschichte zweier Angestellter von Ross Perot, die während der Revolution in 1979 aus dem Iran gerettet werden.
Und dann überraschte er seine Leser mit einem radikalen Genre-Wechsel: 1989 erschien Die Säulen der Erde (The Pillars of the Earth), ein Roman über den Bau einer fiktiven Kathedrale im Mittelalter. Das Buch erhielt begeisterte Kritiken und führte sechs Jahre lang die deutschen Bestsellerlisten an. In der 2004 vom ZDF durchgeführten Umfrage »Unsere Besten – Das große Lesen« landete Die Säulen der Erde auf Platz 3 der beliebtesten Bücher der Deutschen, gleich nach J. R. R. Tolkiens Der Herr der Ringe und der Bibel. Weltweit hat sich der Roman bislang 23 Millionen Mal verkauft.
Die folgenden drei Romane, Nacht über den Wassern (Night Over Water – 1991), Die Pfeiler der Macht (A Dangerous Fortune – 1993) und Die Brücken der Freiheit (A Place Called Freedom – 1995), waren eher historische Romane als Thriller. Mit dem Roman Der dritte Zwilling (The Third Twin – 1996) kehrte er jedoch wieder ins Thriller-Genre zurück. 1997 stand dieser Roman in der jährlichen Übersicht der internationalen Belletristik-Bestseller in Publishing Trends gleich hinter John Grishams The Partner an zweiter Stelle. Sein nächstes Werk, Die Kinder von Eden (The Hammer of Eden – 1998) war wieder ein Kriminalroman, der in der Gegenwart angesiedelt ist, gefolgt von Das zweite Gedächtnis (Code to Zero – 2000), einem Thriller, der zur Zeit des Kalten Krieges spielt.
Für die beiden anschließenden Romane wählte Ken wieder den 2. Weltkrieg als Hintergrund: Die Leopardin (Jackdaws – 2001) ist die Geschichte einer Gruppe von Frauen, die an Fallschirmen über dem besetzten Frankreich abspringen, um ein strategisch wichtiges Fernmeldeamt zu zerstören (der Roman gewann 2003 den begehrten Corine-Preis), und in Mitternachtsfalken (Hornet Flight – 2002) geht es um ein junges dänisches Paar, das tollkühn versucht, mit einem restaurierten Doppeldecker, einer Hornet Moth, aus dem besetzten Dänemark nach England zu flüchten. Mit im Gepäck haben sie wichtige Informationen über ein neues deutsches Radarsystem.
Eisfieber (Whiteout – 2004) ist ein Thriller, der in der Gegenwart spielt und vom Diebstahl eines tödlichen Virus aus einem Forschungslabor handelt. Schauplatz ist das schottische Hochland während einer stürmischen, verschneiten Weihnacht, geprägt von Eifersucht, Misstrauen, sexueller Spannung und Rivalitäten, mit arglistigen Verrätern und unvermuteten Helden.
Die Tore der Welt (World Without End – 2007) ist die lang erwartete Fortsetzung zum immens beliebten Die Säulen der Erde. In diesem Roman kehrt Ken zweihundert Jahre später nach Kingsbridge zurück und berichtet von den Nachkommen der Figuren in Die Säulen der Erde. Breit angelegt und von gewaltigem Umfang, konzentriert es sich auf eine Handvoll Menschen, deren Leben vom Schwarzen Tod bedroht wird, der Pestepidemie, die in der Mitte des 14. Jahrhunderts Europa befiel.
Die nächsten drei Romane des Meisters des Geschichtenerzählens umspannen fünf Generationen auf drei Kontinenten und bilden die sogenannte »Jahrhundert-Saga«. Sturz der Titanen (Fall of Giants, 2010) verfolgt das Schicksal von fünf Familien aus den USA, Deutschland, Russland, England und Wales, die in gegenseitiger Beziehung stehen, in den Wirren des 1. Weltkriegs und der Russischen Revolution und beim Kampf um das Frauenwahlrecht. Sturz der Titanen wurde gleichzeitig in vierzehn Ländern veröffentlicht, war eine internationale Sensation und führte mehrere Bestsellerlisten an.
Winter der Welt (Winter of the World, 2012) nimmt die Fäden des ersten Buches wieder auf, als auf die fünf Familien eine Zeit gewaltiger gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Umwälzungen zukommt, und führt sie durch den Aufstieg des »Dritten Reiches«, den Spanischen Bürgerkrieg und die dramatischen Wendungen des 2. Weltkriegs bis zu den Explosionen der ersten amerikanischen und sowjetischen Atombomben und dem Beginn des langen Kalten Krieges.
Der dritte Band der Jahrhundert-Saga, Kinder der Freiheit (Edge of Eternity), der das Schicksal der fünf Familien vor dem Hintergrund der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen vom Anfang der 1960er bis zum Ende der 1980er Jahre schildert, ist im September 2014 erschienen und handelt vom Kampf um die Bürgerrechte, von Attentaten und den großen Massenbewegungen, von Vietnam und der Kubakrise, Präsidentschaftsskandalen, Revolutionen und vom Rock ‚n‘ Roll bis hin zum Fall der Berliner Mauer.
Bisher hat sich die Jahrhundert-Saga weltweit über 12 Millionen Mal verkauft.
Die Nadel wurde mit großem Erfolg mit Donald Sutherland in der Hauptrolle verfilmt. Sechs weitere Follett-Romane dienten als Vorlage für Mini-Serien für das Fernsehen: Der Schlüssel zu Rebecca, Die Löwen, Auf den Schwingen des Adlers, Der dritte Zwilling – die CBS erwarb die TV-Rechte an diesem Roman für die Rekordsumme von $1.400.000 –, Die Säulen der Erde und Die Tore der Welt. Die beiden letzten Verfilmungen wurden in viele Sprachen synchronisiert und in zahlreichen Ländern ausgestrahlt. Ken verwirklichte sich mit einem Gastauftritt als Diener in Der dritte Zwilling – und später als Händler in Die Säulen der Erde – einen lebenslangen Traum, aber er wird die Schriftstellerei nicht an den Nagel hängen.
Die großen Freuden in Kens Leben, abgesehen von den ihm nahe stehenden Menschen, sind gutes Essen und Wein, Shakespeare und Musik.
Musik war ihm schon immer sehr wichtig. Beide Eltern spielten Klavier, und Ken spielt Bassgitarre in einer Band mit Namen »Damn Right I Got The Blues«, mit der er auch ein Album namens Don’t Quit Your Day Job (»Häng deinen richtigen Beruf nicht an den Nagel«) aufgenommen hat – ein recht passender Titel für einen Mann, der keine übertriebenen Vorstellungen in Bezug auf sein musikalisches Talent hegt.
»In einer Band zu spielen ist eine sehr sinnliche Beschäftigung, die Schriftstellerei reine Hirnarbeit. Meine Romane folgen, wie in der Unterhaltungsliteratur üblich, einem vorher festgelegten Handlungsgerüst, und ich denke ständig über die Mechanismen der Erzählung nach. Das Spielen in einer Band ist dagegen vollkommen emotionaler Natur. Zwischen den Ohren und den Fingerspitzen besteht eine direkte Verbindung, die die bewusste Vernunft umgeht.«
Obwohl Ken ein rühriges Leben führt, in dessen Mittelpunkt Arbeit, Familie und Politik stehen, findet er Zeit, sich in seiner Gemeinde zu engagieren. 1998-99 war er Vorsitzender des National Year of Reading, einer staatlichen Initiative zur Verbesserung der Lese- und Schreibfähigkeit. Zehn Jahre lang war er Präsident der Dyslexia Action, einer Organisation zur Legasthenikerhilfe. Er ist Fellow der Welsh Academy, der Royal Society of Arts und des University College, London.
2007 verlieh ihm die University of Glamorgan die Ehrendoktorwürde in Literatur und die Saginaw Valley State University in Michigan einen ähnlichen Titel; dort gibt es auch ein eigenes »Ken-Follett-Archive«, wo seine Unterlagen aufbewahrt werden. 2008 schloss sich die University of Exeter an. Er ist in mehreren Stevenage-Wohlfahrtsstiftungen aktiv und war zehn Jahre lang Mitglied im Aufsichtsgremium der Grundschule von Roebuck, darunter vier Jahre als Vorsitzender.
NEVER
DIE LETZTE
ENTSCHEIDUNG
Roman
Übersetzung aus dem Englischen von
Dietmar Schmidt und Rainer Schumacher
LÜBBE
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen.
Titel der englischen Originalausgabe:
»Never«
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2021 by Ken Follett
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Dr. Helmut W. Pesch, Köln
Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München
Umschlagmotiv: © Johannes Wiebel; spacedrone808/shutterstock.com; ifong/shutterstock.com; Free Textures/shutterstock.com; Sabphoto/shutterstock.com; The7Dew/shutterstock.com; Lizard/shutterstock.com
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7517-1584-3
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Bei meinen Recherchen für Sturz der Titanen stellte ich zu meinem Entsetzen fest, dass niemand den Ersten Weltkrieg gewollt hatte. Auf keiner Seite wünschte sich ein europäischer Staatenlenker einen derartigen Konflikt. Trotzdem trafen die Monarchen und Staatschefs eine Entscheidung nach der anderen – logische, moderate, nachvollziehbare Entscheidungen –, von denen uns jede einzelne einen kleinen Schritt näher an den furchtbarsten Konflikt brachte, den die Welt je erlebt hatte. Ich gelangte zu der Auffassung, dass der Erste Weltkrieg nur ein tragischer Unfall gewesen war.
Und ich fragte mich: Könnte so etwas wieder passieren?
Zwei Tiger können sich nicht den gleichen Berg teilen.
Chinesisches Sprichwort
Den Titel des kleinsten US-Präsidenten aller Zeiten hatte mit fünf Fuß vier Zoll lange James Madison gehalten; das entspricht einem Meter dreiundsechzig. Bis Präsidentin Green seinen Rekord brach. Pauline Green maß vier Fuß elf Zoll, nicht ganz einen Meter fünfzig. Sie wies gern darauf hin, dass Madison bei seiner Wahl einen gewissen Dewitt Clinton geschlagen habe, der es auf sechs Fuß drei Zoll brachte, einen Meter einundneunzig.
Ihren Besuch in Munchkin Country hatte sie zweimal verschoben. In jedem Jahr ihrer Amtszeit war er einmal angesetzt gewesen, aber beide Male war etwas Wichtigeres dazwischengekommen. Nun, beim dritten Mal, musste sie unbedingt hin, fand sie. Es war ein milder Septembermorgen im dritten Jahr ihrer Präsidentschaft.
Die Army nannte es einen Rehearsal of Concept Drill. Die Trockenübung sollte führende Regierungsangehörige mit den Abläufen vertraut machen, die sie in einem Notfall zu beachten hatten. Pauline tat demnach so, als hätte sie die Meldung erhalten, dass die USA angegriffen würden, und ging mit raschen Schritten vom Oval Office zum Südrasen des Weißen Hauses.
Hastig folgte ihr eine Handvoll Schlüsselpersonen, die ihr kaum jemals von der Seite wichen: ihr Nationaler Sicherheitsberater, ihre leitende Assistentin, zwei Bodyguards vom Secret Service und ein junger Army-Captain mit einem ledernen Aktenkoffer, den man den Atomic Football nannte und der alles enthielt, was Pauline brauchte, um einen Atomkrieg zu beginnen.
Ihr Hubschrauber gehörte zu einer ganzen Flotte, und jeweils der, in dem sie sich befand, hieß Marine One. Wie stets nahm ein Marineinfanterist in blauer Ausgehuniform Haltung an, als die Präsidentin näher kam und leichtfüßig die Rampe hochstieg.
Ihren ersten Flug mit einem Hubschrauber, der ungefähr ein Vierteljahrhundert zurücklag, hatte Pauline als unangenehm empfunden. Sie erinnerte sich noch an die harten Metallsitze und die Enge, an den Lärm, der jedes Gespräch unmöglich machte. In diesem Hubschrauber war es anders. Das Innere des Helikopters ähnelte mehr einem Privatjet. Die bequemen Sitze waren mit hellbraunem Leder bezogen. Der Innenraum war klimatisiert, und die Maschine verfügte über eine kleine Toilettenkabine.
Gus Blake, der Nationale Sicherheitsberater, nahm neben ihr Platz. Gus war pensionierter General, ein großer Mann mit dunkler Haut und kurzen grauen Haaren. Ihn umgab eine Aura beruhigender Kraft. Mit fünfundfünfzig hatte er Pauline fünf Jahre voraus. Beim Präsidentschaftswahlkampf war er ein wichtiges Mitglied ihres Teams gewesen, und jetzt war er ihr engster Mitarbeiter.
»Danke für Ihr Verständnis«, sagte er, als sie abhoben. »Ich weiß, Sie haben anderes zu tun.«
Er hatte recht. Die Ablenkung kam ihr ungelegen, und sie konnte es kaum abwarten, die Sache hinter sich zu bringen. »Eine der Pflichten, die erledigt sein wollen«, sagte sie.
Der Flug war kurz. Während der Hubschrauber in den Sinkflug ging, betrachtete sich Pauline in einem Taschenspiegel. Ihr kurzer blonder Bob saß tadellos, sie hatte nur leichtes Make-up aufgetragen. Aus ihren schönen nussbraunen Augen sprach Mitgefühl, wie sie es oft empfand, aber ihre Lippen konnten einen geraden Strich bilden und unerbittliche Entschlossenheit ausdrücken. Mit einem Klicken klappte sie den Spiegel zusammen.
Sie landeten vor einem Lagerhaus in einer Vorstadt in Maryland. Offiziell hieß die Stätte US Government Archive Overflow Storage Facility No. 2, als würden dort überzählige Regierungsakten gelagert, aber die wenigen Personen, die ihre wahre Funktion kannten, nannten sie Munchkin Country nach dem Ort, an den es Dorothy in Der Zauberer von Oz während des Tornados verschlägt.
Munchkin Country war geheim. Jeder kannte den Raven Rock Complex in Colorado, den unterirdischen Atombunker, in dem die obersten Militärs sich während eines Atomkriegs zu verschanzen gedachten. Die Einrichtung gab es wirklich, und sie war wichtig für den Fall der Fälle, aber der US-Präsident würde sich nicht dorthin zurückziehen. Viele wussten auch, dass unter dem Ostflügel des Weißen Hauses das Presidential Emergency Operations Center lag, das Lagezentrum, das in Krisen wie 9/11 zum Einsatz kam. Für eine langfristige Nutzung nach der nuklearen Apokalypse war diese Notzentrale allerdings nicht gedacht.
Munchkin Country konnte hundert Personen ein Jahr lang am Leben erhalten.
Präsidentin Green wurde von einem Generalleutnant Whitfield empfangen. Er war Ende fünfzig, füllig mit rundem Gesicht, aber liebenswürdigem Gebaren und einem auffälligen Mangel an militärischer Aggressivität. Pauline hatte kaum einen Zweifel, dass er nicht im Geringsten daran interessiert war, Gegner zu töten – nun, dafür hatte man schließlich Soldaten. Seine Friedfertigkeit durfte der Grund sein, weshalb er auf diesem Kommandeursposten gelandet war.
Der erste Eindruck, den man bekam, war der eines ganz normalen Lagerbetriebs; Schilder leiteten Lieferfahrzeuge zu einer Laderampe. Whitfield führte die Gruppe durch einen schmalen Seiteneingang, und hinter dieser Tür schlug die Stimmung um.
Vor ihnen versperrte eine schwere Stahltür den Weg, die mit ihren beiden Flügeln auch als Eingang zu einem Hochsicherheitsgefängnis getaugt hätte.
Der Raum, den man durch die Stahltür betrat, wirkte bedrückend. Er hatte eine niedrige Decke, und die Wände schienen zusammengerückt zu sein, als wären sie mehrere Fuß dick. Die Luft roch wie aus der Dose.
»Dieser druckwellengesicherte Raum dient hauptsächlich zum Schutz der Aufzugschächte«, erklärte Whitfield.
Als sie in den Lift stiegen, verlor Pauline rasch das ungeduldige Gefühl, an einer Übung teilzunehmen, die kaum erforderlich war. Die Sache erschien ihr immer unheimlicher.
»Mit Ihrer Erlaubnis, Madam President, fahren wir erst ganz nach unten und arbeiten uns nach oben vor.«
»Einverstanden, General. Ich danke Ihnen.«
Während der Lift hinunterfuhr, sagte er stolz: »Ma’am, diese Einrichtung bietet Ihnen einhundertprozentigen Schutz, sollten die USA von einer der folgenden Bedrohungen betroffen sein: einer Pandemie oder Seuche, einer Naturkatastrophe wie dem Einschlag eines großen Meteoriten auf der Erde, einem Aufstand und größeren zivilen Unruhen, der erfolgreichen Invasion durch konventionelle Streitkräfte, einem Cyberangriff oder einem nuklearen Konflikt.«
Wenn diese Auflistung möglicher Katastrophen dazu gedacht war, Pauline zu beruhigen, so verfehlte sie ihren Zweck. Sie erinnerte sie vielmehr daran, dass ein Ende der Zivilisation im Rahmen des Möglichen lag und sie sich vielleicht in diesem Loch im Boden verstecken müsste, damit sie versuchen konnte, die Überreste der Spezies Mensch zu retten.
Wenn schon sterben, dann lieber an der Oberfläche, dachte sie.
Die Aufzugskabine fuhr rasch und schien tief zu fallen, bevor sie verlangsamte. Als sie endlich anhielt, sagte Whitfield: »Für den Fall von Aufzugproblemen gibt es eine Treppe.«
Das sollte eine geistreiche Bemerkung sein, und die jüngeren Mitglieder ihrer Gruppe lachten über den Gedanken, wie viele Stufen es wären. Pauline erinnerte sich jedoch daran, wie lange die Menschen gebraucht hatten, um im brennenden World Trade Center die Treppen hinunterzusteigen, und verzog keine Miene. Gus blieb genauso ernst wie sie, wie sie mit einem Seitenblick feststellte.
Die Wände waren in einem friedlichen Grün, beruhigendem Cremeweiß und entspannendem Pastellrosa gestrichen, aber es war und blieb ein unterirdischer Bunker. Das unheimliche Gefühl verließ sie auch nicht, als man ihr der Reihe nach die Präsidentensuite, die Unterkünfte mit ihren Feldbettenreihen, das Lazarett, die Sporthalle, die Kantine und den Supermarkt zeigte.
Der Lageraum war eine Nachbildung des Einsatzzentrums im Keller des Weißen Hauses. In der Mitte gab es einen langen Tisch, an den Wänden Stühle für Adjutanten und Assistenten. Darüber hingen große Bildschirme. »Wir können Ihnen alle visuellen Daten liefern, die Sie im Weißen Haus erhalten würden, und genauso schnell«, sagte Whitfield. »Wir können einen Blick in jede Stadt der Welt werfen, indem wir uns in Verkehrsüberwachungs- und Sicherheitskameras hacken. Militärische Radaranlagen liefern uns Ortungsergebnisse in Echtzeit. Wie Sie wissen, dauert es bei Satellitenfotos gut zwei Stunden, bis sie zur Verfügung stehen, aber wir erhalten sie zeitgleich mit dem Pentagon. Wir können jeden Fernsehsender empfangen, was bei den seltenen Gelegenheiten nützlich ist, bei denen CNN oder Al Jazeera eine Story bringen, bevor uns Geheimdienstmeldungen vorliegen. Und uns wird ein Team von Übersetzern zur Verfügung stehen, das in Echtzeit Untertitel für fremdsprachige Nachrichtensendungen erstellt.«
Die Techniketage verfügte über ein Kraftwerk mit einem Dieselkraftstoffreservoir von der Größe eines Sees, ein Heiz- und Kühlsystem und einen Zwanzig-Millionen-Liter-Wasserspeicher, den eine unterirdische Quelle speiste. Pauline neigte nicht zur Klaustrophobie, aber ihr stockte der Atem bei dem Gedanken, hier eingesperrt zu sein, während die Außenwelt in Schutt und Asche fiel. Mit einem Mal bemerkte sie, wie sie gepresst Luft holte und wieder ausstieß.
Als lese er ihre Gedanken, sagte Whitfield: »Unsere Luftversorgung kommt von außen durch eine Reihe von Filtern, die nicht nur Explosionen standhalten, sondern auch Schadstoffe abfangen, seien sie chemischer, biologischer oder radioaktiver Natur.«
Gut, dachte Pauline, aber was ist mit den Millionen Menschen an der Oberfläche, die keinen Schutz haben?
Am Ende der Führung sagte Whitfield: »Madam President, wir wurden verständigt, dass Sie nicht zu Mittag essen möchten, bevor Sie uns wieder verlassen, aber wir haben einen Imbiss vorbereitet für den Fall, dass Sie sich umentscheiden.«
Das passierte ihr ständig. Jedem gefiel die Vorstellung, ein Stündchen zwanglos mit der Präsidentin plaudern zu können. Sie empfand einen Schwall von Sympathie für Whitfield, der unterirdisch auf seinem wichtigen, aber unsichtbaren Posten festsaß, aber wie immer musste sie dem Drang widerstehen und sich an ihren Terminplan halten.
Nur selten verschwendete Pauline ihre Zeit, indem sie mit jemandem aß, der nicht ihrer Familie angehörte. Zum Austausch von Informationen und Treffen von Entscheidungen hielt sie Besprechungen ab, und wenn eine Sitzung zu Ende war, begab sie sich in die nächste. Die Anzahl der formellen Bankette, an denen sie als Präsidentin teilnahm, hatte sie radikal zusammengestrichen. »Ich bin die Anführerin der freien Welt«, hatte sie gesagt. »Wozu soll ich mich drei Stunden lang mit dem belgischen König unterhalten?«
Sie sah Whitfield in die Augen. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, General, aber ich muss zurück ins Weiße Haus.«
Als sie wieder im Hubschrauber saß, schnallte sie sich an und nahm einen Plastikbehälter aus der Tasche, der nicht größer war als eine kleine Brieftasche. Der Behälter wurde der Biscuit genannt. Er konnte nur geöffnet werden, indem man die Kunststoffhülle zerbrach. Darin befand sich eine Karte mit einer Reihe von Buchstaben und Ziffern: die Codes zur Anordnung eines nuklearen Angriffs. Als Präsidentin musste sie den Biscuit ständig bei sich tragen und ihn nachts an ihrem Bett aufbewahren.
Gus bemerkte, was sie tat. »Gott sei Dank ist der Kalte Krieg vorbei.«
»Dieser schreckliche Bunker hat mir vor Augen geführt, wie dicht am Rand des Abgrunds wir noch immer leben.«
»Wir müssen nur dafür sorgen, dass er nie gebraucht wird.«
Und dafür war Pauline Green verantwortlich, mehr als jeder andere Mensch auf der Welt. An einigen Tagen spürte sie die Last auf ihren Schultern. Heute wog sie besonders schwer.
Sie schloss kurz die Augen. »Wenn ich jemals nach Munchkin Country zurückkehre, dann weiß ich, dass ich versagt habe.«