Herstellung und Verlag:
BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-7412-0088-5
Fliegend auf hoher See. Albatrosse, die eleganten und mächtigen Segler, beleben den Luftraum über dem bewegten subantarktischen Ozean. Sie wandern während des ganzen Jahres über grosse Distanzen zwischen Nahrungsgründen und Fortpflanzungsgebieten.
Ein kreatives Leben gleicht einer Reise durch vielgestaltiges Land und über Ozeane. Zu den glücklichen Umständen, die mich begleiteten, gehörten Eltern und Grosseltern, die mich in meinen sonderbaren Wünschen unterstützten und anregende Studentenjahre in Basel und Florida; dazu kommen einige Begabungen, die verbindend zwischen wissenschaftlicher Neugier und künstlerischer Gestaltung wirkten. Dass das Leben aber auch seine starken Schattenseiten aufweist, wird anhand von Krankheit in der Jugend und Tod in der menschlichen Nähe offenkundig und fühlbar.
Im Leben gibt es natürlicherweise eine Chronologie, die mit der Geburt beginnt und sich in Jugend, Adoleszenz und Reifung fortsetzt. Die vorliegende Schrift ist jedoch nur in seinen Eckpunkten chronologisch aufgebaut. Wichtiger sind die prägenden Themen in meinem Leben. Wie kleine Aufsätze folgen sich diese kleinen Themen. Auch wenn sie in einer späteren Phase meines Lebens aktuell geworden sind, reichen sie oft in die früheste Jugend zurück und setzen sich in meine reiferen Jahre fort. die Themen, wie sie in den Überschriften der einzelnen Aufsätze erscheinen, sind wie rote Fäden, die sich durch das ganze Leben hinziehen. Mein Leben ist ein Bündel dieser roten Fäden, die wissenschaftlich, künstlerisch und vor allem menschlich sind. Sie bündeln sich um den Umstand, dass ich zutiefst ein Zoologe bin, ein Biologe mit Feu sacré.
Ich schreibe diese Autobiographie, um vor allem junge Menschen zu ermutigen, die Welt zu entdecken. Denn häufig wird leider die Meinung vertreten, es sei mittlerweile alles entdeckt und erforscht; früher hätte es noch Pioniere und Entdecker gegeben, und heute sei alles bekannt. Und ein Engagement lohne sich nicht.
Dieser verbreiteten Ansicht muss ich entschieden widersprechen. Noch immer können wir im Kleinen wie im Grossen intensive Beobachtungen machen. Als Betrachter können wir lernen, uns der Faszination hinzugeben. So erfahren wir, wie erfüllend das Leben ist. Wir entdecken, dass ein in Begeisterung eingebettetes Engagement den Sinn des Lebens ausmacht. Unser Umfeld ist so voller Reichtümer, dass die prägendste Wahrnehmung die Hingabe ist. Ich wünsche allen, die diese Zeilen lesen, viel viel Faszination und ein grosses Engagement im Leben!
Die Eltern an ihrer Hochzeit 1939; die Grosseltern: Martha Senn, Max und Olga Fischer.
Die Eltern, Doris Fischer und Ulrich Senn zur Zeit ihrer Verlobung 1939
Als das Schreckliche schlechthin empfand ich gleissend blendendes Licht und die beklemmende Angst, dem Ersticken nahe zu sein. Ich erinnere mich an meine Geburt, an den wahnsinnig hellen Raum mit dem offenbar riesigen Fenster. Die quälende Helligkeit war mit Schmerz, Einengung und vor allem Angst verbunden. Erst viel später erfuhr ich, dass es etwa um 10 Uhr vormittags der 21. Juni 1940 war, an dem für mich in Lausanne eine neue Epoche angebrochen war: das Leben. Es war sehr deutlich, dass der Übergang von der Geborgenheit im Mutterleib in die Aussenwelt ein Drama war. Irgendwie wollte ich gar nicht auf die Welt. Meine Mutter empfand meine 14 Stunden dauernde Geburt ebenfalls als sehr schmerzvolles Drama. Sie sagte später immer wieder, wenn sie gewusst hätte, wie schmerzvoll es sei, hätte sie in der Zeit der Schwangerschaft mehr Angst gehabt.
Der kleine David mit seinem Vater
David in der Lausanner Wohnung; und mit seinen ‚Tierli’, an die er sich gut erinnert.
Ich erinnere mich nicht nur an die Gesichter von Mutter und Vater, die manchmal ganz nahe zu mir kamen. Es gab auch Gestalten, die ganz eigenartig anders waren, als die Menschen. Es waren Gestalten, die vielfältig erschienen und so, als bewegten sie sich in einer weiträumigen Landschaft. Ich muss als Säugling von meinem Bettchen aus oft an diese Gestalten hinaufgeblickt haben. Doch erst einige Jahre später schaute ich bewusster hin: es waren 'Tierli' auf einem beigen Wandbehang in der Stube. Die Antilopen, Giraffen und Straussenvögel nahm ich deutlich wahr, als mein drei Jahre jüngerer Bruder Peter darunter lag. Gewiss wurde ich durch diese Tierli beeinflusst, etwa so, dass ich Lebewesen nicht als gleichförmig, sondern als Vielfalt erlebte. Das hat mich sehr fasziniert. Als ich später als Primarschüler in Zürich einen ansehnlichen Teil meiner Freizeit im Zoologischen Garten verbrachte, empfand ich 'Tiere' und Vielfalt geradezu als Synonym.
Die ersten anderthalb Jahre meines Lebens verbrachte ich in Lausanne. Die Gesichter von Mutter und Vater, sowie die Gestalten auf dem Wandbehang in der Stube gehörten zu den prägenden Erinnerungen. Aber es gab noch etwas anderes. Mein Vater, der bemerkte, wie präzise mein Gedächtnis arbeitete, fragte mich während der Sommerferien 1958 in Tossa de Mar (Costa Brava in Spanien), ob ich eigentlich noch Erinnerungen an meine ersten anderthalb Lebensjahre in Lausanner Zeit hätte. Ich bejahte: im Lausanner Haus sei ein Lift gewesen, dessen Inneres mit braunem Linoleum ausgekleidet gewesen sei; die Kabine sei durch eine weisse Milchglaslampe an der Decke beleuchtet gewesen. Mein Vater erwiderte, dass er sich an solche Details jenes Hauses nicht mehr erinnern könne. Aber auf der Rückreise in die Schweiz kämen wir durch Lausanne und könnten einen Blick in jenes Haus werfen. Es war im August 1958, als wir vor dem Lausanner Haus anhielten und im Hauseingang die Lifttüre öffneten. Der Lift war mit dunkelbraunem Linoleum ausgekleidet und von einer weissen Milchglaslampe beleuchtet. Mein Vater schüttelte den Kopf und bemerkte, welch ein Gedächtnis hat unser David!
David bei seinem Grossvater Max Fischer
Sommerferien in Wildhaus 1946; Vater, David, Peter und Mutter
Familie 1948: David (8-jährig), Mutter mit Dorothee und Peter
1948: die Eltern mit der in Gerzensee getauften Schwester Dorothee und mit dem 8-jähigen David
David und Peter in Adelboden
Schmerzen sind im Leben nicht zu vermeiden. Es gibt Begebenheiten, die weh tun; und es fällt schwer, dem Schmerz irgend einen Sinn abzuringen. Eingeprägt als eine Art 'Urknall' blieb das Drama der Geburt in Erinnerung. Die war angesichts ihrer Heftigkeit wenigstens kurz. Es gab aber auch Schmerzen, die immer wieder von neuem auftauchten: die Kinderheime. Ich konnte nie herausfinden, weswegen mich die Eltern immer wieder in ein Kinderheim in den Bergen steckten. Das erste Mal war ich vier Jahre alt. Im Winter 1944 wurde ich ins 'Pedolin' in Arosa gesteckt. Ich weiss nicht wie lange; aber es war viel zu lang. Die Mutter lieferte mich ab; ich weiss noch, dass sie damals ein braunes, leicht kariertes Beret trug. Plötzlich war sie weg und ich befand mich sehr sehr alleine inmitten unbekannter Leute, vor allem Krankenschwestern. Alles war trist; ich befand mich an einem Abgrund und wusste nicht wie mir geschah. Es traten stechende Ohrenschmerzen auf. Statt Gesundheit in den Bergen erlebte ich Schmerzen und Krankheit. Noch sehe ich, wie die Mutter, offensichtlich besorgt, wieder da war und etwa 20 Kerzchen anzündete und meine Hände festhielt. Ich hatte Fieber und Mittelohrentzündung. Plötzlich war sie wieder verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Nach einiger Zeit nahmen die Ohrenschmerzen wieder zu. Eines Tages erschien die Mutter wieder. Es hiess, sie würde mich nun endgültig abholen, weil ich im Pedolin nicht gesund werde. Ich erinnere mich exakt an jenen Tag, an dem es eiskalt regnete. Mit einer Pferdekutsche, von Plastikplanen bedeckt, gelangten meine Mutter und ich zur Arosabahn. Erst in Zürich in der Wohnung wurde ich ganz langsam wieder (einigermassen) gesund.
In meiner frühen Jugend war ich ein kränkliches Kind. Als körperlich schwächlicher und bleicher Junge wuchs ich im Milchbuckquartier der Stadt Zürich auf. Oft hörte ich die Eltern sagen, im Winter kann der Bub bei dem häufig herrschenden Nebel in dieser Stadt nicht gesund werden; der muss wieder ins Kinderheim. Wenn ich solches hörte, glaubte ich, der Hals schnüre sich mir zu. Das Wort 'Kinderheim' war als eine Art 'Hölle' tief in mir eingeprägt. Das Pedolin in Arosa war noch immer präsent, obschon ich damals erst vier Jahre als war. Im Kinderheim war man von allem Vertrauten verlassen; es herrschten andere Gesetze. Dreimal, im Alter von 8, 9 und 10, hatte ich jeweils einen Monat in Frauenkirch bei Davos zu verbringen. Dies alles, um gesund zu werden. Das zweistöckige Heim lag am Ostabhang des Tals, einsam zwischen verschneiten Tannen. Geleitet wurde es von zwei älteren Frauen, die man als Kind artig als 'Tante' anzureden hatte. Die Tante Liseli war eher doof. Tante Hedi war ein hinkendes Scheusal, das ein vorstehendes Kinn und ein absonderliches Gebiss hatte; die unteren Zähne schlossen sich über die obere Reihe. Sie verteilte Kollektivstrafen, etwa den ganzen Nachmittag im verdunkelten Schlafzimmer zu verbringen. Manche sonnige Nachmittage hatte ich so verbracht, wobei ich mich fragte, was jetzt daran für ein bleiches Stadtkind so gesund sein soll. Schlimm war auch die tägliche 'Ligi'; auf der grossen Terrasse hatten alle von 14 - 16 Uhr, in eine Wolldecke gehüllt und mit hamol-verschmiertem Gesicht, regungslos an der Sonne zu liegen, dies bei absolutem Sprechverbot. Mir war nie klar, weshalb man als kränkliches Kind solche ‚Tierquälerei’ aushalten musste.
Als ich etwa acht Jahre zählte (1948) geschah in Davos etwas, das mich zutiefst verletzte. Zwar erinnere ich mich nicht an Details oder an begleitende Umstände; doch im Kern hinterliess das Ereignis einen schmerzlich bitteren Eindruck. Meine Mutter war mit einer Diakonissen-Krankenschwester eng befreundet. Wie sie hiess, weiss ich nicht mehr, aber sie wurde von allen Bekannten liebevoll ‚Vögeli‘ genannt. Einige Male war das Vögeli bei uns in Zürich zu Besuch. Ich erinnere mich so gut, dass es sich um eine besonders liebenswürdige Frau handelte; sie dürfte so Mitte Dreissig gewesen sein. Wenn ihr Besuch angesagt war, teilte ich die Vorfreude mit meiner Mutter. Das Vögeli war voller Verständnis und erzählte immer gute und lustige Geschichten.
Dann war ich im Kinderheim, und meine Mutter kam zu Besuch und wirkte traurig, wie unter Schock. Dann sagte sie mir, dass das Vögeli gestorben sei. Es sei ja noch nicht alt gewesen. Dann fügte die Mutter bei, es sei gestorben, weil es nicht mehr leben wollte. Das war für mich ein grosses Rätsel. Die Mutter erläuterte, s’Vögeli sei jetzt, im tiefsten Winter, ins Sertig-Tal oberhalb von Davos hinaufgestiegen, hätte dann viele Schlaftabletten geschluckt und sei dann im Schnee in einen tiefen Schlaf gefallen und erfroren. Ich fragte, ob man denn absichtlich sterben könne; und warum man so etwas mache. Die Mutter erklärte, dass man das könne und es mache, wenn man Leiden oder Schmerzen im Leben nicht mehr aushalte. Immer wieder stellte ich Fragen bei Tisch; der Vater sagte dann mit Nachdruck, dass Vögeli eine grosse Sünde begangen habe; nur böse Menschen töten sich selber. Ich spürte, dass meine Eltern in dieser Frage völlig uneins waren. Ich fühlte mich durch Vaters apodiktisches Urteil tief verletzt. Vögeli strahlte für mich so viel Liebenswürdigkeit aus, dass ich an eine Sünde nicht glauben konnte. Wie nach jedem Mittag lag ich dann im Kinderheim auf der ‚Ligi‘ und blickte unentwegt hinauf zum tief verschneiten und teilweise bewaldeten Sertig-Tal. Die Erinnerung ans Vögeli ging mir nicht mehr aus dem Kopf.
Die Diakonissenschwester ‚Vögeli’ mit David und Peter bei einem Spaziergang im Winter.
Immerhin gab es auch amüsantere Gesundheitskuren. Da ich 'trotz' Kinderheim nicht gesünder geworden war und noch immer unter Serumeisenmangel litt, haben sich die Eltern auch für den Sommer etwas ausgedacht: In Wildhaus, wo wir schon öfters Sommerferien verbrachten, sollte ich darüber hinaus noch eine Zeitlang zur Schule gehen. Neunjährig und als Drittklässler besuchte ich während zweier Monate die dritte Klasse in Wildhaus. Der liebenswürdige Dorflehrer, Herr Sulser, unterrichtete alle sechs Primarklassen gleichzeitig in einem Schulzimmer. Reihum beschäftigte er die Klassen sehr geschickt. Natürlich hörte ich auch hin, wenn er den Erstklässlern das Schreiben beibrachte, oder wie die Fünftklässler rechneten und welch spannenden Dinge die Sechstklässler in der Geographie behandelten. Die Zeit in jener Landschule hat mir sehr gut gefallen; ich hatte eine Menge gelernt.
In Zürich, an der Milchbuckstrasse 29, lebten die Eltern mit mir, Peter und Dorothee in einer bescheidenen Vierzimmerwohnung. Ganz nahe war die Hirschwiese, ein Stück unbebautes Grasland, auf dem sich ein Teil des öffentlichen Lebens abspielte. Da gab es manchmal faszinierende Dinge zu sehen. Jedes Jahr gastierte ein kleiner Zirkus dort und verlieh dem Quartier eine exotische Note. Bunte Papageien kreischten; um ein Lama galt es einen Bogen zu machen, ansonsten man grün bespuckt wurde; elegante Pferde trippelten und wieherten. Oder der legendäre 'Bomber-Schaffner'1 stellte das Wrack einer viermotorigen Boeing aus, die im Krieg auf dem Zugersee notwasserte und lange auf Grund lag.
David Senn, 4-jährig
Als ich etwa fünf war, spielte ich, auf einer Treppenstufe sitzend, mit verschiedenen Gegenständen, insbesondere mit einer Schachtel Streichhölzer. Dabei erinnerte ich mich an erwachsene Vorbilder, die damit Feuer zu entfachen imstande waren. Ich war sehr neugierig, ob mir das auch gelingt. Denn ich hatte schon vielfach beobachtet, etwa wenn der Grossvater eine Zigarre anzündete, dass aus den geheimnisvollen dünnen Hölzchen Feuer hervorzuzaubern ist. So begann ich, mit einem Hölzchen mit dessen braunem Köpfchen an der Schachtel zu streichen. Ich tat es eine zeitlang ohne dass es sich entzündete. Da trat die Tante, die gerade zu Besuch bei uns weilte, herbei und erklärte mir, ich müsste das Streichholz umgekehrt halten und so an der Schachtel streichen (dies mit dem hölzernen Ende statt mit dem braunen Köpfchen). Ich spielte weiter, jedoch mit einem Gefühl des Misstrauens. Da konnte etwas nicht stimmen. Ich drehte eine Streichholz zwischen meinen Fingern und dachte, das eine Ende ist doch 'gewöhnliches' Holz; das andere Ende mit dem braunen Köpfchen ist doch eigentlich 'das Besondere' und müsste doch für das Feuermachen da sein. Wäre das hölzerne Ende geeignet, müsste man doch mich einem gewöhnlichen Holz Feuer entfachen können. Ich wurde wütend über die irreführende Anleitung der Tante und drehte das Streichholz um und strich mit dem braunen Köpfchen kräftig über die Schachtel und: hatte Feuer. Dies war die früheste Begebenheit, in der ich mich als Forscher fühlte, die Natur genau und neugierig zu beobachten. Und dann die Befriedigung, dass eine Erkenntnis erfolgreich umgesetzt wird.
David Senn, 9-jährig als Primarschüler, beim Schulhaus in Zürich
Es herrschte durchaus nicht immer Zufriedenheit mit dem, was von 'oben' kam. Auch die Geschichte mit Ostern in Zürich war seltsam. Ich war etwa neun und Peter sechs. Da schlechtes Wetter herrschte wurden morgens die Eier und Osterhasen in der Wohnung versteckt. Die Dinger waren nicht schwer zu finden, denn oftmals verriet eine leuchtend grüne Holzwolle, dass in einer Nische, etwa im Büchergestell oder in einem Schuh, ein Ei darauf wartete, entdeckt zu werden. Jedenfalls war gegen Mittag eine ordentlicher Korb voller Leckerbissen beisammen: gefärbte Eier, Schokolade-Eier- Hasen aus Schokolade, winzige Zuckergusseier in allen Farben und ein riesiges Nougat-Ei, das mit kleineren Eiern und Hasen gefüllt war. Am Nachmittag waren die Eltern irgendwo im Ausgang; meine Bruder Peter und ich blieben allein zu Hause und sollten spielen. Das taten wir auch, nur vielleicht nicht im Sinn der Erfinder. Ich weiss heute noch nicht, was mit uns geschah; Peter und ich wurden von einer Stimmung der zerstörerischen Auflehnung erfasst. Jedenfalls schoss Peter ein Schokolade-Ei gegen die Wand. Auf der hellen Tapete hob sich reliefartig ein brauner Fleck ab, den ich als Zielscheibe benützte und ein farbiges Hühnerei darauf warf. Dann warfen wir nacheinander Eier und Hasen an die Wand, bis nur noch das (offenbar kostbare) Nougat-Ei unversehrt da lag. Peter nahm es und schmiss es mit grosser Wucht auch noch an die Wand. Es war verständlich, dass die Eltern nach ihrer Rückkehr am Abend angesichts der zerbrochenen Ostersachen und der braungeklexten Wand eine ordentliche Szene von Stapel liessen. Eigentlich hatte ich nie begriffen, welch zerstörerische Stimmung an jenem trüben Nachmittag in Peter und mich gefahren war. Jedenfalls war es mir weder bei der nachmittäglichen Zerstörung noch bei der anschliessenden Schimpftirade wohl. Es war ein frustrierender Tag.
Grosse Bedeutung während meiner Züricherzeit hatte der Katzensee. Die zwei kleinen Seen ausserhalb des nordwestlichen Stadtrands (in der Nähe von Regensdorf) zeigten noch eine intakte Natur. Die Ufer waren durch breite Schilfgürtel gesäumt. Im Frühjahr haben dort Frösche und Kröten gelaicht. Es war spannend zu verfolgen, wie sich die kleinen schwarzen Punkte in den Laichschnüren der Erdkröten und Klumpen der Frösche langsam veränderten und schliesslich als kleine Larven ins Wasser schlüpften. Ich nahm Kaulquappen nach Hause und beobachtete sie im Glas wie sie sich schlängelnd fortbewegten, und wie die äusseren Kiemenbüschel durch innere Kiemen abgelöst wurden, dann kleine Beinchen zu wachsen begannen und schliesslich die Umwandlung zum kleinen Frosch begann. Die Primarlehrerin, Frau Verena Jenni, zeigte mir, dass ich die Kaulquappen mit kleinen Stückchen Milz füttern konnte. Über Jahre verbrachte ich jeden Sommer und viele freien Nachmittage mit Beobachten der Amphibien. Ich lernte, wie sich ein Tier formte, und wie die Organe gebildet wurden. Der Katzensee war für mich die erste Schule in Entwicklungsbiologie.
Noch andere Dinge lernte ich dort. Zu einem Geburtstag bekam ich ein Unterseeboot. Das etwa 40cm grosse Gefährt liess sich über einen langen dünnen Luftschlauch steuern, an dessen Ende sich ein Gummiball befand. Durch starkes oder leichtes und rhythmisches Drücken auf den Ballon (was erlernt sein wollte) liess sich das Boot vorwärtstreiben; es konnte auch an die Oberfläche aufsteigen oder wieder zum Grund absinken; Geschicklichkeit war erforderlich, es auf einer bestimmten Wassertiefe in austariertem Zustand vorwärts zu bewegen. Mich faszinierte das archimedische Prinzip (erst viel später lernte ich, was das genau heisst), nach dem ein Körper leichter oder schwerer werden kann und dass die Tarierung, das heisst das hydrostatische Gleichgewicht ein sehr empfindlicher Zustand ist.
Eine weitere Begebenheit, die mich sehr prägte, spielte sich im Katzensee ab. Zu meinem 7. Geburtstag bekam ich ein Geschenk, das meine zukünftige Entwicklung sehr stark prägte: Eine Tauchbrille und Schwimmflossen für die Füsse. Die Flossen trugen den Markennahmen 'Hans Hass', waren aus recht steifem grünlichem Gummi gefertigt und gestaltet wie ein Entenfuss mit drei Zehen und zwei Schwimmhäuten. Gleich packte ich die Dinger auf mein Fahrrad und fuhr zu Katzensee. Es war ein grossartiges Erlebnis, unter die Wasserfläche blicken zu können. Eine völlig neue Welt hielt mich geradezu buchstäblich ausser Atem. Der Blick zwischen den Schilfhalmen hindurch auf den kieseligen Grund, auf dem sich Algenbüschel befanden und Frösche duckten. Das Wasser war erstaunlich klar; ich konnte in einigen Metern Distanz schwimmende Fische entdecken. Es waren im Grunde meine allerersten Tauchversuche, welche meiner Entdeckerfreude über die Natur enormen Vorschub gaben. Mit sieben Jahren war ich ja noch ein Kind und hatte noch keinen Zugang zur Physik; so merkte ich nicht, weshalb ich mit einem Stück Gartenschlauch, dessen eines Ende ich im Mund hielt und das andere mit einem Stück Kork an der Wasserfläche schwimmen liess, nicht abtauchen und in einigen Metern Tiefe atmen konnte. Jedenfalls wurde dieses Tauchen zu einem folgenreichen Thema, und ich ahnte damals nicht, dass ich viel später (1987) Hans Hass persönlich begegnen konnte.
Eine andere Facette, die Tierwelt in ihrer Vielfalt kennenzulernen und zu beobachten, bestand in den Besuchen im Zoologischen Garten. Während der Katzensee sozusagen das Schönwetterprogramm war, begab ich mich sonst und vor allem auch im Winter jeweils am Mittwoch und Samstag nachmittags in den Zoo. Vor allem die Terrarien und Aquarien hatten es mir angetan. Ich war so sieben bis acht Jahre alt, als ich entscheidende Beobachtungen machte. Etwa die herrlich gemusterte Gabunviper mit ihrem dreieckigen Kopf. Ich hatte zuvor schon Beschreibungen über Giftdrüsen und Giftzähne gelesen. Einige Male war ich da, als die Schlange eine weisse Ratte ins Terrarium bekam. Der Biss vollzog sich so schnell, dass es unmöglich war, Details zu beobachten. Dass die Ratte innert einiger Minuten verendete, führte mir die ungeheure Wirkung des Giftes vor Augen. Ein Rätsel waren mir die Zähne, von denen ich nur wusste, dass sie innen hohl sind, um das Gift ins Opfer zu leiten. Wie die Viper dann das Maul öffnete, um die Ratte herunterzuschlingen, staunte ich, als die Giftzähne aufgestellt wurden. Zwei Dinge begriff ich; erstens dass die Giftzähne aufstellbar sind und in Ruhe nach hinten geklappt sind und zweitens, dass sie zum Herunterschlingen der Beute eingesetzt werden. Alternierend links und rechts haken sie ein und schieben die Ratte in den Schlund. Um sicher zugehen fragte ich den damals bekannten Wärter Otto Meier, ob die Gabunviper denn bewegliche Giftzähne habe; ich hätte ganz den Eindruck. Er lächelte gütig und bestätigte meine Beobachtung; dazu erklärte er mir einige Besonderheiten der sehr beweglichen Schlangenkiefer. Er erwähnte, dass es auch Giftschlangen gebe, deren Giftzähne kürzer und starr im Kiefer sitzen. Auf der anderen Seite des Raums zeigte er mir die Kobra und die Grüne Mamba.
Als ich das nächste Mal in den Zoo kam, fragte mich Herr Meier, ob ich das Chamäleon füttern wolle. Wir gingen zum kleinen Terrarium in der Ecke. Darin hielt sich das Chamäleon klammernd auf einem Ast fest. Herr Meier nahm aus einem Glas eine kleine Schabe und hielt sie so hin, dass sie zwischen zwei Fingern zappelte. Das Chamäleon drehte sich und schaute interessiert zur Schabe. Dann begann die Zunge etwas zwischen den Kiefern hervorzuquellen, um dann gleich in wahnsinniger Geschwindigkeit gegen die Schabe zu schnellen. Die Schabe wurde dann ebenso schnell in den Mund geholt und verschlungen. Diese Schleuderzunge, mit der eine Beute aus 20cm Distanz herbeigeholt wird, faszinierte mich völlig. Dann durfte ich einige Male eine Schabe zwischen die Finger nehmen. Ich staunte, wie sanft das Insekt von meinen Fingern abgeholt wurde.
Ich liebte es, zu zeichnen. Schon mit vier bis fünf Jahren wusste ich, dass mein Vater ein beeindruckender Zeichner war. Wenn ich ihn bat, mir einen Fisch oder einen Wal zu zeichnen, entstand auf einem Papier zuerst in wenigen Linien und dann in feiner Ausarbeitung ein kleines Kunstwerk. An einem Sonntagmorgen fragte ich ihn, mir ein grosses Dampfschiff auf dem Meer zu zeichnen. Zu meinem Erstaunen, beinahe Erschrecken, erwiderte er, das kannst du jetzt selber tun. Mein Einwand, das könne ich nicht, liess er nicht gelten. Jetzt fang einfach mal an, sagte er und fügte bei, wo soll den das Schiff sein. Ich meinte auf dem Meer. Also, zeichne das Meer! Ich fragte, wie denn das Meer aussehen soll. Schliesslich einigten wir uns, dass das Meer eine grosse Weite sei, und so setzte ich eine Linie als Meereshorizont aufs Papier. So, und nun das Schiff, meinte der Vater. Wir diskutierten und ich zeichnete den langen Rumpf, so dass er auf dem Meer zu schwimmen schien. Das Schiff bekam Aufbauten, Fenster und Kamine. Schliesslich war meine erste Zeichnung fertig, und ich begriff, dass Zeichnen nichts anderes ist, als sich etwas vorstellen zu können und dies mit dem Bleistift zu Papier zu bringen. Ich ahnte damals noch nicht, dass ich später beim Heranwachsen und im Beruf äusserst viel zu zeichnen haben werde.
Als ich etwa neun Jahre alt war, begann ich damit, im Zoo Tiere zu zeichnen. Ich bekam eine Zeichenmappe, in der ich grössere Papierbogen mitführte. Statt eines Bleistifts benützte ich zunehmend Zeichenkohle. Die zerbrechlichen schwarzen Stengel und den Knetgummi für Korrekturen bekam ich bei Racher, einem Geschäft für Mal- und Zeichenbedarf. So zeichnete ich mit Vorliebe Raubtiere wie Tiger und Löwen. Es war gar nicht einfach, die Portraits so zu gestalten, dass der Charakter des Tiers gut ersichtlich wurde. Auch Nashörner und die legendäre Indische Elefantenkuh 'Mandjullah' gehörten zu meinen Lieblingsobjekten.
Im Zusammenhang mit dem Zoo und der Schule ereignete sich eine Geschichte, die mein zukünftiges Wirken entscheidend war. Im Deutschunterricht in der ersten Gymnasialklasse musste jeder einen Vortrag halten; es durfte, weil es das erste Mal war, das Lieblingsthema sein. Meiner starken Zuneigung zur Biologie der Reptilien konnte ich Ausdruck verleihen, indem ich als Thema eine sehr bemerkenswerte Schlange wählte: den Buschmeister. Ich hatte früher in Brehm's Tierleben gelesen, dass diese von Panama bis ins Amazonasbecken verbreitete Giftschlange zu den besonders schönen, aber auch gefährlichsten Reptilien gehört. Allerdings stellte sich bald ein gewisses Unbehagen ein, als ich am Vortrag zu arbeiten begann. Offensichtlich klangen die Angaben im Brehm zwar spektakulär; dennoch zeugten sie nicht von sorgfältigen Beobachtungen. Jener Text erwies sich für die Erarbeitung eines fundierten Vortrags als gänzlich ungeeignet. Meine Mutter half mir, in verschiedenen Bibliotheken Unterlagen über 'den Buschmeister' zu bekommen. Wir hatten damit keinen Erfolg. Dann hatte die Mutter die glänzende Idee, dem Direktor des Züricher Zoos, Professor Heini Hediger, zu schreiben. Sie schrieb ihm etwa, dass ihr Sohn in der Schule einen Vortrag über eine offensichtlich wenig bekannte Schlange halten sollte und dazu Literatur braucht. In unserer Familie war dann die Überraschung gross, als der Pöstler ein Päckchen mit Hedigers Absender brachte. Darin war zur Ausleihe ein Buch mit einem fundierten Kapitel über den Buschmeister. So konnte ich mich vorbereiten und an einem Nachmittag in der Deutschstunde den Vortrag halten. Ich war sehr aufgeregt, kam dann aber mit den Ausführung sehr gut zurecht. Dass diese ziegelrot und schwarz gemusterte Schlange herrlich anzusehen sei, dass sie bis über zwei Meter lang werde und so dick wie der Oberschenkel eines Athleten und dass sie die längsten Giftzähne aller Schlangen hat und in der Lage ist das Gift bis 5cm zu injizieren, hat die Klassenkameraden offensichtlich fasziniert. Ich spürte fest, dass ein Vortrag die Zuhörenden begeistern kann und soll.
Professor Heini Hediger, Zürcher Zoodirektor, hat mir sehr freundlich zu guten Informationen über den Buschmeister verholfen.
Danach schickten meine Mutter und ich das Buch mit einem kleinen Dankesbrief an Prof. Hediger zurück; die Mutter fügte aber noch ein Päckli Pralinés von Sprüngli bei. Es dauerte keine Woche, bis ein reizender Brief von Hediger zurückkam. Er schrieb, dass er nie gedacht hätte, dass eine derart giftige Schlange so feine Süssigkeiten hervorbringen könne. Diese Geschichte ereignete sich 1953 als ich 13 Jahre alt war. Sehr viel später, etwa 1978, habe ich Heini Hediger bei einem Besuch in seinem Büro des Zoos wiedergesehen. Für mein Empfinden gehörte er zu den herausragenden Zoologen, weil er die Gabe hatte, systematische, funktionelle und verhaltensökologische Aspekte sinnvoll zu verknüpfen. Er weckte bei mir ein grosses Interesse an Verhaltensforschung.
In bester Erinnerung sind mir die Spaziergänge mit meinem Vater jeweils am Sonntagmorgen. Es waren oft weite Wanderungen in den bewaldeten Gebieten, so im Albis, am Üetliberg, Pfannenstiel, Lägern oder bei Volketswil. Gelegentlich gab es auch Ausflüge per Velo, speziell wenn die Mutter und Peter dabei waren und ein Picknick an einem Waldrand oder am Ufer eines Bachs geplant war. An einem frühsommerlichen Morgen wanderten Vater und ich auf die Waid, einem Hügel vor dem Nordwesten der Stadt. Dort liebte ich einen runden Teich mitten im Wald. Der Teich war in dieser Jahreszeit voller Amphibien. Es gab Molche, Grasfrösche, Wasserfrösche und vor allem meine Lieblinge, die Erdkröten. Ich wunderte mich immer, dass die Kröten im Gegensatz zu den Fröschen nicht Laichklumpen legten, sondern Laichschnüre durch das Wasser spannten. Nach einigen Beobachtungen gingen wir weiter und kamen an einen Rand des Waldes und blickten über die ganze Stadt Zürich. Beim Anblick einer Hochspannungsleitung erklärte mir der Vater, dass hier der Strom von einem Kraftwerk zum Verbraucher geführt wird. Strom geht also durch einen Draht. Ich fragte, wie lange braucht der elektrische Strom, um durch den Draht zu 'fliessen' bis man zuhause Licht anzünden kann? Der Vater erwiderte: rate, wie weit der Strom in einer Sekunde fliesst. Auf jede meiner Antworten erwiderte er: nein weiter. Bis zum nächsten Haus? Bis in die Stadtmitte? Bis nach Basel? Bis nach Paris? Bis nach Amerika? Einmal um die Welt? Schliesslich staunte ich, dass der Strom in einer Sekunde siebeneinhalbmal um die Erde fliesst. Dass dies 300'000 km/s oder Lichtgeschwindigkeit bedeutet, begriff ich erst viele Jahre später in der Physik. Dennoch staunte ich auf jenem Spaziergang auf die Waid im Jahr 1952. Als Zwölfjähriger liebte ich es, in Zusammenhänge der Welt hineinzublicken. Allerdings kam auch ein Thema zur Sprache, das mich besonders tief beeindruckte und viel später immer wieder zum Nachdenken veranlasste. Als der Vater angesichts der Aussicht über die Stadt sagte, in Zürich gäbe es etwa 400'000 Einwohner, und in der ganzen Schweiz lebten etwa fünfeinhalb Millionen Menschen, fragte ich, wieviele Menschen es denn auf der ganzen Welt seien. Der Vater gab mir die damals korrekte Antwort: 2,5 Milliarden. Immer wieder dachte ich an jenes Gespräch zurück und verfolgte während meines ganzen weiteren Lebens die Entwicklung dieser Zahl. Heute, wo ich diese Zeilen niederschreibe, das heisst mitten im Jahr 2001 bevölkern 6,2 Milliarden Menschen die Erde. Dass sich in nur einem Teil meines Lebens die Menschheit verzweieinhalbfachte, lässt mich dramatisch spüren, was 'exponentiell' bei einer Wachstumskurve bedeutet.
David Senn 12-jährig in der 6. Primarklasse 1952, neben dem Lehrer Hans Meier.
1 Der Bomber-Schaffner war ein Garagist aus Suhr AG, der in den 1950iger Jahren abgestürzte Flugzeuge aus dem zweiten Weltkrieg sammelte. Teils hat er sie aus Seen, z.B. aus dem Zugersee geborgen. Auf der Hirschwiese des Milchbucks war ein 4-motoriger Boeing-Bomber ausgestellt.
Vom Alter von etwa sechs Jahren an lag ich meinen Eltern oft in den Ohren, einmal das Meer zu besuchen und dort Ferien zu machen. Zwar gab es jeden Sommer schöne Ferien in den Alpen, so in Adelboden (1046), in Saanen bei Gstaad (1947), in der Pension 'Gspan' in Arosa (1949), in Crans Montana (1951). An all diesen Orten verbrachte ich überdurchschnittlich viel Zeit an Bergbächen. Ich liebte es, mit Steinen kleine Stauwehre zu bauen und gleichmässigen und quirligen Strömungen des wilden Wassers zuzuschauen. Besonders schön waren die Bäche in Adelboden und Arosa.
Aber der Wunsch, nicht nur Bergbäche, den Katzensee oder den Zugersee zu erkunden, sondern das grösste aller Gewässer, war sehr stark. Andererseits war klar, dass mein Vater mit dem bescheidenen Einkommen als Assistenzarzt am Kantonsspital Zürich nicht einfach eine ganze Familie ans Meer führen konnte. Ein glücklicher Umstand kam aber meinem Wunsch entgegen. die Migros gründete in Zürich ein eigenes Reisebüro, den 'Hotelplan' und bot in seinem ersten Katalog eine Bahnreise zur ligurischen Küste mit einer Woche Halbpension an. Die Eltern rechneten, dass das eigentlich nicht teurer war als Ferien in der Schweiz. Das Vorhaben kam auch der notorischen (aber oft unerfüllten) Reiselust meiner Mutter entgegen. So reisten wir zu viert (die fünfjährige Dorothee war bei den Grosseltern in Immensee) mit der Bahn über den Gotthard nach Chiasso. Erstmals im Leben verliess ich die Schweiz; gut erinnere mich wie rasend schnell der Zug durch die Ebene nach Mailand fuhr. Die Häuser und Menschen auf den Strassen flitzten vorüber; der Vater erklärte mir, dass es in Italien eben viel schnellere Lokomotiven gibt. Dann ging’s von Mailand nach Genua und von dort westwärts nach Celle Ligure. Auf jener Strecke, reich an Tunnels und Brücken, sah man immer wieder das Meer mit seinem Horizont. Dieser schien ins Unendliche zu weisen; es war ein Horizont ins Unendliche. Ich konnte nicht kaum mehr warten, bis zum Schwimmen. Nach dem Hotelbezug gingen wir unverzüglich mit dem Badezeug in der Tasche zum Strand. Sonderbar dünkte mich, dass sich recht grosse Wellen auf dem Strand überschlugen, obschon gar kein Sturm herrschte. Ich dachte an den Zugersee, wo es nur grosse Wellen gab, wenn ein Föhnsturm tobte. Aber hier, die Wellen ohne Sturm. Ich konnte es kaum glauben, als der Vater erläuterte, dass diese Wellen sehr wohl in einem Sturm aufgepeitscht wurden, dies jedoch nicht hier vor dieser Küste, sondern ganz weit weg. Es dürfte einige hundert Kilometer von hier von hier entfernt gestürmt haben. Ich fragte, wie denn die Wellen hierherkamen und bekam die Erklärung, dass Wellen eben ganz weit wandern; sie tun dies sogar, ohne nennenswert Energie zu brauchen. Es war so der erste Eindruck über die unendliche Weite des Meeres. Diese Wellen, die aus dem Unendlichen kamen und sich vor der Küste erhöhten und dann mit viel Gischt überschlugen, haben in mir einen sehr tiefen Eindruck hinterlassen.
Dann hielt mich nichts mehr zurück, die Badehosen anzuziehen und gleich in die erste Welle zu springen. Diese war höher und kräftiger, als ich erwartete und ich trudelte im turbulenten Wasser und bekam einen tüchtigen Schluck Wasser ab. Dieses kam mir sehr salzig vor, eigentlich noch stärker, als ich es aufgrund der Schilderungen des Vaters erwartete. Tatsächlich war das Meer salzig. Auch merkte ich, dass es den schwimmenden Menschen besser trug als das Süsswasser des Zugersees. Wie Korkzapfen schaukelte die ganze Familie auf den Wellen. Peter crawlte und tauchte umher wie eine Robbe. Die Mutter war glücklich, am Meer zu sein. Ich begann mit dem Vater schwimmend und schaukelnd zu diskutieren. Meine Frage, ob das Meer in der ganzen Welt salzig sei, beantwortete er sehr grundsätzlich: Das Meer ist in allen Gebieten der Erde etwa gleich salzig. Diese Aussage vermittelte mir wiederum den Eindruck von der weiten Dimension des Wassers.
Am folgenden Tag vereinbarten die Eltern mit einem Fischer, dass er uns am Morgen in eine abgelegene Bucht bringt und gegen Abend wieder holte. Wir hatten die Bade- und Schnorchelsachen dabei. Nur etwa zehn Minuten dauerte die Fahrt, in der das kleine, weiss und blau bemalte Boot um einige Ecken tuckerte und uns schliesslich in einer völlig einsamen Bucht, wie sie meine Mutter liebte, absetzte. Ich war sehr gespannt, wie das Schnorcheln sein wird. Vom stillen Katzensee besass ich einige Routine. Als ich, mich mit den Flossen antreibend, ins Meer hinausglitt, wurde ich aber dennoch über die blaue Tiefe stutzig. Diese Tiefe bedeutete für mich eine neue Dimension. Schon die Wasserklarheit und Sichtweite waren bedeutend höher, als ich es vom Katzensee oder Zugersee gewohnt war. Der Untergrund bestand aus Felsblöcken mit unzähligen Spalten und Nischen. Der Stein war mit vielgestaltigem 'Gewächs' überwachsen; damals begriff ich noch nicht, was Algen waren. Überall tummelten sich Fische; es gab sie in unterschiedlichen Grössen und Körperformen. Reichhaltig waren die Farben, welche die Fische in mannigfachen Mustern trugen. Es gab längs- und quergestreifte sowie getupfte Fische.
So schnorchelnd sah ich etwas, was mein Herz höher schlagen liess; meine Empfindung war eine Mischung aus Faszination und Neugier. Es war ein grösseres Tier auf dem Grund, der etwa fünf Meter unter mir lag. Es war unmöglich ein Fisch. Das Tier war kompakter und rundlich gebaut. Es streckte aber immer wieder lange, spitz zulaufende Arme aus. An den Armen waren rundliche Saugnäpfe zu erkennen. Als schon zwei Arme ausgestreckt waren, kamen noch mehr zum Vorschein. Das Tier besass auch einen auffälligen Kopf mit grossen Augen. Ich hatte den Eindruck, es betrachte die faszinierende Unterwasserlandschaft sehr aufmerksam. Ich geriet in helle Aufregung, denn so ein Tier hatte ich noch nie gesehen. Ich musste zurück, um das mit meinem Vater zu diskutieren. Als ich zum Strand gelangte, sass er auf einem Badetuch und las ein Buch. Du, ein wahnsinniges Tier habe ich gesehen, gross und so geformt, dass es unmöglich ein Fisch sei. Es habe sich am Meeresgrund bewegt und grosse Augen und Saugnäpfe an den Armen. Komm, sagte der Vater, jetzt beschreib es mir mal ganz exakt. Ich erklärte und war irgendwie ausser Atem. Dann sagte er ganz ruhig: Es ist ganz klar, was das war, ein Tintenfisch. Diese gehörten aber nicht zu den Fischen, sondern seien eigentlich viel näher mit den Schnecken und Muscheln verwandt. Und die grossen Augen seien typisch; die Tiere würden praktisch ebensogut sehen wie wir Menschen. Und diese Tintenfische könnten, wenn sie erschrecken, eine Tintenwolke ausstossen. Diese Tiere gäbe es nirgends im Süsswasser; es handelt sich um typische Meerestiere. Ich fühlte mich in einem seligen Zustand. So erschien mir das Leben lebenswert, ein Gefühl, das angesichts meiner fortschreitenden Krankheit (wie im nächsten Kapitel beschrieben) wichtig und lebenserhaltend war.
Während der Woche liessen wir uns jeden Tag vom Fischer an die Bucht fahren. An einem Morgen wurde ich mit einem neuen Phänomen konfrontiert. Beim Schnorchel verspürte ich auf der Schulter plötzlich einen stechend brennenden Schmerz, dann einen auf dem Rücken und dann an den Beinen. Im tiefblauen Wasser schwammen eigenartige Tiere; sie sahen aus wie glasklare Schirme und bewegten sich mit pulsierenden Kontraktionen. Teils waren die in Massen auftretenden Tiere bis handgross. Für mich bestand kein Zweifel, dass sie die brennenden Schmerzen verursachten. Ich schwamm zurück und rief meinen Vater. Er kam auch schnorcheln und erläuterte, dass es sich um Quallen handelte. Sie würden ein brennendes Gift ausstossen, das unsere Haut durchdringen kann. Peter, der viel draufgängerischer geschwommen war, kam zurück mit einer grossen, tiefroten 'Brandwunde' auf dem Oberarm. Wir durften nur noch dann ins Wasser, wenn es einen Unterbruch im Auftreten der Quallen gab.
Ich empfand den Aufenthalt in Celle Ligure nicht nur als eine Ferienwoche. Die Zeit war mehr und ging tiefer. Ich empfand meinen ersten Kontakt mit dem Meer als bahnbrechenden Lebensabschnitt. Es war mir, als ginge eine ganz weite Türe auf. Die Welt des Ozeans stand mir offen.
David, Peter und Mutter mit Schnorchelausrüstung am Strand von Celle Ligure 1953
Dass meine Jugend in hohem Masse von meiner schweren angeborenen Nierenkrankheit geprägt war, hat sich in meinem Bewusstsein tief eingeprägt. Mit den heutigen Fortschritten in der Medizin hätte die Geschichte niemals so lange gedauert: Damals war ich während fünf Jahren gesundheitlich stark beeinträchtigt.
Es hatte 1949 begonnen; ich war noch nicht 9 Jahre alt und in der 3. Primarklasse im Milchbuckschulhaus in Zürich. Ich bekam einen dumpfen Schmerz irgendwo zwischen Bauch und Rücken, eher links im Rumpf. Der Schmerz hielt etwa einen Tag an und verschwand wieder. Nach einem Monat kam der Schmerz wieder; diesmal etwas stärker; wiederum dauerte er einen Tag. Mit der Zeit kam der Anfall häufiger und wurde so schmerzhaft, dass ich unfähig war, zur Schule zu gehen oder meine Freizeit kreativ zu gestalten. Meine Mutter nahm mich dann zum Kinderarzt, der schon lange für Peter und mich sorgte, Dr. Silberschmid. Der aber fand nichts. Auch dann fand er nichts, wenn ich während eines Anfalls hingebracht wurde. Silberschmid drückte an meinem Bauch herum, und ich musste eine Stuhlprobe dalassen. Aber es kam kein Befund. Blutproben, Urinproben und Stuhlproben erwiesen sich stets als gut.
Mit der Zeit pendelte sich ein sehr belastender Rhythmus ein; im Schnitt passierte es einmal in der Woche, dass ein solcher Anfall ausbrach. Immer hielten die wahnsinnigen Schmerzen etwa einen Tag an. Dann war es wieder vorbei. Wenn die Schmerzen tobten, waren sie so stark, dass ich mich nicht mehr im Bett ruhighalten konnte, sondern mich auf dem Boden wand. Immer wieder haben mich die Eltern bei Dr. Silberschmid oder bei anderen Ärzten angemeldet, aber niemand war imstande, zu helfen. Man begann sich zu fragen, was den einen Anfall auslösen konnte. Ich erinnere mich, dass ich zweimal, jeweils auf einer sommerlichen Wanderung Sugus-Bonbons lutschte, um weniger Durst zu empfinden. Nach den Wanderungen bekam ich einen Anfall. Aus dem Gefühl, die Sugus seien Auslöser, verzichtete ich fortan auf sie; aber das erwies sich als Illusion. Es vergingen Jahre. Auffällig war, dass sich meine Lendenwirbelsäule seitlich zu verkrümmen begann und ich auch nicht mehr gewachsen bin. Mit 7 gehörte ich noch zu den grössten Knaben der Klasse; mit 12 war ich schon der Drittkleinste. Immer häufiger musste ich in der Schule fehlen. Mit 13 habe ich etwa ein Drittel des Schulunterrichts nicht mehr mitbekommen.
Schliesslich entschied sich mein Vater, der sich sehr grosse Sorgen machte, zu einer Art Rundumschlag, einer umfassenden Untersuchung im Kinderspital Zürich. Professor Fanconi müsste endlich herausfinden, was mir fehlte. Ich war mittlerweile gut 13 Jahre alt; stand ich auf die Waage, waren auf der Skala 28kg abzulesen. Es war sozusagen die letzte Chance, dass ein Weg in die Zukunft gefunden wird. Ich wollte eine Zukunft, denn seit einem Jahr wusste ich bestimmt, dass ich Biologe werden will. Seit noch längerer Zeit war sicher, dass ich Expeditionen nach Afrika machen werde, um das Leben von Tieren zu erforschen. Auch das Meer zog mich in den Bann. Nicht nur die reichhaltigen tropischen Korallenfische waren Gegenstand meiner Gedanken und Wünsche. Auch der ganz ferne Süden mit dem von Menschen unbewohnten Kontinent, der Antarktis liess mein Herz höherschlagen. Besonders geheimnisvoll erschien mir die Tatsache, dass es auf dem eisigen Kontinent einen riesigen aktiven Vulkan gibt, den Mount Erebus.
Das waren die Gedanken an eine Zukunft. Doch spürte ich gleichzeitig, dass just diese Zukunft in Frage gestellt ist. Es ängstigte mich sehr, dass mein kleiner, magerer Körper so zerbrechlich geworden ist, dass er mich vielleicht nicht mehr in eine Zukunft zu tragen vermag. Mir erschien die Möglichkeit durchaus real, dass ich sterben könnte, und dass es dann keine Zukunft als Zoologe gibt. Kein Afrika, keine Antarktis. In jener Zeit hatte ich viele Diskussionen mit meinem Grossvater Max Fischer. Er ermunterte mich immer, dass Afrika und die Antarktis gute Expeditionsziele seien. Nach Amerika würde es ihn niemals ziehen; aber wenn ich Forscher sei, müsste ich gewiss auch nach Amerika. Grosspapa machte mir dann ein wunderschönes Geschenk: die zwei Bände 'Biologie' von Karl von Frisch. Die beiden Bände hatte ich während meines ganzen Spitalaufenthalts dabei. Ich habe viel darin gelesen und starke Impulse bekommen. Mein Überlebenswille wurde enorm gestärkt. Ich wollte Biologe werden; das wusste ich seit etwa einem Jahr, das heisst seit 1952 (also seit dem 12. Lebensjahr). Karl von Frischs Art und Weise, eine biologische Fragestellung anzugehen, etwa, wenn es um das Farbensehen der Bienen ging, hatte mich tief beeindruckt.
Die Abklärung durch Prof. Fanconi gestaltete sich als Wettlauf mit der Zeit. Nach anderthalb Wochen gab er die Idee, mit meinem Verdauungstrakt sei etwas nicht in Ordnung, auf. Dann innert zwei Tagen, dank einer Röntgenuntersuchung mir Kontrastmitteln in der Blutbahn und mit einem Pyelogramm, fand Fanconi heraus, dass ich seit langem an einer angeborenen Nierenkrankheit litt, welche immer wieder die sehr schmerzhaften Koliken verursachte. Eine Hydronephrose mit einer mehr als kindskopfgrossen linken Niere drückte sogar meine Wirbelsäule krumm und vergiftete meinen Blutkreislauf. Ich erinnere mich genau an meine 'erste Vorlesung', die ich als Objekt besuchte. Auf einem Schragen wurde ich in ein riesiges Auditorium gefahren. Prof. Fanconi hielt über mich eine Vorlesung und projizierte Röntgenbilder. Immer wieder befragte er die Studenten. Zum Schluss sagte er: "und nun übergeben wir ihn schnellstens der Chirurgie."
Inzwischen war ich, dreizehneinhalb Jahre alt, auf 28 Kilo abgemagert. Längst war ich zu schwach, um noch auf den eigenen Beinen zu stehen, geschweige denn zu gehen. Ich konnte nur noch liegen oder musste getragen werden. Die Operation war sehr dringend geworden. Ich fragte meinen Vater immer wieder, ob ich es denn überleben werde. Er sagte mir jedesmal, die Chance, dass es gut gehe, sei recht hoch. Als Chirurg sei Prof. Grob ausgesucht worden. Er sei ein sehr fähiger Chirurg. Morgen um neun Uhr, also am 10. Oktober 1953, käme ich dran. Als ich im Vorraum des Operationssaals für die Operation vorbereitet wurde, fragte mich eine Schwester, welche Niere man mir herausnehmen müsste. Ich sagte ihr, es sei die Linke. Entsprechend wurde ich vorbereitet. Mit einer Spritze (Barbiturat) in den Arm wurde die Narkose eingeleitet.
Mein Erwachen empfand ich als unendlichen Durst. Ich hatte immer das Gefühl, man gebe mir zu wenig zu Trinken. Meine linke Körperseite schmerzte mich etwas; ich spürte, dass irgendwo eine grosse Wunde war. Eines war für mich beim Wiedererlangen des Bewusstseins klar: die Schmerzen nach der Operation waren deutlich geringer als jene einer einzigen Kolik über die Jahre hinweg. Von Tag zu Tag erholte ich mich in einem erstaunlichen Tempo. Einmal kam Prof. Fanconi zu mir; er war fröhlich und scherzte und sagte, er müsse mir noch mitteilen, was ich in meinem zukünftigen Leben zu beachten hätte. Er sagte, ich könne im wesentlichen ein ganz normales Leben führen; es gäbe eigentlich keine Behinderungen. Nur ganz wenige Dinge müsste ich beachten. Da meine verbleibende rechte Niere grösser würde, sei sie empfindlicher; ich dürfte mich nie in Schlägereien verwickeln lassen und nie auf einem Pferd reiten; die Sturzgefahr wäre zu gross. Essen sollte ich normal, nicht zu salzig und mit Mass. Und ich dürfte nie die Tropen bereisen, da dort der Wasserhaushalt für die Niere aufwendig sei.
Nachdem Fanconi das Zimmer verlassen hatte, spürte ich ein sehr sehr bitteres Gefühl. Es war seine Bemerkung, ich dürfte nie die Tropen bereisen. Die Aussage schmerzte mich mehr, als dies der chirurgische Eingriff tat. Ich musste bitterlich weinen. In der Zeit meiner Rekonvaleszenz trat dieser Schmerz etwas in den Hintergrund. Meine Gesundung erfolgte mit Riesenschritten. Dabei war es ein besonderes Erlebnis, zu lernen, wieder auf den eigenen Füssen zu stehen und mit der Zeit wieder gehen zu lernen. Es war ein mühsamer Lernprozess; manchmal hatte ich den Eindruck, ich lernte das Gehen zum ersten Mal. Es galt auch, Vertrauen zu schöpfen, dass mich mein Körper tragen kann. Vor allem genoss ich es, wieder selbständig zu werden. So war es ein erhebendes Gefühl, als ich auf eigenen Füssen wieder zur Schule gehen konnte. Selbständigkeit ist ein essenzielles Lebensgefühl; daraus schöpfte ich Mut zum Leben.