Georg Wilhelm Friedrich Hegel

Über die englische Reformbill

 

 

 

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Über die englische Reformbill

 

Neuausgabe mit einer Biographie des Autors.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, porträtiert von Jakob Schlesinger, 1831

 

ISBN 978-3-8430-9212-8

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8430-9173-2 (Broschiert)

ISBN 978-3-8430-9174-9 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Erstdruck in: Allgemeine preußische Staatszeitung 1831, Nr. 115, 116, 118. Der Schluß durfte nicht in der Staatszeitung veröffentlicht werden, er erschien nur in einem Privatdruck des Gesamttextes.

 

Der Text dieser Ausgabe folgt:

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1979 (Theorie-Werkausgabe).

 

Die Paginierung obiger Ausgabe wird in dieser Neuausgabe wortgenau mitgeführt und macht dieses E-Book auch in wissenschaftlichem Zusammenhang zitierfähig. Das Textende der Vorlagenseite wird hier durch die Seitennummer in eckigen Klammern mit grauer Schrift markiert.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

 

 

Die dem englischen Parlamente gegenwärtig vorliegende Reformbill beabsichtigt zunächst, in die Verteilung des Anteils, welchen die verschiedenen Klassen und Fraktionen des Volks an der Erwählung der Parlamentsglieder haben, Gerechtigkeit und Billigkeit dadurch zu bringen, daß an die Stelle der gegenwärtigen Unregelmäßigkeit und Ungleichheit, die darin herrscht, eine größere Symmetrie gesetzt werde. Es sind Zahlen, Lokalitäten, Privatinteressen, welche anders gestellt werden sollen; aber es sind zugleich in der Tat die edlen Eingeweide, die vitalen Prinzipien der Verfassung und des Zustandes Großbritanniens, in welche jene Veränderung eindringt. Von dieser Seite verdient die vorliegende Bill besondere Aufmerksamkeit, und diese höheren Gesichtspunkte, die in den bisherigen Debatten des Parlaments zur Sprache gekommen sind, hier zusammenzustellen, soll der Gegenstand dieses Aufsatzes sein. Daß die Bill im Unterhause einen so vielstimmigen Widerspruch gefunden und die zweite Lesung nur durch den Zufall einer Stimme durchgegangen ist, kann nicht verwundern, da es gerade die auch im Unterhause mächtigen Interessen der Aristokratie sind, welche angegriffen und reformiert werden sollen. Wenn alle diejenigen, die teils persönlich, teils aber deren Kommittenten an bisheriger Bevorrechtung und Gewicht verlieren sollen, sich der Bill entgegensetzten, so würde sie sogleich auf das Entschiedenste die Majorität gegen sich haben. Die, welche die Bill eingebracht, konnten sich nur darauf verlassen, daß nunmehr gegen die Hartnäckigkeit der Privilegien das Gefühl der Gerechtigkeit in denen selbst mächtig geworden, welche[83] ihren Vorteil in jenen Bevorrechtigungen haben, – ein Gefühl, das eine große Unterstützung an dem Eindruck der Besorgnis bekam, welchen bei den interessierten Parlamentsgliedern das benachbarte Beispiel Frankreichs hervorbrachte; die beinahe allgemeine Stimme, die sich in England über das Bedürfnis einer Reform aussprach, pflegt im Parlamente als ein höchst wichtiges Motiv geltend gemacht zu werden. Wenn aber auch die öffentliche Stimme von Großbritannien ganz allgemein für Reform in der Ausdehnung oder Beschränkung wäre, wie die Bill sie vorschlägt, so müßte es noch erlaubt sein, den Gehalt dessen zu prüfen, was solche Stimme verlangt, um so mehr, als wir in neueren Zeiten nicht selten erfahren haben, daß ihre Forderungen sich unausführbar oder in der Ausführung unheilbringend zeigten und daß die allgemeine Stimme sich nun ebenso heftig gegen dasjenige kehrte, was sie kurz vorher heftig zu verlangen und gutzuheißen schien. Die Alten, welche in den Demokratien, denen sie von ihrer Jugend an angehörten, eine lange Reihe von Erfahrungen durchgelebt und zugleich ihr tiefsinniges Nachdenken darauf gewandt haben, hatten andere Vorstellungen von der Volksstimme, als heutzutage mehr a priori gang und gäbe sind.

Die projektierte Reform geht von der unbestreitbaren Tatsache aus, daß die Grundlagen, nach welchen der Anteil bestimmt worden war, den die verschiedenen Grafschaften und Gemeinden Englands an der Besetzung des Parlamentes hatten, im Verlaufe der Zeit sich vollkommen geändert haben, daß damit die »Rechte solchen Anteils« von den Prinzipien der Grundlagen selbst vollkommen abweichend und allem widersprechend geworden sind, was in diesem Teile einer Verfassung als gerecht und billig dem einfachsten Menschenverstand einleuchtet. Einer der bedeutendsten Gegner der Bill, Robert Peel, gibt es zu, daß es leicht sein möge, sich über die Anomalien und Absurdität der englischen Verfassung auszulassen, und die Widersinnigkeiten sind in allen ihren Einzelheiten in den Parlamentsverhandlungen[84] und in den öffentlichen Blättern ausführlich dargelegt worden. Es kann daher hier genügen, an die Hauptpunkte zu erinnern, daß nämlich Städte von geringer Bevölkerung oder auch deren – und zwar sich selbst ergänzende – Magistrate, mit Ausschluß der Bürger, sogar auf zwei bis drei Einwohner (und zwar Pächter) herabgekommene Flecken das Recht behalten haben, Sitze im Parlament zu vergeben, während viele in späteren Zeiten emporgekommene blühende Städte von hunderttausend und mehr Bewohnern von dem Rechte solcher Ernennung ausgeschlossen sind, wobei zwischen diesen Extremen noch die größte Mannigfaltigkeit sonstiger Ungleichheit vorhanden ist. Als eine nächste Folge hat sich ergeben, daß die Besetzung einer großen Anzahl von Parlamentsstellen sich in den Händen einer geringen Zahl von Individuen befindet (wie berechnet worden, die Majorität des Hauses in den Händen von 150 Vornehmen), daß ferner eine noch bedeutendere Anzahl von Sitzen käuflich, zum Teil ein anerkannter Handelsgegenstand ist, so daß der Besitz einer solchen Stelle durch Bestechung, förmliche Bezahlung einer gewissen Summe an die Stimmberechtigten, erworben wird oder überhaupt in vielfachen anderen Modifikationen sich auf ein Geldverhältnis reduziert.

Es wird schwerlich irgendwo ein ähnliches Symptom von politischer Verdorbenheit eines Volkes aufzuweisen sein. Montesquieu hat die Tugend, den uneigennützigen Sinn der Pflicht gegen den Staat, für das Prinzip der demokratischen Verfassung erklärt; in der englischen hat das demokratische Element ein bedeutendes Gebiet in der Teilnahme des Volks an der Wahl der Mitglieder des Unterhauses, – der Staatsmänner, welchen der wichtigste Teil der über die allgemeinsten Angelegenheiten beschließenden Macht zukommt. Es ist wohl eine ziemlich übereinstimmende Ansicht der pragmatischen Geschichtsschreiber, daß, wenn in einem Volke in die Wahl der Staatsvorsteher das Privatinteresse und ein schmutziger Geldvorteil sich überwiegend einmischt, solcher Zustand als der Vorläufer des notwendigen Verlustes seiner[85] politischen Freiheit, des Untergangs seiner Verfassung und des Staates selbst zu betrachten sei. Dem Stolze der englischen Freiheit gegenüber dürfen wir Deutsche wohl anführen, daß, wenn auch die ehemalige deutsche Reichsverfassung gleichfalls ein unförmliches Aggregat von partikulären Rechten gewesen, dieselbe nur das äußere Band der deutschen Länder war und das Staatsleben in diesen in Beziehung auf die Besetzung und die Wahlrechte zu den in ihnen bestandenen Ländern nicht solche Anomalie wie die erwähnte, noch weniger jene alle Volksklassen durchdringende Eigensucht in sich hatte. Wenn nun auch neben dem demokratischen Elemente das aristokratische in England eine so höchst bedeutende Macht ist und es den rein aristokratischen Regierungen wie Venedig, Genua, Bern usf. zum Vorwurfe gemacht worden, daß sie ihre Sicherheit und Festigkeit in dem Versenken des von ihnen beherrschten Volks in gemeine Sinnlichkeit und in der Sittenverderbnis desselben finden, und wenn es ferner selbst zur Freiheit gerechnet wird, seine Stimme ganz nach Gefallen, welches Motiv [auch] den Willen bestimme, zu geben, so ist es als ein gutes Zeichen von dem Wiedererwachen des moralischen Sinnes in dem englischen Volke anzuerkennen, daß eines der Gefühle, welche das Bedürfnis einer Reform herbeigeführt, der Widerwille gegen jene Verderbtheit ist. Man wird es gleichfalls für den richtigen Weg anerkennen, daß der Versuch der Verbesserung nicht mehr bloß auf moralische Mittel der Vorstellungen, Ermahnungen, Vereinigung einzelner Individuen, um dem Systeme der Korruption nichts zu verdanken und ihm entgegenzuarbeiten, gestellt werden soll, sondern auf die Veränderung der Institutionen; das gewöhnliche Vorurteil der Trägheit, den alten Glauben an die Güte einer Institution noch immer festzuhalten, wenn auch der davon abhängende[86] Zustand ganz verdorben ist, hat auf diese Weise endlich nachgegeben. Eine durchgreifendere Reform ist um so mehr gefordert worden, als die beim Eintritt jedes neuen Parlaments aus Veranlassung der Anklagen wegen vorgefallener Bestechung veranlaßten Propositionen zu einer Verbesserung ohne bedeutenden Erfolg blieben, – als selbst der kürzlich gemachte, sich so sehr empfehlende Vorschlag, das wegen erwiesener Bestechung einem Flecken genommene Wahlrecht auf die Stadt Birmingham zu übertragen und damit eine billige Geneigtheit selbst [nur] zu einer höchst gemäßigten Abstellung der auffallendsten Ungleichheit zu bezeigen, durch ministerielle Parlamentstaktik besonders des sonst für freisinniger gepriesenen Ministers Peel wegmanövriert worden war und ein im Beginn der Sitzung des gegenwärtigen Parlaments genommener großer Anlauf sich darauf reduziert hatte, daß den Kandidaten verboten worden, Bänder an die ihnen günstig gesinnten Wähler ferner auszuteilen. Die Anklagen eines zur Wahlberechtigten Orts wegen Bestechung und die Untersuchungen und der Prozeß darüber waren, da die Mitglieder der beiden Häuser, welche die Richter über solches Verbrechen sind, in überwiegender Anzahl in das System der Korruption verwickelt sind und im Unterhause die Mehrzahl ihre Sitze demselben verdankt, für bloße Farcen und selbst für schamlose Prozeduren zu offen und zu laut erklärt worden, als daß auf solchem Wege auch nur einzelne Remeduren noch erwartet werden konnten.

Der im Parlament gegen Angriffe auf positive Rechte sonst gewöhnliche Grund, der aus der Weisheit der Vorfahren[87]bona fide