Die schweren Jahre ab dreiunddreißig
Herausgegeben von Klaus Bittermann
Mit einem Vorwort von Friedrich Küppersbusch
FUEGO
- Über dieses Buch -
Wiglaf Droste, mit 57 Jahren überraschend gestorben, wird gerne mit Kurt Tucholsky in einem Atemzug genannt. Er war in jedem Fall ein ebenso begnadeter Polemiker wie Dichter hinreißender Liebeserklärungen, ein mit den Nuancen der Sprache vertrauter Analytiker und ein unversöhnlicher Kritiker der politischen Verhältnisse und der Dummheit. Er hat an die 30 Bücher geschrieben, hat tausende von Lesungen und Veranstaltungen bestritten, hat dabei immer alles gegeben, er hat dabei weder sich noch andere geschont, denn das war für ihn die Voraussetzung von Literatur: »Den ganzen anderen Quatsch kann man lassen.« In diesem Buch erscheinen seine Texte, die für Furore sorgten und Debatten auslösten, wie »Als Schokoladenonkel unterwegs«, der ihm einen Boykott seiner Lesungen eintrug, »Mit Nazis reden?«, eine bereits vor 25 Jahren gegebene letztgültige Antwort auf eine aktuell diskutierte Frage, eine feine Liebeserklärung an »Die rauchende Frau« und »Die Rolle der Frau«, ein Zusammentreffen mit dem »Proletariat«, eine Reise um die Welt mit 80 Phrasen, die Wahrheit über den »Commandante Reduntante« aus der Konkret und viele andere unvergessene Evergreens.
Pressestimmen
»In dem liebevoll und kundig zusammengestellten Band gibt es einen Satz, der als Motto über Drostes Gesamtwerk stehen könnte: “Man muss durch das, was einen quält, hindurch, um es abhaken zu können”. Wenn man diese Sentenz recht bedenkt, dann versteht man, warum Drostes Texten die Abgeklärtheit fehlt.« (rbb Kultur)
»Eine Best-of Sammlung seiner wichtigsten und schrägsten Geschichten, zeitlose Klassiker, die in ihrer Ausarbeitung ihres Gleichen suchen. Bissige Texte, die sein herausragendes Talent erstrahlen lassen und tief gehen, weil es nötig ist. Klare Empfehlung.« (Gernot Recke, Kamikaze-Radio)
Friedrich Küppersbusch
WIGLAF DROSTE WURDE AM 27.6. 1961 in Herford entbunden, und diese verheißungsvollste Katastrophe im Leben eines Menschen – die Entbindung – sollte sich für ihn noch oft wiederholen. Allein die taz hat ihn dreimal – von ihrer Medienseite, seiner Freitagskolumne und seinem Job als Redakteur – entbunden. Wiglaf Droste saß länger im Knast als Johnny Cash. Elf Tage in Moabit, nachdem er zum 1. Mai 1988 als Reporter von engagierten Berliner Polizisten knüppelharte Statements eingeholt hatte. 2100 Mark Geldstrafe wurden gegen ihn verhängt, als er zehn Jahre später selbst über die Wunder der Menschwerdung räsonierte: wie könne es kommen, »dass einer, der wahrscheinlich als Mensch geboren wurde, das werden konnte – ein Feldjäger«.
Droste kam, dafür gibt es Augenzeugen, nachweislich als Mensch zur Welt. Und stellte sich fortan der ungleich schwierigeren Aufgabe, das auch zu bleiben. Diese wenigen Pinselstriche genügen bereits, zu zeigen, wir hart es sein kann, einen ausgewachsenen Droste als Mensch durch die Zeit zu bringen.
Wie der Name schon sagt: Wiglaf. Das Lied vom »Boy named Sue« des für Droste sehr respektablen Johnny Cash erzählt die Geschichte eines vaterlos aufwachsenden Jungen. Ihm wurde der Mädchenname »Sue« übergeholfen, damit er trotzdem ein harter Killer würde.
A boy named Wiglaf folgte diesem Gesetz gleich mit seiner ersten Singleveröffentlichung, dem legendären »Grönemeyer kann nicht tanzen«: Der Mann heißt mit vollem Namen Herbert Arthur Wiglev Clamor Grönemeyer, tatsächlich auch: Wiglev, und das klingt schon stark nach »this town ain’t big enough for the both of us«. Jedenfalls war damit auch der Musiker, Sänger, Rezitator Droste auf der Welt, der später mit dem Spardosen-Terzett, Danny Dziuk, Funny van Dannen musizierte. Wiglaf durchfurchte schadlos die Schulhofrufe nach westfälisch »Wiechlaff« oder kurz »Wiggi«. Bei Harry Potter taucht noch ein Wiglaf auf, und in der altsächsischen Beowulf-Sage. Dort ist es der junge schwedische Recke, der dem Titelhelden beim Angriff auf den Drachen als einziger zur Seite steht. Wäre dies die wahre Wurzel der Benamung, hätte die Familie Droste einen anderen Sohn auch gleich Beowulf nennen können. Was sie taten.
An der Berliner Universität hielt sich Droste knapp länger auf als im Moabiter Knast. Nach 5 Wochen »Publizistik und Kommunikationswissenschaften« entließ er die Uni in eine ungewisse Zukunft. Im März 1988 beging der taz-Lokalteil den Internationalen Frauentag mit der Abbildung einer Banane in einer Vagina. Was wiederum die weibliche Belegschaft der taz mit einem »Frauenstreik« beging. Worauf wiederum der just erst angedockte Droste seiner Aufgaben ledig war und sich der Erfindung des Poetry Slams widmen konnte. Nachdem Thomas Kapielski im Blatt eine überfüllte Disco als »gaskammervoll« beschrieben hatte, wofür es damals überraschend keinen Echo-Musikpreis gab, versuchte Droste dem Kollegen beizustehen und kommentierte den Streit als »Endlösung der Dudenfrage«. Im »Café Central« am Nollendorfplatz begründeten die taz-Dissidenten daraufhin die »Höhnende Wochenschau«, eine papierlose Zeitung, von Autoren tagesaktuell ins Publikum gelesen; Jahrzehnte bevor der moderne »Dichterwettstreit« der Textindustrie jäh die Milch einschießen ließ.
»Kommunikaze« betitelte er sein erstes Buch um diese Zeit herum; da es inzwischen über dreißig sind, könnte man ihm auch einen Literaturpreis nur für die besten Buchtitel verpassen: »Begrabt mein Hirn an der Biegung des Flusses«, »Die schweren Jahre ab 33«, »Auf sie mit Idyll« oder »Die Würde des Menschen ist ein Konjunktiv«. Das riecht nach Erfolg, die Zeit adeltadelte Droste als »linksradikale Skandalnudel« und »Heimatdichter der linken Szene«. – Sowas konnte nicht ungesühnt bleiben. In die Titanic drosch Droste seinen Text vom »Schokoladenonkel«, plädierte wuchtig, nicht jeden Mann mit Schokolade am Kinderspielplatz zum Sexverbrecher hochzufiebern. Und reichte damit recht eigentlich den mäßigenden Stimmen in der Missbrauchsdebatte ritterlich den Arm. Buttersäureanschläge, Mahnwachen, Schlägereien bei Lesungen, Steckbriefe, drei Veranstaltungen gesprengt, zwei Veranstalter kniffen. Wiglaf musste hinnehmen, dass er, der erfahrene Beamten- und Bundeswehrbeleidiger, unter Saalschutz las. Er ficht mit dem Säbel, sticht mit dem Florett, schreiben Rezensenten, und zugleich bestaunt man die jähe Wut, die aus Droste hervorbricht, wenn der Rest der Welt gesinnungsgemütlich im Eigenmief dämmert. Er ist eben kein Kirmesschläger, der sich vom Gaudium des Publikums zum Schlachtfest anstacheln ließe.
Wo andere zaghaft ein Fenster spaltbreit öffnen, springt er hindurch, und was dann hinterher blutet, ist nicht selten er selbst. Warum er das tut – Gewalt wittert, wo andere noch schunkeln; gewaltig austeilt, wo der sanfte Ordnungsruf als Hochliteratur gilt – das wurzelt in Wiglafs Wissen um Verletzung. Droste mag, wie die Süddeutsche schrieb, »der Tucholski unserer Tage« sein – ganz sicher beherrscht er die Zärtlichkeit des Holzhammers, ist ein Hooligan der Inbrunst, und manchmal leider untröstlich und selbstzerstörerisch im falschen Trost. Sehen Sie Wiglaf Droste in seiner Lebensrolle: »Der Unumarmbare«.
Doch morgens um sechs ist die Welt noch in Dortmund. Womit die abseitigen Neigungen Wiglafs in einer Nussschale summiert sind: Borussia Dortmund, Wortspiele, und früh aufstehen. Ein Mann, der unverdrossen einen BVB-Anstecker an allen Konfektionsgrößen seines diesbezüglich abwechslungsreichen Lebens getragen hat, erlebte den Ballspielverein als eine Welt des guten Glaubens und der Hoffnung auf auch in dieser Höhe verdiente Auswärtssiege – leider in den Händen der falschen Geschäftsführung. Das ähnelte Wiglafs Blick auf den Rest des Universums. Mitunter noch vor sechs Uhr gab er sich die Ehre, den ersten Sonnenstrahl eines liebevollen Gedankens ungehemmt durch sich hindurch auf’s Papier fluten zu lassen: Über gutes Essen, über wundervolle Frauen. Oder er räumte umsichtig einen aktuellen Sprachunfall von der Straße, noch bevor wir daran verunglücken konnten. Oder er liebte einfach: Peter Hacks, Dashiell Hammett, Vincent Klink oder den großen Bär Harry Rowohlt.
Dessen ehernes Gesetz, wonach man sich dereinst für jeden ausgelassenen Kalauer vor Gott zu verantworten habe, reichte Wiglaf großzügig an Freunde aus, ein Rettungsring für strauchelnde Dichter. Droste selbst machte keine Kalauer; vielmehr werden durch ihn Formulierungen zu Drostizismen. Klassiker wie die von den »leider nicht mehr sterblichen Gefährten« wie eben Rowohlt, Meisterschmähungen gegen eine Welt voller »Friseure, die sich für Gehirnchirurgen« ausgeben. Und wunderbar, wenn das von Wiglaf Gemeinte sich Bahn brach aufs Papier ohne Rücksicht auf den dann lächerlichen Umstand, dass es diese Worte vorher noch gar nicht gegeben hat: »gneisen«, oder »jabbeln« schrieb er – nein, er »schrub«, oder wie Sigmar Gabriel »vor sich hin leberwurstet«, oder eben Feldjäger mit »Waschbrettköpfen«. In seiner dann plötzlich letzten Kolumne in der taz beschrieb er diesen göttlichen Moment der Wortwerdung:
»Es kam aus dem Leben selbst zu mir, legte sich auf meine Zunge und verlangte, als Wort geboren zu werden. Ich erfüllte dem Wort seinen Wunsch, sprach es aus und entließ es in die Welt: Trittbrettficker«.
Die Kolumne erschien dann bereits in der jungen Welt, für deren Feuilleton er seit 2011 fest frei schrieb. Die Wuchtschmähung »Trittbrettficker« münzte er auf die »Gesellschaft für deutsche Sprache«, der als »Wort des Jahres 2006« nur »Fanmeile« eingefallen war. Wiglaf hingegen war der Solitär für deutsche Sprache, ein »Häuptling Eigener Herd« im Sprechen und Schreiben wie im Speisen. Mit Vincent Klink versah er diese Papier gewordene Appetitlichkeit viele Jahre, dichtete über Wurst, Wein, Weihnachten. Die »kulinarische Kampfschrift« erschien so »vierteljährlich wie möglich«, denn man kann nichts schreiben, was man nicht gegessen hat. Da schwärmte der drastische Droste, dichtete Hymnen, ließ einem Wasser in Mund und Augen treten.
Hier also umarmte Wiglaf Droste – in der Kunst, in der Literatur, der Musik, in der Küche und im Lieben und im Leben. An diesen Mut zum Guten, den Wiglaf vorlebte, werden wir uns heute tapfer und unerschrocken halten. Wir wissen, dass Nähe für Droste kein leichtes Geläuf war. Doch was bleibt uns, wenn wir das Glück hatten, einem Großen zu begegnen, auch wenn er jeden Hauch eines falschen Tons der Nähe nachgerade drostoid wegzurempeln verstand? Wir schulden es ihm, was immer daraus folgen mag. Es muss ja doch gesagt werden: Lieber Wiglaf, Du warst ein Großer!
Foto: Sunhild Pflug
NIEMALS BIN ICH EIN ANHÄNGER jenes weitverbreiteten Irrglaubens gewesen, man müsse in all die Mitmenschen, mit denen man zufälliger- und dummerweise verwandt ist, auch noch verliebt sein; seit sich aber nach einer langen Zeit des Exils vom familiären Schrecken immer häufiger Gesichter und Erinnerungen in Tag- und Alpträume hineinschleichen, gestehe ich mir doch die achselzuckende Fügung in die Einsicht zu, dass man seinen Wurzeln allenfalls bedingt entfliehen kann.
Besonders häufig, mitunter sogar recht gern, erinnere ich mich an den fünfzigsten Geburtstag meines Vaters. Dieser Tag erscheint mir heute als Kulminations- und Knotenpunkt meiner menschlichen Erfahrung; mit der Geballtheit aller Worte und Taten, mit der Wucht, die damals innerhalb nur weniger Stunden auf mich einhieb, erhielt ich wohl das Rüstzeug, um in den Fährnissen der menschlichen Gesellschaft zu bestehen.
Dabei ließ sich der festliche Akt zunächst eher harmlos an. Zwar hatten sämtliche Haupt-, Flach- und Nebenkräfte des Freundes-, Bekanntschafts- und Verwandtschaftslebens komplett ihr Erscheinen angedroht, und die gut einhundert Personen starke Meute tröpfelte auch nach und nach recht pünktlich ein, dennoch aber plätscherten die Gespräche zunächst eher zäh und gedämpft, und auch den alkoholischen Getränken wurde nur mäßig zugesprochen. Eine erste einschneidende Wendung erfuhr der Abend möglicherweise mit dem Eintreffen von Onkel Erich; dieser damals soeben in Rente gegangene knorrige Lastkraftwagenfahrer war in der gesamten Verwandtschaft gefürchtet für seine unablässig vor sich hin stinkenden Zehnpfennigzigarren und seinen schier unerschöpflichen Redeschwall, den er auf jedermann, dessen er nur irgend habhaft werden konnte, rückhaltlos ausgoss. Allein seine Frau, Tante Hilla, war in der Lage, ihn in seine Schranken zu verweisen: Mach doch den Kopp zu, du Tünsel! war die Zauberformel, mit der sie sich ihn erfolgreich vom Leibe hielt.
Onkel Erich jedenfalls begann augenblicklich nach seiner Ankunft einen ausladenden Bericht über seinen jüngsten Jugoslawienaufenthalt: Alles Knallköppe da unten. Keine Ahnung von Rasenmähen und Heckenschneiden. Hab ich ihnen aber alles beigebracht, und nach zwei Wochen spurten die Brüder piccobello. Währenddessen hatte er taktisch geschickt seinen Schwager, Onkel Horst, in eine Ecke des Sofas gedrängt und sich massig halb in ihn hineingedreht, um sich für die nächsten Stunden wenigstens einen Zuhörer fest zu sichern; Onkel Horst aber gehört zu jenen Menschen, die vor den sozialen, kulturellen und ethnischen Konflikten der Welt und ihrer Bewohner die Augen zu verschließen nicht bereit sind; das wie lapidar hervorgestoßene Jugoschlawen, Jugoschlawen seines Gegenübers Erich fand daher durchaus nicht seine Zustimmung, nennenswerten Widerspruch aber wagte er keinen, sondern griff wie schicksalsergeben zu einer von eben jenem Jugoslawienaufenthalt mitgebrachten Literflasche Slivowitz, schüttete sich ein großes Glas ein, schmetterte dieses auf einen Schlag hinab und goss augenblicklich nach, während Onkel Erich mit meckerndem Lachen die Geschichte erzählte, wie er bereits vor einigen Jahren seinem Nachbarn, während dieser einige Monate verreist war, den Garten in Schuss gehalten und dort sogar mal richtig klar Schiff gemacht hätte; ganze Anhänger voller Unkraut hätte er ausgerissen und weggeschafft, geschuftet wie ein Berserker hätte er, bis überraschend früh der Nachbar wiedergekommen sei und augenblicklich auf ihn eingezetert habe, er sei Botaniker und züchte seltene Pflanzen, zigtausend Mark Schaden usw., von wegen seltene Pflanzen, alles gammeliges olles Kroppzeug, hähä, polterte Onkel Erich.
Nur wenige Plätze weiter juchzte Tante Frieda, schwer gallekrank und strikt auf Diät gesetzt, Ach was, nur ein kleines Likörchen, das schadet doch nicht auf ihre Tochter Hannelore ein, die mit den prophetischen Worten Frieda, morgen ist Galletag ein- und später auch bereitwillig nachschenkte; vor dem nach einigen Stunden sich dann zügig abspulenden Debakel Oh! Bin ich schlecht! Bin ich schlecht! Ich hab Malheur gemacht! aber hatte Tante Frieda zunächst noch Gelegenheit, über ihre Schwägerin Luise herzuziehen, die seit dem Tod ihres Mannes vor sechs Monaten bereits sieben Heiratsanzeigen aufgegeben hatte: Die ist doch vom Stamme Nimm! Willi war noch nicht kalt, da hatte die schon drei Neue!
Inzwischen war auch meine Großmutter, im folgenden auch Omma bzw. Omma Kotsch genannt, eingetroffen, eine übermäßig rüstige, hektische und ruhelose Person, wie ja überhaupt unseren Greisen immer häufiger ein wütendes Nichtruhegebenwollen, ein Hang zum ewigen Weiterramentern eigen geworden ist – ich sage nur: Trude Unruh, Graue Panther und alles! – meine Omma jedenfalls hatte bis zu ihrem späteren unfreiwilligen Ausscheiden einen Hauptanteil am Scheitern bzw. eben auch Gelingen dieses prächtigen Abends. Aus einer völlig zerrütteten Ehe inklusive Scheidung hatte sie schon vor Jahren die originelle Schlussfolgerung gezogen, Ehe und Familie allein seien die Horte irdischer Freude, die sie fortan schützen und bewahren zu müssen glaubte. Opfer dieses Trugschlusses waren in erster Linie meine armen Eltern, deren Glücksstern nach fünfundzwanzig Ehejahren durchaus schon etwas matter funkelte, als Omma Kotsch das wahrhaben wollte.
Zum fünfzigsten Geburtstag meines Vaters hatte sie eine mehrschichtige Säuberungsstrategie ersonnen; ihr Plan sah vor, im Obergeschoss des Hauses, in das sich die jüngeren Besucher, allesamt Freunde meines Bruders, zurückgezogen hatten, zu beginnen, das Feld quasi von außen her aufzurollen und dann ins Zentrum des Feindes vorzustoßen. Gegen zweiundzwanzig Uhr erschien sie, zunächst unter dem Vorwand, nur mal nach dem rechten sehen zu wollen, Habt ihr auch alles? Noch paar Kläpschen vielleicht? in der oberen Etage, wo mein im übrigen komplett volljähriger Bruder und seine Besucher zwischen heftigem Alkoholgenuss und Monopoly-Spielen hin- und herpendelten. Nur knapp zwanzig Minuten später tauchte sie erneut auf, diesmal bereits mit einem Plastikeimer in der Hand, in den sie rigoros den Inhalt der Aschenbecher wie auch der Weingläser hineinfeuerte und barsch erklärte, jetzt müsse Schluss sein, wenn die Eltern das wüssten, dieser Radau immer, um elf Uhr hängt die Hose kalt am Bett!
Mein Bruder, von diesem Frontalangriff völlig überrumpelt, ja übertölpelt, leistete zunächst keinerlei Gegenwehr, einer seiner Freunde allerdings konnte sich ein heftiges Grinsen nicht verkneifen. Er brauche hier gar nicht zu grienen, fuhr ihn meine Omma augenblicklich an, Was wollen Sie überhaupt hier, Sie feister, speckiger Kerl? Dem so Angeredeten verschlug es blitzartig die Sprache, meine Omma aber, von ihrem zweifachen Punktgewinn beflügelt, knottete, paukte und drosch nun völlig enthemmt auf die Monopoly-Truppe ein. Was haben Sie hier verloren? Sie sind doch schon durch alle Betten gegangen! mähte sie die Freundin meines Bruders nieder, und Lassen Sie das stehen. Sie sind hier nicht auf dem Sozialamt! riss sie einem weiteren Gast ein Schälchen Erdnüsse jäh aus den Fingern.
Auch im Erdgeschoss hatte unterdessen der Nahkampf begonnen. Onkel Karlheinz, der allgemein »Doktor« genannt wurde, weil sein Vater während des Zweiten Weltkriegs als Trichinenbeschauer gearbeitet hatte, hatte sich nach dem zügigen Austrinken einer Flasche Korn erhoben und fragte, wie auf jeder Feier, mit gespielter Arglosigkeit: Kennt einer von euch den Taucher? Wie immer lautete auch an diesem Abend die scheinheilige Antwort: Den Taucher? Nee. Kennwanich, woraufhin Karlheinz in Positur schwankte, um eine unglaublich schmutzige Version der Schiller-Ballade von sich zu geben, soweit seine Trunkenheit dies überhaupt noch zuließ, und im folgenden ein Füllhorn heillosen Gestammels auf seine natürlich begeisterte Zuhörerschaft herunterzupeitschen.
Der Plan meiner Omma trat mittlerweile in seine zweite Phase. Nach dem Blitzsieg im Obergeschoss näherte sie sich nun bedrohlich der zweiten Etage, in diese aber hatten sich, zum Zwecke des wechselseitig aneinander zu vollziehenden Geschlechterverkehrs, ein weiterer Onkel dieser an Onkeln und Tanten so überaus reichen Familie, Onkel Rolf, zweiter Schwiegersohn meiner Omma, sowie eine ebenfalls durchaus verheiratete Nachbarin, deren Ehemann sich im Erdgeschoss zielstrebig zutrank, zurückgezogen, was wiederum meinem Bruder nicht verborgen geblieben war. Dieser eilte nun, um das Schlimmste, das Auffliegen der außerehelichen Verschränkung, die im allgemeinen Gewühl bisher verborgen geblieben war, zu verhüten, in die mittlere Etage und hämmerte, meine Omma schon hinter sich wähnend, wie von Furien gehetzt, an die Tür des Gästezimmers, Macht euch nicht unglücklich! Macht euch nicht unglücklich!, sprang wieder zurück auf die Treppe, um meine Omma abzufangen, in Schach zu halten und unter fadenscheinigen Begründungen ein Stockwerk weiter zu schicken, jagte, nachdem dies trotz des geradezu notorischen, ja ins Medizinische schon lappenden Misstrauens der alten Frau erstaunlicherweise glückte, wieder zurück, mahnte und drangsalierte die Eingeriegelten zur sofortigen Aufgabe ihrer unseligen Unternehmung, was ihm schlussendlich sogar gelang, und riet dem mit strubbeligen Haaren unfroh und mürrisch in der Tür erscheinenden Paar dringend, es möge sich doch zunächst im Garten verstecken – ein ganz und gar widersinniger, wenn nicht sogar teuflischer Ratschlag, dem zumindest mein Onkel unverständlicherweise auch noch Folge leistete; er wurde in den frühen Morgenstunden in den dichten Tannen des Nachbargartens stehend und heiser Ist die Luft rein? wispernd angetroffen. Dass die Geschichte nicht herauskam, hatte er allein dem Umstand zu verdanken, dass seine Ehefrau sich derartig mit diversen Alkoholika vollgesogen hatte, dass sie unentwegt davon faselte, sie müsse das Robbenfleisch anbraten, Robbenfleisch für dreißig Polen, eine Behauptung, die ihr aber bei bestem Willen und stärkster Angetrunkenheit keiner der übrigen Gäste abnehmen wollte, so dass sie sich schließlich selbst in den Schlaf salbaderte und schnarchend zwischen zwei Verwandten minderen Grades einschlief.
Im Zentrum des Geschehens war mittlerweile Onkel Erich beim Russlandfeldzug angelangt; hier aber verweigerte ihm die streng sozialdemokratisch orientierte und gesonnene Verwandt- und Besucherschaft kollektiv das Gehör. Das einzige, was du noch hochkriegst, ist der rechte Arm! johlte ohne jede familiäre Rücksicht seine Ehefrau, Tante Hilla, die es wissen musste, und brach in haltloses Geschepper und Gequietsche aus.
Mein Bruder, jeglicher Rettungsaufgaben enthoben, war indessen in die Fänge des Geschäftsführers einer Küchenmöbelfabrik geraten – im Ostwestfälischen gibt es, nebenbei bemerkt, mehr Küchenmöbelhersteller als potentielle Käufer dafür, aber die Geheimnisse und spezifischen strukturellen Probleme dieser Branche können hier leider nicht weiter vertieft und erläutert werden –; jener Geschäftsführer nun quallte, im Furor und Feuer der in seinen aufgeblähten Leib hineingeworfenen Getränke auf meinen Bruder, einen eher unpolitisch vor sich hinlebenden Vertreter des laisser faire, des laisser passer ein, was er denn wolle, ja, was überhaupt alle wollten, Was wollt ihr eigentlich, ihr Linken? teufelte er, woraufhin mein Bruder sich augenblicklich hinter einem Glas verschanzte, wobei ihm sein Patenonkel Heinz heftig zur Seite sprang bzw. torkelte, er, der blöde Fabrikantenarsch (was im übrigen nicht einmal zutraf, handelte es sich doch nur um den Geschäftsführer), solle die Jugend zufriedenlassen, wobei er mit großer, schwungvoller Geste einmal ins Runde zeigte, obwohl dort keinerlei Vertreter irgendwie gearteter Juvenilität, sondern nur ein Trupp grau-erloschener Nachbarn auszumachen war, dies seien die Garanten der Zukunft, jawohl, plötzlich heftig schluchzend meinen Bruder umklammerte und Ihr seid die Garanten der Zukunft! jaulte, ein Satz, von dem er sich für den Rest des Abends nicht mehr trennen noch verabschieden wollte.
Neben diesen einigen wenigen Ausfällen hielt sich der Rest der Gäste noch erstaunlich senkrecht, ja, es konnte durchaus von einer aufgelockerten, heiteren Partystimmung gesprochen werden; die ausgesprochen russische Atmosphäre weinender Männer, Selbstbezichtigungen usw. machte sich, zumindest zu diesem Zeitpunkt, allenfalls an den Randbereichen bemerkbar, aber nun, taktisch äußerst gewieft, brachte meine Omma den letzten Teil ihres Plans zur Ausführung. Auf dem Weg zum jetzt recht häufig frequentierten Bad nämlich lauerte sie den mehr oder weniger geschwächten, angeschlagenen Gästen auf, um ihnen mit Grabesmiene und -stimme mitzuteilen, meinem Vater gehe es sehr schlecht, ach, es iss was, es iss was, jammerte sie, er sei schwer krank, hinfällig und eigentlich so gut wie tot, habe aber natürlich das geplante Fest nicht absagen wollen, Hach, diese Aufregung! Diese Anstrengung! Diese Strapazen! zeterte die alte Frau nun völlig unverhohlen, Es ist besser, wenn Sie jetzt alle gehen!
Ihr heimtückisches Geschwätz führte rasch zu einem stetigen Aufbrechen Dutzender von Gästen, die sich besonders warm, herzlich, ja, pietätvoll beinahe, von ihrem Gastgeber, meinem überaus vitalen und kerngesunden Vater, verabschiedeten, was ihm bis heute den gänzlich ungerechtfertigten Ruf eines Teufelskerls eingebracht hat, der, obwohl mit dem Tode ringend, noch zu feiern verstand wie kein zweiter.
Meine Omma aber kauerte noch immer hinter einem Treppenabsatz und zischelte Düsteres auf ihre Opfer ein, bis mein Vater, der irgendwie Unrat witterte, sie entdeckte, als sie gerade wieder ihre monströse Lüge auf ein schon besorgt mit den Köpfen wackelndes Nachbarnehepaar häufte, woraufhin er, nicht bange, sie kurzerhand packte, schulterte, die Treppe hinaufschleppte, ruckzuck in ein Zimmer sperrte und den Schlüssel für immer fortwarf – zu spät allerdings, die böse Saat meiner Omma war längst aufgegangen. Das Haus leerte sich, und nur Tante Martha und Onkel Paul, die sich in fünfzig Jahren Ehe alles gesagt hatten, was es zu sagen gab, hockten noch mürbe in einer Ecke und kuckten Löcher in die Luft. Hä-ä, hä-ä, sagte Tante Martha, Hä-ä-ä, hä-ä-ä, antwortete Onkel Paul.
1989
BERLIN: EINSKOMMASECHS ODER einskommaacht Millionen Gründe, den Verstand – soweit vorhanden – zu verlieren, durchzutitschen, auszurasten, boing, crashbang. Dazu das Alles-große-Klasse-Gelabere, das wir schon zum Würgen auswendig können, von den Thatchers, Reagans, Kohls und ihren Schmalspurepigonen, den Diepgens, Wohlrabes und anderen Flachkräften des öffentlichen Dahinvegetierens; dazu die aus fahrbaren Metallcontainern wild abgekippten Fleischmassen, Kannibalenfutter mit Stadtplan in der Hand, und wenn die Gruppe nur mindestens Dutzendstärke hat, ist alles wunderbar und geritzt; dazu das Klimakteriumsklima, Leichenwetter hätte Marlowe gesagt, irgendwas knallt zu heftig in die Köpfe runter, und dann badet plötzlich einer in anderer Leute Blut.
Friedliebendster Stimmung hockt man am späten Abend im Cafe, schlürft und plappert und schwatzt, da kommt auf einmal einer ohne Ventile rein, Wollmütze, Sonnenbrille, Sauerkrautbart, de Niros Taxi-Driver-Kram, nimmt die Brille ab und stiert. Und schweigt. Und stiert. Minutenlang, ohne jeden Ausdruck zwischen den Ohren. Bis es einem zu blöde wird und man wegkuckt, aus den Augenwinkeln aber noch rüberlinst, ja, er glotzt noch, der Junge hat Ausdauer. Und plötzlich reißt er dieBrille über die Augen, springt vom Hocker und wetzt nach draußen auf die Straße. Ssst, weg isser.
Der nächste Tag, ein anderer Stadtteil, schlendern, nixtun, in einen Stuhl gleiten, Seele baumeln lassen. Auch unser Überdruck-Mann ist wieder da, ohne Mützchen und Brille heute, zweihundert Meter noch entfernt, aber man hört ihn brüllen, »Ihr Arschlöcher! Ihr Schweine!«, ganz ungezielt-gezielt an alle geht das, die Arme rudern in der Luft, die Beine schlenkern und die Fäuste kloppen ins Leere.
Er kommt näher und krakeelt und tobt und teufelt, »Drecksäue! Ihr widerlichen Schweine!«, sein Überdruss-Repertoire ist begrenzt, woher soll’s auch kommen, es gibt ja keine Kultur des Schimpfens, bloß das wohlfeile unterdrückte Geseimel, die öde Vernünftelei und maximal einen verlogenen, nie so gemeinten Ansatz angeblicher »Streitkultur«, so spannend wie ein Tässchen Tee mit dreißig alten Schnepfen.
In geringem Abstand passiert der Nachwuchsbrüllo das italienische Cafe, »Ihr braucht gar nicht zu glotzen, ihr feisten Säcke!«, obwohl niemand kuckt oder höchstens nur ein bisschen, »Soll ich da mal hinkommen? Ich komm da jetzt mal hin!«, spurtet er blitzschnell aufs Lokal zu, bremst einen halben Meter vorm Nebentisch und geht zur Einzelbeleidigung über, »Du Macker! Du Scheißtyp! Du Wichser!«, insultiert er einen gänzlich überraschten Gast mittleren Alters, der ihn erstarrt-entgeistert ansieht und nicht weiß, wie ihm geschieht; der andere zwängt sein Gesicht in das des Gegenübers und kaut ihm fast ein Ohr ab, »Du mieses Schwein!«, nein, die Wahl seiner Mittel ist wirklich extrem begrenzt. Fluchend und schattentretend stürzt er weiter, und als er schon ein paar hundert Meter weitergezockelt ist, hört man noch sein Gezeter und Gemaule.
Traurig seufzend blickt man ihm nach, dem Amateur, dem Anfänger; zwar atmet er den rechten Geist, allein, es fehlt an Unterweisung. Unsere kleine Kulturaffenstadt schläft den großen Schlaf, und die Hohe Kunst der tödlichen Beleidigung verstirbt.
Zweitausend Jahre Kultur umsonst, schüttelt der italienische Wirt den Kopf hinter der Gebetsmühle auf Beinen her, und er weiß gar nicht, wie recht er hat.
1988
SIE LEBEN MITTEN UNTER UNS und doch am Rande der Gesellschaft: Geschlechtsverkehrer.
Ihre tückische Krankheit wird in Liedern bagatellisiert, ihre Sucht mit lockeren Sprüchen und Witzchen verharmlost. Doch Millionen Menschen in diesem Land sind schon heute betroffen, und täglich erhöht sich ihre Zahl.
Als M. mich vor wenigen Stunden anrief und um ein Gespräch bat, wusste ich noch nicht einmal von der Existenz der »Anonymen Geschlechtsverkehrer«. Jetzt stehe ich gespannt und beklommen
Transpirierend und beklommen
ist er vor die Tür gekommen
Ach, sein Herz das klopft so sehr
doch am Ende klopft auch er
(Wilhelm Busch)
vor der Tür einer Kreuzberger Hinterhauswohnung. Ein bärtiger Mittdreißiger öffnet, schüttelt mir herzlich die Hand und stellt sich mit »Du, ich bin der M.« vor.
In einem großen Raum ist ein gutes Dutzend Leute versammelt: »Anonyme Geschlechtsverkehrer«, ihre Angehörigen und Betreuer. Auf den Tischen stehen Knabberschälchen mit bunten Psychopharmaka. Menschen aller Altersgruppen und sozialen Schichten sind hier versammelt, Menschen, deren Wege sich nie gekreuzt hätten, verbände sie nicht die eine Sucht: Geschlechtsverkehr. Oder, wie B. sagt, »dieses gottverdammte Ficken«. B. ist Angehörige.
»Ich habe jahrelang danebengelegen und von nichts gewusst. Weil ich von nichts wissen wollte!« gesteht sie mit bitterer Stimme und legt ihren Arm um J.s Schulter. J., ein zerrüttet wirkender Brillenträger, ist ihr Ehemann. Sechs Jahre waren die beiden verheiratet, bevor B. seine Sucht bemerkte.
»Es war die Hölle.« J. spricht stockend und schwerfällig. »Am Ende habe ich es überall getan, in den Blumen, im Büroschrank, auf dem Weg zur Arbeit. Ich wollte es vor B. geheimhalten und alleine damit fertigwerden, aber es war stärker als ich. Als ich schließlich beim nüchternen Morgenverkehr war, wusste ich: Jetzt geht es auf Leben und Tod. Wenn B. nicht gewesen wäre ...«
Bei »Bürger bekennen: wir haben gefickt« sei er gewesen, berichtet K., aber dort sei man nur scharf auf Prominente gewesen. Ich erfahre von einem katholischen Arbeitskreis »Verkehr – Fluch oder Segen«, einem marxistischen Hochschulseminar »Der Geschlechtsverkehr als durchsichtiges Täuschungsmanöver der Bourgeoisie« und einer DKP-Liste »Einheitsfront Weg mit dem Ficken!« Überall aber habe man nur die Nöte und Bedürfnisse der Betroffenen ideologisch missbraucht.
So haben sie sich schließlich zu praxisnah orientierten Organisationen und Selbsthilfegruppen zusammengeschlossen. D., früher selbst Betroffener und heute ehrenamtlicher Helfer der Gruppe »Hand im Schoß«: »Wir können oft gar nicht viel tun. Zunächst zählt nur da sein, zuhören und aufwischen.« Ein Weinkrampf unterbricht ihn. Nur Satzfetzen sind zwischen den Schluchzern zu verstehen. »... alles ganz harmlos angefangen … nur mal so reinriechen ...«. Es ist erschütternd.
Tiefberührt verabschiede ich mich. Ja, ich werde berichten, ich werde darüber schreiben, ich verspreche es. Viele Hände muss ich schütteln bei diesem vorläufigen Abschied. Auf der Straße fällt mir die schummrige Beleuchtung in vielen Fenstern auf – es sind Schlafzimmerfenster. Mich fröstelt. Irgendwo dort draußen wartet eine Frau vielleicht auch auf mich.
1989
THOMAS KAPIELSKI IST NICHT ganz metapherndicht. »Gaskammervoll« nennt er in der taz vom 17.10.88 den »Dschungel«, natürlich gibt es einen Aufschrei der Empörung, »Ungeheuerlichkeit«, »Verharmlosung der NS-Verbrechen«, »Verhöhnung der Opfer« heißt es, aber da, und das ist ein berechtigter Vorwurf, will Kapielski nicht gewusst haben, was er getan hat. Wenn man ein Tabu bricht, um eine Diskussion in Gang zu bringen, muss man diese hinterher auch führen.
Kapielski hat in eine Eiterbeule hineingestochen, und jetzt brodelt es. Die Reflexe wollen ans Licht, pawlowsch die meisten. Sprache ist verräterisch: »Dass der Mord an den Juden kein Anlass für ein Wortspiel sein darf, steht nicht in Frage«, beginnt Klaus Hartung am 5.11. seinen Text »Wir sind nicht frei«; natürlich meint er nicht »Anlass«, sondern »Gegenstand« eines Wortspiels. Ein entscheidender Unterschied, zumal gerade Hartung Sorgfalt und Genauigkeit fordert und anderen »grenzenlose Verluderung« der Sprache vorwirft – der Halbalphabet als Sprachrichter in einer Debatte, in der wie so oft die Träne den Gedanken ersetzen muss und die Empörung das Argument.
Das Fürsichgepachtethaben der Moral soll aber nicht nur die sprachliche Labbrigkeit, die der geistigen entspringt, kaschieren helfen; hier zeigt sich zuallererst die Deformation derer, die vor zwanzig Jahren antraten, die Bundesrepublik Deutschland als direkten NS-Nachfolgestaat zu demaskieren und radikal zu verändern, und die dann mit demselben Staat ihren Frieden gemacht haben. Aus zornigen jungen Menschen wurden saturierte mitlaufende staatstragende Elemente, aus ihrer Anklage gegen ihre Nazi-Eltern wurde folgerichtig Hetze gegen alle, die es mit der Veränderung ernst meinen und sich nicht so billig und willig versöhnen lassen: wer etwa dem Teufel der Militanz nicht abschwört, gerät augenblicklich in den Verdacht »faschistischer Methoden« oder ihrer Rechtfertigung; Autonome werden als »neue SA« tituliert.
Die Opfer des Nationalsozialismus spielen im Eiertanz der x-mal Gebrochenen eine wichtige Rolle; kämpfte man einst gegen einen »Rechtsstaat«, in dem nazistische Herrschaftsmethoden nur leicht abgedämpft weitergeführt werden, in dem das Kapital aus praktischen Erwägungen von Faschismus auf »Demokratie« umgerüstet hat, so ist jetzt von Versöhnung die Rede, von Wiedergutmachung. Beides kann es nicht geben. Wie kann ein ermordeter Jude, Kommunist, Homosexueller sich versöhnen? Nichts kann ungeschehen gemacht werden. Verharmlost wird nicht von extrem rechter, sondern von liberaler und konservativer Seite, allen voran Richard von Weizsäcker mit seinen rituellen Sonntagsreden, die suggerieren, der Nationalsozialismus sei eine bedauerliche Entgleisung der Geschichte und nicht eine bei Bedarf jederzeit wiederholbare, perfekte Variante der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen; die breiigen Betroffenheitsvokabelmischungen eines Weizsäcker abzunicken, fällt niemand schwer, beruhigt aber ungemein und vermittelt das gute Gefühl, das Richtige zu denken, Hauptsache, es zieht keinerlei Konsequenz nach sich.
Besonders perfide ist dabei der Pachtvertrag mit den NS-Opfern, den mancher ehemalige Linke bzw. sich links Fühlender so gerne abgeschlossen hätte: jeder jüdische Mensch wird auf die Rolle des Opfers festgeschrieben, wird zum Haken, an den man sein Kreuz, den Schuldkomplex, hängen kann: vom ewigen Juden zum ewigen Opfer, ein Paria, ein Stigma auf Beinen, das man mit gesenktem Haupt zum seelischen Mülleimer degradiert, verzeih mir, verzeih mir: Tazionalsozialismus oder: die Fortsetzung des Holocaust mit liberal-humanistischen Mitteln.
Niemand von uns hat das Recht, in Ruhe gelassen zu werden mit Bildern von in Gaskammern qualvoll verreckenden Menschen; ein Kapielski, der diese Bilder mit einem dumpfen Vergleich wachruft, verharmlost und verniedlicht weniger als all die, die sich jetzt die Orden des Guten, Wahren und Schönen an die Brust heften. Dass die Debatte von Seiten ihrer Betreiber nur vorgeschoben ist, steht dabei noch auf einem ganz anderen Blatt. Die Rechtsstaats- und Revanchismus-Clique um K. Hartung, M.T. Mehr und V. Gaserow hat sich mit der Fraktion zur Rettung des sauberen Journalismus (»Nachrichtensicherheit«), einer berufsbetroffenen Frauenredakteurin und dem taz-Patriarchen Arno Widmann zur Koalition der SelbstgeRechten verbündet; nach Vorwürfen wie Unseriosität, Pornographie usw. fuhr man kollektiv das dickste Geschütz auf, und all die, die man zuvor schon nur mit gramverzogenem Mundwinkel ertragen mochte, wurden ruckzuck zu »Antisemiten« erklärt.
Wenn Mehrheiten Geschichte schreiben, kommt immer Geschichtsfälschung dabei heraus. Die taz-intern-Seite vom 4.11. ist ein Paradebeispiel für Verdrehung und Lüge. Zwar ist richtig, dass die beiden Redakteurinnen Sabine Vogel und Regine Walter-Lehmann sich trotzig bzw. steindumm verteidigt haben, der dramatische Schmierenauftritt V. Gaserows (»Ich will mit diesen Leuten nicht mehr arbeiten, heul schluchz buuuhuuuhuuu...«) bleibt aber ebenso unerwähnt wie differenziertere Stellungnahmen oder die Kopf-ab-Atmosphäre, in der aus Kolleginnen blitzschnell Delinquentinnen wurden. Sprache als Instrument der Selbstentlarvung: »Prozess« meint eben nicht das Procedere, sondern den kurzen Prozess, der im Brustton der Selbstgefälligkeit zum medialen Schauprozess ausgeweitet wird.
»Geschichtslosigkeit« wurde den beiden Redakteurinnen vorgeworfen; nach der »Gaskammervoll»-Versammlung aber rief taz-»Chefin« Georgia Tornow Regine Walter-Lehmann an und erklärte: »Wenn das alles vorbei ist, gehen wir beide mal essen.«
Überhaupt wimmelt es von Geschichtslosigkeiten in der taz: dass Hartung 1986 ihm unliebsame nachrotierende Grünen-Abgeordnete als »Parasiten der öffentlichen Hand« bezeichnet, wen kümmert’s? Dass Hartung Kritiker regelmäßig als »Denunzianten« bezeichnet? Auch egal, Hauptsache der Durchmarsch der taz-Rechten verläuft reibungslos, Sprachregelung inklusive. Wenn man statt von »Endlösung« von »Entsorgung« spricht, ist das die Endlösung eben nicht nur der Dudenfrage; wenn die Vokabel nur aseptisch ist, darf der Begriff so dreckig sein wie er will, so der Sprachkodex einer Zeitung, die außer dem täglichen Stillhalte- und Kapitulationsangebot an die Verhältnisse nichts mehr vorzuweisen hat.
Würden sich Hartung, Widmann & Co. an den für sich reklamierten moralischen Kategorien messen, sie müssten sich fristlos selbst entlassen. Widmann etwa kostet es allenfalls ein müdes Lächeln, zur Abrechnung mit seiner K-Gruppen-Vergangenheit mal eben lässig über 20 Millionen tote Russen hinwegzugehen; jetzt spielt sich der Bigott zum Chefankläger auf und nennt seinen Kollegen Mathias Bröckers »das Kriminellste vom Kriminellen«. Wer die Macht will, schafft sich eine doppelte Moral an, Menschenrechte ja, aber nur für rechte Menschen. Dass der taz-interne Machtkampf auf dem Rücken der NS-Opfer ausgetragen wird, zeigt, wo es hingeht mit der »neuen taz«: eine Widerwärtigkeit, die ihresgleichen sucht, aber so leicht nicht finden wird.
1988
HERBERT WAR HIER. IN BERLIN. Tempodrom. Total ausverkauft. Aber billig. Feiner Zug. Könnte mehr nehmen. Ist populär genug. Herbert hackt Sätze. Nuschelt. Klingt lustig. Auch irgendwie kaputt.
LP heißt »Sprünge«. Was meint er? Große Sprünge? Bochum-Hollywood? Sprung in der Schüssel? Weiß nicht. Kann nichts sagen. Angst. Deutschland. Kindheit: Vater Pils. Mutter Putzen. Alles total kaputt.
Herbert schmachtet. Balladen: »Gib mir den Schmerz zurück, ich brauch deine Liebe nicht.« Teenies toben. Tränen. Trauer. Wut.
Amerika: Entsetzlich. Thema zwei. Unberechenbar. Überheblich. Noch schlimmer als Deutschland.
Herbert ist klug. Mehr im Kopf als Publikum. Publikum ballt Faust. Ruft: »Buh«. Spendet Applaus.
Band ist gut. Wuchtig. Schlagzeuglastig. Schwer. Trocken. Bisschen schwülstig. Herbert lacht. Schwitzt. Winkt. Freut sich. Gibt, was er hat. Hat den Jaul, nicht den Soul. Klingt leicht abgestochen. Aber voll da.
Tanzen. Herbert kann nicht tanzen. Kein Rhythmus. Kein Körper. Sieht komisch aus. Krank. Hospitalistisch. Autistisch. Herbert hebt Zeigefinger. Ständig. Zeigt ins Publikum. Warum? Weiß nicht. Angst. Kann nichts mehr sagen. Aus.
1989
WENN MAN, HÄNDE AUF DEM RÜCKEN, unsere schöne Kulturstadt abschreitet und inspiziert, kann es einem passieren, dass ein Mitmensch ohne geeignete Ventile die Straße entlanggerast kommt, armerudernd, beineschlenkernd und die Fäuste ins Leere kloppend, Ihr Schweine! Ihr Schweine! kreischend, schattentretend und zeternd, wahllos und ungezielt verblüffte Passanten anblökend, eine Gebetsmühle auf Beinen ohne hinreichendes Überdrussrepertoire.
Woher soll es auch kommen? Die Hohe Kunst der tödlichen Beleidigung wird nicht gelehrt, und die Angebervokabel Streitkultur meint bloß das wohlfeile Kaffeekränzchengeschwätz des medialen Gewurschtels. Man trägt wieder Gürtellinie, am liebsten als Halskrause, ist von jeder Bagatelle erschüttert, findet jedwede Lebensäußerung unerträglich oder besser noch zynisch und menschenverachtend und ist grundsätzlich betroffen.