Joyce Summer
Madeiragrab
Kriminalroman
Eine Mordserie in Madeiras feinen Kreisen erschüttert die Atlantikinsel.
Nach einem feierlichen Dinner im elitären Golfclub der Insel liegt die Organisatorin am
Morgen tot auf dem Gelände. Hat sich die junge Frau durch ihr ausschweifendes Liebesleben Feinde gemacht? Oder war sie einem dunklen Geheimnis auf der Spur?
Comissário Avila hat eigentlich Besseres zu tun: Sein erstes Kind ist auf dem Weg. Doch statt mit seiner Frau Leticia Babybücher zu wälzen, sucht er in der High Society von Madeira nach einem Mörder. Und zu allem Überfluss stellt Leticia mit ihrer Freundin Inês ihre eigenen Ermittlungen an – und kommt dabei dem Mörder gefährlich nahe. Kann der Comissário seine kleine Familie retten?
Joyce Summer lebt ihren Traum mit Krimis, die in sonnigen Urlaubsorten spielen. Politik und Intrigen kennt sie nach jahrelanger Arbeit als Projektmanagerin in verschiedenen Banken und Großkonzernen zur Genüge: Da fiel es Joyce Summer nicht schwer, dieses Leben hinter sich zu lassen und mit Papier und Feder auf Mörderjagd zu gehen.
Die Fälle der Hamburger Autorin spielen dabei nicht im kühlen Norden, sondern in warmen und speziell ausgesuchten Urlaubsregionen, die die Autorin durch lange Aufenthalte gut kennt. Die Nähe zu Wasser hat es Joyce Summer angetan. Sei es in ihren Büchern, die immer Schauplätze am Wasser haben, oder im echten Leben beim Kajakfahren auf Alster und Elbe.
August 2017
Zweite Auflage: Juli 2019
Copyright Text
© Joyce Summer 2017
Umschlaggestaltung
Catherine Strefford | www.catherine-strefford.de - im Auftrag für BoD
Verwendung des Bildes „Madeira Hinterlands“ von acquimat4 / flickr.com mit farblichen Anpassungen unter Nutzung der Creative Commons Lizenz.
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Claudia Heinen
Joyce Summer
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Bereits erschienen:
Mord auf der Levada – Paulines erster Fall
Malteser Morde – Paulines zweiter Fall
Madeirasturm – Comissário Avilas zweiter Fall
Tod am Kap – Captain Pieter Strauss ermittelt
Paulines Weihnachtszauber – Eine weihnachtliche Kurzgeschichte
Comissário Fernando Avila – leitet die Abteilung »Brigada de homicídios« und kämpft sonst mit seiner neuen Rolle des werdenden Vaters.
Subcomissário Ernesto Vasconcellos – seine rechte Hand mit einer Schwäche für die Frauenwelt, Spitzname »Belmiro«.
Aspirante a Oficial Filipe Baroso – jüngstes Mitglied im Team.
André Lobo – Director de Departemento, Chef von Avila und seinem Team, wird auch »der Wolf« genannt.
Doutora Katia Souza – zuständige Gerichtsmedizinerin.
Leticia Avila – Ehefrau von Avila, stolze Katalanin und werdende Mutter.
Inês Lobo – Ehefrau von Avilas Chef und Leticias beste Freundin.
Francisco »Chico« Guerra – Anwalt und bester Freund von Vasconcellos.
Teresa Ferro – ehrgeizige Galeriebesitzerin mit wechselnden Herrenbekanntschaften.
Hugo Duarte – Mitinhaber in der Galerie.
Romario Palmeiro – Chef des neuen Flügels der Regierungspartei und Inhaber von »Palmer’s Winery«.
Vitor Marsh – Inhaber einer alteingesessenen Madeira Wine Lodge.
William Stuart jun. – aufstrebender Politiker und Erbe einer Aguardente Fabrik.
Kate Stuart – seine Schwester und derzeitige Freundin von Vasconcellos.
William Stuart sen. – Vater von William und Kate, Besitzer eines großen Aguardente Fabrik.
Cecil Franco – reicher alter Madeirenser.
Otavio Jesus – Kellner im Golfklub.
Aurelia Gomes – junge Madeirenserin, hilft bei Planungen im Golfklub.
Ignacio Coelho – Präsident des Golfklubs.
Tadeu Parry – Leiter des Privatkundengeschäftes in der Banco Central do Funchal und Golfpartner von Doutor André.
Jorge Rocha – alter Madeirenser.
Luana Alves – alte Madeirenserin.
At one side of the palette there is white, at the other black; and neither is ever used neat.
Winston Churchill
Zwischen dem Duft von Sand und frischem Gras kitzelte jetzt ein Geruch von Metall seine Nase. Feuchtes Schmatzen aus vielen Mäulern untermalte alles. Er wandte sich ab und blickte in Richtung Laurazeenwald.
Warum hatte sie das nur getan? Es war so perfekt gewesen. Sie hatte ihn endlich wieder glücklich gemacht. War wie eine Sommerbrise durch sein Leben geweht und hatte die Schwere, die sich auf seine Ehe gelegt hatte, vertrieben. Kurz nach der Hochzeit hatte es angefangen: Er verspürte keine Freude mehr, Milly zu berühren. Es ging nur noch darum, einen Erben für die Fabrik des Alten zu zeugen. Aber sooft sie es auch versuchten, Milly wurde nicht schwanger. Jedes Mal zu einer bestimmten Zeit im Monat kam er sich vor wie einer dieser Zuchthengste, der eine Stute bestieg. Ja, das war sie für ihn, nicht mehr als eine Stute. Es gab nicht mehr dieses prickelnde Gefühl, dass sie etwas Verbotenes taten. Im Gegenteil. In der großen Quinta hatten die Wände Ohren. Beim Liebesakt stellte er sich vor, wie sein Schwiegervater lauschte und hoffte, dass jetzt endlich der ersehnte Thronfolger kam. Er fühlte sich alt und verbraucht, trotzdem er noch nicht einmal dreißig war. Tagsüber schuftete er in der Fabrik, am Abend musste er zu Hause seinen Mann stehen.
Alles änderte sich, als sie in sein Leben trat: Órla. Der Name allein war ein Versprechen. Sie war die Enkelin irischer Einwanderer und ihr Name bedeutete »Goldene Prinzessin«. Und genau das war sie. Entgegen der Damenmode trug sie ihre rotblonden Haare offen. Sie fielen ihr in langen Locken über die Schulter. Es war das Erste, das er von ihr wahrgenommen hatte. Die langen Haare, die von der warmen Herbstsonne in ein rötlich schimmerndes Licht getaucht wurden. Im Hafen in Câmara de Lobos hatte er sie das erste Mal gesehen. Alleine, ohne Begleitung, kaufte sie von einem der Fischer getrockneten Bacalhau, den diese dort in großen Mengen an hölzernen Gestängen trocknen ließen. Gelblich-weiß hingen die Fischstücke in trockenen, ausgefransten Trapezen herunter. Und dazwischen stand Órla in ihrer goldenen Herrlichkeit. Unübersehbar. Unwiderstehlich.
Er zögerte nicht und ging direkt auf sie zu. Grüne Augen schauten ihn an, in ihnen spiegelte sich ihre Fröhlichkeit, die ihn die nächsten Monate wie in einem Traum davontrug. Órla tauchte alles um ihn herum in ein sanftes Licht, das auch die Risse in seiner Ehe überdeckte. Ob Milly etwas ahnte? Wenn es so war, ließ sie es geschehen. Auch sie merkte, dass die Unbeschwertheit aus ihren Anfängen zurückgekehrt war.
Bis dieser verdammte Tag kam. Órla hatte ihn gebeten, abends vor dem Ball noch einmal in ihr kleines Haus in der Nähe von Madalena do Mar zu kommen, das ihnen als Liebesnest diente. Als er ankam, fiel ihm gleich auf, dass etwas anders an ihr war. Ihre langen Haare waren verschwunden. Kurze, rötliche Wellen rahmten ihr Gesicht ein.
»Gefällt es dir?«
Er war fassungslos.
»Wieso hast du das getan?«
»Mein Leben wird sich von Grund auf ändern. Unser Leben. Wir müssen reden.«
In seinen Ohren war ein wütendes Rauschen, als er aus der Hütte stürmte.
Drei Tage später kehrte er zurück und tat, was getan werden musste.
Vorsichtig öffnete er das Gatter und schob mit der Schuhspitze die Reste auseinander. Das kehlige Schmatzen, gepaart mit dem leisen Grunzen wurde unterbrochen. Köpfe hoben sich kurz, dann beugten sie sich wieder herunter und es ging weiter. Sie waren noch nicht fertig, aber der Rest würde in den nächsten Stunden verschwinden.
Leise schloss er das Gatter hinter sich und ließ sie ihre Arbeit zu Ende bringen.
Avila zerrte an Ursos Leine. Der Hund hatte unter einem Auto etwas Interessantes entdeckt und wollte sich nicht davon losreißen.
Anstatt seinem Herrchen zu gehorchen, versuchte der Golden Retriever, unter das Auto zu gelangen. Avila drückte auf den Knopf der Leinenrolle, um Urso ein bisschen mehr Freiraum zu lassen. Das war ein Fehler. Urso fing an zu bellen und zog mit aller Macht. Avilas Unterarm ratschte am Spoiler des Autos entlang. Verdammter Mist! Ein klaffender Riss über den halben Arm. Eine schwarze Katze schoss unter dem Auto hervor, sprang mit einem Satz auf die mannshohe Mauer des nächsten Grundstückes. Sofort erklang ein zorniges Bellen aus mehreren Hundekehlen. Auch auf diesem Grundstück gab es Wachhunde. Urso war mittlerweile wieder unter dem Auto hervorgekommen, nicht ohne die Leine einmal um den Reifen zu wickeln. Jetzt stand er vor der Mauer und bellte die Katze an. Avila merkte, wie sein Stresspegel stieg. Er hasste es, Urso in ihrem Viertel auszuführen. Überall gab es Hunde und Katzen. Und die meisten Hundebesitzer führten nicht wie Leticia und er ihr Tier an der Leine. Nein, ab und zu wurde das Tor geöffnet und die Hunde rannten auf die Straße.
Es gab eine Hündin im Viertel, die ständig durch die Straßen streunte und äußerst aggressiv war. Jedes Mal, wenn sie in ihren Umkreis kamen, fing Avila an zu schwitzen. Auch heute Morgen ertappte er sich dabei, dass er sich ständig umdrehte und nach diesem verdammten Mistvieh Ausschau hielt. Wieder einmal fragte er sich, wie seine Frau, die doch viel zierlicher und kleiner war als er, es schaffte, sich vor dieser Hündin Respekt zu verschaffen. Zumindest erzählte sie ihm, wenn er sich nach einem Spaziergang mit Urso wieder über die anderen Hunde beklagte, dass sie keine Probleme damit hätte.
Leticia. Avilas Magen krampfte sich zusammen. Leticia, seiner Frau, ging es nicht gut. Sie war jetzt im siebten Monat schwanger, und der Arzt hatte ihr aus Sorge vor einer Fehlgeburt so wenig Anstrengung wie möglich verordnet. Lange Gänge mit dem Hund, die steilen An- und Abstiege von Garajau und Umgebung entlang, waren damit gestorben.
So musste Avila jetzt zusehen, wie er Ursos Bewegungsdrang stillte. Zum Glück herrschte im Präsidium momentan Ruhe. Sein Subcomissário Vasconcellos und er hatten keinen nennenswerten Fall zu bearbeiten. Urlaub wollte Avila aber jetzt auch nicht nehmen, den sparte er sich gerade auf, damit er nach der Geburt für seine kleine Familie da sein konnte. Zur Mittagszeit raste er meistens aus Funchal die Autobahn entlang nach Garajau, um nach Leticia zu schauen. Danach gönnte er Urso eine Mittagsrunde hinunter zur großen Christusstatue, dem Christo Rei. Das einzig Positive an dieser Situation war, dass er nicht mehr ganz so außer Puste war, wenn er die Treppen im Polizeipräsidium hochging. Die Spaziergänge über die steilen Wege hier in Garajau konnte man wirklich als Sport bezeichnen, so viel stand fest. Leider hatte sich bisher dazu kein positives Ergebnis auf der Waage gezeigt. Der Hosenbund kniff wie eh und je.
Avila blieb kurz stehen, um den Blick hinunter auf den Atlantik zu genießen. Heute Morgen war es zum Glück noch nicht so heiß, aber die Mittagsrunde würde wieder eine ziemliche Tortur werden.
Vielleicht könnte er den Spaziergang heute Mittag auslassen? Verstohlen schaute er hinüber zu seinem Golden Retriever. Nein, das konnte er dem Hund wirklich nicht antun. Urso schnüffelte gerade an einem hohen Garagentor, hinter dem sich mindestens zwei Hunde befanden. Diese versuchten, ihren Gegenpart auf der anderen Seite in Augenschein zu nehmen, in dem sie am Tor möglichst hoch sprangen. Ab und zu zeigte sich auch ein brauner Kopf, begleitet von heftigem Bellen. Prüfend schaute Avila auf das Tor, ob es auch wirklich verschlossen war. Urso schien aber die Lust daran verloren zu haben, er wollte weiter die Straße hinauf. Auf der linken Seite der Straße konnte man jetzt oben auf dem Dachgarten einen alten Retriever beobachten, der humpelnd und dunkel bellend auf und ab lief. Dabei ließ er Urso nicht aus den Augen. Neben ihm rannte ein kleiner Mischling aufgeregt hin und her und ließ sein helles Jaulen hören. Leticia hatte Avila vor ein paar Tagen erzählt, dass sie immer genau wusste, wo er sich auf der Spazierrunde befand, je nachdem woher das Kläffen der anderen Hunde gerade ertönte. In ein paar Wochen werde ich die anderen Hunde wahrscheinlich mit verbundenen Augen an ihrem Bellen erkennen, dachte sich Avila, als eine getigerte Katze vor ihm auftauchte. Sofort zog er Urso an der Leine dichter an sich heran. Bloß nicht noch eine Schramme riskieren. Aber der Retriever hatte die Katze gar nicht bemerkt, weil er in diesem Moment an irgendwelchen Hinterlassenschaften von einem anderen Hund schnupperte. Igitt. Avila zog den Hund schnell weg, bevor er auf noch unappetitlichere Gedanken kam.
Endlich waren sie unten an der Christusstatue angekommen. Avila schlug den kleinen Trampelpfad ein, der ihn und Urso dicht an der Klippe vorbeiführte. Dort unten lag der kleine Strand von Garajau. Eine lange Straße wand sich in Serpentinen hinunter. Der Strand bestand aus grauen abgerundeten Lavasteinen, ohne Badeschuhe sollte man ihn nicht betreten. Wie lange war es her, dass er mit Leticia dort baden war? Die letzten Male hatten sie die kleine Seilbahn benutzt, weil sich Avila Sorgen machte, dass der Aufstieg hinterher für die schwangere Leticia zu anstrengend war. Vielleicht sollte er heute Abend eine kleine Runde im Atlantik schwimmen? Obwohl, wem machte er etwas vor? Die zwei Spaziergänge am Tag mit Urso waren ihm Bewegung genug. Heute Abend würde er schön bei einem oder zwei Gläsern Verdejo auf der Veranda sitzen und den Blick auf ihren üppigen Garten genießen. Avila winkte der alten Dame zu, die wieder die Tauben fütterte. Als er um die Statue herumging, schreckte er ein junges Pärchen auf, das dort eindeutig die Nacht verbracht hatte. Sollte er die beiden verwarnen und ihnen deutlich machen, dass dies nicht gestattet war? Aber hatte er mit Leticia zu ihrer Studienzeit in Lissabon nicht auch gerne draußen im Freien übernachtet? Er nickte den beiden nur zu und machte sich auf den Rückweg. Jetzt kam der Teil der Strecke, auf den er gut verzichten konnte. Er atmete tief ein. Die Straße wand sich in einem steilen Bogen hoch zurück nach Garajau.
Erbarmungslos zog Urso an der Leine, er hatte das Zögern seines Herrchens scheinbar nicht registriert und freute sich auf den nächsten Teil des morgendlichen Abenteuers.
Avila seufzte und machte sich an den Aufstieg. Immer wieder musste er kurz stoppen und verschnaufen. Und das Gleiche heute Mittag wieder? Er würde dadurch das ausgiebige Mittagessen in der Rua de Santa Maria, dem alten Viertel in Funchal, verpassen. Missmutig stapfte Avila mit schweren Schritten den Berg hoch. Gefühlt nahm sie kein Ende. Er musste doch gleich oben sein. An einem mit feuerroter Bougainville beranktem Haus machte die Straße eine Kurve. Noch eine kurze heftige Steigung, dann hatte er endlich den Kreisel vor der kleinen Hauptstraße von Garajau mit ihren Geschäften erreicht. Schnaufend hielt er inne. Urso zog an der Leine, zielstrebig die Straße hinauf. Hier war so früh am Morgen noch nicht viel los. Die beiden kleinen Supermärkte bekamen gerade ihre tägliche Lieferung, die ersten Anwohner fanden sich in den beiden Bäckereien ein. Gegenüber in dem großen Hotel, das fast ein Viertel der rechten Straßenseite einnahm, war es noch ruhig. Nur ein paar Touristen standen an der Haltestelle, an der der Bus nach Funchal hielt. Was sie morgens um sieben Uhr wohl dort wollten? Avila stieg der Geruch von frischen Cornettos und Natas in die Nase. Er kramte in seiner Hosentasche. Beim Hinausgehen hatte er noch schnell etwas Kleingeld eingesteckt. Leticia würde sich über ein gemeinsames Frühstück bestimmt freuen. Er stieg die eine Stufe zur Bäckerei hoch und bahnte sich seinen Weg vorbei an den Tischen und Stühlen, die dicht an dicht unter dem Vordach standen.
Die ersten Gäste hatten schon mit einer Bica und einem Cornetto Platz genommen und lasen in der heutigen Diário de Noticias, der madeirensischen Tageszeitung. Ein großer Artikel über die bevorstehende Ausstellung stach ihm ins Auge. Leticia hatte ihm davon erzählt. Irgendetwas hatte das Ganze mit dem Golfklub zu tun. Er hatte aber schon wieder vergessen, worum es dabei eigentlich ging. Vielleicht würde er heute Mittag die Zeit finden, sich darüber etwas schlauer zu machen. Sonst würde Leticia ihm am Ende wieder vorwerfen, er höre ihr nie zu.
Er band Ursos Leine fest und betrat den Laden.
Kaum fünf Minuten später kam er wieder hinaus, bepackt mit mehreren Kartons mit süßem Gebäck und einer großen Papiertüte voll mit noch warmen Cornettos. Hatte Leticia heute Morgen nicht gesagt, sie wollte nicht so viel Süßes essen? Schuldbewusst schaute er auf seine Einkäufe. Dann zuckte er mit den Schultern. Zur Not würde er die Reste mit ins Präsidium nehmen, um die Zeit bis zum Mittagessen zu überbrücken.
Urso stand erwartungsvoll auf und wedelte mit dem Schwanz. Geistesabwesend tätschelte Avila ihm den Kopf.
»Glaubst du vielleicht, da könnte noch was für dich abfallen? Der Süßkram ist nichts für dich, mein Lieber.« Avila band Urso los und ging mit ihm auf den Durchgang des Hotels zu, der auf ihre Straße mündete. Avilas Mobiltelefon fing an zu klingeln. Er tastete in seiner Hosentasche. Dabei passte er einen Moment nicht auf, und Urso nutzte die Gelegenheit und machte einen beherzten Sprung in Richtung des Gatters, hinter dem zwei Hunde gerade neugierig ihre Ankunft beobachteten. Einer der Kartons fiel auf die Straße und der Inhalt purzelte auf den Asphalt. Sofort war Ursos Interesse von den bellenden Hunden abgelenkt. Er stürzte sich auf die Natas, die den Sturz nicht heil überstanden hatten. Kopfschüttelnd schaute Avila auf seinen Hund. Dieses Vieh war noch verfressener als er. Das Telefon klingelte weiter hartnäckig in seiner Hosentasche. Endlich gelang es ihm, den zweiten Karton unter den Arm geklemmt, Papiertüte und Leine in einer Hand, das Gespräch anzunehmen.
In seiner Stimme schwangen Stress und der Ärger mit.
»Tou? Avila hier.«
Auf der anderen Seite hörte er die ruhige Stimme seines Subcomissários.
»Hola. Ich bin es, Vasconcellos.«
»Hat das nicht Zeit? Ich bin in spätestens einer Stunde im Präsidium.«
»Leider nein, Chef. Du solltest so schnell wie möglich ins Präsidium kommen. Doutor André hat für 8 Uhr eine Teamsitzung einberufen. Es geht um die Rali Vinho da Madeira. Er will mit uns über das Sicherungskonzept sprechen.«
Avila fluchte.
»Caramba! O. k., gut, ich beeile mich. Bin ich froh, wenn diese blödsinnige Rallye vorbei ist. Der Direktor macht mich noch wahnsinnig. Als ob wir nichts Besseres zu tun hätten.«
Er legte auf. Leider war es so, dass sie nichts Besseres zu tun hatten. Zurzeit war es, abgesehen von ein paar kleinen Taschendiebstählen, sehr ruhig auf Madeira. Für den Tourismus sicher gut, aber für Avila und sein Team bedeutete es, dass sie auch zu Aufgaben herangezogen wurden, die normalerweise nicht in ihren Bereich fielen. Und die Sicherung des Streckenabschnittes Funchal der diesjährigen Rali Vinho da Madeira hatte der Direktor sogar hauptverantwortlich Avila und seinem Team übertragen.
Avila zog an Ursos Leine. Der Golden Retriever hatte in der Zwischenzeit jegliche Spur von Natas auf der Straße beseitigt. Mit dem Rest seines Einkaufes und einem zufrieden blickenden Hund ging Avila die wenigen Meter weiter zu seinem Gartentor. Aus dem ausgiebigen Frühstück mit Leticia würde jetzt nichts werden. Er hatte noch 20 Minuten, um in Funchal im Präsidium zu sein.
Avila betrat den kleinen Besprechungsraum im Präsidium. Es war wieder typisch, dass Doutor André diesen Raum mit seinem kalten, modernen Mobiliar nutzte. Funktional und genau das Richtige für eine anständige Besprechung, wie er immer gerne betonte. Er stand vorne vor einer weißen Multifunktionswand, oder wie das Ganze auch immer hieß, und hatte einen großen Plan der Innenstadt von Funchal daran geheftet.
Avila hielt seine Besprechungen am liebsten in seinem Büro ab, welches als einziges im Gebäude mit alten Möbeln ausgestattet war. Alt, zusammengewürfelt, aber bequem. Gegen jeden Vorstoß der Modernisierung hatte er sich bisher erfolgreich verweigert. Außerdem gab es darin eines der wichtigsten Utensilien überhaupt: einen funktionierenden Espressovollautomat, mit dem er jederzeit eine Bica oder sogar einen Galao zaubern konnte. Jetzt einen schönen kräftigen Espresso. Er ärgerte sich, dass er nicht noch kurz einen Abstecher in sein Büro gemacht hatte. Zu spät war er ohnehin, da wären fünf Minuten mehr auch nicht mehr wichtig gewesen.
Seine zwei Mitarbeiter, die mit dem Rücken zur Tür saßen, drehten sich nach ihm um. Vasconcellos schaute wie immer entspannt mit seinem typischen, leicht schiefen Grinsen, das, zum richtigen Zeitpunkt angebracht, das ein oder andere Frauenherz auf dem Revier höherschlagen ließ. Das hieß aber nicht, dass der Subcomissário zu geeignetem Zeitpunkt nicht knallhart und überhaupt nicht mehr liebenswürdig sein konnte. Seine Verhörtechniken waren im ganzen Revier berühmt, und er hatte damit schon so manchen Verdächtigen zu Fall gebracht.
Der junge Baroso, der mittlerweile zum Aspirante a Oficial aufgestiegen war, sah dagegen eher erschrocken aus. Seine Augen waren weit aufgerissen und wie so oft vermittelte er eher den Eindruck eines erstaunten Kindes als den eines Polizisten. Dazu sein leicht verwuschelter Haarschopf, der immer wirkte, als wäre er gerade erst aufgestanden oder zu nahe an eine Steckdose geraten. Aber Avila wusste auch, dass man sich von diesem Eindruck nicht täuschen lassen durfte. Wenn es zu den Ermittlungen kam, war Baroso äußerst effizient. Besonders bei Aufträgen, für die längere Nachforschungen notwendig waren, konnte er glänzen. Mehr als einmal hatte er durch seine Hartnäckigkeit und Gründlichkeit wichtige Anhaltspunkte für ihre Fälle beigesteuert. Beim Blick nach vorne konnte sich Avila den Grund für Barosos erschrockenen Gesichtsausdruck denken. Dort stand der Director de Departamento, André Lobo, mit verkniffenem Mund und sah ihn verärgert an.
Avila nickte kurz in die Runde, setzte sich auf einen der unbequemen Plastikstühle und wartete auf den Sturm.
»Wie kann es sein, Comissário, dass Sie nie pünktlich zu meinen Besprechungen erscheinen? Ist das Ihre Art, mir zu zeigen, was Sie von meinen Aufgaben halten? Mir ist schon klar, dass Sie als Comissário der brigada de homicídios meinen, dass die Sicherung unserer berühmten Rali Vinho da Madeira unter Ihrer Würde ist! Aber dem ist nicht so, mein Lieber. Die Rali zieht jedes Jahr viele Touristen an. Und was bringen uns die Touristen? Einnahmen. Und was glauben Sie, wovon Sie am Ende bezahlt werden? Wir können nicht immer darauf hoffen, dass wir Geldspritzen für unseren Polizeiapparat vom Festland bekommen. Also nehmen Sie sich zusammen, Avila!«
Avila ließ die Standpauke ruhig über sich ergehen. Der Direktor war allgemein für sein aufbrausendes Temperament bekannt. Und genauso schnell, wie er sich aufregte, beruhigte er sich auch wieder. Im Großen und Ganzen war Avila zufrieden mit seinem Chef, der ihm den Rücken frei hielt. Gerade wenn es darum ging, mit der Presse oder womöglich sogar mit dem Presidente da câmara, dem Oberbürgermeister, in heiklen Fällen richtig umzugehen, war André Lobo immer zur Stelle.
»Also, wo war ich stehen geblieben? Ach ja, wir haben dieses Jahr ein paar bekannte Persönlichkeiten vom Festland als Ehrengäste dabei. In Funchal müssen wir vor allem aufpassen, weil hier die Menschenmenge sehr groß ist. Der Presidente da câmara möchte, dass wir in erhöhter Alarmbereitschaft sind, um mögliche Anschläge zu verhindern.«
»Anschläge? Wie kommt er denn auf die Idee? Wir sind doch hier auf Madeira. Hier gibt es höchstens ein paar Taschendiebe.« Avila konnte sich nicht zurückhalten. Was für eine unnötige Panikmache.
»Die Zeiten ändern sich, Avila. Der Terrorismus ist überall. Stellen Sie sich vor, es passiert etwas. Wie stünden wir dann da?«
»Was genau ist Ihr Plan, Doutor André?«
»Mein Plan? Den Plan machen Sie und Ihre Männer! Bis spätestens heute Abend möchte ich ein ausgearbeitetes Sicherheitskonzept haben, welches wir dem Oberbürgermeister präsentieren können. Schauen Sie mich nicht so an, Avila. Sie wissen seit Wochen, was auf uns zukommt. Wenn Sie bis jetzt noch nichts vorbereitet haben, dann kann ich Ihnen auch nicht helfen.«
»Doutor André, selbstverständlich hat der Comissário schon vor Wochen mit uns, seinem Team, die Erstellung eines Plans zur Sicherung begonnen. Wir werden Ihnen das gleich präsentieren«, schaltete sich jetzt Vasconcellos mit ruhiger Stimme ein.
»Wie? Wirklich? Das freut mich zu hören.« Lobo schaute erstaunt zu Avila.
Dieser war ebenso überrascht wie der Direktor. Vasconcellos zwinkerte ihm zu. Avila atmete tief ein. Auf seinen Subcomissário war wirklich immer Verlass. Gerade wenn es um Themen ging, die Avila rein aus Protest auf die lange Bank schob, hatte ihm Vasconcellos schon ein paar Mal den Kopf gerettet. Er würde später sicher einen viel besseren Comissário abgeben als Avila. Wenn er das Thema mit seinen Frauen etwas einschränken könnte. Das war seine große Schwäche.
»Ja, und unser Aspirante a Oficial Baroso wird Ihnen jetzt die wichtigsten Eckpunkte erläutern.« Vasconcellos schaute das jüngste Mitglied ihres Teams aufmunternd an. Mit hochrotem Kopf suchte dieser ein paar Blätter zusammen und stand auf.
Mit zitternder Stimme fing er an zu reden.
»Ähm, ja. Wir würden Ihnen sehr gerne unser Konzept vorstellen, Senhor Doutor André. Als mögliche Ziele eines Anschlages haben wir die folgenden Punkte ausgemacht: an der Kreuzung der Avenida Arriaga und der Avenida Zarco, im weiteren Verlauf auch in der Rua do Aljube. Dort könnte besonders die Kathedrale gefährdet sein …« Der Rest von Barosos Ausführung plätscherte für Avila nur noch so vor sich hin. Er war in Gedanken bei Leticia und den bevorstehenden Veränderungen in seinem Leben.
»Meinen Sie nicht auch, Comissário?«, unterbrach Lobos tiefe Stimme seine Gedanken.
Schuldbewusst wie ein Schuljunge, der beim Abschreiben ertappt worden war, schaute Avila hoch.
Doutor André zog tadelnd die buschigen Augenbrauen hoch. Anscheinend war aber seine Energie für einen neuerlichen Wutausbruch für heute schon verbraucht, denn er fuhr ruhig fort.
»Ich wollte wissen, ob Sie möglicherweise auch das Einkaufszentrum am Ende der Avenida Arriaga als gefährdet betrachten?«
Avila sah zu Vasconcellos hinüber, der leicht nickte.
»Ja, das ist ein möglicher Punkt. Auch hier werden wir verstärkt patrouillieren lassen.« Er kam sich völlig bescheuert vor, aber wenn die Oberen an dieser Hysterie festhalten wollten, bitte sehr.
»Sehr gut. Ihre Einstellung gefällt mir, meine Herren. Ich bin mir sicher, Funchal ist in guten Händen.« Lobo blickte zufrieden in die Runde, dann nickte er kurz und verließ den Raum.
Avila blickte seine zwei Mitarbeiter an. Vasconcellos grinste jetzt offen von einem Ohr zum anderen, in Barosos Gesicht zeichnete sich immer noch die Aufregung ab. Aber zumindest konnte man jetzt auch einen leichten Anflug von Stolz ausmachen.
»Ich bin euch wirklich dankbar. Es tut mir leid, dass ich die letzten Wochen hier einiges vernachlässigt habe.«
»Aber Chef, wir wissen doch, dass es jetzt Wichtigeres in deinem Leben gibt, als die Arbeit. Und der Wolf meint es nicht so, glaub mir.« André Lobo hatte, aufgrund seines Nachnamens, bei seinen Mitarbeitern den Spitznamen der Wolf. Wenn er schlechte Laune hatte, konnte er Avila auch öfter an einen solchen erinnern.
»Ja, aber es darf nicht soweit kommen, dass ich darüber meinen Job vergesse. Selbst wenn ich solche Aufgaben wie diese tatsächlich nicht passend für eine brigada de homicídios empfinde.« Avila schaute bekümmert.
Vasconcellos trat vor und klopfte ihm auf die Schulter.
»Glaub mir, Fernando, du bist ein guter Chef. Und für Leticia ein guter Ehemann. Auch wenn ich keine Erfahrung in so etwas habe, bin ich überzeugt, dass du ein ebenso toller Vater sein wirst.« Baroso schaute etwas unbehaglich zu, er würde sich im Leben nicht trauen, den Comissário mit seinem Vornamen anzureden.
Avila merkte, dass seine Wangen anfingen zu kribbeln und er leicht rot wurde. Um seine Verlegenheit zu überspielen, klopfte er in einer unbeholfenen Geste auf den Tisch.
»So, genug davon. Ich würde sagen, der Espetada heute Mittag geht auf mich. Und ich denke, ein oder zwei Gläser Madeira sollten auch drin sein. Ich habe neulich in der Rua de Santa Maria ein sehr nettes neues Lokal gesehen, das müssen wir unbedingt ausprobieren. Oder wir fahren in mein Lieblingslokal oberhalb von Caniço. Nelsons Grillkünste solltet ihr unbedingt einmal kennenlernen.«
Vasconcellos blickte seinen Chef amüsiert an. Ihm war klar, dass dieser gleich die Gelegenheit nutzen würde, um eines seiner Lieblingsgerichte, Rinderspieß über offenem Holzfeuer gegrillt, zu verzehren.
Leticia hatte heute keinen Blick für das Blau des Atlantiks, das man über dem grünen Hügel des großzügigen Golfplatzes erkennen konnte. Normalerweise saß sie gerne im Büro des Klubpräsidenten bei einem Glas Madeira und genoss die exklusive Atmosphäre.
Dass sie heute so gar keine Lust darauf hatte, lag weniger daran, dass die Schwangerschaft ihr ihren geliebten Madeira verbot, als an der heutigen Gesellschaft. Neben dem grauhaarigen Klubpräsidenten saß in einem Sessel eine sehr junge, sehr blonde Frau, die jetzt gerade ihren Kopf in den Nacken warf und sich mit den Zeigefingern imaginäre Tränen unter ihren Augen wegwischte. Dabei machte sie leicht schniefende Geräusche, die bei Ignacio Coelho ihre Wirkung nicht verfehlten. Hilfe suchend aber auch ein bisschen tadelnd schaute der Klubpräsident zu Leticia hinüber.
Dann wandte er sich wieder an die kleine Blonde und tätschelte ihr das Knie.
»Aber, aber meine Liebe. Es gibt doch keinen Grund, traurig zu sein. Ich bin mir sicher, wir finden eine Lösung. Was muss Leticia tun, damit es Ihnen besser geht?«
Leticia schaute ihn entgeistert an. Das konnte doch nicht sein, dass dieses kleine Miststück mit diesem Theater auch noch durchkam? In seinem Alter müsste er so etwas doch durchschauen?
Die Kleine seufzte noch einmal hörbar und richtete sich dann kerzengerade in ihrem Sessel auf. Ihre Stimme klang auf einmal erstaunlich klar und gefasst.
»Leticia setzt mich so furchtbar unter Druck, ständig möchte sie etwas von mir. Ich kann einfach nicht mehr.«
Der Klubpräsident wandte sich mit ernstem Gesichtsausdruck an Leticia.
»Du musst doch Verständnis dafür haben, Leticia. Aurelia braucht ein bisschen Luft. Ihr geht es wirklich gerade nicht so gut, schließlich ist es das erste Mal für sie, dass sie so eine Verantwortung hat. Nimm also ein bisschen Rücksicht.«
Leticia schaute an sich herunter. Sah den Bauch, der sich deutlich über ihrem Hosenbund wölbte. Und hörte die Stimme ihres Arztes, der sie bat, sich unbedingt zu schonen. Ob er geahnt hatte, was hier auf sie zukam? Was für Probleme hatte Aurelia eigentlich? Hatte sie etwa heute Morgen im Halbschlaf das Bad gerade noch erreicht, weil das Kind wieder auf die Blase drückte? Hatte sie dann feststellen dürfen, dass der Bund ihrer Lieblingshose jetzt endgültig zu eng war und auf das bequeme schwarze Paar mit dem Gummizug ausweichen müssen? Mit Grauen erinnerte sich Leticia an die Verkäuferin in Funchal, die dieses Gummi mit einem vielsagenden Grinsen in die Breite gezogen hatte. Dabei hatte sie gesagt: »Sie werden für diese Hose noch sehr dankbar sein, Dona Leticia.« Jetzt war sie gerade gar nicht dankbar, wenn sie den engen puderrosafarbenen Rock mit dem elfenbeinfarbenen schmalen Oberteil von Aurelia ansah. Sie kam sich daneben vor wie ein dicker schwarzer Wal.
Der Präsident rutschte unruhig auf seinem Sessel hin und her. Wahrscheinlich hatte er jetzt Sorge, dass er gleich im Mittelpunkt eines Zickenkrieges stehen würde.
Leticia zog die Luft ein. Dieses Theater wollte sie nicht mitmachen. Mit hochgezogenen Augenbrauen blickte sie in das glatte, pausbäckige Gesicht ihres Gegenübers, das zu einer weinerlichen Grimasse verzogen war. Sie würde dieser kleinen Zicke die Leviten lesen. Da merkte sie, wie sich etwas in ihrem Bauch bewegte. Ihr kleiner Mitbewohner spürte wohl den Ärger seiner Mutter. Nein, dachte Leticia. Das hier ist das alles gar nicht wert. Über das Alter bin ich wirklich hinaus. Sollte die Jüngere sich ruhig profilieren. Leticia wusste, wie anstrengend die Vorbereitungen für so eine große Veranstaltung waren. Schließlich war sie die letzten drei Jahre in Folge immer verantwortlich für die Planung von wichtigen Festivitäten im Golfklub gewesen. All die endlosen Telefonate mit den Lieferanten für Essen, Getränke und Dekoration.
Sie mochte gar nicht an die stundenlangen Debatten mit den übrigen Damen des Klubs denken, bei denen es um die Tischordnung ging: Aber du weißt doch, liebe Leticia, wie Vitor Marsh zu William Stuart jun. steht, seitdem sie am 10. Loch diesen Streit um den verschwundenen Golfball hatten, weswegen Vitor das Herbstturnier 2011 verloren hat. Er ist sich bis heute sicher, dass William den Ball hat verschwinden lassen. So etwas ist doch typisch für die Stuart-Familie. Schon der alte William hat sich im Golfklub mit kleinen Betrügereien auf die vorderen Plätze gespielt. Die beiden können also unmöglich an einem Tisch sitzen. Und wo wir schon dabei sind: Romario Palmeiro und William Stuart jun. kandidieren beide für den Bezirk Funchal in den Kommunalwahlen im September. Lange Tischgespräche über Politik, das muss doch wirklich nicht sein.
Tischordnung, Moment, da war doch was.
»Aurelia, hast du daran gedacht, der Druckerei das Design für die Einladungen und die Tischkarten zu geben? Ich hatte ihnen versprochen, dass sie es spätestens letzte Woche bekommen, damit sie genug Zeit für die Drucksetzung haben.«
Aurelia warf den Kopf zurück und schniefte wieder hörbar. Diesmal kam sogar ein Taschentuch zum Einsatz, um die Augen abzutupfen.
»Sehen Sie, Doutor Ignacio, was ich meine? Ständig macht Leticia mir Druck. Die letzte Woche konnte ich gar nicht denken, weil sie ständig ankam mit: ›Hast du an das gedacht? Erledigst du das bitte?‹ Kein Wunder, dass die Dinge bei so einer Belastung liegen bleiben. Dabei kann ich so etwas sehr wohl. Ich bin gut darin, Dinge zu planen. Aber jetzt kann ich einfach nicht mehr.«
Wieder tätschelte Ignacio Aurelias Knie und sah Leticia flehend an.
»Ähm, ich hatte wirklich gehofft, dass ihr beide die Organisation dieses Jahr zusammen macht. Aurelia mit ihrem jugendlichen Elan und ihren neuen Ideen und du, liebe Leticia, mit deiner Erfahrung.«
Die Jüngere schluckte wieder hörbar.
»Bei mir ist die Erde verbrannt. Ich bin so fertig und kann einfach nicht mehr mit Leticia zusammenarbeiten.« Sie schüttelte den Kopf, senkte den Blick und fing an, an dem Taschentuch zu zupfen.
Leticia wusste nicht, ob sie wütend sein sollte oder lachend Applaus spenden müsste. Was für eine Vorstellung. Nur der alte Ignacio tat ihr leid. Er wusste wirklich nicht, wie es jetzt weiterging. Aber darauf würde sie keine Rücksicht mehr nehmen.
Sie räusperte sich.
»Ich schlage vor, dass sich Aurelia hauptverantwortlich um die Veranstaltung kümmert. Bei mir stehen in den nächsten Wochen und Monaten andere Dinge im Vordergrund.« Sie schaute vielsagend auf ihre Mitte.
Ignacio sah nicht besonders begeistert aus, aber über Aurelias Gesicht huschte ein triumphierendes Lächeln.
»Aber liebe Leticia, deine Erfahrung! Darauf können wir doch nicht verzichten.« Die Jüngere verzog das Gesicht. Das war sicher nicht das, was sie hören wollte.
»Meinst du wirklich, wir schaffen das ohne dich?« Ignacio Coelhos Stimme klang besorgt.
»Ganz sicher.« Irgendwie wusste Leticia, dass das wohl nicht der Realität entsprach. Aber das war ihr jetzt egal. Sie hatte keine Lust mehr auf diese Spielchen. Und zu Hause wartete ein leeres Kinderzimmer, das sie in den nächsten Wochen noch einrichten wollte.
»Darf Aurelia dich anrufen, wenn es Probleme gibt? Vielleicht könntet ihr alle zwei Tage kurz telefonieren«, klammerte sich Coelho an den letzten Strohhalm.
Leticia seufzte. Davor möge Gott sie bewahren. Sie schaute hinüber zu Aurelia. Dann grinste sie. Bevor die Kleine sie um Hilfe bat, würde sie wahrscheinlich eher tot umfallen. Leticia glaubte kaum, dass Aurelia sie anrufen würde.
»Aber ja doch, gerne. Ich stehe euch beratend zur Seite, wenn es notwendig ist. Die Adressen der bisherigen Zulieferer für Blumen, Essen, Getränke schicke ich euch für alle Fälle noch per Mail. Ich bin mir nicht sicher, ob du sie schon alle kontaktiert hast, Aurelia.« Sie schaute Aurelia mahnend an, die mit zusammengekniffenen Augen wütend zurückstarrte, sich aber einen weiteren Kommentar verkniff.
»Wir haben sehr gute Konditionen über die Jahre ausgehandelt, und ich kann nur raten, mit diesen Zulieferern sorgsam umzugehen. Aber entschuldigt mich jetzt bitte, ich habe heute noch einen Termin mit meinem Arzt. Wir hören voneinander.« Damit stand Leticia auf und verließ so beschwingten Schrittes, wie es ihr im Moment möglich war, das Büro des Klubpräsidenten.
»Es tou?«, erklang eine leicht zittrige, heisere Stimme.
Am anderen Ende der Leitung herrschte erst Schweigen, als müsste der Anrufer überlegen, ob er sprechen oder wieder auflegen sollte.
Dann klang eine ruhige, klare Stimme aus dem Hörer.
»Ich bin es, alter Freund.«
»Du? Ich habe mir schon gedacht, dass ich die Nummer kenne.« Der andere räusperte sich, aber das Heisere in der Stimme blieb.
»Wir müssen reden.«
»Reden? Das haben wir doch seit Jahren nicht mehr getan.«
»Ich weiß. Aber es ist etwas passiert. Bevor ich etwas unternehme, möchte ich in Ruhe mit dir darüber reden.«
»Was soll das Ganze? Warum machst du so komische Andeutungen? Sag schon, was ist passiert?« Er hustete.
»Rauchst du immer noch so viel? Du weißt doch, dass es dir nicht bekommt. Der Arzt hat dir vor Jahren geraten, damit aufzuhören.« Die Stimme des anderen hatte einen leicht sorgenvollen Unterton.
»Ich will jetzt wissen, worüber du mit mir reden willst. Hör endlich auf, um den heißen Brei herumzureden.« Die Stimme wurde lauter, dann erklang wieder der nasse, schwere Husten.
»Bleib ruhig. In unserem Alter sollten wir jede Aufregung vermeiden. Jemand ist zu mir gekommen und hat mir etwas gezeigt. Daraus musste ich ein paar Schlüsse ziehen. Und genau das möchte ich mit dir besprechen.«
»Was gezeigt? Was für Schlüsse ziehen?«
»Es geht um die Ereignisse von damals. Ich möchte, dass du die Chance bekommst, mir das alles von Angesicht zu Angesicht zu erklären, und dann entscheiden wir gemeinsam, was zu tun ist. Aus alter Freundschaft?«
Stille am anderen Ende, durchbrochen von kurzen, leicht keuchenden Atemzügen.
»Ich weiß immer noch nicht, wovon du sprichst. Aber wenn du dich unbedingt treffen willst, dann treffen wir uns.«
»Gut, gleich morgen Nachmittag so gegen 16 Uhr, ja?«
»Morgen Nachmittag? Während der Rallye? Du bist also immer noch kein Fan von schnellen Autos, mein Lieber? Aber das soll mir recht sein. Wollen wir dann einen Ort abseits vom Trubel auswählen, sodass wir ungestört reden können?«
»Ja, einverstanden. Mach einen Vorschlag.«
»Mein Sohn hat mir erzählt, dass er dich immer noch ab und zu auf der Levada dos Tornos trifft. Das ist doch für uns beide nicht so weit, und wir können gut mit dem Auto dorthin fahren. Wollen wir uns in Babosas treffen? Ein paar Hundert Meter weiter steht doch die Bank, von der wir immer den schönen Ausblick genossen haben.«
»Warst du in letzter Zeit da oben? Seit der Flut vor drei Jahren sieht es dort etwas anders aus. Bist du überhaupt noch trittsicher?«
»Ich weiß, wie es da aussieht. Lass das meine Sorge sein. Wir müssen nur ein paar Meter gehen, und ich werde ganz vorsichtig sein.«
»Gut, dann machen wir es so. Zumindest können wir sicher sein, dass wir ungestört sind. Die meisten Leute werden ja unten beim Start der Rali Vinho sein. Morgen um 16 Uhr in Babosas, direkt am Eingang zur Levada. Bis morgen, alter Freund.« Mit einem Klick war das Gespräch beendet.
»Wie lange noch?« Avila schaute zum wiederholten Male auf die Uhr.
»Noch etwa eine Stunde, Chef. Um 16:30 ist der offizielle Start, um 16:41 die Startzeremonie.« Vasconcellos’ ruhiger Stimme war nicht anzumerken, dass er diese Frage in den letzten zwei Stunden gefühlt alle zwanzig Minuten beantwortet hatte.
»Ich fasse es nicht. Was machen die denn da so lange? Ich hatte vor über einer Stunde, als der Typ da vorn mit den Listen ankam, schon gedacht, gleich geht es los.«
»Das waren nur die Startlisten, die veröffentlicht wurden. Die müssen noch von den Fahrern und ihrer Mannschaft eingesehen werden. Manchmal gibt es auch Proteste. Das alles dauert eben seine Zeit.«
»Ich weiß schon, warum ich diese Veranstaltung normalerweise meide. Letztes Jahr sind Leticia und ich an dem Tag drüben auf Porto Santo gewesen. Wenn du mich fragst, der beste Ort, an dem man sich heute aufhalten könnte. Sandstrand und eine wunderbare Ruhe. Kein Autolärm und vor allem nicht dieser Gestank und die Menschenmassen.« Avila grummelte vor sich hin.
Vasconcellos versuchte, die Laune seines Chefs zu ignorieren, und konzentrierte sich lieber auf die hübsche hellblonde Touristin, die ihn schon seit einiger Zeit immer wieder interessiert musterte. Sie stand direkt auf der anderen Seite der Avenida Arriaga an eine Laterne gelehnt. Vielleicht sollte er den Mülleimer neben ihr genauer inspizieren, um mit ihr ins Gespräch zu kommen? Sie sah wirklich sehr hübsch aus mit ihren halblangen glatten Haaren. Unter dem engen weißen T-Shirt zeichneten sich zwei nicht zu große, nicht zu kleine feste Brüste ab.
Avila hatte Vasconcellos’ Blicke bemerkt.
»Denk nicht einmal dran. Wir sind dienstlich hier. Außerdem dachte ich, dass es mit dir und Kate ernst wäre? Zumindest hat mir das Leticia erzählt.«
Vasconcellos stöhnte leise. Es war keine gute Idee von ihm gewesen, etwas mit Kate anzufangen, die im gleichen Golfklub wie die Frau seines Chefs verkehrte. Nicht nur das, nein, die beiden Frauen spielten regelmäßig miteinander Golf, weil sie in etwa das gleiche Handicap hatten. Und so war Avila scheinbar mehr als nur etwas im Bilde, was seinen Beziehungsstatus mit Kate betraf.
»Kate und ich sehen das Ganze etwas lockerer.«
Avila sagte nichts weiter dazu. Eigentlich ärgerte er sich auch schon wieder, dass er das Thema überhaupt angesprochen hatte. Letztendlich ging es ihn doch überhaupt nichts an, wie Vasconcellos mit seinen Freundinnen umging. Wenn er ihm jetzt erzählen würde, dass Kate ihn offiziell als ihren Lebensgefährten bezeichnete, würde er höchstwahrscheinlich eine Diskussion auslösen, die im schlimmsten Fall auch wieder zu Leticia zurückschwappen konnte. Und in einem solchen Gespräch würde er am Ende noch für irgendetwas Schuld bekommen. Das kannte er schon.
Abrupt wechselte er das Thema.
»Was meintest du eben mit Startzeremonie?«
»Jeder Fahrer und jeder Beifahrer bekommt vor dem Start im Cockpit ein Glas Madeira gereicht.«
»Wie bitte? Du willst mir sagen, die trinken alle vor diesem Rennen noch Alkohol? Nicht nur, dass sie wie die Verrückten über die Serpentinen rasen, Straßen entlang, die nicht für Autorennen gebaut sind, sondern sie haben auch noch Alkohol getrunken? Spinnen die denn hier alle?«
Vasconcellos schwieg. Es war allgemein im Präsidium bekannt, dass Avila den Genüssen nicht abgeneigt war, sei es nun das Essen oder auch das Trinken. Aber Alkohol am Steuer war für ihn ein absolutes Unding. Wenn Avila die Möglichkeit hatte, ließ er Alkoholsünder ihren Rausch über Nacht in der Zelle ausschlafen, anstatt sie nach Hause zu schicken. Abschreckung nannte er das. Und dabei spielten Rang und Namen der Sünder keinerlei Rolle. Ein Umstand, der Director Lobo schon einige Male in Erklärungsnot gebracht hatte und wahrscheinlich auch einer der Gründe war, warum Avila bisher nicht höher in der Polizeihierarchie gestiegen war.
Auf einmal kam Bewegung in die Menschenmenge. Alle Köpfe drehten sich in Richtung der kleinen Tribüne, die für die Ehrengäste aufgebaut worden war.
Der Präsident hatte mit seiner Entourage die Tribüne betreten.
»Ich hoffe wirklich, dass wir dieses Bild nicht mehr so lange sehen werden«, sagte Vasconcellos mit Blick auf den leicht dicklichen grauhaarigen Mann.
»Der Alte hält wieder Hof. Kaum zu glauben, dass ich diesen Anblick jetzt schon mein ganzes Leben ertragen muss. Ich kann nur hoffen, dass die anstehenden Regionalwahlen der Anfang vom Ende sind.«
»Unsere Hilfe, Ana, hat erzählt, dass seine Partei schon wieder mit den üblichen Tricks auf Stimmenfang ist. Auf einmal werden großzügige Geschenke verteilt. Seit zwei Monaten werden kleine Baugenehmigungen erteilt, die vorher mehrere Jahre in der Baubehörde vor sich hin geschimmelt haben. Auch gibt es großzügige Spenden in seinem Namen für diverse Vereinigungen.«
»Ja, gerade letzte Woche hat er einen großen Scheck, natürlich begleitet von einem Artikel im Jornal da Madeira, für die Kinder der Bombeiros Funchal überreicht.«
»Das Bild habe ich auch gesehen. Eines muss man ihm leider lassen, er weiß, wie er zur rechten Zeit Stimmung für sich machen kann. Man kann nur hoffen, dass die Leute dieses Mal klüger sind und nicht wieder vergessen, wie es in den Zeiten zwischen den Wahljahren für sie aussieht.«
Jetzt wurden die Fahrer interviewt. Eine hübsche dunkelhaarige Reporterin mit einem überdimensionalen Mikrofon versuchte, einen der Favoriten des Rennens zu einer spontanen Stellungnahme zu bewegen. Leider erwies sich dieser als nicht besonders redselig, sodass das Interview, welches über Lautsprecher übertragen wurde, aus langen Fragen ihrerseits und einsilbigen Antworten seinerseits bestand.
»Lieber Rodrigo, wir alle verfolgen seit Jahren deine Karriere in der Intercontinental Rally Challenge. Letztes Jahr warst du in der führenden Position hier bei der Rali Vinho. Dann passierte dieser Unfall auf der Abfahrt nach Machico. Allen, die diesen furchtbaren Sturz den Abhang hinunter beobachtet haben, ist das Blut in den Adern gefroren. Sind deine Verletzungen wieder verheilt, und fühlst du dich fit, um heute um die Pole Position mitzufahren?«
»Ja.«
Avila hörte kopfschüttelnd zu, als der Fahrer auch auf die nächste Frage, in wieweit er vor dem Rennen die Strecken abfahren und das Setup studiere würde und ob er sich dazu Aufzeichnungen mache um sie vor dem Start genau durch zugehen wieder mit einen simplen »Ja« antwortete. Ein verlegenes Schweigen entstand, wahrscheinlich suchte die Reporterin jetzt krampfhaft nach anderen Fragen oder der Möglichkeit, das Interview elegant zu beenden.
»Wie lange muss ich diesen Wahnsinn noch ertragen?« Avila wusste selbst, dass er etwas wehleidig klingen musste, aber das war ihm völlig egal. Sogar einen Nachmittag im Präsidium mit Protokollschreiben würde er diesem Ereignis vorziehen.
»Es geht gleich los, Chef. In etwa einer Stunde ist der Spuk auch vorbei. Dann können wir noch eine Bica in dem kleinen Café bei den Markthallen trinken. Da müsste es jetzt auch leerer sein, weil heute kein Markttag ist und die Händler nicht da sind.«
»Gute Idee, Vasconcellos. Eine Bica und dazu ein tarte de requeijão. Das klingt doch gut. Baroso, was meinst du? Bist du dabei?« Baroso war vor ein paar Minuten, nach einem Kontrollgang in Richtung Einkaufszentrum und zurück, wieder zu den beiden gestoßen. Schweigend hatte er sich dazugestellt und das Gespräch verfolgt.
»Oh, ja, ich würde sehr gerne mitkommen.« Avila merkte ihm deutlich an, dass er sich freute, dass er nicht vergessen wurde. Wenn der Junge noch etwas an Selbstbewusstsein in den nächsten Jahren gewinnt, wird er seinen Weg bei uns machen. Er war wirklich eine gute Ergänzung des Teams.