Philip Ursprung
Joseph Beuys
Kunst Kapital Revolution
C.H.Beck
Joseph Beuys vor der Kunstakademie Düsseldorf ca. 1970.
Joseph Beuys (1921–1986): einerseits als Künstler von Weltruhm gefeiert, andererseits aber als «Scharlatan» angefeindet. Wie kaum ein anderer prägte und polarisierte er die zeitgenössische Kunst. Welche Rolle spielt der Mann aus Kleve, der zum Inbegriff der Gegenwartskunst geworden ist, heute? Philip Ursprung begibt sich auf eine zeithistorische Reise zu 24 zentralen Beuys-Schauplätzen und bietet dabei einen umfassenden Überblick über das Gesamtwerk des Künstlers im gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Zusammenhang der Bundesrepublik Deutschland.
Philip Ursprung ist Professor für Kunst- und Architekturgeschichte an der ETH Zürich.
1. Tableau: Die Präsenz von Beuys – «Provokation bedeutet im Kern nichts anderes als Produktion.»
Der Absturz
Jenseits der Biographie
Kunst und Politik
2. Tableau: Krieg und Frieden – «Der Tod ist doch keine Grenze. Der Tod ist das Leben.»
Anachronismen
Der ‹neue› Kalte Krieg
3. Tableau: Verdrängen und Zeigen – «Nein, das kann man nicht. Natürlich nicht. […] Ich maße mir nicht an, dass ich dadurch […] etwas wiedergegeben habe von dem Schrecklichen.»
Im Block Beuys
Auschwitz Demonstration
Entwurf für ein Auschwitz-Mahnmal
Latenz des Holocaust
Zäsur und Transformation
Die Folgen des Holocaust
4. Tableau: Sitzender Torso – «The chair represents a kind of human anatomy.»
Provozierendes Fett
5. Tableau: Das Schweigen – «Ich achte ihn sehr, aber sein Schweigen muss ich ablehnen.»
Das Schweigen der Väter
Beuys und Allan Kaprow
6. Tableau: Wenn Androiden träumen – «Ich denke, es ist heutzutage besser, den Tieren die Notwendigkeit von Kunst zu erklären als den Menschen.»
Debut auf dem Kunstmarkt
Was wusste der Hase?
Überschreiten der Gattungsgrenzen
7. Tableau: Ostpolitik – «Aus diesem Grunde wird es dringend notwendig, dass die Europäer sich zusammentun und eine eigene, eine neue Idee ins Leben rufen, die nicht abstrakt konstruiert ist. […] Denn sonst wird Europa nicht mehr existieren.»
Mitteleuropa
Entspannung
8. Tableau: Politische Stimme – «Öö öö öö öö»
Akademisches Ritual
Deutsche Studentenpartei
Menschen und Tiere
9. Tableau: Zug des Fortschritts – «Die einzige Genialität, die ich besitze, ist die, dass ich mich mit dem Druck der Zeit bewege, während andere sich dagegen bewegen. Was ist der Druck der Zeit?»
Fond IV/4
Herzog & de Meuron
Kontinuität
10. Tableau: Europäische Integration – «Mit der Erde bin ich sowieso längst verschmolzen»
Beuys und die Land Art
Zentrum Europas
11. Tableau: Das Gespenst der Revolution – «Wollen Sie eine Revolution ohne Lachen machen?»
Beuys in Italien
Die 68er-Bewegung in Europa
12. Tableau: 100 Tage – «Ich gehe also jetzt mal von der Voraussetzung aus, dass also ein von Strauß und Konsorten geleiteter Staatsapparat keine Angst mehr hat …» «Ach was! Sicher hat der Angst!» «Was?» «Och, die zittern doch vor Angst. Angst ist der Begriff für das System überhaupt.»
Documenta 5
13. Tableau: Massenuniversität – «Ich selbst empfinde es durchaus nicht als den glücklichsten Zustand, beispielsweise, mit 400 Studenten unterrichten zu müssen.»
Das Gespenst des Numerus clausus
Die lange Nacht im Sekretariat
Das Lächeln von Beuys
14. Tableau: His Master’s Voice – «Der Geist des Kojoten ist so mächtig, dass der Mensch nicht verstehen kann, was er ist, noch was er in Zukunft für die Menschheit tun kann.»
Beuys in den USA
Energy Plan und Marshall-Plan
15. Tableau: Das Gehirn Europas – «Beuys: ‹We all could help.› Old woman: ‹Help? You don’t understand the situation at all›».
The Secret Block for a Secret Person in Ireland
Beuys und Joyce
Irland und Europa
16. Tableau: Deutschland und Deutschland – «Meinen Sie vielleicht, es wäre die Aufgabe eines erweiterten Kunstbegriffs, diese Scheißbetten da ins Museum zu stellen? Die sind doch höchstens ein Zwischenträger.»
Verdoppelung
Versöhnung
17. Tableau: Schwerkraft und Gnade – «Es hat keinen Sinn, etwas zu machen, was man abzählen oder voraus wissen kann. Sonst kann man es auch beschreiben.»
Biennale Venedig 1976
Erinnerung an die Kindheit
Kopf und Gender
18. Tableau: Inflation und Arbeitslosigkeit – «Der Prozess des Umschmelzens verhärteter Begrifflichkeiten und Theorieansätze ist in vollem Gange.»
Free International University
Immaterielle Arbeit
19. Tableau: Kunst und Architektur – «No Tallow, no show!»
Skulptur Ausstellung in Münster 1977
Unwirtlichkeit der Städte
Keil im Raumgefüge
20. Tableau: Europäisches Parlament – «Aber was von dem Staate, den wir jetzt kennen, übrig bleibt, das werden wir sehen. Nicht mehr viel, hoffe ich!»
Aufruf zur Alternative
Beuys und die «Grünen»
21. Tableau: Preis und Wert – «Die Macht des Geldes muss gebrochen werden!»
Der Wert der Unterschrift
Multiples
«Wirtschaftswert»
Was ist Geld?
22. Tableau: Ein Monument der Rezession – «Dies ist jetzt das Denkmal. Richtig das Denkmal, wie man es kennt, starr, aufgebaut.»
Rückblick auf die 1970er Jahre
Das Ende der Hallen für Neue Kunst
23. Tableau: Feldarbeit – «Notfalls komme ich als Baum.»
Partizipation
Das Erhabene ironisch brechen
Kunst und Ökologie
24. Tableau: Ausblick – «Darf ich noch weiter fragen?» «Sicher. Unendlich. Das Gespräch geht durch das ganze Leben weiter. Sie können unendlich weiter fragen.»
Die Zukunft Europas
Anhang
Zeittafel
Dank
Anmerkungen
1. Tableau: Die Präsenz von Beuys
2. Tableau: Krieg und Frieden
3. Tableau: Verdrängen und Zeigen
4. Tableau: Sitzender Torso
5. Tableau: Das Schweigen
6. Tableau: Wenn Androiden träumen
7. Tableau: Ostpolitik
8. Tableau: Politische Stimme
9. Tableau: Zug des Fortschritts
10. Tableau: Europäische Integration
11. Tableau: Das Gespenst der Revolution
12. Tableau: 100 Tage
13. Tableau: Massenuniversität
14. Tableau: His Master’s Voice
15. Tableau: Das Gehirn Europas
16. Tableau: Deutschland und Deutschland
17. Tableau: Schwerkraft und Gnade
18. Tableau: Inflation und Arbeitslosigkeit
19. Tableau: Kunst und Architektur
20. Tableau: Europäisches Parlament
21. Tableau: Preis und Wert
22. Tableau: Ein Monument der Rezession
23. Tableau: Feldarbeit
24. Tableau: Ausblick
Literatur
Bildnachweis
Personenregister
1. Tableau
«Provokation bedeutet
im Kern nichts anderes als Produktion.»[1]
Joseph Beuys in seiner Ausstellung im Solomon R. Guggenheim Museum in New York 1979.
Ein Dritteljahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erreichte ein westdeutscher Künstler, der offen über seine Zeit als Soldat sprach, den Gipfel der Kunstwelt in New York. Die langjährige US-amerikanische Führungsrolle in der zeitgenössischen Kunst kam ins Wanken und mit ihr die Idee einer autonomen, von der Geschichte unabhängigen Kunst. Beuys wurde zum internationalen Star – und zur kontroversen Figur, welche die Meinungen bis heute polarisiert.
100 Jahre Mann mit Hut! Aus der Kunstgeschichte ist Joseph Beuys (1921–1986) nicht wegzudenken. Seine Sprachschöpfungen wie «Jeder Mensch ist ein Künstler», «erweiterter Kunstbegriff» und «soziale Plastik» sind heute ebenso bekannt wie die Skulptur Stuhl mit Fett (1963), die Aktion I like America and America likes me (1974) und das Projekt 7000 Eichen (1982). Sein Image mit Filzhut, Jeans und Anglerweste ist Teil des kollektiven Gedächtnisses. Selbst die wichtigsten Stationen seiner Biographie sind Gemeingut: Kindheit in der Weimarer Republik, freiwilliger Kriegsdienst, Überleben des Absturzes in einem Kampfflugzeug, Studium und Professur an der Akademie in Düsseldorf, Entlassung durch den Kultusminister, weil er alle abgewiesenen Studenten in seine Klasse aufnimmt, Hinwendung zur Politik in den 1970er Jahren, Einsatz für Ökologie und Gründungsmitglied der Partei «Die Grünen».
Beuys erschloss der Kunst die Materialien Filz und Fett, aber eine Kamera nahm er nie in die Hand. Er demokratisierte die westdeutsche Kunstausbildung und perpetuierte zugleich den Geniekult des 19. Jahrhunderts. Er gründete die «Deutsche Studentenpartei» – ohne die Studierenden zu fragen. Für ihn waren alle Menschen Künstler, aber seine Kunst blieb für die Mehrheit unverständlich. Er konfrontierte mit seiner Kunst das Publikum früh mit der Verdrängung des Holocaust, aber er selbst sprach erst in den 1970er Jahren über seine eigene Rolle im Krieg. Er kritisierte die repräsentative Demokratie der Bundesrepublik Deutschland und fand Partner im gesamten Spektrum der Politik, von links bis rechts. Im Streitgespräch mit Politikern, Ökonomen und Philosophen war er in seinem Element, aber als er Andy Warhol traf, wussten beide nicht, worüber sie reden sollten. Den Mainstream mied er, aber er stempelte seine Kunstwerke gern mit «Hauptstrom». Institutionen misstraute er, außer wenn er sie selbst gründete. Aus der Kirche trat er aus, aber er hielt die Türen der Kunst zum Glauben weit offen. Er bezog sich in seinem Denken auf Rudolf Steiner, aber der anthroposophischen Gesellschaft trat er nie bei. Vom Marxismus distanzierte er sich mit den Worten: «Ich bin kein Marxist, aber ich liebe Marx vielleicht mehr als viele Marxisten, die nur an ihn glauben.»[2]
Beuys’ Kunst ist geprägt von Polarität und Gegensätzen. Für seine Anhänger und Gegner war Beuys die Personifikation der zeitgenössischen Kunst schlechthin. Kunst wollte er in Politik verwandeln, Politik in Kunst. Kein Problem war ihm zu groß, vom Numerus clausus der Hochschulen über die wirtschaftliche Misere der 1970er Jahre bis zum Konflikt in Nordirland traute er sich Lösungen zu. Welche Aspekte seines Werkes und seines Images als Künstler sind heute, ein Dritteljahrhundert seit seinem Tod, relevant? Welche Kapitel sind geschlossen, welche Fragen gelöst? Was bleibt von den Aktionen, wenn ihr Urheber nicht mehr da ist? Wie verändert sich die Wirkung von Werken, die vom Ort, für die er sie eingerichtet hat, umziehen? Und vor allem: Was geschieht, wenn ein Künstler, der während Jahrzehnten schulbildend und der Inbegriff der Gegenwartskunst war, zu einem Teil der Kunstgeschichte wird?
Anlässlich des 100. Geburtstags von Beuys begebe ich mich auf eine Reise durch sein Werk, als ob es eine Landschaft beziehungsweise eine große Ausstellung wäre. Das räumliche Nebeneinander der Phänomene ist in meiner Darstellung deshalb wichtiger als das zeitliche Nacheinander der Ereignisse. 24 Mal mache ich vor einem Kunstwerk halt. Ich wähle 24 Zugänge, um Beziehungen innerhalb des Werkes nachzuspüren und Verbindungen mit den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Themen ihrer Zeit aufzuzeigen. Die 24 Tableaus sind chronologisch angeordnet, aber sie müssen nicht linear gelesen werden.
Die Zahl 24 übernehme ich von den 24 Stationen, in welche die Kuratorin Caroline Tisdall die Beuys-Retrospektive einteilte, die Ende 1979 im Solomon R. Guggenheim Museum in New York stattfand. Die organische Architektur des von Frank Lloyd Wright entworfenen Baus mit seiner berühmten Spiralrampe passte optimal zur Raumvorstellung von Beuys. Zum ersten Mal war fast das gesamte Werk zu überblicken. Während die 24 Stationen die Beuys-Forscherin Antje von Graevenitz an den christlichen Kreuzweg mit 24 Stationen erinnerten, denke ich eher an den 24-Stunden-Tag, passend zu New York, der «Stadt, die niemals schläft», und zum Arbeitspensum von Beuys.[3] Er machte jeden Moment produktiv, vergeudete keine Idee, integrierte noch die kleinsten Reste von früheren Kunstwerken, ja seine eigenen Zehennägel, in spätere Werke. «Beuys ist telefonisch für jeden erreichbar» hieß es.[4] Arbeit und Privatleben verschwammen. Er nahm seine Frau Eva und seine Kinder Wenzel und Jessyka mit zu Aktionen und Eröffnungen (s. Abb. S. 301) und seine Studenten mit ins Wohn-Arbeitszimmer. Er debattierte schlagfertig und nahm sich Zeit für alle – auf einem Podium 1970 rief er dem Philosophen Max Bense zu, dass er «bereit wäre, bis ins Morgengrauen zu sprechen». Wie ein Motto lauten die Titel von zwei Multiples: Ich kenne kein Weekend (1972) und Ich ernähre mich durch Kraftvergeudung (1978).
Das Rudel (The Pack), 1969
Fast sein gesamtes skulpturales und zeichnerisches Werk war zu sehen, von der frühen Badewanne über die Straßenbahnhaltestelle bis zur kolossalen mehrteiligen Plastik Unschlitt/Tallow. Besonderes Aufsehen erregte die Installation Das Rudel (The Pack) (1969). Ein alter, rostiger VW-Bus stand auf der Rampe. Aus der geöffneten Hecktür schien eine Reihe von Schlitten auszuschwärmen. Die Schlitten, die separat auch als Multiple vertrieben wurden, waren mit einer Filzrolle, einem Klumpen Wachs oder Fett und einer Taschenlampe bepackt. Der Titel weckte die Assoziation von Wölfen oder Hunden. Waren es Rettungshunde, die kamen, um jemanden zu bergen? Oder waren es angriffige Wesen, vor denen man sich in Acht nehmen musste? War der Bus defekt und ein Weiterkommen ohne Motor, mit Schlitten, möglich? Im Umfeld des weißgestrichenen Museums und der Rampe riefen sie die Assoziation einer Winterlandschaft hervor.
Schlitten, Multiple, 1969
Die New Yorker Ausstellung im Winter 1979 bis 1980 rückte Beuys in ein neues Licht. Er wurde zum Weltstar. Aber auch zu einer kontroversen Figur, die fortan die Kunstwelt polarisierte. Wie sollte man umgehen mit einem Künstler, der sein eigenes Leben zum Kunstwerk erklärte und sogar die eigene Geburt als «Ausstellung» deklarierte? Wie sollte man umgehen mit einem Künstler, der mitteilte, dass die Kunst keine Grenzen habe? Und vor allem, wie sollte man umgehen mit einem Künstler, der über ein Tabu sprach, über seine Zeit als Soldat im Zweiten Weltkrieg, über den Holocaust?
Eine Doppelseite im Ausstellungskatalog löste eine Debatte aus, die bis heute nicht ganz aufgehört hat.[5] Sie beschreibt, wie Beuys 1940 eingezogen und zum Funker und Kampfpiloten ausgebildet wird. Danach folgen verschiedene Stationierungen, die Beuys auflistet, als ob es sich um eine Bildungsreise an reale und mythische Orte kreuz und quer durch Europa handelte. Die Reise führt von den «Slav lands» über die «Russian steppes (Kuban) – living spaces of the Tartars. Tartars wanted to take me into their family», die «Jaila Mountains (Golden Fleece)», «Romania (Danube Delta)», «Vienna (Huns and Turks before the gates of Vienna)», «Apulia» bis zum «Western theatre of war as paratrooper in North Holland» und zur «North Sea coast».[6]
Das Schlüsselerlebnis ist der Abschuss seiner Junkers JU-87, einem Sturzkampfbomber, in einem Schneesturm über der Krim, im Niemandsland zwischen der russischen und der deutschen Front. Nachdem die Deutschen die Suche aufgegeben haben, bergen nomadisierende Tataren den verletzten Beuys im Wrack. Beuys kannte sie bereits von seinen Wanderungen. Sie hatten ihn damals eingeladen, ihrem Stamm beizutreten. «‹Du nix njemcky›, they would say, ‹du Tatar›, and try to persuade me to join their clan.»[7] Er bleibt bewusstlos, mit schweren Kiefer- und Schädelverletzungen, bis er nach zwölf Tagen in einem deutschen Lazarett aufwacht. Er erinnerte sich an Stimmen, die ‹Voda› (Wasser) sagen, an den Filz ihrer Zelte und den strengen Geruch von Käse, Fett und Milch. «They covered my body in fat to help it regenerate warmth, and wrapped it in felt as an insulator to keep the warmth in.»[8] Der Text ist mit Fotografien illustriert, die Aufstieg und Fall von Beuys zeigen, vom jungen Soldaten im sonnigen Süden über die Aufnahmen des Flugzeugwracks bis zum Porträt des traumatisierten Veteranen nach Kriegsende.
Wrack des Kampfflugzeugs, mit dem Beuys im März 1944 abgestürzt war
Die Geschichte vom Krieger, der quer durch Europa zieht, im Wintersturm abgeschossen wird, von neutralen Nomaden zwischen den Fronten gerettet wird und erst dadurch auf die beiden Materialien Filz und Fett stößt, mit denen er, geläutert, die Kunst revolutionieren wird, ist seit der Veröffentlichung im Guggenheim-Katalog vielfach nacherzählt worden, mit kleineren Variationen, von Beuys selbst, aber noch häufiger von seinen Biographen und Interpreten. Es ist eine Geschichte, die jeder gern hört – wobei die Tataren dazu nie befragt wurden. Der todbringende Krieger kommt selbst fast um, ihm wird vergeben, er wird zum Boten des Friedens. Nahtlos schloss sich daran eine noch abstrusere Legende an, nämlich, dass Beuys als Folge des Abschusses in seinem Schädel eine Silberplatte trage und den Hut nie ablege, um seine Verwundung zu schützen. Beuys selbst hat dies zwar nie behauptet, aber auch nie dementiert. So sagte er beispielsweise bei verschiedenen Gelegenheiten, man «habe ihn zurechtgeschossen», und er habe einen «Dachschaden» davongetragen.
Hans Peter Riegel hat, gestützt auf Archivmaterial, den Ablauf rekonstruiert.[9] Der Absturz fand nicht 1943, wie im Guggenheim-Katalog geschildert, sondern am 16. März 1944 statt. Das Flugzeug wurde nicht abgeschossen, sondern verlor den Anschluss an die Staffel, geriet in schlechtes Wetter und stürzte wegen Bodenberührung sieben Kilometer vom Flugfeld entfernt ab. Beuys war nicht Pilot – der Pilot kam beim Absturz ums Leben –, sondern Bordfunker und damit für die Navigation mitverantwortlich. Er erlitt nicht etwa schwere Schädelverletzungen, sondern kam mit einer Gehirnerschütterung und einer Platzwunde davon. Er wurde nicht tagelang von Tataren gepflegt, sondern am 17. März in einem deutschen Lazarett behandelt. Nomadisierende Tataren gab es auf der Krim damals nicht mehr, sie lebten in Dörfern und Städten. Manche kämpften zusammen mit der Wehrmacht. Plausibel ist, dass Beuys von Zivilisten geborgen wurde, bevor er ins Lazarett kam.
Joseph Beuys nach einer Notlandung auf der Halbinsel Krim, 1943
Auch wenn manche Künstler dazu tendieren, die eigene Biographie zu verklären: Die Selbstdarstellung von Beuys im Katalog und in damaligen Interviews ging der amerikanischen Kritik zu weit. Die Kritikerin Kim Levin beschrieb Beuys als den «guten Deutschen», der ganz Deutschland von seinen Leiden erlöste. Die ganze Ausstellung war für sie Propaganda.[10] Der Kritiker Benjamin Buchloh fragte, wie es kam, dass, wenn die Suchtrupps Beuys nicht fanden, in der 1973 erschienenen Beuys-Biographie von Götz Adriani, Winfried Konnertz und Karin Thomas eine Fotografie eines Soldaten, wahrscheinlich Beuys, neben einem einigermaßen unbeschädigten Flugzeug abgebildet war.[11] «Wer würde», fragte Buchloh, «unmittelbar nach einem Flugzeugabsturz hinter den feindlichen Linien für die Kamera posieren, wenn er die schweren Verletzungen davongetragen hätte, von denen Beuys berichtet? Und wer würde […] die Aufnahmen gemacht haben? Die Tataren vielleicht, mit einer Filz- und Fettkamera?»[12]
Dass nach einem Vierteljahrhundert amerikanischer Dominanz in der Kunst, zwischen 1950 und 1975, ausgerechnet ein Deutscher ins Solomon R. Guggenheim Museum eindrang, irritierte die Kritik. Wie konnte Beuys es wagen, das Museum für seine Ausstellung zu verdunkeln, so dass «dieses schönste aller zeitgenössischen Museen – durch Frank Lloyd Wrights genialen Entwurf einer sich zur Kuppel öffnenden Spirale mit Licht und Wärme erfüllt, plötzlich abgedunkelt und im Dämmerlicht erschien.»[13] Dass der Kampfflieger Beuys sich von Tataren in warmen Filz einwickeln ließ, war schon absurd genug. Dass ihn als Künstler nun ausgerechnet in New York, dem Ort, wo so viele vor den Deutschen geflüchtete Juden Schutz gefunden hatten, die warme Spirale des Guggenheim Museums aufnahm, war ein Skandal.
Für Buchloh stand fest, dass Beuys einen Mythos schuf, um seine Beteiligung am Krieg und am Faschismus zu verdrängen. Gerade die Negierung von Beuys’ Anfängen in der historischen Phase des Faschismus würde bestätigen, dass jeder Aspekt seines Werkes aus diesem hervorgegangen und davon abhängig sei.[14] Die Kritik saß. Buchlohs später revidierte These, dass Beuys’ Kunst im Faschismus wurzle und ein Symptom für die Wirkung des Nationalsozialismus sei, griffen Frank Gieseke und Albert Markert in ihrem Buch Flieger, Filz und Vaterland (1996) wieder auf. Sie kamen zum Schluss, dass sich die «wesentlichen Gedanken seiner Ideologie aus faschistischem und neurechten Gedankengut herleiten lassen» und er sich «spätestens seit Anfang der siebziger Jahre» am «politisch rechten Spektrum der Bundesrepublik» orientierte.[15] Beat Wyss bezeichnete Beuys 2008 in einem Essay mit dem Titel «Der ewige Hitlerjunge» als «Wiedergänger der dreißiger Jahre».[16] Der «alte Wandervogel» habe «historische Verdrängungsarbeit» und «Vergangenheitsbeschönigung» ins Werk gesetzt.[17] Hans Peter Riegel schloss in seiner 2013 erschienenen Biographie an diese Argumentationslinie an.[18]
Auch wenn man die Folgerungen dieser Kritiker nicht teilt: Sie hielten der Beuys-Rezeption den Spiegel vor und setzten eine Debatte in Gang. Sie bemängelten, dass die meisten Interpreten den historischen Kontext von Beuys’ Kunst ausblendeten und zum Beispiel die nationalsozialistische Vergangenheit von Menschen wie August Haußleiter oder Karl Fastabend, mit denen er in den 1970er Jahren zusammenarbeitete, ignorierten. Sie legten den Finger auf eine Interpretation, die Beuys bedingungslos heroisiert und zu einer moralischen Leitfigur stilisiert, die über jeden inneren Widerspruch erhaben ist. Die Geschichte des Flugzeugabsturzes wurde das Fundament der glühendsten Bewunderer von Beuys wie auch seiner ärgsten Kritiker. Für seine schwer verständliche Ikonographie bot sie beiden Lagern einen Schlüssel zur Bedeutung der Materialien Filz und Fett und zur Thematik von Tod und Krieg.
Kritiker und Anhänger verhielten sich wie Parteien in einem Prozess. Für die einen war die Schuld von vorneherein gegeben. Der Nachweis, dass Beuys zu einem Ereignis nicht die Wahrheit sagte beziehungsweise sich widersprüchlich äußerte, war Beweis dafür, dass er ein «Scharlatan» war, der das Publikum mit der «Tatarenlegende» zum Narren hielt.[19] Für die anderen hingegen konnte es im Werk von Beuys gar keine Widersprüche geben, weil nichts von dem, was Beuys sagte oder tat, angezweifelt werden durfte und scheinbare Ungereimtheiten daraus resultierten, dass die Kritiker ihn (noch) nicht verstanden.
Wie kommt es, dass ausgerechnet Beuys völkisches Gedankengut, mangelnde Selbstreflexion und Vergangenheitsbeschönigung vorgehalten wurden? Also just einem Künstler, der sich seit den mittleren 1960er Jahren permanent für die Freiheit der Menschen aussprach, der sich bei jeder Gelegenheit als Vermittler und Helfer anbot, der sich kritisch gegenüber jeder Art von Autorität und Machtmissbrauch äußerte. Einem Künstler, der Anfang der 1970er Jahre seine Rolle als Mitglied der Hitlerjugend und als freiwilliger Soldat im Zweiten Weltkrieg offen deklarierte und sich zu keiner Zeit als Opfer darstellte. Einem Künstler schließlich, der Verantwortung übernahm, für politische Ämter kandidierte und zu den Mitbegründern der Bundespartei «Die Grünen» gehörte.
Anhänger und Kritiker betrachteten die Biographie von Beuys als den Schlüssel zur Bedeutung seines Werks. Sie bestärkten damit letztlich das Klischee, dass Künstler Menschen außerhalb der Normen sind. Aber gerade diese Fixierung, die Beuys selbst durch seine Interviews auch förderte, engt den Zugang zum Werk heute teilweise ein. Warum sollte ein Kriegserlebnis die Ursache dafür sein, dass jemand Künstler wird? Warum sollte eine persönliche Krise die Erklärung liefern für ein künstlerisches Werk? Warum muss Kunst aus einem Defekt hervorgehen und Kompensation für einen Mangel sein?
Es ist Zeit, die Fixierung des Werks auf die Biographie zu lösen, sich von tradierten Erklärungsmustern zu befreien und die Kunst von Beuys stattdessen in den weiteren Zusammenhang mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu rücken. Beuys ist nicht der erste Künstler, in dessen Biographie sich Fakten und Fiktionen mischen. Ursprungsmythen, die Mischung aus Fakten und Erfindungen und die Heroisierung des Künstlers als Genie sind seit der Renaissance Elemente der Künstler-Biographik. Den Gipfel erreichte der Geniekult in Europa im späten 19. Jahrhundert während der Konsolidierung des Deutschen Reichs. Damals erschuf die zwischen dem Proletariat und der Aristokratie situierte, politisch unterrepräsentierte bürgerliche Mittelklasse die Figur des kulturellen Heroen, auf den die Hoffnung der Versöhnung der Klassen – und die adäquate Teilhabe an der Macht – projiziert wurde. Kulturheroen reichten von historischen Vorbildern wie Albrecht Dürer und Martin Luther über Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Schiller, Ludwig van Beethoven bis zu Zeitgenossen wie Richard Wagner, Arnold Böcklin und Giovanni Segantini. Keine einzige Frau, keine einzige außereuropäische Figur kommt in diesem Pantheon vor.
Der Impuls der Versöhnung wirtschaftlicher und sozialer Konflikte mittels Kultur, der im späten 19. Jahrhundert ausgelöst wurde, setzte sich im 20. Jahrhundert fort. Er motiviert das Werk des Philosophen und Aktivisten Rudolf Steiner, auf den sich Beuys für seine eigenen Theorien stützte. Und er findet sich auch im Werk von Beuys, der keinen Zweifel daran hatte, dass die Kultur der Schlüssel zu Versöhnung und Verbesserung der gesellschaftlichen Konflikte sei. Die Ideen des späten 18. und 19. Jahrhunderts sind in seinem Werk allgegenwärtig, von der Begeisterung für die Französische Revolution, für Schiller und Novalis bis zu längst überholten Vorstellungen wie denjenigen des «Nordischen», des «Westmenschen» und des «Ostmenschen». Es gibt bei Beuys durchaus Aspekte einer wertkonservativen Haltung, von der Rolle der Familie über die Skepsis gegenüber neuen Technologien und der Konsumgesellschaft bis hin zur Ablehnung des Kommunismus. Aber ich finde in seinen Werken und Äußerungen nicht das geringste Anzeichen einer völkischen oder neurechten Haltung.
Virulent ist gerade das, was die Kritik Ende der 1970er Jahre überforderte, nämlich dass Beuys sich zu seiner Vergangenheit bekannte. Im Unterschied zur Idee des Neubeginns, auf welche die Kunstdiskussion fixiert war, im Unterschied zur Idee der Periodisierung, die in der damaligen Debatte um den Unterschied zwischen Moderne und Postmoderne vorherrschend war, demonstrierte Beuys Kontinuität. So wie er nie auf weiße, neue Blätter zeichnete, sondern bereits benutzte Umschläge verwendete, auf denen die Spuren früheren Gebrauchs sichtbar waren, so wie manche seiner Werke von Fettflecken durchtränkt waren, so durchdrang für ihn die Geschichte die Gegenwart. Die tabula rasa, das leere Blatt, kommt in seinem Werk ebenso wenig vor wie der Spiegel, der das Hier und Jetzt reflektiert.
Ich folge nicht der Idee, dass der Krieg der Grund dafür ist, dass Beuys Künstler wurde, und dass eine persönliche Krise die Ursache für die grundlegende Veränderung des Werks um 1960 ist. Mich interessieren nicht persönliche Krisen von Beuys als solche, sondern die Methode, mittels derer er persönliche, aber auch historische, politische, städtebauliche und ökonomische Krisen künstlerisch produktiv machte. Und ich folge auch nicht der Idee, dass seine Kunst die Zeitgenossen polarisierte, weil sie diese mit der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg konfrontierte. Aus meiner Perspektive ist seine Auseinandersetzung mit der Bonner Republik, der europäischen Einigung und dem Kalten Krieg, also dem Konflikt zwischen dem kapitalistischen und dem sozialistischen Block brisanter als der Rückblick. Ich werde deshalb die Rückbindung an die eigene Biographie ersetzen durch eine Koppelung an die allgemeine Geschichte der Nachkriegszeit.
Wie sonst vor allem bei surrealistischen Kunstwerken, beispielsweise von Salvador Dalí, Marcel Duchamp oder Meret Oppenheim, rufen die Werke von Beuys das Bedürfnis hervor, etwas verstehen zu wollen. Die Kombination des scheinbar Vertrauten in neuen Zusammenhängen weckt den hermeneutischen Reflex, Rätsel zu entziffern, Bedeutung zu entschlüsseln. Dies führte im Lauf der Zeit dazu, dass, um Mladen Dolar zu paraphrasieren, Beuys regelrecht «von Interpretationen umstellt» war.[20] Als ich Anfang der 1990er Jahre mit Harald Szeemann darüber sprach, meinte er, dass Beuys sich eben nur durch Beuys erklären ließe. Neben Tisdall hat als Kurator Szeemann wohl am meisten für die Rezeption von Beuys geleistet. Aber gerade sein Anspruch, den Schlüssel zum Zugang zu besitzen, hat mir den Zugang erschwert. Ich machte dann auch lange Zeit einen weiten Bogen um Beuys, weil mir der Kult um seine Künstlerfigur, der apologetische Tonfall der meisten Interpretationen und das Gerangel um die Deutungshoheit anachronistisch erschienen.
Die Verklärung eines Künstlers erinnerte mich an den Geniekult des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Der Eifer, mit dem die Bedeutungen des Werks entschlüsselt wurden, erinnerte mich an die mechanischen, ikonographischen Fleißübungen, die mir im Studium in den Seminaren der mittelalterlichen Kunst auferlegt wurden. Susan Sontags Against Interpretation (1966) in der Tasche, war ich ohnehin skeptisch gegenüber der Hermeneutik. Ich verstand nicht, warum Beuys-Schüler die Stimme senkten, wenn sie von seinem Humor sprachen. Kurz gesagt, ich wollte mich nicht mit einem Werk befassen, dem man wie einem Orden beitreten musste.
Mich treibt, im Sinne von Gilles Deleuze und Felix Guattari, weniger die Frage «Was bedeutet das?» an als «Wie funktioniert das?». Ich frage deshalb weniger nach der spezifischen Ikonographie von Beuys’ Werk als nach dessen Funktion. Wie kam es, dass das Werk von Beuys zu seinen Lebzeiten die Öffentlichkeit polarisierte und bis heute die Interpretation in Bewegung hält? Wie prägen die historischen Ereignisse nach seinem Tod, namentlich die deutsche Wiedervereinigung, die Rezeption eines Werks, dessen Strahlkraft zur Zeit des Kalten Kriegs und im Kontext der Bonner Republik am größten war? Und wie verschiebt sich die Wertung eines charismatischen Künstlerbildes angesichts der wachsenden Rolle von Künstlerkollektiven und multipler Autorschaft? Ich bin natürlich nicht der erste, der solche Fragen stellt, sondern kann mich auf viele Vorgänger stützen. Um nur einige zu nennen: Theodora Vischer hat mit Joseph Beuys: Die Einheit des Werks (1991) die Türen aufgestoßen und Beuys aus dem von ihm gezogenen Interpretationsrahmen geholt und in einem weiteren ideen- und kulturhistorischen Rahmen lokalisiert.[21] Barbara Lange hat mit Joseph Beuys, Richtkräfte einer neuen Gesellschaft (1999) das Werk in einen politischen und bildungspolitischen Zusammenhang gesetzt.[22] Und Peter Chametzki hat mit Objects as History in 20th Century German Art (2010) getan, was der Kunstgeschichte, die am liebsten alles nach 1945 neu beginnen lassen würde, besonders schwerfällt, nämlich statt der Brüche und Zäsuren die Kontinuität zu sehen, die Beuys mit der Kunst der 1930er und 1940er Jahre verbindet.[23]
Beuys wagte sich mit seiner Kunst weit auf das Terrain der Politik vor. Aber er war nie «staatstragend» wie der britische Künstler Henry Moore, dessen Skulptur Large Two Forms (1979) vor dem Bonner Kanzleramt platziert wurde, Gerhard Richter, dessen Farbkunstwerk Schwarz Rot Gold (1999) als Kunst am Bau im Reichstagsgebäude angebracht wurde, oder Hans Haacke, dessen Installation Der Bevölkerung (2000) im Lichthof des Reichstagsgebäudes aus Erde und Pflanzensamen besteht, welche die Abgeordneten aus ihren Wahlkreisen nach Berlin gebracht hatten, als ob sie damit Gras über die Erinnerung der deutschen Teilung wachsen lassen könnten. Im Gegensatz zu solchen Auftragsarbeiten, welche die politischen Strukturen naturalisieren, strebte Beuys danach, diese zu verändern. Die Namen seiner Künstlerkollegen, die Mitte der 1970er Jahre für die Unterstützung der SPD votierten, druckte er auf eine Postkarte mit der Überschrift «Kitschpostkarte». Heute wäre es unvorstellbar, dass ein hoher Politiker auf eine Künstlerin oder einen Künstler überhaupt eingeht. Beuys musste sich bereits 1964 vor dem Ministerium rechtfertigen, weil er die Erhöhung der Berliner Mauer vorschlug. 1972 erhielt er auf einen offenen Brief an Herbert Wehner, den Fraktionsvorsitzenden der SPD, eine wütende persönliche Antwort, die mit dem Satz anhob: «auch die stärksten Beleidigungen, die Ihr offener Brief vom 9. Mai 1972 enthält, können mich nicht abhalten, ein kurzes Wort der Erwiderung zu sagen.»[24]
Die Landschaft, die ich für die 24 Tableaus durchquere, reicht deshalb über das Terrain der Kunstgeschichte hinaus. Meine Hypothese ist, dass in den 1970er Jahren, also auf halbem Weg zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Beginn des «Empire» im Sinne von Michael Hardt und Antonio Negri ab den frühen 1990er Jahren in Europa eine Art von Machtvakuum bestand, innerhalb dessen die Kultur vorübergehend eine große Handlungsmöglichkeit und Hebelwirkung erhielt.[25] In dieser Phase, ausgelöst durch die Studentenbewegungen, sah es so aus, als ob die Karten von Politik, Gesellschaft und Ökonomie neu gemischt würden und die Kunst für einen kurzen Moment die Chance hätte, auf den Lauf der Geschichte Einfluss zu nehmen. Beuys nutzte diese Chance, mischte sich ein und scheute sich nicht vor Konfrontation.
Das Werk von Beuys steht in den 1970er und 1980er Jahren im Schnittpunkt dieser historischen Konstellation. Es verläuft zeitlich parallel zum Prozess der europäischen Integration. 1952 trat die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl in Kraft. 1957 wurde die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, 1962 das Europäische Parlament gegründet. Anfang der 1970er Jahre erfolgte die Gründung der Europäischen Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, welche die Länder beider damaligen Blöcke zusammenbrachte. 1985 wurden mit dem Schengener Abkommen die Grenzkontrollen aufgehoben und 1992 dann mit dem Vertrag von Maastricht die Europäische Union gegründet. Zeitlich gesehen, fällt die künstlerische Wirksamkeit von Beuys zusammen mit der Zeit der Bonner Republik und der Phase der europäischen Einigung. Zum Glück gibt es ein Buch, das die unerhört komplexe europäische Nachkriegsgeschichte auf ebenso inspirierende wie anschauliche Art darstellt, nämlich Tony Judts Geschichte Europas (2009).[26] Es diente mir auf meiner Reise als Guide.
Ich begann mit der Arbeit an dem Buch im Herbst 2019. Mein Plan war, möglichst viele Beuys-Werke und -Schauplätze zu besuchen sowie Zeitzeugen zu treffen. Ich bin ein Anhänger des «Reenactment» und glaube, dass die Reisen auf den Spuren von Künstlern stets auch Begegnungen mit Quellen sind und zu unerwarteten Einsichten führen. Dann geschah etwas, was niemand erwartet hätte, eine Pandemie brach aus, ein Land nach dem anderen schloss seine Grenzen, und ich konnte wie alle anderen meine Reisen nur noch im Sessel unternehmen.
Die Reisen in die Abruzzen, nach Neapel, nach Gent und Schottland und mit ihnen die Zufälle, die Unerwartetes zutage fördern und den Horizont verschieben, konnten nicht stattfinden. Stattdessen habe ich mich stärker auf die Berichte von anderen gestützt, sei es in Büchern oder in den vielen Filmen, Bildern und Texten im Internet. Der Echo-Raum der Bücher und Kataloge, die ich während der Wochen, in denen die Bewegung auch in Zürich eingeschränkt war, vom Büro in unsere Wohnung gebracht hatte, verstärkte den hermeneutischen Sog, dem ich ja auszuweichen suchte. Zugleich wurde mir bewusst, welches Privileg die Bewegungsfreiheit bedeutet. Angesichts der geschlossenen Grenzen und der Reisebeschränkung, angesichts des Himmels, in dem kein Flugzeug zu sehen war, fiel es mir leichter, mich in die Zeit der 1950er und 1960er Jahre zu versetzen, als Reisen rar und kostbar waren. Wenn mein Buch die Leserinnen und Leser, namentlich die Jüngeren, motiviert, zu den Werken von Beuys zu reisen, real oder in Gedanken, dann hat es seinen Zweck erfüllt.
2. Tableau
«Der Tod ist doch keine Grenze.
Der Tod ist das Leben.»[1]
Joseph Beuys in seinem Atelier im Klever Kurhaus mit dem Holzkreuz für das Büdericher Ehrenmal 1958.
Für das Ehrenmal für die Toten zweier Weltkriege der Gemeinde Büderich holte Beuys die Monumentalskulptur buchstäblich von ihrem Sockel. Er verband als Künstler die Schwere der Trauer mit der Schwerkraft der Erde. Zugleich war es sein letztes Auftragswerk. Fortan wandte er sich der Gegenwart zu – auch dem Thema des Kalten Kriegs – und gab sich seine Aufträge selbst.
Als ich an einem sonnigen Wintermorgen Anfang Februar 2020 beim Alten Kirchturm von Büderich ankam, dröhnte alle paar Minuten ein Flugzeug über den Ort. Büderich, heute ein Stadtteil von Meerbusch, liegt in der Startschneise des Düsseldorfer Flughafens. Vor sechzig Jahren war es eine Oase der Ruhe, nahe dem Zentrum von Düsseldorf gelegen und zugleich weit draußen auf dem Land. Hier stand das Atelier und das Wohnhaus von Ewald Mataré, Beuys’ Lehrer und Mentor an der Kunstakademie Düsseldorf, mit dem ihn ein familiäres Verhältnis verband. Seine Tochter schnitt Beuys exklusiv die Haare. Hier wohnte auch sein Freund Erwin Heerich, mit dem er in Düsseldorf das Meisterschüleratelier geteilt hatte. Beuys gewann im Mai 1957 den 1955 ausgeschriebenen Wettbewerb für das Ehrenmal der Gefallenen der beiden Weltkriege. Auch Mataré war unter den vier zum Wettbewerb eingeladenen Künstlern gewesen, reichte aber keinen Entwurf ein und ebnete so seinem einstigen Zögling den Weg.[2] Ende 1959 konnte Beuys sein erstes Werk im öffentlichen Raum einweihen. Es brachte ihm den künstlerischen Durchbruch und trug dazu bei, dass er 1961 auf die Professur für monumentale Bildhauerei an die Kunstakademie Düsseldorf berufen wurde.
Büdericher Ehrenmal, Tor, 1959
Das Scharnier knarrte, als ich mit einiger Anstrengung den Flügel des schweren Holztores öffnete. Eine Türfalle gibt es nicht. Jeder der beiden Flügel ist durch ein Eisenelement gekrönt, das an altertümliche Geräte oder Waffen erinnert. Zwischen den Spalten der Bretter konnte ich ins Innere blicken. Erst jetzt fielen mir die Namen der Toten auf, die auf beiden Seiten in die Türfüllung eingekerbt sind. Ohne Angaben von Daten oder Dienstgraden bilden die Buchstaben ein Feld von runenartigen Zeichen. Es sind die Namen der Büdericher Einwohner, die in den beiden Kriegen starben, nicht nur Soldaten, sondern offenbar auch Zivilisten, darunter auch Frauennamen. Die Namen sind nicht aufgemalt, sondern in die harte Oberfläche des Eichenholzes geschnitzt. Je nach Lichteinfall sind sie besser oder schlechter lesbar.
Um einzutreten, musste ich das Material, in dem die Namen der Toten verewigt sind, selbst berühren und bewegen. Die Verbindung mit der Vergangenheit geschah über den Gesichtssinn ebenso wie über den Tastsinn. Diese haptische Erfahrung wurde noch verstärkt durch die eisernen Türbeschläge. Ich musste aufpassen, mich an den rauen, rostigen Kanten der Beschläge nicht zu verletzen. Es kostete Mühe, die Namen zu entziffern, und es kostete Mühe, die Tür aufzudrücken. Weder körperlich noch mental konnte ich auf Distanz bleiben.
Büdericher Ehrenmal, 1959
Als ich das mit Kopfsteinpflaster bedeckte Innere betrat, überraschte mich das Tageslicht, es fällt von oben über einige romanische Fenster ein. Die Mauern sind weiß geschlämmt. Zur Linken schien eine stilisierte Figur des auferstandenen Christus zu schweben. Sie besteht aus demselben massiven Holz wie die Türflügel. Die Figur ist aufgehängt an einer Reihe von Eisenstäben, steifen Kettengliedern sozusagen, die sich über die ganze Höhe des Turmes erstrecken. Die Schwere des Tores, das auch zu einer Gruft oder einer Festung führen könnte, kontrastiert mit der scheinbaren Leichtigkeit des Bildes der Auferstehung. Während ich am Tor buchstäblich Hand anlegen musste, zögerte ich, die Auferstehungsfigur zu berühren. Sie richtet sich nicht an den Tastsinn, sondern an das Auge und die Imagination.
Der Alte Kirchturm auf einer Grünanlage an der Dorfstraße ist alles, was von einer mittelalterlichen Kirche übriggeblieben ist, die Ende des 19. Jahrhunderts abbrannte. Denkmalgeschützt, aber ohne Funktion. Vorübergehend diente er als Trafo-Station. Anfang der 1950er Jahre beschloss die Gemeinde, die Anlage als Denkmal für die gefallenen Soldaten der beiden Weltkriege zu nutzen. Parallel dazu entstand auf dem nahen Friedhof ein weiteres Mahnmal für die Toten der Weltkriege, entworfen von Adolf Westergerling, ebenfalls ein Mataré-Schüler. Der Opfer des Holocaust gedachte die Gemeinde erst viel später. 1988 wurde auf dem Friedhof ein Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus errichtet und 2001 an ihrem ehemaligen Wohnhaus eine Gedenktafel für die ermordete Familie Herz angebracht.
Beuys schuf für das Thema keine freistehende Monumentalskulptur im Freien, sondern ein Environment, also eine Umgebung, die den Betrachter mit einschließt. Der Alte Kirchturm ist somit mehr als ein Rahmen oder Hintergrund für die Objekte. Er ist ein Fragment einer ehemaligen, nicht mehr geweihten Kirche, aber ebenso Teil eines damals zeitgemäßen Ausstellungsdispositivs. Die weißgeschlämmte Steinmauer als Ausstellungsraum kannte Beuys zweifellos von seinem Besuch der Documenta 1 in Kassel 1955. Arnold Bode hatte Kunstwerke mittels dunkler Metallstäbe vor die weißgeschlämmten Mauern des ausgebrannten Fridericianums platziert.
Constantin Brancusi, Säule der Unendlichkeit, 1938
Ähnlich wie Constantin Brancusi sein Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs in Târgu Jui (1938), die Säule der Unendlichkeit, eine aus Modulen zusammengesetzte Metallsäule, als «Stütze für das Himmelszelt» bezeichnete, so führt die Kette aus Eisenstäben im Ehrenmal den Blick nach oben. Gläubige und Hinterbliebene werden durch sie auf die Auferstehung Christi und die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod hingewiesen. Meine Aufmerksamkeit lenkten sie auf den Raum. Ich nahm das abwesende Kirchenschiff wie einen großen Negativraum wahr und spürte ein beklemmendes Gefühl von Leere und Verlust.
So wie ich das schwere Tor mühsam aufstoßen musste, um den Zusammenhang des Büdericher Ehrenmals zu sehen, so erschließt sich auch die Auseinandersetzung Beuys’ mit der Nachwirkung der beiden Weltkriege nicht auf Anhieb. Er selbst erwähnte es später nur selten. In Joseph Beuys Lebenslauf/Werklauf (s. Abb. S. 299), der ab 1964 geführten poetischen Darstellung seines Werdegangs, taucht es nicht auf. Während Beuys eigene Plastiken aus den 1950er Jahren später mehrfach in Werke integrierte, war das Büdericher Ehrenmal ein abgeschlossenes Projekt, mit dem Beuys eine künstlerische Tradition hinter sich ließ. Auf der Aufnahme von Fritz Getlinger, die Beuys mit der fast fertigen Holzskulptur zeigt (s. Abb. S. 26), ist die ambivalente Haltung des Künstlers zu spüren. Er posiert förmlich, in Anzug und Hut, im etwas zu säuberlich aufgeräumten Atelier in Kleve, wie jemand, der erleichtert ist, einen Auftrag erledigt zu haben. Ab jetzt, scheint er zu sagen, gebe ich mir meine Aufträge selbst und kleide mich so, wie es mir passt.