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© 2020 Ernst Frischknecht
Umschlagdesign, Satz, Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-7494-0478-0
Dieses Büchlein enthält Erinnerungen an eine Welt, die untergegangen ist. Ich erzähle von meiner Zeit als Pfadfinder in der katholischen Pfadfinderabteilung Suso in Winterthur in den späten Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts. Verbunden damit sind allgemeine Bemerkungen zu Erziehungfragen, zum Zeitgeist und zu den Mentalitäten in diesen Jahren.
Meine Aufzeichnungen sind persönlicher Art und daher einseitig. Andere werden diese Jahre anders erlebt haben und anders sehen. Ich war alles in allem ein braver, gewissenhafter und empfindlicher Bub, der sich von den verschiedenen Instanzen, die sich zuweilen sehr energisch um seine Erziehung bemühten, über Jahre hinaus stark beeindrucken liess. Rückblickend ist aus heutiger Sicht in manchen Bereichen Kritik angebracht. Wer daran Anstoss nimmt, möge aber doch bedenken, dass ich insgesamt zu durchaus positiven Schlüssen komme.
Jahrelang nahm die Pfadfinderbewegung einen grossen Teil meiner Zeit in Anspruch, zusammen mit der Schule, der Kirche, dem Sport und einigen anderen Interessen. Auch nach sechzig Jahren sind viele Erinnerungen an diese Zeiten geblieben, und anderen Pfadikameraden geht es gleich. Gerne setzen wir uns zusammen und tauschen Erinnerungen aus. Rückblickend erscheinen uns diese Jahre als eine unbeschwerte, glückliche Zeit, an die wir nicht ohne Wehmut zurückdenken.
Meine Erinnerungen sind naturgemäss lückenhaft und erfüllen keine wissenschaftlichen Ansprüche, auch wenn ich diese als Historiker gerne erfüllen würde. Was ich zu zeigen versuche, sind mikroskopisch kleine, aber vielleicht nicht uninteressante Ausschnitte aus einer Winterthurer Alltagsgeschichte. Ich möchte damit auch einen kleinen Beitrag zur schweizerischen Gesellschaftsgeschichte leisten. Besonderes Augenmerk liegt auf den Versuchen, erzieherische Ideale zu verwirklichen. Ich rede von Versuchen, weil die Erfolge eben nicht immer eintraten.
Das Buch soll auch ein Lesebuch sein. Eigene Texte stehen manchmal unvermittelt zwischen Zitaten. Diese stammen aus Pfadizeitschriften, aus dem »Thilo«, dem in zahlreichen und grossen Auflagen erschienenen »Schweizer Pfadfinderbüchlein« von Ernst Thilo, sodann und vor allem aus dem »Suso«, dem Mitteilungsblatt der gleichnamigen Pfadiabteilung. Es liegt mir daran, viele und längere Auszüge aus diesen Quellen einzufügen, denn sie bezeugen auf ihre Art sehr schön die damaligen Mentalitäten, die noch intensiver erforscht werden könnten. Der »Suso« ist nur noch in wenigen Exemplaren erhalten. Die dort mit einfachen Mitteln (Wachsmatrizen) publizierten Artikel verdienen es aber, so will es mir scheinen, für die Nachwelt erhalten zu bleiben.
Mögen die Leserinnen und Leser durch diese Texte zu eigenen Gedanken angeregt werden.
An einem Winterabend Ende 1955 läutete es an der Gutstrasse 24 an der Haustüre. Zwei Jugendliche stellten sich als Pfadiführer vor und wünschten, meinen Eltern etwas über die Pfadibewegung zu berichten. Sie durften hineinkommen und setzten sich an den Stubentisch, ganz wie vor einigen Wochen zwei Missionare der Mormonen, die meine Eltern nachher kaum mehr wegschicken konnten. Die Erklärungen der beiden Pfadiführer richteten sich ganz an die Eltern, vom kleinen Buben, der irgendwo im Hintergrund leicht verängstigt auf einem Stühlchen sass, nahmen sie kaum Notiz. Sie kamen von den «Suso» und sie waren «Hartmannen» und bewirkten allein schon mit diesem beeindruckenden Namen, dass sie von den Eltern als Respektspersonen behandelt wurden und der Bub nichts zu sagen wagte.
Die »Hartmannen« waren also da. So hiess ein Trupp der katholischen Pfadfinderabteilung »Suso«, der Buben aufnahm aus dem Gebiet unserer Herz-Jesu-Pfarrei im Breite- und Mattenbach-Quartier. Was die beiden Werber sagten, verstand ich nicht alles. Ich verstand aber, dass es um mich ging, den kleinen, damals neunjährigen Buben. Sie fragten am Ende meine Eltern, ob sie mich nicht auch zu den Pfadfindern schicken möchten.
Von den Pfadfindern wusste nicht viel. Ein erstes Mal begegnete ich ihnen, als mich die Tante, die gegenüber von uns gewohnt hatte, noch am früheren Wohnort, an der Bürglistrasse in Veltheim, an einen Familienabend der Suso im Kirchgemeindehaus mitgenommen hatte. Ich war damals fünf oder sechs Jahre alt. Man sah es dem langen Häuserblock an der Wartstrasse nicht an, dass drinnen ein grosser Saal zu finden war. Ein langer schmaler Gang führte zum Eingang, wo sich die Kasse befand. Als ein erstes Wunder erschien mir ein grosser Tisch, auf dem viele herrlich duftende Kuchen zu sehen waren. Sie waren von Pfadimüttern gebacken worden und wurden in der Pause den Besuchern verkauft.
Meine Tante führte mich hinauf auf die kleine Galerie, wo wir in der Mitte einen der besten Plätze eroberten. Ich war tief beeindruckt von den unerhörten Darbietungen, die nun folgten. Einmal stand sogar eine Mondrakete auf der Bühne. Die Pfadfinder fuhren wahrhaftig auf den Mond! Ich zweifelte nicht daran, dass dies diesen Alleskönnern bald einmal auch wirklich möglich sein würde. Auf einem Podest spielte auch eine richtige »Musik«, eine vielköpfige Band.
Diese Pfadfinder, daran konnte kein Zweifel bestehen, waren hochtalentierte Menschen, junge Genies, die einfach so ohne weiteres einen wunderbaren Abend herbeizaubern konnten, mit allem Drum und Dran, mit eigenen Plakaten, eigener Musik, eigenen Billeten, eigenen Kostümen, eigenen Texten und Liedern und eigener Bühnentechnik. Nur die Kuchen hatten sie nicht selbst gemacht, die liessen sie von den Müttern backen, die ja gewiss auch ihre Uniformen wuschen und ihre im Wald verdreckten Schuhe putzten. Der Abend war ein grosses Erlebnis und liess mich an uniformierte Halbgötter glauben, an einen besonderen Klub von hochbegabten Buben, zu dem ich gewiss niemals Zutritt erhalten würde.
Jetzt allerdings, an diesem Winterabend, stand ein Beitritt zur Diskussion. Was bewegte wohl die beiden Hartmannen, meine Eltern aufzusuchen und zu überreden, ihnen ihren Sprössling anzuvertrauen? Mir schien das nicht ganz unverdächtig. Wer war ich denn? Was hatten sie mit mir vor? Was konnte von mir erwartet werden? Und was bedeuteten diese Namen? »Suso«? Das tönte irgenwie komisch. Wie der Name einer Brausetablette. »Hartmannen« tönte weniger komisch. Waren die Hartmannen besonders harte Burschen, und wurde jeder, der beitrat, abgehärtet zu einem Hartmann?
Die Eltern liessen sich überzeugen, dass es für ihren Buben gut wäre, Pfadfinder zu werden. Ist er nicht ein Stubenhocker, dachten sie sich im Stillen. Liest er nicht viel zu viel und erst noch Schundheftli? Tarzan und Jerry Cotton! Würde es ihm nicht gut tun, die Samstagnachmittage im Wald zu verbringen, mit Karten und Kompass, bei jedem Wetter? Oder an Nachtübungen und Lagern teilzunehmen und Pflanzen zu studieren und im Zelt zu schlafen? Obwohl ich von diesen Perspektiven nicht besonders begeistert war, meldeten mich die Eltern bald einmal an. Vielleicht hatte sich bei diesem Entscheid auch die Urgrossmutter eingemischt oder der Onkel und Götti, der in solchen Familienfragen konsultiert wurde. Mein Götti war auch Pfadi gewesen und bekleidete in der Suso noch immer ein besonderes Amt. Er war Quartiermeister! Was mochte wohl ein Quartiermeister machen? Gewiss etwas Geheimnisvolles, das von einem Bubenverstand nicht begriffen werden konnte. Später erfuhr ich, dass der Quartiermeister der Kassier war. Er trug den Pfadinamen Fackel, und was der Fackel jeweils sagte, liess sich nicht so leicht widerlegen.
Und waren nicht auch die Pfarrer und Vikare im Pfarrhaus der Herz-Jesu-Kirche, die hohes Ansehen genossen, der Ansicht, dass die Pfadfinder, vor allem die katholischen, eine nützliche und gute Einrichtung seien? Und kümmerte sich neben den Pfadiführern nicht auch ein Geistlicher, der Präses, ganz besonders um die Pfadfinder?
Vor kurzem hatte der Präses der Hartmannen sehr gut und treffend gesagt, um was es ging. Im »Suso«, dem Mitteilungsblatt dieser Pfadfinder, hatte er geschrieben:
»Was der Mensch in seiner Jugendzeit wird, das bleibt er später. Jugend ist der erste Waffengang, Jugend gibt die Richtung an, in der später das Leben verläuft, Jugend ist der Auftakt zum Leben. Da fällt die Entscheidung und meist ist sie bedeutend für das ganze Leben.«
Und im »Kompass«, der Zeitschrift des Verbandes der katholischen Pfadfinder, die zehnmal jährlich erschien und in Winterthur gedruckt wurde, war eine Auffassung zu lesen, die weit verbreitet war:
»Wie manches einzige Muttersöhnchen verdankt es nur den Pfadi, dass es noch lernte, mit anderen umzugehen und nicht seiner Lebtag ein unverstandener, zurückgezogener Eigenbrötler geworden ist?« (Juni 1948)
Aus dem Buben sollte doch auch etwas Rechtes werden, mehr als einer, der immer nur folgen muss, mehr als nur ein Bauarbeiter, und mehr als nur einer, der mit dem «Übergwändli» an einer Drehbank stand. Bei den Pfadi kommt er an die frische Luft und ins richtige Leben. Ein Bub sollte seine freie Zeit nicht in der warmen Stube verbringen, mit Büchern, Baukästen und Briefmarken. Und auch Kälte oder Regen konnten ihm nur gut tun, zumal ihn ja sein Pfadihut und die Windjacke schützen würden. Man stellte mir die Sache so dar, dass ich trotz einer gewissen Scheu vor dem Unbekannten, das da auf mich zukam, nichts gegen einen Beitritt einzuwenden wusste. Dieser wurde wohl oder übel beschlossen, und so kam die Pfadfinderwelt über mich wie ein Naturgeschehen.
Bevor ich weiteres von meinen Erlebnissen berichte, möchte ich einige allgemeine Bemerkungen machen. Es geht mir bei diesen Aufzeichnungen nicht nur um mich und die kleine Welt, die sich mir da auftat. Ich möchte diesen Bericht auch in einen grösseren, zeitgeschichtlichen Rahmen stellen. Die Pfadfinderbewegung ist ja nur bedingt ein Zeitvertreib und eine beliebige Freizeitaktivität. Sie hatte und hat immer auch hohe erzieherische Ziele. Sie ist, wissenschaftlich ausgedrückt, eine Sozialisationsinstanz. Zusammen mit anderen Kräften, mit dem Elternhaus, der Schule, der Kirche und auch dem Militär, will sie junge Menschen zu brauchbaren, fleissigen, disziplinierten, verantwortungs-und pflichtbewussten Gliedern einer Gemeinschaft formen.
Diese Ziele mögen heutigen Leserinnen und Lesern vielleicht überholt und altmodisch vorkommen. 1956 waren sie aber da, vielfach als Gebote formuliert, energisch vorgetragen und für die Buben sofort spürbar.
Historikerinnen und Historiker sehen in den fraglichen Jahren mit Recht einen Zusammenprall zweier Welten. Auf der einen Seite stehen Autoritäten, die traditionelle Werte vertreten. Bedrohungen und Krisen, Kriegszeiten, harte Lebensbedingungen, die Geistige Landesverteidigung verlangten Disziplin, Arbeit, Pflichtbewusstsein, Gehorsam, körperliche Ertüchtigung und Vaterlandsliebe. Elternhaus, Schule und Kirche vertraten diese Werte, allerdings, und dies muss sofort beigefügt werden, in unterschiedlicher Dosierung. Ich hatte das Glück, stets auch Offenheit oder zumindest Toleranz zu finden für das Neue, das sich ankündigte. Was ich spürte, war eher ein schleichender Übergang, ein Schwinden von Traditionen, stets begleitet von Klagen der Vertreter der älteren Generation, die sich resigniert auf dem Rückzug befand. Ich habe nur selten einen schmerzhaften Zusammenprall erlebt, und es gab in meinem Umfeld kaum je offenen Streit.
Auf der anderen Seite nämlich kündigte sich eine neue, »moderne« Welt an. Ein wachsendes Freiheitsbedürfnis machte sich geltend. Der Wohlstand wuchs spürbar, eine beispiellose Hochkonjunktur setzte ein, die Lebensverhältnisse orientierten sich zunehmend am amerikanischen Vorbild. Der Fernseher hielt Einzug in die guten Stuben. Haushaltgeräte wie der Kühlschrank oder die Abwaschmaschine wurden Standard. Schlager, Jazz und die Anfänge der Rockmusik verdrängten die Pfadilieder, und Micky-Maus-Hefte und «Kioskliteratur» besassen erheblich mehr Anziehungskraft als die SJW-Heftli oder der Pestalozzi-Kalender. Nur sensible Gemüter, Intellektuelle und Schriftsteller sahen die grossen Auseinandersetzungen kommen, die gegen Ende der Sechzigerjahre den bis dahin friedlichen, braven und stabilen Politikbetrieb erschütterten.
Uneingeschränkten Beifall fand die rasch wachsende Mobilität. Alle träumten von einer Vespa oder einem kleinen Auto und erfüllten sich diese Wünsche mit dem ersten verdienten Geld. Von der zunehmenden Freizügigkeit unter den Geschlechtern, die in der Werbung und in den Spielfilmen zum Ausdruck kam, habe ich hingegen nur wenig zu berichten. Die hohen Schranken, die hier bestanden, haben wir respektiert. Und vielleicht sind sie in weiten Kreisen bis heute intakt geblieben.
Wir lebten so zur gleichen Zeit in unterschiedlichen Welten. Es waren keine Generationen, die aufeinanderfolgten. Es waren die Elternhäuser, die Pfarreien, die Lehrer oder die Unterschiede von zwei oder drei Altersjahren, die schon viel bedeuten konnten. Ein Kamerad, der 1966 den Hohenlandenberger beitrat, versichert mir, dass er bereits einen ganz anderen »Pfadigeist« erlebt habe.
In den neuen Zeiten, die in den «Fifties» anbrachen, gerieten diese herkömmlichen, für Patriarchen paradiesischen Vorstellungen unter erheblichen Druck. Sie wurden mehr und mehr in Frage gestellt und verschwanden schliesslich, freilich nicht ganz kampflos. In meiner Familie gab es dazu keinerlei Auseinandersetzungen, und mein Vater sah es gar nicht ungern, wenn meine Mutter teilzeit arbeitete und somit etwas zum steigenden Wohlstand der Familie beitrug. In anderen Familien aber, und gerade in katholischen Milieus, war die traditionelle Rollenverteilung noch sehr verbreitet.
Diese Spannungsverhältnisse waren für uns Knaben sehr deutlich zu spüren, vor allem im kirchlichen Leben. Dort ging es ja um nicht mehr und nicht weniger als um das ewige Seelenheil. Wer nicht standhaft war und sich unablässig um ein gutes Leben bemühte, der konnte den Versuchungen des bösen Feindes erliegen und in der Hölle enden. Rückblickend gesehen gaben diese Auseinandersetzungen unserer Jugendzeit eine überaus grosse Intensität und kräftige Farben, die mir heute zu fehlen scheinen. Der Teufel zog nicht nur in rotem Kleid und mit einer grossen Gabel bewaffnet im Fasnachtsumzug durch die Strassen, es gab ihn wirklich.
Aber sehen wir jetzt genauer hin und kehren zurück ins Frühjahr 1956.
Mit dem Beitritt tat sich dem Buben die weite Pfadiwelt auf. Er begegnete Geboten, Gesetzen, Strukturen und Gepflogenheiten, von denen ihm manche sehr seltsam erschienen.
Ich bekam die Hintergründe der Pfadibewegung und deren Sinn nur langsam mit. Vorerst liess ich einfach das offensichtlich Notwendige über mich ergehen, so wie ich schon vorher den Anforderungen der Schule und der Kirche brav und ohne viele Kommentare zu genügen versuchte. Gefreut habe ich mich nicht besonders, als ich eines Abends im Materialmagazin an der Wartstrasse die Pfadiuniform erhielt. Müsste ich vielleicht »fasste« sagen, wie es im Militär heisst? In Kleiderfragen war ich stets recht empfindlich und konnte mich daher vor allem mit dem Hemd, das meine Eltern aus Kostengründen nicht neu kaufen konnten, sondern gebraucht war, nicht anfreunden. Wer mochte es wohl getragen haben? Und was kam nicht alles dazu? Ein Foulard in den Farben der Abteilung, weiss und blau, ein kräftiger Gürtel mit einer metallenen Schnalle, auf der eine Pfadililie abgebildet war und auf der der Spruch Allzeit bereit zu lesen war. Dann ein »Täschli«, eine Pfaditasche, die nicht etwa für den Zvieri bestimmt war, sondern einen vorgeschriebenen Inhalt aufweisen musste, bestimmte für einen Pfadi überlebenswichtige Utensilien.
Eine Kniehose aus Manchesterstoff besass ich schon, ebenso Strümpfe und hohe Schuhe. Keinen besonderen Sinn sah ich im merkwürdigen breitrandigen Polizistenhut, den ich am Schluss verpasst bekam. Dass dieser aber ein hervorragender Regenschutz war, stellte ich schon bald und mit Freuden fest.
Später erfuhr ich, dass meine Ausstaffierung und insbesondere das Hemd auf die Uniform der südafrikanischen berittenen Polizei zurückzuführen war. Das braungraue Hemd wollte mir nicht gefallen. Seine Farbe wurde khaki genannt und war offensichtlich eine Schutzfarbe, die den erdfarbenen Träger in einem Kampf oder Krieg weniger auffällig machen sollte. Dass Millionen von Soldaten in aller Welt in dieser Farbe eingekleidet worden waren, ahnte ich nicht.
Jedenfalls war ich nun, zumindest von der Uniform her, eindeutig ein Pfadi und damit Mitglied einer durch ihre Kleidung vom Rest der Welt getrennten Gemeinschaft. Ihre Organisation glich derjenigen von Naturvölkern, wie sie mir aus Jugendbüchern bekannt waren. Ich war einem «Stamm» beigetreten! Dem ehrwürdigen Stamm der Hartmannen, die um die Herz-Jesu-Kirche siedelten. Innerhalb Stammes gab es eine Einteilung in kleinere Gruppen. Etwa sieben Pfader bildeten ein Fähnli, die mit Tiernamen bezeichnet wurden, die wie die Namen des Trupps eine ominöse Bedeutung zu besitzen schienen und auf die Identität und möglichen Schicksale der Betroffenen hinwiesen. Sie hiessen Bär, Wolf und Puma. Ähnlich einem Naturvolk lebten wir in unserem Fähnli mit diesem Totemtier, das hauptsächlich dem Gruppenzusammenhalt diente, daneben aber doch noch eine geheimnisvolle, weit in die Vorzeit zurückgehende Bedeutung zu haben schien. Ethnologen oder Anthropologen mögen diesen Fragen weiter nachgehen.
Zur Erbauung und als kleines Intermezzo zwei Sprüche aus dem Pestalozzi-Kalender, den ich Jahr für Jahr geschenkt erhielt und gerne benutzte, um kleine Tagebuch- Eintragungen zu machen. Auch dieser Kalender gehörte zu den damaligen Erziehungsinstanzen, er vermittelte viel Wissen, stellte aber auch mit Nachdruck Verhaltensregeln auf. Für jeden Tag gab es Eintragungen mit dem Todes- oder Geburtstag einer berühmten, vorbildlichen Persönlichkeit und sodann auch einen Spruch.
»Ohne Leiden bildet sich kein Charakter.«
»In des Herzens heilig stille Räume musst du fliehen aus des Lebens Drang.«
Die Pfadiuniform war eine Angelegenheit, die nicht auf die leichte Schulter genommen werden durfte. Sie musste gepflegt und den Regeln entsprechend getragen werden. Die höheren Führer machten sich stets Sorgen, sahen Fehler und Missbräuche und äusserten sich häufig besorgt und mit grossem Eifer zur Frage der korrekten Uniform. Im «Suso»-Mitteilungsblatt äusserte sich Bibi wie folgt dazu:
DIE UNIFORM
Halt! Gehe jetzt nicht zum nächsten Artikel über mit der Begründung, dass Du nun schon seit einigen Jahren bei der Pfadfinderbewegung seiest und schon wissest, wie Deine Uniform auszusehen habe. Dein Grund hat seine Richtigkeit, grundsätzlich habe ich diesen Bericht auch nur für die andern geschrieben; aber wie es so ist, es gibt auch hier immer wieder Neuerungen, und deshalb ist es sicher nicht schlecht, weiterzulesen.
Wie es der Name sagt, soll sie eigentlich sein, denn sonst ist sie eben keine Uniform. Wenn es also heisst: »Vollständige Uniform«, dann ist dies eine Doppelspurigkeit, denn sie muss ja vollständig sein, damit sie einheitlich ist.
In der Folge führe ich einmal die einzelnen Uniformteile nach Stufen auf:
– Der Wolf trägt:
Dunkelblaue Mütze mit kleinem Schild und gelben Vorstössen an den Nähten, gelbes Halstuch, dunkelblaues Hemd mit Brusttasche und Achselklappen, Ledergürtel mit Wolfskopfschnalle, dunkelblaue Tellhose.
– Der Pfader trägt:
Pfadfinderhut, blau-weisses Foulard, elbes Hemd mit zwei Brusttaschen und Achselklappen, Ledergürtel mit Lilienschnalle, dunkelblaue Tellhose.
– Der Rover trägt:
Pfadfinderhut oder – wahlweise – Pfadfinder-Beret, blaues Foulard, elbes Hemd wie Pfader, Ledergürtel wie Pfader, gelbe Hose.
Die hohen Schuhe, welche von allen zu tragen sind, solltest Du nicht als Schikane auffassen. Zum ersten schützten sie Deine Füsse besser gegen Brüche und Verstauchungen, und zum zweiten sind sie viel robuster gebaut und deshalb widerstandsfähiger als Halbschuhe. Vor Anlässen, welche mit Halbschuhen besucht werden (Fronleichnam, Familienabend etc.) weist die Stammführerin bzw. der Truppenleiter speziell darauf hin.
Dem Täschli möchte ich auch noch einige Worte widmen. Man unterscheidet zwischen Rucksäcken, Lunchtaschen usw. Diese sind, im Gegensatz zum Pfaditäschli, als „Kleider- und Verpflegungsbehälter“ vorgesehen. Wenn Du aber glaubst, das Pfaditäschli sei für den Servelat vorgesehen, der dann gegen Ende der Übung gebraten werden soll, dann bist Du im Irrtum. (Ganz abgesehen davon, dass es sicher ganz nett sein kann, an einer Übung eine Zvieripause einzuschalten; ist es aber nicht schade für die Zeit am Samstagnachmittag, sie mit solchen allgemeinen Sachen auszufüllen, wo Ihr doch so tolle Erlebnisse haben könntet?) Deine Wolfsführerin, wie auch Dein Venner werden Dich sehr gerne einmal über den Inhalt eines Täschlis orientieren. Es wird über die linke Schulter getragen, wobei der Riemen unter dem Foulard durchzugehen hat.
Spezialabzeichen werden auf dem rechten Oberarm getragen. Wer in eine höhere Stufe übertritt, legt die Spezialabzeichen der Stufe ab, die er verlässt. Führer tragen keine Spezialabzeichen (Leute vom JFm an aufwärts).
Die Führerschnüre sind so zu befestigen, dass der Gleitknoten zwischen Arm und Brusttasche liegt. Die Vennerschnur wird über dem Halstuch gekreuzt. Jungvenner, welche Fähnliführer sind und glauben, eine Pfeifenschnur sei unerlässlich (selbstverständlich nur, um eine Signalpfeife daran befestigen zu können) seien daran erinnert, dass dies nicht zulässig ist, und ich werde mir gestatten, auch eine auf noch so originelle Art erschlichene Schnur zu entfernen und in Verwahrung zu nehmen, bis ev. eine entsprechende Beförderung vorliegt.
Abschliessend hoffe ich, mit diesem Artikel einige Klarheit geschaffen zu haben. Hast Du aber immer noch etwas Schwierigkeiten, dann hänge diesen Zettel an die Innenseite der Kastentüre, in welchem Du die Uniform versorgst. So wirst Du jeden Samstag von neuem Gelegenheit haben, Dich mit diesen Bestimmungen vertraut zu machen; denn sie sind nicht eine Idee von mir, sondern Weisungen der Bundesleitung.
-Bibi-
Soweit der »Suso«, und soweit der vorbildliche Bibi, von dem später noch weiteres berichtet wird. Was mich betrifft, so darf ich bemerken, dass ich mich nicht an Szenen erinnern kann, in denen Pfadi wegen einem lockeren Umgang mit der Uniform gemassregelt worden wären. Vielleicht waren wir eben Ausnahmen, nämlich gut erzogene, brave Buben, die ganz selbstverständlich korrekt zu den Übungen und den anderen Anlässen erschienen.
Es gab daneben aber eben auch den Wilden Westen, und dort ging es ganz anders zur Sache als in Winterthur.
In Texas lebt ein Sheriff
der war dafür bekannt
dass wenn er einmal zugriff
mit seiner linken Hand
es Ordnung gab und Ruhe
in Texas rund umher …
Refrain: Good bye Sheriff Küenzi
fare well and good luck
Ach je die armen Gängster
um die war’s bald gescheh’n
s’wurd ihnen angst und ängster
wenn sie ihn nur geseh’n
und wenn sein linker Haken
sie mal so richtig traf
dann fielen sie wie Schnaken
fünf Stunden lang in Schlaf …
Zum Lied auf den legendären Sheriff Küenzi folgen später weitere Informationen.
Die Pfadfinder hatten, so stellte ich fest, gemeinsame Erkennungszeichen: Abzeichen auf der Uniform, am Hut, auf der Gürtelschnalle. Sie grüssten sich mit einem besonderen Gruss, dem Pfadigruss, und gaben einander bei der Begrüssung die linke Hand. Sie hatten auch ein eigenes Gesetz, das Pfadigesetz. Und wer Pfadfinder werden wollte, musste das Pfadiversprechen ablegen.
Innerhalb des Stammes lebten die Fähnli im allgemeinen friedlich zusammen. Sie trafen sich zu gemeinsamen Übungen und gingen miteinander an Lager, in die Skilager, in die Sommerlager oder die Lager an Wochenenden. Unter den Stämmen aber herrschte Konkurrenz. Die Stämme der Suso, das sah ich schon bald, trafen sich regelmässig zu Wettkämpfen. Die Hartmannen massen sich in Handball- und in Schwimmkonkurrenzen und in der Truppstafette mit den Kameraden aus anderen Stadtteilen.
Misstrauisch beobachtet erschienen diese unbekannten Völkerschaften, die Wartenseer aus Wülflingen, dann die Goldenberger aus Töss, die wahrscheinlich aufgrund ihres Namens glaubten, besser zu sein als die anderen, und schliesslich die Hohenlandenberger aus Oberwinterthur, denen ich wenig Bedeutung beimass.
Diese Zusammentreffen verliefen nie ganz ohne Spannungen, denn Wettkämpfe waren für uns hochwichtig, und mit grossem Eifer bereiteten wir uns auf sie vor, als wären es olympische Spiele. Waren wir nicht Kämpfer, wollten wir nicht alle die Besten sein, die Tapfersten, die Stärksten? Sehen wir, was im »Suso« aus dem Jahre 1956 berichtet wird.
TRUPPSTAFETTE 1956
Schon seit einiger Zeit ging ein Flüstern durch den »Blätterwald« – irgend etwas lag in der Luft! Und endlich am Samstag, 30. Juni um 13.45 Uhr wurde der Schleier gelüftet; nämlich als der»Blinde und Lahme« ihre Strecke über den Reitplatz unter die Füsse nahmen. Die Truppstafette hatte die Pfadigemüter bewegt! Leiterwagen – div. Läufer – Velo – Kartenläufer – Gepäckläufer – Talläufer – Velobergsteiger – Rollschuhläufer – und Sprinter lösten einander ab.
Schon kurz nach dem Start gingen die HA in Front. Die anderen Trupps, besonders die Wartenseer, machten ihnen das Leben sauer. Die Konkurrenz war gross. Mit einem leichten Vorsprung auf die Marschtabelle – hier wurde nicht gebummelt – gingen die Schlusssprinter der Trupps in folgender Reihenfolge durchs Ziel auf dem Reitplatz:
1. Hartmannen1 | 27 05 | Bravo!!!! |
2. Wartenseer 1 | 28 55 | |
3. Neuburger 1 | 30 00 | |
4. Goldenberger 1 | 30 27 | |
5. Hohenlandenberger | aufg. |
Die »Suso« war eine katholische Pfadfinderabteilung. In unserer Stadt, das wusste ich, gab es weit mehr Protestanten als Katholiken. In den Schulklassen war man als Katholik ein Aussenseiter, der auffiel, weil er an den Fronleichnamen schulfrei hatte und dann an einer Prozession teilnahm, die bei der neugotischen Kirche St. Peter und Paul begann, und durch das Neuwiesenquartier auf die Schützenwiese führte, wo im Freien eine Messe gefeiert wurde. Die Suso-Pfadi nahmen an diesem frommen und fast etwas provokativen Umzug in Uniform teil.
An religiöse Spannungen kann ich mich nicht erinnern. »Katholisch-rossbollisch« sollen manche gerufen haben, schreibt der Schriftsteller und Suso-Pfadi Jürg Amann in seinen Erinnerungen an seine Jugendzeit in Oberwinterthur. Was dann mit »reformiert-Füdli-verschmiert« zurückgegeben worden sein soll. Zu spüren war aber sehr deutlich, dass die in der »Diaspora« lebenden Katholiken in Winterthur den Zusammenhalt pflegten und ihren Glauben in der reformierten Umgebung zeigen wollten. Die Pfarrer und Vikare in den Pfarreien waren geschätzte und geachtete Persönlichkeiten, die für ein intensives Pfarreileben sorgten und im Religionsunterricht viel von den Kindern forderten.
Mit einiger Bestürzung erfuhr ich im Beichtunterricht, mit neun Jahren, dass es Todsünden gab und ewige Höllenqualen für diejenigen, die im Stande einer Todsünde starben. Und Todsünden gab es viele, schon ein Sonntag ohne Besuch der heiligen Messe konnte möglicherweise eine Todsünde sein. In den Pfadilagern war daher ein Sonntag ohne Messebesuch undenkbar.
Und über alle religiösen Fragen gab ein Buch Auskunft, der Katechismus, der als Grundlage für den Religionsunterricht benutzt wurde und dessen Fragen und Antworten auswendig gelernt werden mussten. Darüber später noch mehr.
Ich erwähne dieses kirchliche und religiöse Leben, weil die Kirche eben auch zu den Instanzen gehörte, die beträchtlichen erzieherischen Druck auf die Buben ausübten, sofern diese denn beherzigten, was der Pfarrer sagte. Ich gehörte zu den Buben, die glaubten, was die Kirche sagte. Die Kirche war ja die alleinseligmachende heilige katholische Kirche, und es war mehr als nur fraglich, ob auch Reformierte und überhaupt alle Nichtkatholiken in den Himmel kommen konnten.
Nichts war damals feierlicher in meinem Leben als das sonntägliche Hochamt, in welchem der Kirchenchor die Messe sang. Ehrwürdig und wunderschön war der Gesang, beeindruckend aber vor allem auch das Latein, das wir im Laufe der Zeit verstehen konnten, weil uns der deutsche Text bekannt war. Wie gewaltig erklang doch das Glaubensbekenntnis: Credo in unum Deum Patrem omnipotentem, factorem coeli et terrae, visibilium omnium et invisibilium. Darin enthalten war auch das Bekenntnis zum Glauben an die katholische Kirche, das, wie mir schien, stets mit grösster Inbrunst vorgetragen wurde: … et unam, sanctam, catholicam et apostolicam ecclesiam. Noch heute halte ich das Latein für die schönste Sprache der Welt.
Wer gut aufpasste, verstand bald viele lateinische Wörter. Deus hiess Gott, dominus Herr, sanctus heilig. Nicht nur die Priester, auch die Gläubigen sprachen Latein. Auf das rätselhafte dominus vobiscum des Priesters, das ich viele Jahre lang nicht verstand, durften sie mit et cum spiritu tuo antworten. Und das seltsame miserere nobis bedeutete »Erbarme dich unser«. Auch die Pfadfinder, so tapfer und mutig sie auftreten mochten, waren auf göttliches Erbarmen angewiesen.
Ethnologen könnten uns Knaben beschreiben als Wesen, die gleichzeitig in den unterschiedlichsten Welten lebten. Wir waren in den Wäldern urzeitliche Jäger oder Indianer und in der Kirche fromme Römer, die zu ihrem allmächtigen dominus aufsahen und um Erbarmen flehten. Wir waren aber auch edle Kreuzritter und mittelalterliche Mönche und schliesslich in Pfadiuniform auch Mitglied einer Polizeitruppe. Frühere Lebensformen schienen in uns noch lebendig zu sein. – Am Horizont aber erschien eine neue, überaus verlockende Welt, die uns ein schöneres, moderneres Leben versprach, mit Automobilen, Farbfernsehern, Polstergruppen, Soft-ice, Rockmusik, Düsenflugzeugen und unzähligen neuen Göttern und Göttinnen. In der Musikwelt herrschte bereits Elvis Presley, und über die Filmwelt, die mich sehr beschäftigte, muss noch ausführlich berichtet werden.
Bald erfuhr ich auch, was es mit dem seltsamen Namen »Suso« auf sich hatte. Unsere Abteilung war benannt nach einem Heiligen, nach dem Mystiker Heinrich Seuse, der im Mittelalter gelebt hatte und nach den damaligen Gepflogenheiten auf Lateinisch Suso hiess. Im «Suso», dem Mitteilungsblatt der Abteilung, war von Zeit zu Zeit Erbauliches über ihn zu lesen. Ich stellte mir einen Mönch vor, auf einer Insel im Bodensee lebend, einsam, ununterbrochen betend, fastend und sich mit einer Peitsche kasteiend. Er führte ein heiligmässiges Leben, und wer sich berufen gefühlt hätte, hätte ihm eigentlich nacheifern können oder sogar müssen. Aber bei den Hartmannen fühlte niemand eine solche Berufung. Wenn man sich zu etwas berufen fühlte, so war zum Jazzmusiker, Fussballspieler, Vespafahrer, Rennfahrer – oder allenfalls auch zum Schriftsteller.
Jetzt war Heinrich Seuse bei den Heiligen im Himmel, man konnte zu ihm beten und ihn bitten, seine Hand schützend über unsere Pfadiwelt zu halten und für uns Fürsprache einzulegen. Warum gab es früher solche Menschen? Warum gibt es sie heute nicht mehr? Ich wusste keine Antwort und hütete mich auch, über Suso zu sprechen und solche Fragen zu stellen.
Heute könnte ein Suso-Pfadi unschwer im Internet weiteres über das Leben von Heinrich Seuse finden und sehen, dass er nicht heilig- sondern nur seliggesprochen worden ist. Im Wikipedia wird sein Leben beschrieben. Wenn man diese Ausführungen liest, mag man nicht beklagen, dass kein Pfadi dem Mönch nachgefolgt ist. In seiner »Vita« beschreibt er sein Leben:
»Ach, zarter Gott, könnte ich mir doch irgendein Liebeszeichen erdenken, das ein ewiges Liebeszeichen zwischen dir und mir wäre, eine Urkunde, dass ich dein und du meines Herzens ewige Liebe bist, ein Zeichen, das kein Vergessen je vertilgen könnte.« In diesem inbrünstigen Ernst warf er vorn sein Skapulier (in der Mönchstracht ein Überwurf über Brust und Rücken) auf und entblößte seinen Busen und nahm einen Griffel in die Hand und sah sein Herz an und sprach: »Ach, gewaltiger Gott, nun gib mir heute Kraft und Macht, mein Begehren zu vollbringen, denn du musst heute in den Grund meines Herzens geschmelzt werden.« Und fing an und stach mit dem Griffel in das Fleisch an der Stelle über dem Herzen, und stach also hin und her und auf und ab, bis er den Namen IHS genau auf sein Herz gezeichnet hatte. Von den scharfen Stichen strömte das Blut stark aus dem Fleisch und rann über den Leib herab in den Busen. Das war ihm in seiner feurigen Liebe ein so lieblicher Anblick, dass er des Schmerzes nicht viel achtete.
Soviel einstweilen zur Sozialisationsinstanz »Kirche«.
Weiterhin in Hochform befindet sich Sheriff Küenzi.
Und an des Sheriffs Hüfte
da hing ein schwarzes Dings
er schoss nie in die Lüfte
und schoss er selbst mal links …
Den Sheriff zuzuschauen
war wirklich eine Lust
wie glänzte schön dem Schlauen
der Stern an seiner Brust
Dass es neben den Suso noch andere Pfadfinder gab, sahen wir gelegentlich in den Wäldern. Sie trugen andere Foulards, keine weiss-blauen. Wir hatten nie Kontakt mit ihnen, sie wollten uns auch nicht recht gefallen. Sie standen gewiss weit unter uns, waren Fremde, ohne feste Grundlagen, ohne den beruhigenden, seligmachenden Rahmen der Religion. Sie hatten gewiss keinen Kontakt zur Kirche und auch keinen Präses.
Der Präses begleitete die Suso als geistlicher Führer und erschien manchmal eigens im Lager, um die Messe zu lesen. Die Pfadfinder, die vom Samstag auf den Sonntag im Zelt übernachteten, wären ja möglicherweise allesamt der Hölle verfallen gewesen, wenn sie am Sonntagmorgen nicht zur Messe gegangen wären. Wenn ein Messebesuch nicht möglich war, wurde im Wald ein kleiner Altar gebaut und dort eine Messe gefeiert. Der Präses erschien, mit einem Köfferchen, in welchem er die kostbaren Gegenstände mitbrachte, die für eine Messe benötigt wurden, Tücher, Gefässe, Hostien und sogar einen Kelch und ein Fläschchen mit Wein.