Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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© 2020 Anna Funck, Leonard Diepenbrock
Umschlaggestaltung: Leonard Diepenbrock
© Portrait Anna: Michael de Boer
© Portrait Leonard: privat
Schlusslektorat: Hannah Geisen
Satz, Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-7526-0000-1
LEN
Hallo Anna, hier ist Leonard, du hattest mir vor fünf Wochen geschrieben, weil du Seife für deine Ferienwohnung kaufen wolltest. Habe dich gegoogelt. Du kannst offenbar Bücher schreiben. Corona macht mich nachdenklich, könnte eine Gelegenheit sein, anders zu leben. Schreibst du ein Buch mit mir?
ANNA
Du als mein Co-Pilot? Spannende Idee! Einziger Haken: Habe das Thema schon so ähnlich angeboten – will keiner kaufen. Traut sich keiner ran. Man weiß ja nicht, wie sich das Ganze entwickelt … Du, ich muss ein paar Sachen zusammenpacken. Fahre morgen nach Köln. Zu RTL.
LEN
Ich glaube, J. K. Rowlings Harry Potter wurde zwölf Mal abgelehnt. Man braucht keine Verlage mehr. Komm. ICH WILL EIN BUCH MIT DIR! Arbeitstitel „Das Bistro am Rande der Welt macht Home-Office“. Hab schon ein Cover gebastelt, trau mich aber nicht, allein zu schreiben, zu viele weiße Seiten.
Du willst es doch auch!
ANNA
Muss gestehen: Lache gerade laut! Love that humor! Prinzipiell ist es ja niedlich: Dübel, Seife, Parfum machst du, ohne mit der Wimper zu zucken, aber vorm Schreiben hast du Angst?
Okay, geb dir Nachhilfe. Aber nur im Home-Office!.
LEN
Oh ja, bitte. Lektorat über Zoom – das ist doch mal „new work“!
ANNA
Deal. Dann leg mal los. Wir lesen uns…
LEONARD
Gesichtsmasken vermehren sich wohl wie die Karnickel. Geschätzter R-Faktor von 17. Anfang März gab es gar keine, nirgendwo, und wenn ich unseren Bestand auf die Bundesbürger hochrechne, gibt es jetzt ein paar 100 Millionen. Sie brüten im Flur und in Mänteln. Auf der Kücheninsel lagen gestern Nachmittag vier Stück und sie lieben im Auto den Becherhalter, Sie wissen schon, das Kleingeld-Krümel-Caffè-Latte-Fach, das mich wahnsinnig macht, weil unsere Tassen oder Becher entweder vom Durchmesser nicht passen oder man den Henkel absägen muss, damit es passt. Egal, dieses Fach war wahrscheinlich schon immer für Schutzmasken gemacht. Nur die zivile Verwendung ist Coffee to go. Ich ertappe meine Frau Isabelle dabei, im Flur einen Karton zu beschriften: C-O-R-O-N-A schreibt sie quietschend auf die IKEA-Box. „Die kommen jetzt immer hier rein“, meint sie genervt, und legt die selbstgenähten Kindermasken neben die FFP2-Profigeräte. Die edle Wolford-Variante verschwindet in ihrer Schmuckbox. „Jetzt ist Corona eine Jahreszeit“, denke ich laut. Sie bekommen eine eigene Kiste, so wie die „OSTERN“-Sachen und der Tannenbaumschmuck. Weil wir in Köln leben, finde ich auch die Karnevalskiste denkbar. Es wäre dann die 6. Jahreszeit für Rheinländer, die zweite mit Kostüm. Und tatsächlich, man sagt schon „vor Corona“, wenn man über nostalgische Momente wie Grillabende und Kinobesuche spricht. Oder „nach Corona“, auch wenn keiner weiß, wie das wird. Von Sepp Herberger stammt ja die Fußballerweisheit: „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.“ Nach Corona ist, glauben Fachleute, vielleicht nur vor der nächsten Pandemie. „Hoffentlich kann die Kiste irgendwann in den Keller“, meint Isabelle und schiebt mich beiseite, als würde ich die Ordnung gefährden.
Anna Funck, meine mir, streng genommen, ziemlich unbekannte Co-Autorin, mit der ich dieses Buch schreibe, kocht sonntags immer Maskensuppe. Ich rief sie an, um zu fragen, ob es nötig sei, dass sie ihren rosa-getigerten Tanga auskocht und den Clip, wie der Schlüpfer in sprudelndem Wasser versinkt, unbedingt auf Instagram teilen müsse, als sie losprustet und mir erklärt: „Das war kein Slip, sondern ein Topf voller Masken.“ Sehr ausgekochte Methode. „Funktioniert aber auch klasse im Dampfgarer“, meint sie. „Neunzig Grad bei siebzig Prozent Luftfeuchtigkeit, zwölf Minuten.“ Annas Rezept.
Seit Corona haben wir in kurzer Zeit so viele neue Rituale gelernt, unser Leben umgestellt, Dinge weggelassen, die wir für wichtig hielten, dass Anna und ich uns zunächst auf WhatsApp gefragt haben, was macht das wohl mit uns Deutschen? Wir hatten ja immer auf den Ruck gewartet, der durchs Land gehen sollte. Kam nicht, dafür gab’s einen Arschtritt von der Fledermaus. Wenn jetzt gerade für einen Moment alle herhören, mobilisiert, folgsam und vernünftig sind, können wir damit vielleicht arbeiten? Was bauen? Bequemlichkeit wegkochen? CO2 sparen, mehr Zeit mit unseren Kindern und Lieben verbringen? Wollen wir uns besser und regionaler ernähren, den Schulen Digitalisierung beibringen, und erleben, dass Politiker doch gestalten können? Um bei Annas Schlüpfer zu bleiben (es war nämlich doch einer in der Maskensuppe, ich weiß doch, was ich gesehen habe), können wir Druck auf dem Topf lassen und Deutschland neu denken? Oder fliegen morgen alle wieder nach Thailand, statt durch die Eifel zu wandern? Erlauben wir den Datenschützern in Deutschland, Fortschritt zu verhindern? Bald ist Corona wieder ein Bier. Wenn wir bis dahin ein paar Lektionen gelernt haben, dann war die Krise nicht umsonst.
Wir wollten eigentlich nur von Erlebnissen berichten, die diese erste Krisenzeit geprägt oder für ein Schmunzeln gesorgt haben, und von Momenten, die echte Denkanstöße waren. Wir bestaunen Veränderungen, die auf einmal funktionieren, und merkten gar nicht, wie wir in zwei Monaten ein Buch füllten, obwohl ich, Leonard, noch nie geschrieben habe und Anna eigentlich nur bei mir Seife bestellen wollte und an einem ganz anderen Buch arbeitet. Seife bestellen? Ja, sie behauptet bis heute kess, wir würden uns von RTL kennen, und hatte nun von meinen veganen Shampoos und Seifen gehört. Unsere These, dass mit Corona Neues entstehen kann, wurde zur selbst erfüllenden Prophezeiung. Zwei, die sich nicht kennen, schreiben ein Buch zusammen, ohne Maske, offen, 500 Kilometer voneinander entfernt, Anna auf ihrem Pferdehof an der Ostsee und Leonard aus dem Seifenbüro in Köln. Beide treffen sich, ohne Haus und Familie zu verlassen, in GoogleDocs und schreiben abwechselnd, was sie bewegt und umtreibt. Und dann sagte meine Bekannte Alex: „Hey Leonard, ich will auch lesen, was ihr euch whats-appt …“
„ Mein erstes Corona-Learning ist es,
Dinge erst recht zu machen, wenn
andere mir davon abraten. “
LEN
Ich sag dir was, ich glaub, mein erstes Corona-Learning ist es, Dinge erst recht zu machen, wenn andere mir davon abraten. Glaub nicht, dass mir jemand geraten hat, eine Seifenfirma aufzumachen. „Da gibt es schon große Marken”, haben alle gesagt, „das macht doch keinen Sinn.“ Die Dinge, die man träumt, kann man auch nur selbst umsetzen. Allein deswegen müssen wir das Buch machen.
ANNA
Glaube ich. Das Verrückte ist: Zurzeit sehen alle mal ausnahmslos das Gleiche. Die ganze Welt hängt ja gerade auf dem Pausenhof ab. Freistunde Daily. Die ersten schwärmen von Entschleunigung, während die anderen in Schockstarre auf dem Sofa hocken. Aber letzten Endes ist die Nummer ein Gleichmacher. Mein Bruder in New York, meine Cousine in Montréal, meine Familie in Berlin – alle erleben gerade dasselbe und irgendwie sind wir uns total nah. Alle haben ein Thema. Obwohl die Situation schlimm ist und keiner weiß, wohin das führt …
LEN
Oh ja, der große Pausenhof, das wird mein erstes Kapitel …
LEONARD
„Der Urlaub ist gestrichen. Du verabredest dich nicht und du bleibst die ganze Woche zu Hause, sonst holt dich die Polizei!“ Die meisten Erwachsenen kennen so etwas höchstens aus ihrer Kindheit, oder nee, wir wurden ja antiautoritär erzogen. Sie kennen das eigentlich gar nicht, die klare Ansage. Punkt. Keine Diskussion. KEINE DISKUSSION? Kreisch! Aber wir sind doch in Deutschland. Wir diskutieren alles, immer. Und jetzt werden wir kollektiv aufs Zimmer geschickt. Und? Kaum zu glauben: Alle machen mit.
Wenige Wochen nach Beginn der Krise in Europa sind alle Superlative, Sondersendungen und Experten verbraten: Corona ist in der vierten Woche nach dem Launch gefühlt schon mit auf dem Siegertreppchen der übelsten Krisen angekommen, direkt hinter den Weltkriegen, mit dem schlanken Hinweis, dass die richtige Krise aber erst noch auf uns zurollt. Und die wird richtig, also richtig heftig.
Aber jetzt muss ich erst mal schnell zu Rewe, stückige Tomaten in der Dose hamstern, für die coolen Corona-Konserven-Rezepte auf Pinterest. Wir haben zwar gerade Katastrophenzustand, aber auch endlich mal Zeit für all die Dinge, die sonst liegen bleiben. Fahrräder geflickt, Kinderzimmer ausgemistet, Mülltonnen abgekärchert, endlich die Glühbirne im Flur gewechselt und auf Fröstel-LED-Licht upgegradet, die alten Kleider entsorgt – okay, nur in den Keller gebracht. Äh. Ja, und den Drucker erneuert, um im Homeschooling nicht abgehängt zu werden. Außerdem beim Netzbetreiber noch mal ein Brikett draufgelegt: Ich hänge es nicht an die große Glocke, aber 300 Mbit wabern jetzt jede Sekunde durch unsere Stube, der Router schnurrt wie ein Kätzchen. Morgen wird der Grill geputzt. Manchmal glaube ich, Krieg hatte doch noch eine andere Katastrophenqualität. Zumindest vom Hörensagen.
Während überall auf der Welt Menschen mit schwerer Krankheit kämpfen und sogar sterben, Existenzen zerbrechen und einige rund um die Uhr arbeiten, um uns alle zu retten, entsteht irgendwie auch etwas. Nicht nur Mundschutz häkeln in Heimarbeit, sondern ein neues Miteinander, ein neues Mit-sich-selbst und eine neue Wertschätzung unseres guten alten Lebens.
Wäre Deutschland ein großer Schulhof, hätte sich das Leben für sehr viele Menschen in den letzten Dekaden wie eine durchgängige „große Pause“ angefühlt: Glücksschreie, bekannte und unbekannte Sprachen, Tränen, Beschwerden, Geflüster, Geläster, Spiel, Wettkampf und Streit vermischten sich dort zu einem Freibadsoundtrack, der unsere Normalität war. Von der Pausenaufsicht war eher selten was zu sehen, mit den Jahren wurde der Schulhof am linken und rechten Rand extremer, aber es gab auch laktosefreie Milch, der Müll wurde fein getrennt, das Klettergerüst vom TÜV geprüft, und der glatzköpfige Hausmeister wusste, wie man im Notfall den Defibrillator bedient. Ach ja, und es waren immer genug Erste-Hilfe-Liegen mit kratzigen Decken für alle da. War in Ordnung.
Gut, in letzter Zeit gab es ein bisschen Streit darüber, ob es wohl einen großen Zaun um den Schulhof braucht, oder ob man die große Pforte zum deutschen Schulhof offen stehen lassen darf. Es gab auch Ärger wegen Unterrichtsausfall, katastrophalen Toiletten, zu wenig Computern und natürlich tauchten überall erhebliche Datenschutzbedenken auf. Aber so schlecht war der deutsche Schulhof eigentlich gar nicht. Streng genommen war er einer der besten Schulhöfe der Welt. Laut gesagt haben wir das aber lieber nicht. Haben aber auch nur wenige gemerkt, wie auskömmlich es bei uns ist, hauptsächlich, weil sie das Schulgelände nie verlassen haben oder ihr Lieblingsfach „Streitkultur“ war, bei der die am besten abschneiden, die alles erst mal doof finden.
Dann kam Corona. Wie ein lauter Gong am Pausenende hat Corona uns aus dem Bild gebeamt und einen Geisterschulhof geschaffen. Die Tischtennisplatte mit dem bescheuerten Edelstahlnetz ist mit rot-weißem Flatterband abgesperrt. Der Hausmeisterkiosk bleibt geschlossen. Die Pforte ist zu. Nicht um die Fremden auszusperren, sondern weil die Deutschen sich selbst ein- und vom Leben ausgeschlossen haben. Der Schulgärtner macht schön Rindenmulch auf die Beete und, ja, viel mehr passiert gerade nicht. Das Leben findet jetzt zu Hause statt. Horror!
Nun muss man Zeit mit sich selbst verbringen, und ich weiß am besten, wie fies ich zu mir sein kann. Mein Ich kennt mich und weiß genau, welche Punkte es drücken muss. Es weiß genau, dass ich nicht wegkann, dann kommt es mütterlich unschuldig um die Ecke und stellt in meinem Kopf Fragen, auf die ich keine Antwort habe. Was willst du eigentlich mit deinem Leben? Was ist dir wichtig? Nee, wirklich wichtig? Wer ist dir wichtig und wissen die das auch? Wem hilfst du, wem könntest du helfen? Und wann beginnst du (endlich) mit den Dingen, die in deiner Grabrede erwähnenswert wären? Puh.
Verunsichert suche ich das Smartphone, meine Rettungsleine ins seichte Gewässer des Banalen. Was ich täglich so für die Realität halte. Geschafft, ich checke erst mal Bild.de und freue mich über das Tierfoto, auf dem ein Reh einen Hasen adoptiert hat. Oder umgekehrt. Auf jeden Fall hat es mich gerührt und mein freches, forderndes, impertinentes Ich verstummen lassen. Dann noch schnell einen Blick auf die militärische Raketenparade einer fernen Diktatur, die Heuschreckenplage in Afrika rasch gestreift und meinem Ich mal kurz gezeigt, wo der Hammer hängt. Das sind echte Probleme, Freundchen. Aber nicht irgendwelche bescheuerten pseudoexistentiellen Luxusfragen, während anderswo schlimme Dinge passieren und Prinz Harry nicht erkennt, dass Meghan ihn samt Prinzenuniform, Orden und Offiziersmütze auffrisst und bald wieder ausspuckt. Die arme Sau. Da warst du in London auf der besten Eliteschule und hast ausgerechnet die Geschichte mit Odysseus und den Sirenen vergessen. Unter uns: Ich glaube, deswegen gibt es Nachrichten: als kleinen Zuckerwürfel fürs Gehirn. Als ich selbst Journalist war, erst Reporter, dann habe ich bei RTL die Frühnachrichten moderiert, habe ich wirklich geglaubt, ich würde die Menschen informieren. Ich hätte mich wahrscheinlich sogar für systemrelevant gehalten, wie man heute so sagt. Aber ich habe auch nur Würfelzucker fürs Gehirn produziert, kleine Ablenkungsleckerli. Dass niemand mit sich allein sein muss.
Während Corona, denke ich so, habe ich weniger Ablenkung. Marie Kondo hat ein Buch übers Aufräumen geschrieben, das Menschen auf der ganzen Welt verschlingen. Alle wollen sich von Überflüssigem befreien, oder, wollen wir doch ehrlich bleiben, hegen erst mal nur den Wunsch nach Ordnung. Corona fühlt sich an wie Aufräumen im Kopf, es klärt die Agenda. Quasi „Magic mind“ statt „magic cleaning“, aber es fühlt sich nicht so erhebend an, wie das Ausmisten in der Wohnung. Eher ernüchternd. Was ist JETZT GERADE wichtig? Scheinbar nicht so viel, denke ich und schäme mich ein bisschen. Wenn gar nicht so viel wirklich Wichtiges übrig bleibt, was sagt das über mein Leben aus? Kann es sein, dass ich viele Tage mit Unwichtigem, Rituellem fülle, das sich aber trotzdem, nein gerade deswegen, kuschelig, alltäglich und eben vertraut präsentiert? So eine Art Existenzpatina. Ein Leben mit normalen Gebrauchsspuren, würde man bei eBay sagen. Das Leben ist ja auch ein Gebrauchsgegenstand, kein Kunstwerk, oder? Mir ist die Frage zu groß und zu philosophisch. „Was ist schon wichtig?“, murmle ich. Ich versuche das Ausschlussprinzip: Was ist unwichtig? Das ist einfacher zu entscheiden, wie bei Marie Kondo. Das Dinner-Date bei den Nachbarn, mmh, der Flug nach Frankfurt, der Restaurantbesuch, Urlaub im Ausland, durch die Stadt bummeln, im Büro sitzen. Nette Rituale. Zwischen nervig und nice, aber nicht wichtig. Zwei schnelle Gedanken noch, bevor es anstrengend wird. Mein Freund Martin sagt: „Wähle, was du hast – nicht, was du nicht hast, aber unbedingt haben willst.“ Das wäre seine Glücksformel. Und sie gilt immer: Für die Lebenssituation, den Ehepartner, das Auto und ich glaube auch für einen selbst. Sich zu akzeptieren. Martin hat mir das vor zehn Jahren gesagt, jetzt während Corona fällt es mir wieder ein, weil die Beschränkungen mich auf das Jetzt zurückwerfen, wie so eine Zeitschleife, mit der man besser klarkommt, wenn man annimmt und schätzt, was JETZT da ist. Wir sind „social animals“, wie David Brooks in seinem gleichnamigen Buch so schön ausführt. Wir leben vom Lächeln und brauchen Berührung. Ersteres sehe ich unter der Maske nicht und Letzteres ist gerade verboten. Ich beschließe, mehr zu lächeln und auch liebevoll zu berühren, wenn Corona vorbei ist.
Das Telefon klingelt, mein bester Freund Tim ist dran. Wir sind beste Freunde seit der fünften Klasse, haben uns gemeinsam als Schulsprecher wählen lassen. Tim ist immer noch in der Politik und sucht nach Mehrheiten. Er erzählt mir lachend und gerührt, wie er eben mit seinem Vater drei Bier getrunken hat. Der alte Seemann hatte dem Junior gerade beschrieben, wie seine Beisetzung ablaufen soll. „Das dauert noch ein paar Jahre“, meinte der Alte. Trotzdem hatte er auf einer Seekarte schon mal eingezeichnet, wo genau er in der Nordsee über Bord gehen will, die Einzelheiten waren wohl so skurril, dass beide lachen mussten und sich noch ein Bier aufgemacht haben. Mit dem Gedanken gehe ich schmunzelnd ins Bett. Freundschaft ist das Beste überhaupt. Ich beschließe, nächste Woche nach Hamburg zu fahren und Tim zum Geburtstag zu überraschen. Und dann nehme ich ihn in den Arm.
„ Corona fühlt sich an wie
Aufräumen im Kopf, es klärt die
Agenda. Wähle, was du hast –
nicht, was du nicht hast. “
LEN
Anna, wie kann man das schreiben, ohne dass es belehrend wirkt? „Ein zuverlässiger Unterstützer der Verhaltensänderung ist, neben Disziplin, die Krise. Krankheit, Trennung oder Jobverlust haben ja oft einen unerwarteten Nebeneffekt auf eigene Verhaltensmuster, der später als positiv oder sogar nötig wahrgenommen wird.“ Ich schwöre, das ist so, klingt aber langweilig, wenn man es so schreibt. Jetzt du.
ANNA
Stimmt, klingt langweilig und oberschlau du alter Besserwisser. Wenn wir jeder einzelne Kapitel schreiben, darfst du dich auch mal auskennen. Ich mach das lieber zwischen den Zeilen, aber jeder hat ja seinen eigenen Stil. Einziger Tipp: Erzähl mehr von dir, das ist dichter und spannender als allgemeine Feststellungen, selbst wenn du recht hast. Wie sagte Churchill (war das Churchill?): Never waste a good crisis. Anyways, du glaubst nicht, mit wem ich gerade im Corona-Geisterzug sitze. Mutter Beimer aus der Lindenstraße. Das wird mein erstes Kapitel. Ich frag sie mal, was sie von der ganzen Hysterie hält. Dann haben wir schon zwei Zitate: Marie-Luise Marjan und Winston Churchill – das Buch füllt sich von selbst.
ANNA
… sitze ich mit Mutter Beimer in einem Geisterzug nach Köln. Ja, ich weiß, wie das klingt. Ich bin auf dem Weg zu RTL, um mein neues Buch „Heute nicht!“ zu promoten, und hatte lange überlegt, ob der Titel nicht Programm werden sollte. Du fährst jetzt also ernsthaft in die Corona-Hochburg?, hatte ich abends noch gedanklich zu meinem Handgepäck gesagt, mich dann aber nach Rücksprache im Familienrat mit dem Gatten und meinem Vater doch dazu entschlossen.
Schauspielerin Marie-Luise Marjan hat es jedenfalls nicht leicht. Jeder kennt ihr Gesicht. Sogar ich, die nie Lindenstraße gesehen hat, nicht mal eine einzige Folge. Als sie mir später in der Pampa auf Höhe Hamm-West aus der BILD-Zeitung über die Pandemie vorliest, halten wir beide kurz inne und sie sagt mit ihrer sonoren Stimme: „Vielleicht sollte man doch lieber nicht mehr so viel Zug fahren.“
Aber der Reihe nach: Als ich mich am Vorabend gegen das Fliegen und für den Zug entscheide, habe ich ein mulmiges Gefühl. Zugegeben, Gast im Frühstücksfernsehen zu sein, ist immer witzig und PR-technisch verlockend, aber ist es das wert? Es ist der 11. März und wir stehen noch ganz am Anfang von etwas, das wir kaum überblicken können. Selbst Herr Diepenbrock hat noch keine Ahnung, dass er bald mehr Seife verkaufen und mir am 8. April nach einem Dampfbadgang mit Erleuchtung die Whatsapp-Nachricht „Ich will ein Buch mit dir!“ schicken wird. RTL sitzt in Köln, es ist kurz nach Karneval und die Jecken haben mal wieder so viel gebützt, dass sich schon abzeichnet, hier wird es ordentlich Virus-Alarm geben. Deutschland sucht gerade den Super-Virologen, noch sagen alle zum potenziellen Shutdown lediglich: „Shut up!“, und von Atemschutzmasken sind wir noch weit entfernt. Offiziell sollen die nichts bringen. Die Pandemie steckt also in den Kinderschuhen, Desinfektionsmittel sind noch nicht knapp und Hamsterkäufe macht nur mein Mann, der alles schon kommen sieht und unseren Windelvorrat für Baby Sophia sicherstellt.
„Bin ich lebensmüde, wenn ich dahin fahre?“, frage ich Jenz. „Nein, wasch dir die Hände, desinfizier Handy und Armlehnen und dann – alles gut!“ Wir reservieren mir extra ein eigenes Abteil, schöner Anti-Virenschleuder-Trick. Und das geht auch tatsächlich für bis zu fünf Personen. So geht Sicherheit. Richtig clever. Richtig blöd nur, wenn der Zug dann ausfällt und deine Reservierung natürlich auch. Regionalexpress statt 1. Klasse ICE. Und so stolpere ich ins Lindenstraßenabteil. „Ist hier noch frei?“, frage ich vorsichtig, denn irgendwie habe ich das Gefühl, die Aura von Mutter Beimer sitzt auf den restlichen fünf Plätzen.
„Ja, wenn Sie still sind!“, erklärt mir mein Gegenüber.
„Okay, kriege ich hin“, flüstere ich und setze mich des Abstands wegen an den Gang. Stille. Ihre Zeitung raschelt. Landschaft fliegt vorbei. Die Tür geht auf. „Fahrscheine, bitte!“, sagt eine fröhliche Schaffnerin grinsend.
„Angst vor Corona haben Sie aber nicht?“, scherze ich.
Und die Dame in Dunkelblau mit Halstuch vor mir sagt: „Nö, eigentlich ist das Arbeiten sehr angenehm. Die Züge sind leer, alle sind sehr nett, die Stimmung ist ganz anders. Scheinbar haben alle mehr Verständnis, egal, worum es geht!“
Als sie geht, biete ich Mutter Beimer ein Desinfektionstuch an. Man kann ja nie wissen, was an den anderen Fahrscheinen so klebt. Sie lacht und lehnt dankend ab. Retour wird mir ein Schokoriegel angeboten, was ich sehr süß finde, lehne aber ebenso dankend ab. Ich fühle mich trotz Krise irgendwie gut. Ein bisschen eingebettet und beschützt im Feelgood-Modus. Sitzen ja alle im gleichen Boot mit unsichtbarem Feind. Ob wir im Angesicht der gesichtslosen Gefahr jetzt alle herzlicher miteinander werden? Wäre ein schöner Nebeneffekt. Ich bin ja grundsätzlich so gepolt, dass ich niemanden spüren lasse, wenn ich mies drauf bin, weil es einfach unfair ist. Ob jetzt alle so denken? Erinnert mich ein bisschen an eine TV-Redaktion, in der ich mal gearbeitet habe und der cholerische Chef gerne mit Mülleimern warf. Ergebnis: Alle haben immer zusammengehalten. Jetzt sitzt Corona in unser aller Chefsessel. Mal gucken, was er mit uns vorhat. Teamwork ist jedenfalls absolut meins in diesem Ding namens Leben, das ja gerade etwas aus den Fugen gerät.
Im Netz lese ich, dass wir ab sofort öffentliche Innenbereiche als kontaminiert betrachten sollen. Dazu zählen auch wir, unsere Kleidung, die Haare. Ich schaue an mir runter