Religionspsychologie ist die Wissenschaft vom religiösen Erleben und Verhalten und untersucht daher die Bildung und Veränderung von Kognitionen, Einstellungen, Erwartungen und die subjektive Repräsentation von Religion als Beziehung zu etwas Transzendentem in Symbolen, Glaubensaussagen, Einstellungen, Praktiken und Riten, durch die Menschen zu einer transzendenten Welt und zueinander in Beziehung treten (Schmitz, 1992).
Am Beispiel des Überfalls auf die Sowjetunion 1941 lässt sich aufzeigen, dass auch ein solches säkulares Geschichtsereignis in diesem Sinne von religiös orientiertem Erleben und Verhalten geprägt ist, das Kognitionen, Einstellungen, Erwartungen und die subjektive Repräsentation einer solchen „säkularen“ Religionsität bestimmt.
Dabei geht es zum einen um Mythen als Ausdruck einer transzendent erscheinenden Realität, in welchen das konkrete Ereignis gewissermaßen transzendiert wird.
Zum anderen geht es um Narrationen, die Kognitionen, Einstellungen, Erwartungen und die subjektive Repräsentation von Religion miteinander verbinden, die das Erzählte nach eigenen, religiös orientierten Programmen (Glaubenssätzen, Stereotypen) strukturieren und für sich und andere nachvollziehbar machen.
Zum Dritten werden die Konsequenzen untersucht, die aufgrund solcher „Programme“ aus dem Geschehen von 1941 nach Kriegsende und bis in die Gegenwart unter dem Stichtwort „Versöhung“ gezogen werden.
Durch den religionspsychologischen Zugang und durch den Fokus auf den 22. Juni 1941 und sein unmittelbars Umfeld ergibt sich eine mehrfache Beschränkung der folgenden Ausführungen. So können sowohl der Angriffs- und Vernichtungskrieg mit seinen Bezügen zum Holocaust als auch parallele Kriegshandlungen in anderen Teilen Europas nur gestreift werden; gleiches gilt für innenpolitische oder militärhistorische Aspekte des Themas oder historische Debatten (s. Hartmann, 2013; Klee/Dreße, 1989; Michaelis u.a., 1970; Ueberschär/Wette, 1991).
Vor diesem Hintergrund ergibt sich folgende Skizze der Ereignisse
Die Vorgeschichte beginnt am 23. August 1939 mit der Unterzeichung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes. Am 28. September – nach der doppelten Okkupation Polens - folgte der deutsch-Sowjetische Freundschaftsvertrag zur Neuordnung des polnischen Raumes. Als Folge der Moskauer Verträge schlossen am 11. Februar 1940 Deutschland und die Sowjetunion ein Wirtschaftsabkommen Zwischen dem 28. September und 10. Oktober 1939 errichtete die Sowjetunion durch „Beistandspakte“ mit Estland, Lettland und Litauen dort militärische Stützpunkte. Einige Montate später, am 20. Juli 1940 wurden Estland, Lettland und Litauen zu Sowjetrepubliken. Am 30. November provozierte die Sowjetunion mit dem Angriff auf Finnland einen Völkerbundsausschluss am 14. Dezember, der am 12 März 1941 zu einem Friedensvertrag führte. Als am 28.Juni die Rote Armee nach Ultimatum an die rumänische Regierung die Nord-Bokuwina und Bessarabien besetzte, veranlasste Hitler die Ausarbeitung von Angriffsplänen gegen die Sowjetunion. Der Besuch Molotows am 12. November in Berlin brachte keine Einigung über die jeweiligen Interessensphären. Am 18. Dezember erfließ Hitler die „Weisung 21“ zur Vorbereitung eines Angriffes auf die Sowjetunion. Nach der Besetzung Jugoslawiens durch die Wehrmacht, erließ Hitler am 6. Juni 1941 den „Kommissarbefehls“ als Richtlinie zur Ermordung sowjetischer Parteimitglieder. Am 22. Juni erfolgte der Angriff der deutschen Wehrmacht ohne Ultimatum oder Kriegserklärung auf die Sowjetunion. Am 7. August ernannte sich Stalin nach verlorenen „Kesselschlachten“ zum Oberbefehlshaber der Roten Armee. Am 2. Oktober begann die deutsche Offensive gegen Moskau, am 6. Dezember die sowjetische Gegenoffensive, die am 10. Dezember die deutschen Divisionen zum Rückzug zwang.
Vorbemerkungen:
Natürlich lässt sich 75 Jahre nach Kriegsende das Rad der Geschichte nicht wieder zurückdrehen. Betrachtet man jedoch die damaligen Geschehnisse aus religionspsychologischer Sicht, werden Denk-, Handlungs- und Deutungsmuster erkennbar, die sich in überzeitlichen und transkulturellen Mythen, Narrativen, Ritualen und Stereotypen äußern und sich im Blick auf Voraussetzungen und Konsequenzen zur Re- und Dekonstruktion eignen, damit sie sich nicht eines Tages wieder in Gewaltexzessen aktualisieren.
Auch wenn der Überfall auf Polen bereits zwei Jahre zurücklag und im Westen schon lange Krieg herrschte, brachte der Überfall auf die Sowjetunion eine neue Dimension in das Geschehen, da er als grausamer Vernichtungskrieg gegen die vor allem jüdische Bevölkerung geplant war und geführt wurde, was bei und nach dem Rückzug der Wehrmacht ebenso grausame Rache nach sich zog. Darüber hinaus war er wesentlich stärker als der Krieg im Westen ideologisch befrachtet, was sich aus religioonspsychologischer Sicht vor allem an den hier untersuchten Mythen aufzeigen lässt.
Mythos 1:“Pacta sunt servanda“
Vorbemerkungen:
Der erste Mythos im Kontext des Überfalls betrifft seine Vorgeschichte, genauer: die Moskauer Vereinbarungen vom August und September 1939, in denen vor dem Überfall auf Polen am 1.September 1939 ein Nichtangriffspakt, nach seinem Abschluss, d.h. nach der doppelten Besetzung Polens ein Freundschaftsvertrag geschlossen wurden, in welchen der Mythos von der engen Freunschaft beider Länder und Führer inszeniert wurde, Gleichzeitig wurden in einem Geheimprotokoll die Gebietsansprüche beider Partner festgehalten, die zur Sowjetisierung zahlreicher osteuropäischer Staaten führte.
Wenn der Antibolschewismus – durch Antisemitismus verstärkt – im NS Staat so sehr ausgeprägt war, ist es umso verwunderlicher, dass sich beide Seiten im Sommer 1939 verbündeten. Aus diesem Grund wird verständlich, warum alle Beteiligten in ihren Äußerungen zum Überfall - als Täter, Opfer oder indirekt Beteiligte - immer wieder auf die Moskauer Verträge zu sprechen kommen. Im Folgenden wird eine Auswahl davon zitiert.
Interpretationen
Um sich diesem komplexen und fast schizoid anmutenden Spiel von Kalkül und Inszenierung anzunähern und um auf diese Weise die Frage nach Gründen und Hintergründen zu beantworten, bietet sich die biografische Methode an.
Wie der Pakt in Moskau unter linksliberalen deutschen Exilanten erlebt wurde, schildert Wolfgang Leonhard (1989) in seinen Kindheitserinnerungen (Anhang 1). Auch wenn diese Erinnerungen aus der Distanz von über 50 Jahren erzählt sind, verraten sie aus religionspsychologischer Perspektive, was für Leonhard besonders prägend war: Dazu gehört nicht nur, mit 18 Jahren und als angehender Lehrer als zumindest Halbwaise aus einer regimekritischen antifaschistischen Familie, die nach Moskau emigrieren musste, in einem großen Kinderheim untergebracht zu sein, sondern auch die Erklärung dafür, nämlich die Stalinistischen Säuberungen. Vor allem wird aus seinen Erinnerungen deutlich, wie überraschend der Pakt auch in Russland wirkte: Innerhalb weniger Tage wurde aus dem grausamen Nazi-Regime der Verbündete, was ihm vor allem im Geschichtsunterricht auffiel: statt des Sieges über den Deutschen Orden durch Newsky geriet die Förderung Preußens durch Peter den Großen und der Pakt in den Mittelpunkt, was sich auch in den Bücherregalen und Filmvorführungen zeigte, die den Faschismusbegriff tabuisierten.
Aus religionspychologischer Sicht erläutert das Beispiel die Bedeutung von Erinnerungspolitik und Sprachpolitik, die nicht an der Oberfläche blieben, sondern exitstenziell in die Frage mündeten: Wofür haben wir so lange und intensiv gegen den Faschismus gekämpft?
Somit lohnt die Beschäftigung mit diesem Text auch für Aktualisierungen: Wo ist mir ähnliches schon vorgekommen? Wie würde ich auf solche Überraschungen reagieren? Wie geht man mit solchen Manipulationen um?
Ein anderer lohnender Text im Blick auf die Interpretation von Moskauer Verträgen und aktueller Situation ist Hitlers Proklamation an das deutsche Volk am Tag des Überfalls am 22. Juni 1941 (Anhang 2).
Er erläutert, die Sowjets hätten ihn an der „radikalen Beendigung des Krieges im Westen" gehindert. Sie hätten ihn erpresst und die europäische Kultur und Zivilisation bedroht. Sie hätten den serbischen Putsch organisiert. Deshalb habe er diesen bitteren und schweren Schritt tun müssen, obwohl das deutsche Volk gegen die Völkerschaften Russlands niemals feindselige Gefühle gehegt habe, während seit über zwei Jahrzehnten sich die "jüdisch-bolschewistische Machthaberschaft" von Moskau aus bemüht habe, nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa in Brand zu stecken. Nicht Deutschland habe seine nationalsozialistische Weltanschauung jemals versucht, nach Russland zu tragen, sondern die "jüdisch-bolschewistischen Machthaber" in Moskau hätten es unentwegt unternommen, anderen europäischen Völkern ihre Herrschaft aufzuoktroyieren, und dies nicht nur geistig, sondern vor allem auch militärisch-machtmäßig, und hätten überall dadurch Chaos, Elend und Hungersnot verursacht. Dann kommt er auf den Pakt von 1939 zu sprechen: Er habe Ribbentrop nach Moskau geschickt, um dort zu versuchen, der britischen Einkreisungspolitik gegen Deutschland entgegenzuarbeiten. Das sei allein im Verantwortungsbewußtsein dem deutschen Volk gegenüber geschehen, vor allem aber in der Hoffnung, am Ende doch zu einer dauernden Entspannung kommen und die vielleicht sonst geforderten Opfer vermindern zu können, auch wenn die Folgen des von ihm selbst gewünschten und im Interesse des deutschen Volkes abgeschlossenen Vertrages besonders für die in den betroffenen Ländern lebenden Deutschen sehr schwere waren. Obwohl weit mehr als eine halbe Million deutscher Volksgenossen - alles Kleinbauern, Handwerker und Arbeiter - fast über Nacht gezwungen waren, ihre frühere Heimat zu verlassen, um einem neuen Regime zu entgehen, das ihnen zunächst mit grenzenlosem Elend, früher oder später aber mit der völligen Ausrottung drohte, habe er zu dem allen geschwiegen, weil er schweigen mußte, um doch noch eine endgültige Entspannung und wenn möglich einen dauernden Ausgleich mit diesem Staate herbeizuführen. Allerdings habe er vom August 1940 ab im Interesse des Reiches es nicht mehr verantworten können, diesem gewaltigen Kräfteaufmarsch bolschewistischer Divisionen gegenüber die ohnehin schon so oft verwüsteten Ostprovinzen ungeschützt sein zu lassen.
Aus religionspsychologischer Perspektive ist an dieser Propagandaerzählung wichtig, dass hier bereits die verschiedenen Mythen vorgeprägt sind, die im Folgenden einzeln näher behandelt werden: der vermeitliche Präventive „Blitzkrieg“ der „Kreuzzug gegen die Feinde Europas“, der „jüdische Bolschewismus“ und die Überzeugung, Verträge zugunsten der Sache auch aufgeben zu dürfen.
Dass solche Propagandatechniken nicht auf die deutsche Seite beschränkt waren, zeigen die Ansprachen von Stalin, Molotow und Churchill vom 22. Juni.
(Anhang 3)
Stalin schildert den Gegner als kriegslüsterne wortbrüchige von Ungeheuern und Kannibalen regierte Faschisten, die die friedliebende Sowjetunion überrennen wollten – somit ein genaues Pendant zur Darstellung Hitler, der seinen Gegner als mörderische Bestie darstellt, die nicht nur das friedliche und friedliebende Deutschland, sondern ganz Europa bedroht und damit ihn zum Retten zwingt. Zudem stellt er die kurzzeitigen deutschen Erfolge dem langfristigen sowjetischen Sieg gegenüber Passend zu Leonhards Schilderung der deutschen Antifaschisten in Moskau, unterscheidet auch Stalin zwischen deutschen Faschisten und wohlmeinenden Deutschen, die mit der Sowjetunion und den übrigen Staaten der Faschistischen Aggression Einhalt gebieten werden. Die Betonung des sowjetischen Heldentums sollte später in den sowjetischen Mythos vom „Großen Vaterländischen Krieg“ münden.
Die gleiche Differenzierung zwischen faschistischem Regime und friedliebendem Volk in Deutschland bietet auch Molotow, der großen Wert auf Fakten legt. Auch wenn es letztlich dazu dient, sich selbst ins Recht, den Gegner ins Unrecht zu setzen, regt der Vergleich deutscher/ faschistischer und sowjetischer/stalinistischer Rhetorik dazu an, die beiden totalitären Systeme differenzierter zu betrachten, indem z.B. die Opferperspektive der von beiden Mächten nacheinander okkupierten Staaten in Polen, den baltischen Ländern und darüber hinaus eingenommen wird. Alternativ lohnt auch die externe Perspektive, die z.B. aus der Rede Churchills am Tag des Überfalls erkennbar wird, der die „Formalitäten der Treulosigkeit“ Hitlers hervorhebt sowie seine systematische Kriegsvorbereitung unter dem Deckmantel des Vertrags. Somit scheint aus seiner Perspektive – auch angesichts immer neuer deutsch-britischer Vereinbarungen der Vergangenheit, Hitlers Vertrauensbruch sein eigentliches Verbrechen zu sein.
Mythos 2: „Lebensraum im Osten“
Vorbemerkungen