Epistemologien des Südens
Gegen die Hegemonie des westlichen Denkens
übersetzt aus dem Englischen
von Felix Schüring
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
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Boaventura de Sousa Santos
Epistemologien des Südens
1. Auflage, Juni 2018
ebook UNRAST Verlag, Dezember 2020
ISBN 978-3-95405-058-1
© UNRAST Verlag, Münster
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Copyright der Originalausgabe
© Taylor & Francis Group
Boaventura de Sousa Santos:
Epistemologies of the South. Justice against Epistemicide
Autorisierte Übersetzung der bei Routledge (Mitglied der Taylor & Francis Group LLC) veröffentlichten englischsprachigen Ausgabe.
Satz: Andreas Hollender, Köln
Umschlag: Unrast Verlag
Vorrede
Manifest für das gute Leben / Buen Vivir
Minifest für intellektuelle Aktivist*innen
Einführung: Distanzierung vom westlich-zentrierten politischen Vorstellungsvermögen und der kritischen Theorie
Erster Teil
Zentrifugale Arten der Moderne und subalterne Formen des Westens
Kapitel 1: Nuestra America: Postkoloniale Identitäten und Mestizajes
Kapitel 2: Ein anderer Angelus Novus: Über das moderne Spiel von Wurzeln und Optionen hinaus
Kapitel 3: Gibt es einen nicht-okzidentalischen Westen?
Zweiter Teil:
Hin zu den Epistemologien des Südens: Gegen die Verschwendung der Erfahrung
Kapitel 4: Jenseits des abyssalen Denkens: Von globalen Linien zu Ökologien der Wissensformen
Kapitel 5: Hin zu einer Epistemologie der Blindheit: Warum die neuen Formen der »zeremoniellen Angemessenheit« weder regulieren noch emanzipieren
Kapitel 6: Eine Kritik der faulen Vernunft: Gegen die Verschwendung der Erfahrung, hin zur Soziologie der Abwesenheiten und zur Soziologie der Emergenzen
Kapitel 7: Ökologien der Wissensformen
Kapitel 8: Interkulturelle Übersetzung: Unterscheiden und Teilen con Passionalitá
Konklusion
Literatur
Endnoten
Drei wesentliche Ideen liegen diesem Buch zugrunde. Erstens, dass das Verständnis der Welt weit über das westliche Verständnis der Welt hinausgeht. Zweitens, dass es keine globale soziale Gerechtigkeit ohne eine globale kognitive Gerechtigkeit gibt. Drittens, dass die emanzipatorischen Veränderungen in der Welt anderen Regeln und Vorschriften folgen können als denen, welche die westlich zentrierte kritische Theorie entwickelt hat, und dass eine solche Vielfalt aufgewertet werden sollte.
Eine kritische Theorie gründet auf der Vorstellung, dass es keine bessere Art gibt, die Welt zu verstehen, als die, eine bessere vorauszuahnen. Eine solche Vorausahnung bietet sowohl die intellektuellen Mittel, um die institutionalisierten und gefährlichen Lügen zu enttarnen, welche soziale Ungerechtigkeiten erhalten und legitimieren, als auch den politischen Impuls, um gegen sie anzugehen. Kritische Theorie ist daher bedeutungslos ohne die Suche nach Wahrheit und Heilung, selbst wenn es schlussendlich keine endgültige Wahrheit und kein absolutes Heilmittel gibt. Die Geschichte lehrt, dass selbst die am tiefsten verwurzelten sozialen Lügen in ihrer Reichweite und Lebensdauer beschränkt sind, auch wenn sie in den Zeiten ihrer Verwendung gerade als Quelle für Wahrheit und Heilung erscheinen.
Aus der Perspektive der Ausgeschlossenen und Diskriminierten ist die geschichtliche Aufzeichnung des globalen Kapitalismus, des Kolonialismus und des Patriarchats voll von institutionalisierten und schädlichen Lügen. Es ist eine Aufzeichnung der sozialen Regulierung im Namen der sozialen Emanzipation, der Aneignung im Namen der Befreiung, der Gewalt im Namen des Friedens, der Zerstörung des Lebens im Namen der Unantastbarkeit des Lebens, der Verletzung der Menschenrechte im Namen der Menschenrechte, des gesellschaftlichen Faschismus im Namen der politischen Demokratie, des illegalen Plünderns im Namen des Gesetzes, der Assimilation im Namen der Vielfalt, der individuellen Verletzbarkeit im Namen der individuellen Autonomie, der Erzeugung von Untermenschen im Namen der Menschlichkeit, des Vergebens von Preisschildern für Überzeugungen im Namen von unbezahlbaren Werten, der Verdinglichung im Namen der Erlösung, der Standardisierung im Namen der Wahl, der Vermassung im Namen der Freiheit, des Rassismus im Namen der Toleranz, der konstitutionellen Vergehen im Namen der konstitutionellen Rechte, der Ontologien der Unterlegenheit im Namen von Immanuel Kants Was ist die Aufklärung?, der Ungleichheit nach dem Gesetz im Namen der Gleichheit vor dem Gesetz, des zwanghaften Konsums im Namen des Glücks und der Heuchelei der Proklamation von Prinzipien (St. Thomas‘ habitus principiorum) zur Vertuschung der abscheulichsten Verneinung des recta vita.
Angesichts der auffälligen Verbreitung und Intensität der institutionalisierten und schädlichen Lügen unserer gegenwärtigen Welt kann eine adäquate Anerkennung der Ungerechtigkeit und die Überwindung der Unterdrückung nur durch das Mittel eines epistemologischen Bruchs erreicht werden. Der Fokus auf einen solchen epistemologischen Bruch ist das, was die in diesem Buch dargelegte Theorie von der westlich zentrierten kritischen Tradition unterscheidet. Letztere, von denen die Frankfurter Schule das glänzendste Beispiel darstellt, hat es versäumt, die emanzipatorischen Kämpfe unserer Zeit zu berücksichtigen. Das liegt zumindest teilweise daran, dass sie mit dem von ihr kritisierten bürgerlichen Denken die gleichen epistemologischen Grundlagen teilt, welche die kognitiven Dimensionen sozialer Ungerechtigkeit unterdrücken und somit das westliche Verstehen der Welt und die westliche Vorstellung der Veränderung als universal auffassen. Zudem sieht sie sich als avantgardistische Theorie, die in ihrem Wissen über andere, ihren Erklärungen und ihrer Führung unübertroffen ist. Dieses Vorgehen steht dem gemeinsamen Wissen mit anderen, dem Verständnis, der Unterstützung, dem Teilen und dem Zusammen-Gehen entgegen.
Dieses Buch versucht, sich von dieser eurozentrischen kritischen Tradition zu lösen. Es schlägt eine teoria povera vor, eine Theorie der Nachhut (engl.: rearguard theory) auf Grundlage der Erfahrungen großer, marginalisierter Minderheiten und Mehrheiten, die sich im Kampf gegen die ihnen ungerechterweise aufgezwungene Marginalität und Unterlegenheit befinden und deren Widerstand durch diese Theorie gestärkt werden soll. Die in diesem Buch dargelegte kritische Theoretisierung bemüht sich, nicht-eurozentrisch zu sein, da sie die Grundlage sein soll sowohl für die Aufwertung nichteurozentrischer Konzeptionen von Emanzipation und Befreiung als auch für gegenhegemoniale Verständnisweisen und Verwendungen eurozentrischer Konzepte wie Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Sozialismus. Dieses Buch steht für sich allein, wird aber davon profitieren in Verbindung mit meinem bevorstehenden Buch Epistemologies of the South: Reinventing Social Emancipation gelesen zu werden. Die hier eingegangene Wette ist, dass sobald die in dem vorliegenden Buch vorgeschlagene epistemologische Arbeit vollbracht ist, sich weite politische Landschaften der Emanzipation und Befreiung auftun werden.
Dieses Buch beginnt mit einem Vorwort in der Art eines Kontrapunktes, eines Kontrapunktes zwischen einem vorgestellten Manifest für das gute Leben/ buen vivir und einem Minifest, so benannt, um die hochtrabenden Absichten moderner Manifeste anzufechten. Das Manifest präsentiert die imaginierten Stimmen der sozialen Bewegungen, mit denen ich über die Jahre zusammengearbeitet habe. Das Minifest präsentiert meine eigene Antwort darauf und hebt die Grenzen des Schreibens in einer Zeit des unmöglichen Radikalismus hervor, wie dieses Buch zu zeigen versucht. Um die Kontrapunktstruktur am besten zu visualisieren, ist das Manifest auf den geraden und das Minifest auf den ungeraden Seiten abgedruckt.
In der Einleitung verteidige ich die Notwendigkeit einer Distanzierung vom westlich-zentrierten politischen Vorstellungsvermögen und von der westlich-zentrierten kritischen Theorie. Ich beleuchte die Gründe, weshalb die westlich-zentrierte kritische Tradition (der Marxismus inbegriffen) es versäumt hat, die in den letzten zwanzig Jahren entwickelten Formen des Kampfes, ihre sozialen Akteur*innen sowie ihre Grammatiken[1] der Befreiung zu berücksichtigen. Im letzten Jahrzehnt lieferte das Weltsozialforum eine dramatische Veranschaulichung dieses Versäumnisses.
Das Buch ist zweigeteilt. Im ersten Teil zeige ich, dass, um eine stichhaltige und überzeugende Kritik der westlichen Moderne zu erarbeiten, die Komplexität und innere Diversität dieses sozialen, politischen und kulturellen Paradigmas berücksichtigt werden muss. Was gewöhnlich als westliche Moderne bezeichnet wird, ist eine äußerst komplexe Ansammlung von Phänomenen, in denen herrschende und subalterne Perspektiven koexistieren und sich somit rivalisierende Formen der Moderne präsentieren. Kritiken der vorherrschenden westlichen Moderne neigen dazu, diese Tatsache zu ignorieren. Insofern laufen sie Gefahr ebenso reduktionistisch zu sein wie eben jene von ihnen kritisierten Konzeptionen der Moderne, das heißt, bloße Karikaturen. Im ersten Kapitel, gestützt auf einen berühmten Essay des kubanischen Intellektuellen und Aktivisten José Martí aus dem 19. Jahrhundert, identifiziere ich einige calibaneske[2] Sichtweisen auf Amerika und die westliche Moderne. Im zweiten Kapitel greife ich auf Walter Benjamins Angelus Novus zurück, um die Turbulenzen zu analysieren, die gegenwärtig eine der grundlegenden Metaphern ins Wanken bringen, die den modernen Identitäten zugrunde liegen (oder eher den modernen Prozessen der Identifikation): die doppelte Metapher der Wurzeln und Optionen. Im dritten Kapitel frage ich, ob ein nicht-okzidentalistischer Westen möglich ist. Unter Rückgriff auf Nikolaus von Kues und Blaise Pascal, zwei frühe moderne Philosophen, zeige ich auf, wie auf alternative Verständnisweisen der westlichen Moderne verzichtet wurde, weil diese sich nicht mit der kapitalistisch-kolonialen Unternehmung vereinbaren ließen.
Im zweiten Teil lege ich mittels verschiedener Annäherungen meine Kritik der herrschenden Epistemologien (der nördlichen Epistemologien) dar und präsentiere meinen eigenen epistemologischen Vorschlag, den ich als Epistemologien des Südens bezeichnet habe, eine Reihe von Untersuchungen bezüglich der Erzeugung und Gültigkeit des im Kampf entstandenen Wissens. Diese Arten des Wissens wurden von sozialen Gruppen als Teil ihres Widerstandes gegen systematische Ungerechtigkeiten und Unterdrückungen – verursacht durch Kapitalismus, Kolonialismus und Patriarchat – entwickelt. Im vierten Kapitel, dem zentralen Kapitel meines postkolonialen oder dekolonialen Ansatzes, analysiere ich die abyssalen Linien, die abgrundtiefen Grenzen, gezeichnet durch das entsprechend grenzziehende Denken unserer Zeit, durch das sowohl menschliche als auch nichtmenschliche Realitäten auf der jeweils anderen Seite der Linie unsichtbar gemacht oder sogar aktiv als nichtexistent produziert werden. Dies mündet in der radikalsten Form sozialer Exklusion. Im fünften Kapitel nähere ich mich der Unsichtbarkeit aus einem anderen Winkel an, den ich als Epistemologie der Blindheit bezeichne. Indem ich die epistemologische Grundlage der modernen Wirtschaftswissenschaften als extremes Beispiel nehme, zeige ich die unterschiedlichen Mechanismen, durch die die gewaltige Menge des Ungesehenen erzeugt wird. Im sechsten Kapitel und aus einer nochmals anderen Perspektive, welche ich die Soziologie der Abwesenheiten und die Soziologie der Emergenzen nenne, zeige ich, wie die Faulheit der vorherrschenden modernen Formen der Vernunft zu einer ungeheuerlichen Verschwendung der sozialen Erfahrung führt, welche ansonsten zur Identifizierung emanzipatorischer Möglichkeiten nützlich sein könnte. Im siebten Kapitel konzentriere ich mich auf die Ökologien der Wissensformen; ich präsentiere meinen Entwurf der Epistemologien des Südens, indem ich zeige, wie die Soziologie der Abwesenheiten und die Soziologie der Emergenzen neue Möglichkeiten sowohl für die Ökologien der Wissensformen als auch für die interkulturelle Übersetzung öffnen. Schließlich beschäftige ich mich im achten Kapitel mit der interkulturellen Übersetzung, die ich mir als Alternative sowohl zum abstrakten Universalismus der westlich-zentrierten allgemeinen Theorien als auch zu der Idee der kulturellen Inkommensurabilität vorstelle.
Dieses Buch ist durchtränkt von tragischem Optimismus, weder radikalem Pessimismus noch radikaler Hoffnung. Nichts ist so unterdrückend wie die Auslöschung des Gefühls für eine nichtunterdrückende Alternative. Andererseits ist jedoch keine solcher Alternativen kräftig oder überzeugend genug, um nicht Risiko zu laufen, irgendwie mit der Unterdrückung zu verschmelzen. Wenn der menschliche Zustand die Sklaverei wäre, so gäbe es keine Notwendigkeit für die Institution der Sklaverei. Umgekehrt, wenn der menschliche Zustand die Freiheit wäre, so gäbe es keine Notwendigkeit für Verfassungen und Menschenrechte. Der menschliche Zustand ist der Zustand von Menschen, die die schwere Last der Geschichte auf ihren Schultern tragen und halb blind zwischen Wegen wählen, um diese Last erträglicher zu machen.
Ich habe viele Jahre an diesem Buch gearbeitet. Ich stehe bei vielen Kolleg*innen und Mitarbeiter*innen in der Schuld für ihre kostbare Unterstützung im Laufe dieser Zeit. Ich fürchte, ich werde nicht in der Lage sein, sie alle zu erwähnen. Dieses Buch verdankt einer Menge Maria Irene Ramalho, unseren vielen anregenden Dialogen und unserem herausfordernden interdisziplinären Austausch sowie ihrer Inspiration, die literarische Theorie in Angriff zu nehmen. Sie hat mir außerdem gelegentlich dabei geholfen, einige meiner Ideen ins Englische zu übersetzen. Meine langjährige und engagierte Forschungsassistentin, Margarida Gomes, hat erneut mit Kompetenz und Professionalität meine Forschung und die Vorbereitungen für die Veröffentlichung des Manuskripts unterstützt. Über die Jahre haben meine englischsprachigen Bücher von der unschätzbaren Unterstützung von Mark Streeter, als einem herausragenden Lektor, profitiert. Die unsichtbare Hand meiner hingebungsvollen Sekretärin, Lassalete Simões, wird, direkt oder indirekt, in allem deutlich, was ich über die vergangenen zwanzig Jahre geschrieben habe. Meine Kolleg*innen João Arriscado Nunes und Maria Paula Meneses waren wertvolle Mitarbeiter*innen in wichtigen Momenten meiner Forschung. Über die Jahre waren meine promovierenden und promovierten Studierenden an den Universitäten von Coimbra, Wisconsin-Madison, Warwick und London für mich eine konstante Quelle der Inspiration, um mich neuen Themen und Perspektiven zu widmen. An unterschiedlichen Momenten meiner Forschung konnte ich stets auf die zuverlässige Unterstützung von Kolleg*innen, Mitarbeiter*innen und Freund*innen zählen: Agustin Grijalva, Alison Phipps, Allan Hunter, Ana Christina Santos, António Casimiro Ferreira, António Sousa Ribeiro, Armando Muylema, Bill Whitford, Carlos Lema, Cesar Baldi, César Rodríguez-Garavito, Claire Cutler, Conceição Gomes, Christiano Gianolla, David Larraz, David Schneiderman, Diane Soles, Efua Prah, Élida Lauris, Emilios Christodoulidis, Erik O. Wright, Gavin Anderson, Heinz Klug, Immanuel Wallerstein, Ivan Nunes, James Tully, Javier Couso, Jeremy Webber, João Pedroso, Joaquin Herrera Flores, John Harrington, José Luis Exeni, José Manuel Mendes, Joseph Thome, Juan Carlos Monedero, Juan José Tamayo, Len Kaplan, Liliana Obregón, Luís Carlos Arenas, Marc Galanter, Margarida Calafate Ribeiro, Maria José Canelo, Mario Melo, Mary Layoun, Michael Burawoy, Michael Wall, Neil Komesar, Raul Llasag, Raza Saeed, Rebecca Johnson, Sara Araújo, Sílvia Ferreira, Tiago Ribeiro, and Upendra Baxi. Meinen innigen Dank an sie alle und ich hoffe nur, dass sie das Ergebnis nicht enttäuschen wird. Nicht zuletzt möchte ich ein ganz besonderes Wort des Dankes an Dean Birkenkamp von Paradigm Publi-shers aussprechen, der mir für die rasche Fertigstellung des Buches und die rechtzeitige Veröffentlichung einen außergewöhnlichen Ansporn gab.[3]
Es ist Zeit, die Erzählung zu ändern. Die Vergangenheit sollte groß sein, aber ohne Forderungen. Die Zukunft sollte sich uns annähern. Lasst uns die Gegenwart und den Raum dieser Welt ausweiten. Lasst uns weiter gehen. Lasst uns mit ungenauen Karten reisen. Zwischen Theorie und Handlung mag es eine Verbindung geben, aber sie ist nicht kausal. Wir werden nicht notwendigerweise den gleichen Ort erreichen, viele von uns werden überhaupt keinen erkennbaren Ort erreichen, aber wir teilen den gleichen Ausgangspunkt und das genügt. Wir suchen nicht alle nach der gleichen Adresse, aber wir können doch eine lange Zeit zusammengehen. Einige wenige von uns sprechen koloniale Sprachen, die große Mehrheit aber spricht andere Sprachen. Da nur eine kleine Anzahl von uns eine Stimme besitzt, wenden wir uns an Bauchredner*innen, die wir die intellektuelle Nachhut nennen, denn sie tun weiterhin das, was sie schon immer gut konnten: zurückschauen. Aber nun haben sie von uns eine neue Aufgabe erhalten: sie sollen sich um jene von uns kümmern, die zurückbleiben, und sie zurück in den Kampf bringen, und sie sollen all jene mitsamt ihrer Motivation entlarven, die uns hinter unserem Rücken verraten.
Wir kennen Marx, obwohl Marx uns vermutlich nicht kennt. Die große Theorie ist ein Kochbuch für ausgehungerte Leute. Wir sind weder universal noch unendlich. Wir verwerfen alle Philosophien, die uns nicht als die wertschätzen, die wir sind. Wir kennen Gandhi und Gandhi kennt uns. Wir kennen Fanon und Fanon kennt uns. Wir kennen Toussaint L‘Ouverture und Toussaint L’Ouverture kennt uns. Wir kennen Patrice Lumumba und Patrice Lumumba kennt uns. Wir kennen Bartolina Sisa und Bartolina Sisa kennt uns. Wir kennen Catarina Eufémia und Catarina Eufémia kennt uns. Wir kennen Rosa Parks und Rosa Parks kennt uns. Aber die große Mehrheit derer, die uns kennen, ist nicht besonders bekannt. Wir sind Revolutionär*innen ohne Schriften.
Wir haben gehört, dass es eine Vielzahl von anerkannten intellektuellen Personen gibt, die sich auf die Beglaubigung von Ideen spezialisieren, welche uns angeblich betreffen. Sie versammeln sich, aus ihrer Perspektive gesehen, auf dieser Seite der Linie, sprich, auf der Seite der unerreichbaren Nachbarschaften und befestigten Institutionen, die sie Universitäten nennen. Sie sind gelehrte Freigeister und halten die Straflosigkeit in Ehren.
Wer sind wir? Wir sind der globale Süden, die größte Ansammlung von Kreationen und Kreaturen, die der unendlichen Gefräßigkeit des Kapitalismus, des Kolonialismus und des Patriarchats, mitsamt all ihrer spezifischen Ausformungen der Unterdrückung, als Opfer dargebracht wurde. Wir sind in jeder Himmelsrichtung zu finden, denn unsere Geografie ist die Geografie der Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Wir sind nicht alle, sondern jene, die sich der Rolle des Opfers verweigern und somit Widerstand leisten. Wir besitzen Würde. Wir sind alle indigen, weil wir dort sind, wo wir schon immer waren, lange bevor wir Eigentümer, Herren und Meister hatten, oder weil wir dort sind, wohin man uns gegen unseren Willen gebracht hat, um uns, dort angekommen, die Eigentümer, Herren und Meister aufzuzwingen. Sie wollen uns die Furcht lehren, einen Meister zu haben, so wie sie uns die Furcht lehren wollen, keinen Meister zu haben, sodass wir uns schlussendlich selbst nicht mehr ohne die Furcht vorstellen können. Wir leisten Wiederstand. Wir sind äußerst verschiedene Menschen geeint in der Vorstellung, dass das Verständnis der Welt weit über das westliche Verständnis der Welt hinausgeht. Wir glauben, dass Veränderungen in der Welt in Arten und Weisen geschehen können, welche der globale Norden nicht vorhergesehen hat. Wir sind Tiere und Pflanzen, Biodiversität und Wasser, Erde und Pachamama, Vorfahren und zukünftige Generationen, deren Leiden in den Nachrichten weit weniger Beachtung finden als das Leiden der Menschen und trotzdem stark mit ihrem verbunden ist, selbst wenn sich die Menschen dessen nicht bewusst sind.
Die Glücklichsten von uns sind heute am Leben, aber fürchten, morgen getötet zu werden; sie haben heute zu Essen, aber fürchten, morgen keines zu haben; sie bestellen heute das von den Vorfahren geerbte Land in der Furcht, morgen enteignet zu werden; sie reden heute mit ihren Freund*innen auf der Straße, aber fürchten, dass dort morgen nur noch Trümmer sein werden; sie kümmern sich heute um ihre Familien, aber fürchten, morgen vergewaltigt zu werden; sie haben heute eine Anstellung, aber fürchten, diese morgen zu verlieren; sie sind heute Menschen, aber fürchten, morgen wie Tiere behandelt zu werden; sie trinken heute klares Wasser und erfreuen sich unberührter Wälder, aber fürchten, dass es morgen weder Wasser noch Wälder geben wird. Die Unglücklichsten unter uns sind diejenigen, deren Furcht schon längst Realität geworden ist.
Einige von uns konnten an den Treffen des Weltsozialforums im ersten Jahrzehnt des dritten Jahrtausends teilnehmen. Wir sind solidarisch mit den Teilnehmenden, auch wenn sie nicht alles, geschweige denn die wirklich wichtigen Dinge, über uns gesagt haben. Sie haben jedoch gezeigt, dass wir weit mehr sind, als unsere Feinde vermuten, dass wir viel gekonnter als sie über unsere und ihre Welt nachdenken und dass wir mutig genug sind, gemäß unserer Überzeugung zu handeln, nach der es unter gewissen Umständen möglich ist, mit Ideen, die Papierdrachen gleichen, gegen Ideen mit der Macht eines Flugzeugträgers anzukämpfen, auch wenn ein Papierdrache ein Papierdrache und ein Flugzeugträger ein Flugzeugträger ist. Genau das ist es, was einige von uns demonstriert haben, als sie zu Beginn des zweiten Jahrzehnts des Jahrtausends in den Straßen von Kairo und Tunis, Madrid und Athen sowie in New York und Johannesburg ihrer Empörung Luft verschafft haben. In den Straßen dieser Welt also. Einer Welt, in der kürzlich herausgefunden wurde, dass die wohlhabenden Länder lediglich die Länder der wohlhabenden Leute sind (wohingegen die 99 Prozent, die Armen und ihre Familien, außerhalb der neofeudalen Enklaven der superreichen Familien, dem anderen Prozent, wohnen). Viele von denjenigen, die über diese Erniedrigung empört sind, befinden sich nicht, wie wir, auf der anderen Seite der Linie, aber wir hoffen dennoch mit ihnen Allianzen schmieden zu können.
Wohin gehen wir? Einige von uns bewegen sich auf soziale Emanzipation zu, andere auf einen Sozialismus des einundzwanzigsten Jahrhunderts, einen Buen-vivir-Sozialismus, andere auf den Kommunismus, andere auf sumak kawsay oder sumak qamaña, andere auf Pachamama oder umma, andere auf ubuntu, wieder andere auf Menschenrechte, andere auf echte und wahre Demokratie, andere auf Würde und Respekt, andere auf Plurinationalität, andere auf Interkulturalität, andere auf soziale Gerechtigkeit, andere auf swadeshi, andere auf demokaraasi, andere auf minzhu, andere auf Ernährungssouveränität, andere auf solidarische Ökonomie, andere auf Ökosozialismus und den Kampf gegen große Staudämme und Megaprojekte. Man hat uns davor gewarnt, dass jedes Konzept dazu neigt, ein konzeptionelles Monster zu werden. Wir haben keine Angst.
Was wir miteinander gemein haben, sind die vielen zu bekämpfenden Hindernisse auf unserem Weg hin zu einem würdevollen Leben – das bedeutet, einem guten Leben. Es gibt zwar eine Vielzahl von Hindernissen, aber sie alle weisen eine gewisse Ähnlichkeit auf: Kapitalismus unter Menschen und zwischen dem Menschen und der Natur, Kolonialismus, Patriarchat, Warenfetischismus, Monokulturen der Wissensformen, die lineare Zeit des Fortschritts, naturalisierte Ungleichheit, der herrschende Maßstab sowie der Produktivismus des Wirtschaftswachstums und der kapitalistischen Entwicklung. Die Hindernisse für ein Leben in Würde sind unterschiedlich, aber sie haben alle etwas gemeinsam, nämlich die unendliche Akkumulation ungleicher Differenzen im ungerechten Interesse einiger weniger. Wir sind die Enteigneten dieser Erde, weil wir als unwissend, minderwertig, lokal, partikulär, rückständig, unproduktiv oder faul gelten. Das daraus entstehende unermessliche Leiden und die damit einhergehende Verschwendung an Welterfahrung sind ungerecht, aber historisch gesehen noch nicht am Ende, noch nicht unumkehrbar. Wir kämpfen mit der Überzeugung gegen sie an, dass sie beseitigt werden können. Doch unsere Kämpfe hängen weniger von unseren Zielen ab als von der Qualität unserer Handlungen und Emotionen, mit denen wir versuchen, diese zu erreichen.
Was wollen wir? Die Welt ist reich an Möglichkeiten für ein gutes Leben, sowohl in Bezug auf uns selbst als auch auf Mutter Erde. Wir wollen die Möglichkeit haben, diese zu nutzen. Wir wissen besser, was wir nicht wollen. als was wir wollen. Diejenigen, die auf »dieser Seite der Linie«, wie sie es selbst nennen, leben, denken viel über uns nach. Für die Glücklichsten unter uns organisieren sie in unseren Dörfern Messen mit Wohltätigkeitsbasaren und Beratungsständen. Unter den dargebotenen Dingen befinden sich transgene Nahrungsmittel, Bibeln, geistiges Eigentum, zertifizierte Beratung, Anleitungen zur Selbstermächtigung, Strukturanpassungen, Menschenrechte, Privateigentum, ansehnlich verpackte Demokratie, abgepacktes Trinkwasser und Umweltbedenken. Wir haben einmal gelesen, dass Sokrates, als er über einen Platz voller dargebotener luxuriöser Waren lief, bemerkte: »Wie zahlreich sind doch die Dinge, derer ich nicht bedarf!« Sokrates wäre heute ein Verfechter für das gute Leben/ buen vivir. Wir wollen nicht diejenigen sein, über die gesprochen wird. Wir wollen für uns selbst sprechen. Wir wollen nicht als diejenigen gesehen werden, die auf der anderen Seite der Linie stehen. Wir wollen die Linie selbst beseitigen.
Wo leben wir? Wir leben in Chiapas, in den Anden, im Amazonas-Regenwald, in den besetzten Siedlungen großer Städte, auf von alten und neuen Kolonist*innen begehrtem Land in Afrika und Asien, in den Ghettos von Weltstädten, an den Flussufern, wo sie Staudämme errichten, und in den Bergen, in denen sie Erze und Mineralien fördern wollen und damit Leben zerstören, auf den neuen mit Sklavenarbeit betriebenen Plantagen in den Vereinigten Staaten, Brasilien und Bangladesch, in den Maquiladoras der Welt, in denen wir unter Schweiß und Kummer für das konsumfixierte Begehren der Herren produzieren. Wir leben tatsächlich dort, wohin Tourist*innen niemals gehen, und wenn sie es täten, würden sie sich niemals dazu herablassen, dort zu leben. Die Welt ist durch zwei Arten von Grenzen geteilt: jene, die wir unter Vorbehalt akzeptieren, und jene, die wir ohne Vorbehalte verweigern. Erstere sind nationale Grenzen, in denen wir geboren und aufgewachsen sind. Wir akzeptieren sie, um unsere Energie zu sparen, weil wir denken, dass sie im Vergleich zu den anderen Grenzen ein kleineres Hindernis darstellen. Die anderen sind Mauern, Gräben, Stacheldrahtzäune, Polizeiketten und Checkpoints. Vor allem aber sind sie die Karte, die die abyssalen Linien in die Köpfe der Menschen, die Gesetze und die Politik eingezeichnet und uns somit auf die andere Seite der Linie verbannt hat. Die schlimmsten Grenzen sind diejenigen, die von dieser Seite der Linie aus nicht gesehen, gelesen, gehört oder gefühlt werden können, das heißt, von Kakanien aus, dessen Hauptstadt Excrementia ist. Wir leben auf der anderen Seite einer Linie, die von jemandem gezeichnet wurde, der währenddessen an uns dachte, mit dem Ziel nicht mehr an uns denken zu müssen. Wir sind unsichtbar, unhörbar und unlesbar, weil der Erfolg vorangegangener Revolutionen uns nicht mit eingeschlossen hat. Diesen Revolutionen nach zu urteilen, haben wir bestenfalls eine Vergangenheit, aber keine Zukunft. Uns wurde es nie gestattet die Geschichtsbücher zu schreiben.
Wie leben wir? Immer gefährdet, aufgrund anderer Ursachen als Krankheit zu sterben; gefährdet, verletzt oder getötet zu werden in Auseinandersetzungen jenseits des Spiels; immer kurz davor, Zuhause, Land, Wasser, heilige Gebiete, Kinder oder Großeltern zu verlieren; immer gefährdet, über lange Strecken vertrieben zu werden, um vor Krieg zu fliehen, oder in unseren Vierteln oder in Konzentrationslagern eingepfercht zu werden; niemals sicher, ob unsere gemeinsamen, solidarischen und kooperativen Ersparnisse angesichts der Zählweise des BIP noch einen Wert besitzen; gefährdet, unsere Flüsse und Wälder im Namen der, von ihnen so bezeichneten, Entwicklung kontaminiert und gerodet zu sehen; gefährdet, erniedrigt zu werden und aufgrund unseres unterlegenen Geschlechts, der Rasse, der Klasse oder der Kaste keine Macht zu besitzen, um darauf reagieren zu können; gefährdet, das Ziel der Tricks von wohlhabenden Jugendlichen, mit für uns verhängnisvollen Folgen, zu sein; gefährdet, zu verarmen und bei jenen, die uns in der Not helfen, nicht einmal ein schlechtes Gewissen zu erzeugen; gefährdet, für die Verteidigung unserer Mutter Erde als Terrorist*innen behandelt zu werden; in der Tat gefährdet, angesichts so vieler Gefahren, schlussendlich aufzugeben und uns anzupassen.
Welche Art von Leidenschaft treibt uns an? Die subjektivste und mannigfaltigste Leidenschaft, basierend auf der intensivsten und verschiedenartig gelebten Wahrheit: dass wir ein Leben in Würde verdienen, ein freies Leben frei von der Furcht vor Gewalt und Enteignung, ein Leben, zu dem wir berechtigt sind, und dass es möglich ist, dafür zu kämpfen und sogar zu siegen. Wir sind die Kinder einer leidenschaftlichen Wahrheit und einer wahrhaftigen Leidenschaft. Wir wissen leidenschaftlich, dass die Realität nicht auf das beschränkt ist, was existiert, und das vieles, was nicht existiert, es vermag und verdient zu existieren. Die Zeit vermag es nicht, unsere Leidenschaft zu verringern. Unser Bruder Evo Morales musste, nachdem Papst Paul III. 1537 erklärt hatte, die Indianer hätten eine Seele, fünf Jahrhunderte warten, um Präsident zu werden. Es war ein listenreicher Weg, den wir gegangen sind, um dort anzukommen, wo wir heute stehen.
Gegen wen kämpfen wir? Auf dieser Seite der Linie ist alles verlockend, auf der anderen Seite ist alles erschreckend. Wir sind die einzigen, die aus Erfahrung wissen, dass es zwei Seiten gibt, und die einzigen, die in der Lage sind, sich etwas vorzustellen, was sie nicht leben. Unser Kontext ist die Dringlichkeit eines Lebens in Würde, als Bedingung für die Ermöglichung von allem anderen. Wir wissen, dass dies nur ein zivilisatorischer Wandel garantieren kann, aber wir wissen auch, dass unser Druck einen solchen Wandel hervorbringen kann. Wir müssen heute leben, um lange zu leben, und umgekehrt; wir müssen lange leben, um heute zu leben. Unsere Zeiten und unsere Dauer heben nur das hervor, was uns in unseren Kämpfen von Nutzen ist. Unsere Zeiten sind nicht flach oder konzentrisch; sie sind Übergänge zwischen dem Nicht-Mehr und dem Noch-Nicht.
Bis zu einem gewissen Maß fällt das Zeitalter auf unserer Seite der Linie mit dem Zeitalter ihrer Seite zusammen, allerdings sollten die beiden nicht durcheinandergebracht werden. Wir und sie sind zeitgleich auf unterschiedliche Weisen. Unser Zeitalter ist potenziell revolutionärer als alle vorangegangenen. Nie zuvor gab es so viel ungerechtes Leiden menschlicher und nichtmenschlicher Wesen; noch nie waren die Ursprünge der Macht und Unterdrückung so divers und wirkmächtig. Nie zuvor war es möglich, sich als Mensch auf diesem Planeten eine Vorstellung – wie ungenau und verzerrt diese auch sein mag – von dem zu machen, was hier geschieht.
Dies ist eine Zeit der Abrechnung von planetarischem Ausmaß, in die sowohl die Menschen als auch Mutter Erde mit einbezogen werden. Es ist bisher eine Zeit der Abrechnung ohne Regeln. Auf der einen Seite stehen Kapitalismus, Kolonialismus, Patriarchat und all ihre spezifischen Ausformungen der Unterdrückung. Dies nennen wir den globalen Norden, einen politischen, nicht geografischen, Ort, der sich immer weiter auf die Transnationalisierung des Leidens spezialisiert: Arbeiter*innen, die ihre Anstellung aufgrund der Versetzung von Fabriken verlieren; Bäuer*innen in Indien, Afrika und Lateinamerika enteignet durch Megaprojekte, die Agrarindustrie und die Bergbauindustrie; indigene Gemeinschaften in den Amerikas und in Australien, die den Genozid überlebt haben; ermordete Frauen in Ciudad Juárez; Schwule und Lesben in Uganda und Malawi; die Menschen in Darfur, die so reich und doch so arm sind; afrikanische Sklav*innen und ihre Nachkommen, ermordet und verschleppt innerhalb der Grenzen des kolumbianischen Pazifiks; Mutter Erde, die in ihren Lebenszyklen getroffen wurde; die als Terrorist*innen beschuldigten und in den geheimen Gefängnissen der Welt gefolterten; nicht dokumentierte Immigrant*innen, denen die Abschiebung droht; Palästinenser*innen, Iraker*innen, Afghan*innen, und Pakistaner*innen, die unter ständigem Bombardement leben, arbeiten und feiern; die verarmten Menschen Nordamerikas, die von der Tatsache schockiert sind, dass sie der Kapitalismus und der Kolonialismus mit genau der gleichen Verachtung und Willkür behandelt wie all die anderen Völker der Welt; die pensionierten, arbeitslosen und arbeitsunfähigen Menschen, die der Finanzpiraterie und ihren Gesetzen der Plünderung zum Opfer fallen.
Auf der anderen Seite steht unsere Zeit, eine Zeit der Wiederkehr der Erniedrigten und Degradierten. Das ist es, was wir den globalen Süden nennen. Wir sind keine Opfer; wir werden zu solchen gemacht und leisten Widerstand. Wir sind viele und wir nutzen unsere neuen Arten zu lernen auf unterschiedliche Weise. Wir stimmen nicht immer überein und manchmal vermuten wir sogar Verrat. Doch wir sind erfahren darin, Verräter*innen zu entlarven.
Trotz allem haben wir gemeinsame Probleme mit unseren gemeinsamen Feinden, und unsere Schicksale teilen eine gewisse Ähnlichkeit. Das Leiden, das sie über uns gebracht haben und das sich in letzter Zeit immer weiter verstärkt, wird sich schließlich gegen sie selbst richten. Die Gescheitesten von ihnen haben das längst bemerkt. Wie der weise Voltaire zu sagen pflegte: der Grund aller Kriege ist Diebstahl. Jene, die gelernt haben, außerhalb des Hauses zu stehlen, tun dies nun im Inneren. Wenn das Leiden, Morden, Erniedrigen und Zerstören weiterhin eskaliert, könnte das Überleben des Planeten auf dem Spiel stehen. Könnte es sein, dass unsere Feinde bereits an die Kolonisierung anderer Planeten denken, mitsamt der Möglichkeiten jenseits eines geschlossenen Kondominiums wie der Erde?
Wir wissen, dass der erste Kampf ein innerer ist. Der weise Marx sagte, dass nachdem die Philosophen damit fertig seien, die Welt zu interpretieren, sie verändert werden müsse. Aber es gibt keine Veränderung ohne eine Veränderung des Selbst, da die Hindernisse für ein Leben in Würde, oder für ein gutes Leben, sich in uns selbst befinden, in dem Maße, in dem wir uns der Demütigung anpassen und leugnen, dass der Unterschied zwischen dem, was uns aufgezwungen wird, und dem, was wir ersehnen, weit kleiner ist, als wir denken.
Welche Sicherheiten haben wir? Wie alle menschlichen und nichtmenschlichen Tiere spezialisieren wir uns auf Möglichkeiten: Übergänge zwischen dem Nicht-Mehr und dem Noch-Nicht. Die einzigen Sicherheiten, die wir haben, betreffen die Möglichkeit und die Wette. Alle anderen Sicherheiten sind paralysierend. Wir haben ein unvollständiges, partielles Wissen über die Umstände, die uns zu der Überzeugung führen, dass die Umstände selbst partiell sind. Wir folgen dem weisen Fanon, demzufolge jede Generation in relativer Finsternis ihre eigene Mission finden und diese entweder erfüllen oder verraten muss. Unsere Möglichkeiten sind weit davon entfernt, unendlich zu sein, und sie werden auch nur angesichts unserer Bewegungen deutlich. Wir überlegen, während wir rennen; auf einem Weg, der nur zur Hälfte sichtbar ist. Die Sicherheit bezüglich der Fesseln, derer wir uns entledigen wollen, ist trügerisch, da sie sich über die Zeit wie Schmuck und damit gut anfühlen können. Sie können uns außerdem dazu veranlassen, sie jenen, die uns nahestehen, ebenfalls anzulegen.
Welche Wissensarten stehen uns zur Verfügung? Unser Wissen ist intuitiv; es betrifft unmittelbar das, was dringlich und notwendig ist. Es besteht aus Wörtern und aus handelnder Schweigsamkeit, aus emotionaler Vernunft. Unser Leben lässt es nicht zu, das Denken vom Leben zu trennen. Unsere Alltäglichkeit durchdenken wir täglich im Detail. Wir denken an das Morgen als wäre es das Heute. Unsere Fragen sind nicht bedeutsam; sie sind produktiv und somit schaffend.
Unser Wissen ist nicht hochtrabend, denn es ist an unsere Körper gebunden. Fühlen und Denken bilden eine Symbiose. Ohne Leidenschaft zu denken, bedeutet Särge zu bauen, und ohne Leidenschaft zu handeln, bedeutet, sie zu befüllen. Wir sind versessen darauf, die Vielfalt der Wissensformen, die uns interessieren, zu verstehen. Es gibt eine Vielzahl von Wissensformen, die nur so auf wissbegierige Menschen warten. Wir verschwenden keine Wissensformen, die uns in unserem Kampf um ein gutes Leben weiterhelfen könnten. Wir vermischen und kombinieren sie gemäß anderer Logiken als ihrer eigenen. Wir verlangen kein Urheberrecht für Autor*innen; stattdessen wollen wir selbst zu Urheber*innen von Rechten werden.
Unsere Art des Wissens beruht auf der Erfahrung und ist existenziell; es ist daher sowohl belastbar als auch biegsam, und es wird von all dem beeinflusst und unterbrochen, was uns widerfährt. Anders als in Kakanien sind Ideen unter uns wie Menschen; sie haben ein Gewicht und müssen für ihr Übergewicht Strafen zahlen; sie tragen Kleidung und werden für ihren Exhibitionismus inhaftiert; sie erheben Einspruch und werden dafür getötet.
Wie bilden wir uns? Wir sind die Pädagog*innen mit den wenigsten Lehrberechtigungen der Welt. Unsere Körper und unsere Leben sind das verschwendete Wissen dieser Welt, das Wissen, das für uns objektiv und für unsere Feinde subjektiv ist. Alles, was wir über sie wissen, besteht aus unserer und ihrer Perspektive; alles, was sie über uns wissen, besteht nur aus ihrer eigenen. Die Universitäten sind vollgestopft mit Instituten, Büchern, Karrieren, Computern, unzähligen Abhandlungen, Uniformen, Privilegien, gelehrten Reden, Kanzler*innen und Beamt*innen; dennoch bilden sie nicht im geringsten. Ihre Aufgabe ist es, uns zu Unwissenden zu machen, auf das wir uns unseres Unwissens bewusst werden und als solche behandelt werden können. Sie lehren uns höchstens, wie wir uns zwischen zwei Übeln entscheiden. Wir bilden uns, indem wir lernen, keines von beiden zu wählen. Wenn wir eines Tages die Universitäten betreten – das heißt, wenn wir sie besetzen und dekolonisieren –, werden wir nicht bloß die Türen öffnen und die Wände umdekorieren. Wir werden beides zerstören, um Platz für alle zu schaffen.
Welche sind unsere Waffen? Alle Waffen des Lebens, keine des Todes. Tatsächlich gehören uns nur jene Waffen, die in unseren Sprachen einen richtigen Namen haben. All die anderen wurden von unseren Feinden als Kriegstrophäen oder unfreiwillige Erbstücke genommen: Demokratie, Menschenrechte, Wissenschaft, Philosophie, Theologie, Gesetz, die Universität, der Staat, Zivilgesellschaft, Konstitutionalismus und so weiter. Wir haben gelernt, dass wir dem Feind nur dann Angst einjagen, wenn wir die Waffen selbstständig handhaben. Geliehene Waffen hingegen sind nur dann effizient, wenn sie mit unseren eigenen zusammen eingesetzt werden. Wir sind fähige Rebell*innen. Wir folgen dem weisen Subcomandante Insurgente Marcos, demzufolge die hohen Politiker*innen nichts verstanden haben; vor allem nicht das Wichtigste: dass ihre Zeit vorbei ist.
Es ist ein Freudenfest für die Opfer, wenn sie aufhören, Opfer zu sein, wenn ihr Leiden in Widerstand und Kampf umschlägt. Wir sind im Leben verwurzelte Künstler*innen und unsere Kunst ist auf dem Vormarsch. Die einzigen unschönen und traurigen Wirklichkeiten sind jene, die uns aufgezwungen werden. Die Wirklichkeiten, mit denen wir Widerstand leisten, sind wunderschön und voller Freude.
Auf welche Arten von Verbündeten können wir zählen? Auch wenn wir die große Mehrheit sind, gibt es nur wenige von uns. Wir müssen zusammenfinden, bevor andere unsere Nähe suchen. Wir bitten um Hilfe, aber wir verwenden sie nur, um von ihr unabhängig zu werden. Indem wir uns von ihr befreien, befreien wir die Hilfe selbst. Wir bitten die Demokratie um Hilfe, um die Demokratie zu befreien. Die Demokratie wurde aus Angst vor uns erfunden und wir haben sie immer gefürchtet. Heute haben wir die Furcht verloren, ebenso wie alle Illusionen. Wir wissen, dass wenn wir uns der Demokratie ermächtigen, unsere Feinde sich wieder ihren alten Erfindungen zuwenden: Diktatur, Gewalt, Diebstahl und die willkürliche Manipulation von Legalität und Illegalität. Wir werden so lange für die Demokratisierung der Demokratie kämpfen, bis sie sich von dem Schwindel befreit hat, in die sie von ihnen verwandelt wurde. Wir werden um die Hilfe der Menschenrechte bitten, um sie als unnütz auszuweisen. Sie haben uns in eine Vielzahl von Objekten des Menschenrechtsdiskurses verwandelt. Wenn wir alle Subjekte des Menschenrechtsdiskurses werden, wer würde sich dann noch an das Konzept der Menschenrechte erinnern? Könnte der Mensch das Nichtmenschliche in sich tragen? Wir bitten um die Hilfe der Befreiungstheologie, um uns von der Theologie zu befreien.
Unsere Verbündeten sind all jene, die mit uns solidarisch sind und eine Stimme haben, weil sie nicht auf unserer Seite der Linie stehen. Wir wissen, dass das Wort ›Solidarität‹ eine Falle ist. Einseitig zu entscheiden, mit wem und in welcher Form man solidarisch ist, bedeutet, einzig solidarisch mit sich selbst zu sein. Anders als es bisher der Fall war, knüpfen wir nun Bedingungen an die Solidarität. Eine Allianz mit uns ist anspruchsvoll, denn unsere Verbündeten müssen gegen drei Arten von Feinden kämpfen: unsere Feinde, ihre Feinde und die weit verbreitete Vorstellung, dass zwischen den beiden überhaupt keine Verbindung besteht. Ihre Gegnerschaft beinhaltet Behaglichkeit und Unbehaglichkeit, hervorgebracht durch die gleichen Mechanismen der Gleichgültigkeit; Faulheit, insbesondere derer, die befehlen; zeitweilige Teilnahmslosigkeit ebenso wie zeitweiliger Enthusiasmus; das Paradox des Gefahr-Laufens, um nicht Gefahr laufen zu müssen; den Mangel an Argumenten sowie das Übermaß an Argumenten, um sowohl Handlungen als auch Nichthandlungen zu rechtfertigen; abstraktes Denken ohne Körper oder Leidenschaft; Prinzipienkataloge zum daraus vorlesen, statt zum danach leben; Verstehen und Repräsentation zur Erzeugung statistischer Homogenität; Kritik ohne Ironie, Satire oder Komödie; die Überzeugung, dass es normal ist, sich in einer Ganzheit zu denken und trotzdem nur individuell zu handeln; das Verlangen, jenen zu gefallen, die uns geringschätzen, während sie selbst alle anderen geringschätzen; den Vorzug des ruhigen Lebens entgegen der Angst vor der belebten Natur; die zwillingshafte Obsession, sowohl Kund*in zu sein als auch Kund*innen zu haben; die zwillingshafte Furcht sowohl vor dem Verlust von Reichtum als auch vor dem Verlust der Armut; die zwillingshafte Ungewissheit, ob das Schlimmste nun vorbei ist oder noch bevorsteht; die Obsession vor der Obsession; die Ungewissheit vor der Ungewissheit; die Angst vor der Angst. Erst später kommen unsere Feinde, jene, gegen die wir gemeinsam rebellieren müssen.
Zum Teil sind die Feinde, gegen die unsere Verbündeten kämpfen müssen, sie selbst und wie sie zu dem geworden sind, was sie sind. Sie müssen aufhören, sie selbst zu sein, wenn sie uns ehrliche Verbündete sein wollen. Wie unser Gefährte Amílcar Cabral einst sagte: sie müssen als Klasse Selbstmord begehen und das kann nicht einfach sein.
Wie formen wir unsere Allianzen? Die Welt ist überdimensioniert für die Menschen und die Natur. Die unterdrückende Welt ist überdimensioniert für die Unterdrückten. Egal, wie viele die Unterdrückten sind, sie werden immer wenige sein und noch weniger, wenn sie nicht vereint sind. Einheit erzeugt Stärke, aber die beste Stärke ist die, die Einheit hervorbringt. Wir haben weder Führer*innen noch Anhänger*innen. Wir organisieren uns selbst, mobilisieren uns selbst, reflektieren und handeln. Wir sind keine Multitude, aber wir streben danach, eine Vielzahl von Organisationen und Bewegungen zu sein. Wir folgen dem weisen Spinoza, aber nur in dem Maße, in dem er nicht dem klugen Gandhi und der klugen Rosa Luxemburg widerspricht: Spontaneität bringt den Status Quo nur in dem Maße durcheinander, in dem sie sich organisiert, um sich nicht selbst in einen neuen Status Quo zu verwandeln.
Unsere Ausgangspunkte sind Absicht und Handlung. Unsere Probleme sind praktisch und unsere Fragen produktiv. Wir teilen zwei Annahmen: unser Leiden ist nicht auf das Wort ›Leiden‹ beschränkt und wir akzeptieren kein ungerechtes Leiden und kämpfen stattdessen für etwas Besseres, zu dem wir berechtigt sind. Ambiguität lähmt uns nicht. Wir müssen nicht übereinstimmen; wir müssen uns verbinden. Wir müssen nicht vereinheitlichen; wir müssen generalisieren. Wir übersetzen einander gegenseitig und achten sehr darauf, dass nicht einige mehr als andere an der Übersetzung arbeiten. Es ist nicht wichtig, darüber eins zu sein, was es bedeutet, die Welt zu verändern. Es reicht aus, darüber einig zu sein, welche Handlungen zu seiner Veränderung beitragen. Zu einer solchen Einigung tragen eine Vielzahl von Emotionen und Empfindungen bei, welche ohne Worte Dinge feststellen und kritisieren. Die Übersetzung hilft uns dabei, die Grenzen und Möglichkeiten kollektiver Handlungen auszuloten. Wir kommunizieren direkt und indirekt mittels eines Lächelns und Zuneigung, der Wärme von Händen und Armen und mittels Tanz, bis wir die Schwelle gemeinsamen Handelns erreicht haben. Die Entscheidung wird immer eigenständig getroffen; unterschiedliche Gründe können zu gemeinsamen Entscheidungen führen. Nichts ist unumkehrbar, außer den Risiken, die wir eingehen.
Dieses Buch beginnt damit, seinen eigenen begrenzten Beitrag für den Erfolg derer, die für das gute Leben / buen vivir eintreten, anzuerkennen – allein aufgrund der Tatsache, dass es auf dieser Seite der Linie geschrieben wurde. Selbstverständlich findet sein Denken auf der anderen Seite der Linie statt, aber sein Leben, als Buch, befindet sich auf dieser Seite. Es wird von denen gelesen werden, die es am wenigsten benötigen. Diejenigen, die meiner Auffassung nach davon profitieren würden, werden nicht dazu in der Lage sein, es zu lesen. Wenn sie es könnten, würden sie vermutlich kein Interesse daran haben, und wenn sie es doch täten, würden sie es vermutlich nicht verstehen. Dieses Buch ist daher bestenfalls ein zurückhaltender Verbündeter, auch wenn die in ihm zum Ausdruck gebrachte Solidarität in keiner Weise zurückhaltend ist. Ein Verbündeter ist ohnehin bestenfalls ein Verwandter.
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