Solidarisch gegen Klassismus –
organisieren, intervenieren,
umverteilen
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in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Francis Seeck & Brigitte Theißl (Hg.)
Solidarisch gegen Klassismus –
organisieren, intervenieren, umverteilen
2. Auflage, Dezember 2020
eBook UNRAST Verlag, Januar 2021
978-3-95405-075-8
© UNRAST-Verlag, Münster
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Gefördert durch die Rosa Luxemburg Stiftung.
Umschlag: cuore.berlin
Lektorat: Julia Roßhart & Unrast Verlag
Satz: Andreas Hollender, Köln
Francis Seeck & Brigitte Theißl
Einleitung
Was ist Klassismus?
Francis Seeck
Hä, was heißt denn Klassismus?
Olja Alvir
Nieder mit der Sprossenwand!
Interview mit Jutta Werth
»In unserem Klassensystem kann ich mir lebhaft vorstellen, wer hier die Arschkarte zieht.«
Tanja Abou, Francis Seeck, Brigitte Theißl & Martina Witte
Feministischer Klassenkampf – Strategien gegen Klassismus und Akademisierung aus (queer-)feministischer Perspektive
Jan Niggemann
Keine Klasse für sich. Perspektiven einer sorgenden Theoriearbeit
Sich organisieren gegen Jobcenter, Chef*in und Vermieter*in
Aktivist*innen aus dem BASTA!-Zusammenhang
Die Berliner Erwerbsloseninitiative BASTA!
Zwei Aktivist*innen der Solidarischen Aktion Neukölln
Mit existenziellem Stress nicht allein bleiben – eine Routine der Solidarität
Interview mit Regina Amer
»Ich habe wegen der politischen Verhältnisse eine Mordswut im Bauch«
Anne Seeck
Von Umverteilung ist kaum etwas zu hören
Umverteilung als solidarische Praxis
Tanja Abou
Prololesben und Arbeiter*innentöchter – Interventionen in den feministischen Mainstream der 1980er- und 1990er-Jahre
Geneva Moser
Klassismus und gemeinsame Ökonomie. Eine autobiografische Annäherung
Charlotte Hitzfelder & Nadine Kaufmann vom Konzeptwerk Neue Ökonomie e.V.
Im Kollektiv zählen alle gleich, aber ›gleich‹ sein ist auch Arbeit.
Antiklassistische Selbstermächtigung
Sabto Schlautmann
Klasse Haltung entwickeln
Arslan Tschulanov
Die geballte Faust aus der Tasche holen – Klassismus innerhalb der deutschen Linken
Lena Hennes
›Faul‹, ›fehl am Platz‹, ›gescheitert‹?! – Gegen die Individualisierung klassistischer Diskriminierung vorgehen
Intersektionale Perspektiven auf (Anti-)Klassismus
Julia Wasenmüller
Migrantische Selbstorganisation gegen Klassismus und Rassismus
David Ernesto García Doell & Barbara Koslowski
Klassismus in der ableistischen Klassengesellschaft
Interview mit Minoas Andriotis
»Klassismus vermischt sich oft mit Rassismus«
(Anti-)Klassismus in Bildungseinrichtungen und Sozialer Arbeit
Interview mit SoFiKuS-Referent*innen
Das Referat für Sozial Finanziell Kulturell benachteiligte Studierende (SoFiKuS) an der Universität Marburg
Andreas Kemper
Deren Angst vor uns. Politische Selbstorganisierung an Hochschulen
Philipp Schäfer
Klassismus – (k)ein Thema für die Soziale Arbeit?!
Betina Aumair
Bildung und soziale Ungleichheit: Impulse für eine klassismuskritische außerschulische Bildungsarbeit
Die feinen Unterschiede – Antiklassismus und Kulturarbeit
Brigitte Theißl
Medial ausgegrenzt: Warum Klassismus ein Thema für den Journalismus werden muss
Malu Förschl
Musik und Klasse – Hierarchie lauert überall
Anita Drexler
Klassismus und Sprache
irina nekrasov_a
durchgehen
Die Herausgeber*innen und Autor*innen
Anmerkungen
Was ist Klassismus?
Sich organisieren gegen
Jobcenter, Chef*in und Vermieter*in
Umverteilung als solidarische Praxis
Antiklassistische Selbstermächtigung
Intersektionale Perspektiven auf (Anti-)Klassismus
(Anti-)Klassismus in
Bildungseinrichtungen und
Sozialer Arbeit
Die feinen Unterschiede –
Antiklassismus und Kulturarbeit
Francis Seeck und Brigitte Theißl
Im März 2020, mitten in der Entstehung dieses Buches, brachte die Corona-Krise große Teile des öffentlichen Lebens zum Erliegen. Während Politiker*innen den gesellschaftlichen Zusammenhalt beschworen und im Feuilleton eine neue Entschleunigung herbeigesehnt wurde, offenbarten sich die Verwerfungen einer Klassengesellschaft mit voller Wucht. Von Klassismus Betroffene wie wohnungslose Menschen, einkommensarme Personen mit Erkrankungen und Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen trifft die Krise wesentlich härter – auch gesundheitlich. So haben sozio-ökonomisch benachteiligte Menschen ein deutlich höheres Risiko, wegen Covid-19 ins Krankenhaus eingeliefert zu werden, zeigte eine Analyse der Uniklinik Düsseldorf und der Krankenkasse AOK (vgl. Delfs/Kooroshy 2020).
Das Leben im Corona-Shutdown, das viele vor nie gekannte Herausforderungen stellte, bedeutet für einkommensarme Menschen aber auch schlicht Alltag, wie Anne Seeck in diesem Sammelband schreibt: »Sie sind es gewohnt, isoliert in ihren Wohnungen zu sitzen und vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen zu sein. Nach draußen zu gehen, bedeutet für sie schon immer, Geld ausgeben zu müssen, über das sie nicht verfügen« (Seeck 2020).
Die langfristigen Auswirkungen der globalen Krise sind noch nicht abzusehen. Auch wenn die Lebensrealitäten von Arbeiter*innen in der Fleischproduktion und von ausgebeuteten Erntehelfer*innen, von Alleinerziehenden in engen Stadtwohnungen und Pflegeheim-Bewohner*innen sichtbar geworden sind wie kaum jemals zuvor, braucht es enorme kollektive Anstrengungen, sich der Umverteilung von unten nach oben entgegenzustellen und menschenwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen für alle zu erkämpfen.
Die Frage, wie wir in unserem Alltag, an unserem Arbeitsplatz und in politischen Gruppen solidarisch und antiklassistisch agieren können, ist in diesem Sammelband eine zentrale.
Schon vor der Corona-Krise wurde im deutschsprachigen Raum vermehrt über soziale Ungleichheit gesprochen, der Klassenbegriff feiert ein kleines Comeback: Der Begriff Klassismus, der analog zu Rassismus und Sexismus eine Diskriminierungs- und Unterdrückungsform beschreibt, etabliert sich langsam auch im Deutschen – und wird immer seltener mit der Kunstepoche Klassizismus verwechselt. Auch politisch bewegt sich etwas: Im Juni 2020 in Berlin wurde erstmals der soziale Status als Diskriminierungskategorie in ein Landesantidiskriminierungsgesetz aufgenommen.
Zahlreiche aktuelle Publikationen diskutieren den Klassenbegriff, und biografische Erzählungen entlarven den neoliberalen Mythos der Chancengleichheit und verdeutlichen, wie stark die soziale Herkunft unser Leben prägt (vgl. Aumair/Theißl 2020; Hüttner/Altieri 2020; Dröscher 2018). In der akademischen Linken wird über eine »Neue Klassenpolitik« debattiert (vgl. Friedrich/analyse & kritik 2018).
Inmitten der sich rasant entwickelnden Debatte werden für uns dennoch einige Leerstellen deutlich. So sind es meist ›Aufstiegsgeschichten‹ weißer cis Männer, die sich mit der Klassengeschichte ihres Vaters auseinandersetzen, die medial große Aufmerksamkeit erfahren (vgl. Baron 2019; Eribon 2016; Louis 2016) – obgleich die Wurzeln von autobiografischen Auseinandersetzungen mit Klasse und Klassismus in Schwarzen und lesbisch-feministischen Zusammenhängen zu finden sind (vgl. Myron 1972; Meulenbelt 1988; hooks 2000; Roßhart 2018). In den – gewiss notwendigen und wichtigen – theoretischen Auseinandersetzungen mit Klasse und Klassismus indessen fehlt häufig der Link zur politischen Praxis, und es bleibt offen, wer die Papiertiger eigentlich lesen soll (vgl. kritisch Seeck 2019). In der wissenschaftlichen Beschäftigung steht soziale Ungleichheit im Kontext der Hochschule im Mittelpunkt, und hier die Erfahrungen von ›Aufsteiger*innen‹ (vgl. Reuter u.a. 2020). Im Bereich der Antidiskriminierungsarbeit dominieren Zugänge, die Klassismus als Diversity-Kategorie verstehen und kaum strukturelle Fragen in den Blick nehmen. Klassismus lediglich als Diskriminierungsform zu verstehen, ohne die (Um-)Verteilungsfrage zu stellen, greift zu kurz und steht einer emanzipatorischen antiklassistischen Politik entgegen.
Bei einem Treffen in Wien im Frühjahr 2019 entstand die Idee, diesen Leerstellen mit einem eigenen Projekt zu begegnen. Mit unserem Sammelband legen wird den Fokus auf antiklassistische Strategien und möchten Impulse für die Praxis liefern: für politischen und zivilgesellschaftlichen Aktivismus, für Bildungsarbeit, Antidiskriminierungsarbeit und Soziale Arbeit, für Medien und Kulturprojekte. Eine antiklassistische Praxis ist auch für unsere eigene Arbeit von zentraler Bedeutung. Wir haben beide eine ›Klassenreise‹ hinter uns und arbeiten als politische Bildner*innen zum Thema Diskriminierung aufgrund der Klassenherkunft oder -zugehörigkeit. Francis lehrt an Hochschulen in Deutschland und gibt klassismuskritische Fortbildungen im Bereich Soziale Arbeit, Wissenschaft und Kulturarbeit. Brigitte arbeitet als Journalistin und Erwachsenenbildnerin und fokussiert feministische Themen, soziale Ungleichheit und Klassismus sowie Medienkultur.
Für uns ist klar: In den aktuellen Debatten gibt es zu wenig klassengemischte Auseinandersetzungen. Meistens bleiben Akademiker*innen, aus der Mittelklasse kommend oder ›aufgestiegen‹ aus der Arbeiter*innen- oder Armutsklasse, unter sich. Selten kommen Leute zu Wort, die langfristig von Klassismus betroffen sind und keine ›Aufstiegsgeschichte‹ zu berichten haben. Zudem geht es viel zu selten um die Frage, wie konkret gegen Klassismus interveniert werden kann und welche Erfahrungen erwerbslose und wohnungslose Aktivist*innen machen. So bleibt unsichtbar, dass sich in Deutschland Aktivist*innen seit den Hartz-IV-Protesten und der Einführung von Hartz IV im Jahr 2005 durchgehend gegen soziale Ungleichheit organisieren, Begleitungen zum Jobcenter anbieten und politische Veranstaltungen durchführen (vgl. Seeck 2019).
Viele Personen, die von Klassismus betroffen sind, sind auch von anderen Diskriminierungsachsen betroffen. Dies sollte sich auch in den Debatten zu Klasse und Klassismus niederschlagen, in denen noch immer der weiße Arbeiter als zentraler Bezugspunkt fungiert.
Angelehnt an Andreas Kemper und Heike Weinbach (2009) sowie Julia Roßhart (2018: 33) verstehen wir Klassismus als Unterdrückungsform, als Abwertung, Ausgrenzung und Marginalisierung entlang von Klasse. Klassismus beschreibt die Diskriminierung aufgrund von Klassenherkunft oder Klassenzugehörigkeit. Er richtet sich gegen Menschen aus der Armuts- oder Arbeiter*innenklasse, zum Beispiel gegen einkommensarme, erwerbslose oder wohnungslose Menschen oder Arbeiter*innenkinder.
Klassismus hat konkrete Auswirkungen auf die Lebenserwartung und begrenzt den Zugang zu Wohnraum, Bildungsabschlüssen, Gesundheitsversorgung, Macht, Teilhabe, Anerkennung und Geld (vgl. Beitrag Francis Seeck in diesem Sammelband).
Wir sehen die Notwendigkeit, Begriffe und ein klassismuskritisches Vokabular (weiter) zu entwickeln, um Diskriminierung aufgrund der Klassenherkunft oder -zugehörigkeit entgegenzutreten (vgl. Wellgraf 2013). Unser Ziel mit diesem Sammelband ist nicht, eine akademische Debatte um den korrekten Klassismusbegriff anzustoßen, auch wollen wir keine weitere Akademisierung antiklassistischer Bewegungen vorantreiben (vgl. Theißl 2017). Wir möchten den Begriff Klassismus vielmehr in Bewegung halten und als Sammelbegriff für vielfältige klassismuskritische Bewegungen nutzen.
Auf unseren Aufruf, Ideen für einen Beitrag einzusenden, meldeten sich über hundert Personen. Aus der Fülle kritischer wie kreativer Ansätze für eine antiklassistische Praxis wählten wir 26 Beiträge aus. Manche sind wütend, andere eher fragend, einige sind autobiografisch, viele persönlich, einige eher nüchtern beschreibend oder analytisch, andere poetisch. Sie alle geben nicht nur Auskunft über Klassismus als Diskriminierungsform, sondern setzen zudem Impulse für eine konkrete antiklassistische Praxis.
Häufig wird in Diskussionen zu Klassismus der weiße cis-männliche Arbeiter in den Vordergrund gerückt. Tatsächlich sind viele trans* Personen, alleinerziehende Mütter und Menschen, die Rassismus erfahren, von Klassismus betroffen (vgl. Arzouni 2018). Viele Beiträge in diesem Sammelband zeichnen die Verwobenheit von Klasse mit Rassismus, Ableismus und (Hetero-)Sexismus nach.
Die Bandbreite der 26 Texte reicht von aktivistischen Erfahrungen über theoretische Diskussionen bis hin zu persönlichen Essays. Die Autor*innen diskutieren Strategien gegen Klassismus in politischen Zusammenhängen und Bildungseinrichtungen und im Kampf gegen Scham und Beschämung. Sie berichten von antiklassistischen Interventionen in die Frauen- und Lesbenbewegung und vermitteln Möglichkeiten, sich gegen das Jobcenter oder Vermieter*innen zu organisieren. Sie zeigen Ansätze für ein solidarisches Zusammenleben und -arbeiten und wie Ressourcen umverteilt werden können.
Mit unserem Sammelband möchten wir lange bestehende antiklassistische Praxen und Strategien sichtbar machen und neue Stimmen hinzufügen. Als Herausgeber*innen ist uns eine Pluralität der Perspektiven wichtig, so stehen einzelne Beiträge auch im Widerspruch zueinander. Mit Solidarisch gegen Klassismus möchten wir Impulse liefern für eine solidarische Praxis und zugleich eine Weiterentwicklung der Debatten um Klassenverhältnisse, Klassismus und Mehrfachdiskriminierung anstoßen.
Wir möchten uns an dieser Stelle bei den Autor*innen für die inspirierende Zusammenarbeit bedanken. Ein großes Dankeschön geht auch an unsere Lektorin Julia Roßhart, die das Projekt aufmerksam und wertschätzend begleitet und viele wichtige Anregungen geliefert hat. Ein großer Dank geht an Bernd Hüttner von der Rosa-Luxemburg-Stiftung für die finanzielle Unterstützung des Projektes. Vielen Dank außerdem an alle Menschen, die mit ihrer Spende beim Crowdfunding diesen Sammelband erst ermöglicht haben. Danke an die regelmäßige Unterstützung durch Tanja Abou und Anne Seeck. Ohne den Impuls von Willi Bischof wäre das Buch vielleicht nicht zustande gekommen. Danke an den Verlag edition assemblage für die anfängliche Begleitung des Projektes. Schlussendlich danken wir dem Verlagsteam von Unrast, mit dem wir das Buch schließlich umsetzen konnten.
Berlin und Wien, Juni 2020
Arzouni, Salma (2018): Klassismus in Organisationen. Faktencheck 2018/01. https://www.deutsch-plus.de/wp-content/uploads/2019/03/dplus-faktencheck-klassismus.pdf (24.8.2020).
Aumair, Betina / Theißl, Brigitte (2020): Klassenreise. Wie die soziale Herkunft unser Leben prägt. Wien: ÖGB Verlag.
Baron, Christian (2019): Ein Mann seiner Klasse. Berlin: Ullstein.
Baron, Christian / Steinwachs, Britta (2012): Faul, Frech, Dreist. Die Diskriminierung von Erwerbslosen durch Bild-Leser*innen. Münster: edition assemblage.
Delfs, Stefanie / Kooroshy, Kaveh (2020): Wissenschaftliche Analyse. Corona trifft sozial Benachteiligte härter. www.tagesschau.de/inland/corona-sozial-schwache-101.html (20.6.2020).
Dröscher, Daniela (2018): Zeige deine Klasse. Die Geschichte meiner sozialen Herkunft. Hamburg: Hoffmann und Campe.
Eribon, Didier (2016): Rückkehr nach Reims. Berlin: Suhrkamp.
Friedrich, Sebastian / Redaktion analyse & kritik (Hg.) (2018): Neue Klassenpolitik. Linke Strategien gegen Rechtsruck und Neoliberalismus. Berlin: Bertz + Fischer.
hooks, bell (2020): Die Bedeutung von Klasse. Warum die Verhältnisse nicht auf Rassismus und Sexismus zu reduzieren sind. Münster: Unrast.
Hüttner, Bernd / Altieri, Riccardo (Hg.): Klassismus und Wissenschaft. Marburg: BDWI 2020.
Kemper, Andreas / Weinbach, Heike (2009): Klassismus. Eine Einführung. Münster: Unrast.
Louis, Édouard (2016): Das Ende von Eddy. Frankfurt a. Main: Fischer.
Meulenbelt, Anja (1988): Scheidelinien über Sexismus, Rassismus und Klassismus. Reinbek: Rowohlt.
Myron, Nancy (1972): Class Beginnings. In: The Furies. Lesbian/Feminist Monthly 1 (3). S. 2-3.
Reuter, Julia u.a. (Hg.) (2020): Vom Arbeiterkind zur Professur: Sozialer Aufstieg in der Wissenschaft. Autobiographische Notizen und soziobiographische Analysen. Bielefeld: Transcript Verlag.
Roßhart, Julia (2016): Klassenunterschiede im feministischen Bewegungsalltag. Anti-klassistische Interventionen in der Frauen- und Lesbenbewegung der 80er und 90er Jahre in der BRD. Berlin: w_orten & meer.
Seeck, Anne (2019): »Neue Klassenpolitik«: Papiertiger oder neuer Aufbruch? In: Contraste. Zeitung für Selbstorganisation. http://bis201908.contraste.org/index.php?id=363 (24.8.2020).
Theißl, Brigitte (2017): Gegen die da unten. In: Anschläge 8/2017.
Wellgraf, Stefan (2013): The Hidden Injuries of Class. Mechanismen und Wirkungen von Klassismus in der Hauptschule. In: Giebeler, Cornelia / Rademacher, Claudia / Schulze, Erika (Hg.): Intersektionen von race, class, gender, body: theoretische Zugänge und qualitative Forschungen in Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit. Leverkusen-Opladen: Barbara Budrich. S. 39-60.
Francis Seeck
»Faulster Arbeitsloser jubelt – ›Jetzt gibt’s Hartz IV auf dem Silbertablett.‹« So titelte die Bild, nachdem das Bundesverfassungsgericht im vergangenen November die Sanktionen für ALG-2-Bezieher*innen eingeschränkt hatte. Diese Hetze gegenüber erwerbslosen Menschen ist eine Form von Klassismus. Klassismus beschreibt die Diskriminierung aufgrund von Klassenherkunft oder Klassenzugehörigkeit. Klassismus richtet sich gegen Menschen aus der Armuts- oder Arbeiter*innenklasse, zum Beispiel gegen einkommensarme, erwerbslose und wohnungslose Menschen oder Arbeiter*innenkinder. Arme Menschen, so das Vorurteil, seien faul, kriminell, dumm und an ihrer Armut selbst schuld. Klassismus dient der Abwertung, Ausgrenzung und Ausbeutung von Menschen. Er hat Auswirkungen auf die Lebenserwartung und begrenzt den Zugang zu Wohnraum, Bildungsabschlüssen, Gesundheitsversorgung, Macht, Netzwerken, Teilhabe, Anerkennung und Geld.
Klassistische Gewalt hat eine lange Tradition. Im Nationalsozialismus wurden als ›asozial‹ Stigmatisierte, zum Beispiel Bettler*innen und Sexarbeiter*innen, mit dem schwarzen Winkel gekennzeichnet und unter dem Begriff ›Aktion Arbeitsscheu Reich‹ in Konzentrationslager verschleppt. Kritische Debatten um Klassismus wurden von sozialen Bewegungen angestoßen. Ende der 1980er-Jahre gründeten sich in Westdeutschland Proll-Lesbengruppen: Lesben, die in der Armuts- oder Arbeiter*innenklasse, auf Bäuer*innenhöfen oder in Heimen aufgewachsen waren, organisierten sich. Von ihnen gingen antiklassistische Interventionen in die Frauen- und Lesbenbewegung aus, etwa die Einrichtung von Umverteilungskonten. Vor 15 Jahren gingen in Deutschland Tausende Menschen gegen die Hartz-IV-Reformen auf die Straße. 2010 gaben Heike Weinbach und Andreas Kemper den Band Klassismus. Eine Einführung heraus, der eine Debatte zu Klassismus in linken Kreisen anstieß.
Häufig wird in Diskussionen zu Klassismus der weiße Fabrikarbeiter in den Vordergrund gerückt. Dabei haben trans Personen, alleinerziehende Mütter und Menschen, die Rassismus erfahren, ein hohes Armutsrisiko. Die Schwarze feministische Wissenschaftlerin bell hooks wies 2000 in ihrem Buch Where We Stand: Class Matters auf die Bedeutung von Klasse und die Verwobenheit mit Rassismus und Sexismus hin. Bei der Klassenzugehörigkeit geht es neben ökonomischem (Eigentum, Vermögen) auch um kulturelles (Bildungsabschlüsse) und soziales Kapital (›Vitamin B‹). Auch der Name, der Wohnort, die Sprache und der Geschmack können Marker für Klasse sein.
Trotz vielfältiger antiklassistischer Bewegungen ist Klassismus immer noch unsichtbar. So hält sich der Mythos, dass wir in Deutschland in einer ›Leistungsgesellschaft‹ leben und dass alle, die ›hart genug arbeiten‹, es nach ›oben‹ schaffen können. Tatsächlich jedoch leben wir, wie Julia Friedrichs, die Autorin des Buchs Wir Erben: Was Geld mit Menschen macht, betont, in einer Erbengesellschaft. Die reichsten zehn Prozent der Haushalte besitzen zusammen sechzig Prozent des Gesamtvermögens. In Deutschland werden jedes Jahr circa 400 Milliarden Euro vererbt. Erbschaften machen in Westdeutschland mittlerweile ein Drittel des Gesamtvermögens aus. Dass es kein Aufbegehren gibt, hat auch mit Klassismus zu tun: Verinnerlichter Klassismus führt zu Scham und der Abgrenzung von anderen Betroffenen. Auch Klassenprivilegien werden selten benannt. So ist es aktuell umso dringlicher, über Klasse zu sprechen, gegen Klassismus aktiv zu werden und gemeinsam Klassenkämpfe zu organisieren.
Dieser Text erschien zuerst im Missy Magazin 01/20 und wurde leicht überarbeitet.
Olja Alvir
»Ich möchte eine Sprossenwand in meiner Wohnung montieren«, sagte mein Freund S. neulich zu mir. Wir sind zusammen in die Schule gegangen und kennen uns schon 20 Jahre lang. Seine Eltern hatten ein kleines Unternehmen, das bankrottging. Seitdem zahlen sie Schulden ab. ›Mittelstandsabsteiger‹, schmunzelte man. Ihre bürgerlichen Einstellungen haben sie sich erhalten. Sie ringen finanziell, aber auf eine andere Art und Weise als meine Eltern, deren ausländische Bildungsabschlüsse in der neuen Heimat nach ihrer Kriegsflucht nicht anerkannt wurden und die zeitweise als Putzkraft und Taxilenker gearbeitet haben. Heute ist S. Softwareentwickler bei einem IT-Unternehmen. Ich bin als Autorin selbstständig. S. verdient ohne Universitätsabschluss vier Mal so viel wie ich. Von der Sprossenwand im eigenen Heim erhofft er sich Motivation, zu Hause mehr Sport zu machen. Ich muss dabei an etwas ganz anderes denken – den Sportunterricht in der Schule.
Die Sporthalle in unserer Schule war von Sprossenwänden gesäumt. Selten verwendet, dienten sie mehr der Dekoration und dem Ambiente. Die beliebten Kids saßen manchmal auf den obersten Sprossen, tuschelten und sahen auf die anderen hinab. Und die Allercoolsten hängten sich mit den Beinen ganz oben ein und baumelten kopfüber herunter. Die Sprossenwände kamen im Sportunterricht nur während einer bestimmten Übung zum Einsatz. Der Drill: Die Schüler*innen stellen sich an der Sprossenwand an und klettern hintereinander hoch. So hoch es geht, oder so hoch sie sich trauen. Dann hangeln sie sich quer über die gesamte Breite der Wand bis zum Ende, klettern dort wieder hinab und laufen zurück an den Anfang, wo das Ganze von vorne beginnt – Sprossenwandfließband. Welche Kompetenzen diese Übung trainieren soll, ist mir bis heute nicht klar. Der Schulzweig, den S. und ich besuchten, war ein bilinguales Sprachgymnasium. Der Unterricht wurde zur Hälfte auf Englisch und zur Hälfte auf Deutsch gehalten – ein Konzept, das viele Kinder aus gut gestellten Familien anzog. In S. und meiner Klasse waren nur zwei oder drei andere Schüler*innen aus Arbeiter*innenfamilien.
Wie meine Biografie wohl durch den Besuch dieser Schule beeinflusst wurde? Ist mein Gefühl, nirgends dazuzugehören, Resultat dessen, dass ich mich neben meinen bürgerlichen Klassenkolleg*innen fehl am Platz gefühlt habe? Sind mein Ehrgeiz und meine Strebsamkeit Versuche, dieses Gefühl zu kompensieren?
Und weiter: Bin ich heute, weil ich einen Universitätsabschluss und einen angesehenen Job habe und meine Eltern (in der neuen Heimat) nicht, eine Aufsteigerin? Oder sagt es mehr über meine Position auf der Sprossenwand aus, dass ich trotz (oder wegen?) dieses Abschlusses und dieses Jobs immer noch weniger verdiene als sie? Wie kommt es, dass es in S. Familie gleichzeitig Abstieg wie Aufstieg gab? Und wer von uns beiden, S. oder ich, ist nun insgesamt höher geklettert auf der Sprossenwand des sogenannten sozialen Aufstiegs?
»Der soziale Aufstieg wird leichter«, titelt die Frankfurter Allgemeine am 7. März 2020. Der Artikel bezieht sich auf eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft. Darin sind Daten der größten Langzeitbefragung im Lande verarbeitet. Hierfür wurden seit 1984 mehr als 35.000 Menschen zu ihrer Lebenssituation interviewt. Im selben Blatt erscheint ein paar Tage später ein Artikel mit der Überschrift »Warum der Bildungsaufstieg immer noch schwerfällt«.
Anfang 2020 bemängelte eine Untersuchung des Weltwirtschaftsforums international mangelnde soziale Mobilität. Als Hürden wurden in Deutschland »Ungleichheit bei Bildungschancen, mangelnder Zugang zu Technologie sowie ungerechte Löhne« identifiziert. Von den teilnehmenden G7-Staaten schnitt Deutschland jedoch am besten ab – Platz 11 von 82. Die Tagesschau titelte trotzdem: »Schlechte Chancen für sozialen Aufstieg.« Anscheinend ist es gar nicht so einfach, festzustellen, ob der sogenannte soziale Aufstieg möglich oder unmöglich und leicht oder schwer ist und ob die Bedingungen dafür gegeben sind oder nicht.
Bei aller Widersprüchlichkeit der Botschaften und Headlines, eine Gemeinsamkeit gibt es: Die Bebilderung läuft immer über Agenturfotos mit Leitern oder Sprossen. Der Mensch, ein Aufsteiger, mit Betonung auf -er: Frauen finden sich nicht als Figuren bei allgemeinen Artikeln über Aufstieg (sie stoßen stattdessen in den entsprechenden Beiträgen gegen die ›gläserne Decke‹); auch queere und nicht-weiße Charaktere fehlen. Das vermittelt recht deutlich, für wen dieser soziale Aufstieg vorgesehen ist und für wen nicht.
Was unter sozialem Aufstieg gemeinhin verstanden wird, ist eine Verbesserung des eigenen Bildungslevels oder ein Wechsel von gesellschaftlich weniger angesehenen in prestigeträchtigere Berufe – im Vergleich zu den Eltern. Tatsächlich jedoch ist nicht ganz klar, was mit diesen Datenpunkten gemessen wird. Selten werden zusätzlich Zufriedenheit, Lebensqualität, Gesundheit oder Lebenserwartung erfasst. Studien arbeiten lieber mit einfacher messbaren und vergleichbaren Parametern: Diplom vorhanden oder nicht, Nettogehalt so oder so hoch. Aber inwiefern dies die gelebte komplexe Realität (der Migrationsgesellschaft) abbildet, ist fraglich.
Die Definitionen des sozialen Aufstiegs sind willkürlich und wechselhaft; die Messversuche liefern zwangsläufig ein unvollständiges Bild. Doppelt verschwommen ist daher unsere Sicht auf das Thema. Die begriffliche Unzulänglichkeit ist keineswegs Zufall: Die Idee und das Gerede über den sozialen Aufstieg sind eine gezielte Verschleierung der sehr manifesten Klassenverhältnisse. Es handelt sich um ein Narrativ, das den Marginalisierten vorgaukelt, dass ein besseres Leben innerhalb dieser Gesellschaft möglich sei, und zwar mithilfe herausragender persönlicher Leistungen.
Die Idee sozialer Mobilität ist eine vergleichsweise moderne. Sie entstand erst mit dem Wechsel vom feudalen zum kapitalistischen System. Vorhang auf: Die große Zeit der Rockefellers, der Fords, der Carnegies – der ersten modernen Oligarchen – bricht an. Politische, technologische und ökonomische Bedingungen fördern das Oligopol. Massenproduktion, industrieller Abbau von Ressourcen wie Erz und Öl und die damit einhergehende Ausbeutung der Arbeiter*innen ermöglichen eine Ansammlung von Kapital in den Händen einer immer kleiner werdenden Elite. Gleichzeitig entstehen kommunistische und sozialistische Konzepte und Bewegungen, die an einer klassenlosen Gesellschaft und dem Ende der Herrschaft des Kapitals arbeiten. Der aufstrebende Kapitalismus konnte und wollte seinen Anhänger*innen natürlich keine klassenlose Gesellschaft anbieten. Daher musste (und muss er weiterhin) mit etwas anderem locken: der vermeintlichen Möglichkeit, selbst zur Elite zu gehören.
Der Begriff ›American Dream‹ entwickelte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in Nordamerika mit der hoffnungsvollen Aufbruchsstimmung der europäischen Siedler*innen. (Spätestens hier zeigt sich, dass das Aufstiegsnarrativ nicht nur klassistische, sondern auch koloniale Züge trägt – über die soziale Mobilität der Kolonisierten machte man sich schließlich keine Gedanken.) Endgültig ins amerikanische Masternarrativ eingeschrieben wurde er wohl 1931 durch James Truslow Adams’ programmatisches Werk The Epic of America. Schon in den Jahrzehnten zuvor hatten Autoren wie Horatio Alger erfolgreich sogenannte Rags-to-riches-Storys veröffentlicht, in denen es immerzu darum ging, dass Jungen aus armen Verhältnissen durch Fleiß und Schläue zu Reichtum gelangen.
Die Kapitalisten (und Kriegsprofiteure und Verbrecher sowie nicht selten auch Nazi-Kollaborateure) dieser Ära wurden durch das Narrativ, das einige von ihnen miterschaffen hatten, vom Ausbeuter zum Aufsteiger. Und sie wurden zum Vorbild: »Schau, wenn Henry Ford, Sohn eines einfachen Bauern, es geschafft hat, dann schaffst du es auch!« Geschafft sind wahrlich nur die Zigtausend Sklav*innen und Arbeiter*innen, auf deren Rücken diese Geschichten geschrieben wurden.
Das deutsche Äquivalent zum amerikanischen ›rags to riches‹ ist die Redewendung ›vom Tellerwäscher zum Millionär‹ (man bemerke auch hier das generische Maskulinum). Ihre Herkunft ist etwas schwieriger zurückzuverfolgen. An Bekanntheit gewonnen haben dürfte das Idiom ebenfalls ungefähr seit den 1930ern. Bemerkenswert ist, dass die Begriffe, mithilfe derer wir uns über soziale Mobilität austauschen, dermaßen stark ihrer Zeit und ihrem Ort verschrieben und verpflichtet sind – und welche Zeiten und Orte dies sind. So heißt es auch heute nicht: ›plötzlich Prinzessin‹, ›von der Maid zur Marktgräfin‹ oder ›Trümmerfrau wird Technologie-Titanin‹.
Der anhaltende Zauber des Aufstiegsmärchens lässt sich bis in die Gegenwart verfolgen, beispielsweise in TV-Formaten wie Wer wird Millionär und Talentshows wie Deutschland sucht den Superstar. Auch zeitgenössische Erzählungen über Start-ups oder IT-Mogule, allesamt angeblich als kleine Projekte in bescheidenen Garagen der Eltern gestartet, stellen letztendlich eine Aufwärmung der uralten Paul-kämpft-sich-nach-oben-Storys Horatio Algers dar. Dasselbe gilt vielleicht auch für moderne Influencer- oder YouTuber-Biografien, die als Reisen aus dem dunklen Kinderzimmer-Heimstudio in die glänzende Vorstadtvilla verkauft werden.
Im deutschsprachigen Raum wurde in der Nachkriegszeit die Frage nach der (Un-)Möglichkeit des sozialen Aufstiegs auch in sozialdemokratischen Kontexten gestellt (à la ›Unsere Kinder sollen es besser haben als wir‹), ab 1960 auch in Bezug auf Gender. Doch erst mit der Migrationsgesellschaft und der Intersektion von Klassenfragen und race erlebte der Begriff des sozialen Aufstiegs eine echte Renaissance. Die Nachkommen der Arbeitsmigrant*innen aus der Türkei und Jugoslawien machten das Thema wieder brisant. Sie fingen an, nach der Einlösung des kapitalistischen Versprechens zu fragen. Sie klopfen hartnäckig die lockeren, hohlen Sprossen in ihrer Turnhalle ab: »Hallo?! Es hieß, wenn wir brav arbeiten, dann bringen wir es zu etwas!« Schlussendlich dämpfte die weltweite Rezession 2008 das unerschütterlich scheinende westliche Aufstiegsdenken aus den 1980ern und 1990ern und stellte es infrage; dank zahlreicher Studien ist mittlerweile klar, dass die Generation der millennials im Vergleich zu ihren Eltern keineswegs eine Verbesserung der Lebensumstände erleben wird. Ganz im Gegenteil.
In den letzten Jahren wurde in einer Reihe von Publikationen nachgewiesen, dass soziale Mobilität für bestimmte Gruppen – insbesondere für Arbeiter*innenkinder, Migrant*innen und People of Color – schwerer und unwahrscheinlicher ist. Das gilt selbst bei gleichen oder ähnlichen formalen Voraussetzungen wie Notendurchschnitten, Schulabschlüssen oder Ausbildungen.
Beispiele für Publikationen sind etwa Erfolg nicht vorgesehen (Lang/Pott/Schneider 2018) oder Vom Arbeiterkind zur Professur (Reuter u.a. 2020).[1] Die Medienberichte, die mit diesen Ergebnissen korrespondieren, tragen Titel wie »Der harte Weg nach oben« (Cicero) oder »Für Migranten ist der Aufstieg in Deutschland schwer« (welt.de, generisches Maskulinum im Original).
Diese Publikationen sind auf der Oberfläche sozialkritisch, reproduzieren allerdings im Endeffekt klassistisches Denken und problematische Ideen, die mit dem Konzept des sozialen Aufstiegs einhergehen. Sie hinterfragen kaum, warum ein sozialer Aufstieg überhaupt notwendig oder erstrebenswert sein sollte. Es wird lediglich festgestellt oder bestenfalls kritisiert, dass er für manche schwieriger sei als für andere. In einigen Fällen sind die Texte gar so geschrieben, dass sie den Schluss zulassen, die Migrant*innen seien selbst schuld am ausbleibenden Erfolg. Das Bild des hinaufstrebenden Menschen, einer (männlichen, weißen, cis-hetero) Person, die mit Blick gen Himmel und im Schweiße ihres Angesichts Sprosse um Sprosse erklimmt, wird zu oft unhinterfragt übernommen.
Was verabsäumt wird, ist, die dem Diskurs über den sozialen Aufstieg eingeschriebenen Widersprüche aufzuzeigen und zu analysieren sowie die problematischen Botschaften zu hinterfragen, die unterschwellig mitgeliefert werden. Worin also bestehen sie?
Die fixe Idee vom sozialen Aufstieg verrät bereits durch Wortwahl, dass es gewisse Klassen gibt – die rags und die riches, die Lumpen und die Millionäre. Und dass es selten erlaubt ist, sich dazwischen zu bewegen: nur im Ausnahmefall und lottochancengleich, ein Tellerwäscher pro Generation, ungefähr. Mobilität zwischen den Klassen wird postuliert und scheinbar ermöglicht, aber was sich dahinter versteckt, ist die anhaltende Zementierung der Klassenverhältnisse.
Die Existenz der Klassengesellschaft, der strukturellen Diskriminierung oder etwa der Zweiklassenmedizin wird gerne von (konservativen, aber auch anderen) Politiker*innen, Meinungsmacher*innen und von Privilegierten allgemein geleugnet. Doch diese Umstände zu leugnen und gleichzeitig von der Möglichkeit und Notwendigkeit des sozialen Aufstiegs zu sprechen, ist widersprüchlich. Entweder es gibt Auf- und Abstieg und somit auch Klassenunterschiede – oder nicht. Beides kann nicht gleichzeitig wahr sein. So lässt sich das Narrativ vom sozialen Aufstieg entlarven als Eingeständnis, dass wir in einer Klassengesellschaft leben.[2]
Zudem reproduziert der Begriff ›sozialer Aufstieg‹ mit seinen Bildern von Leitern und vom Sprossenerklimmen klassistische Vorstellungen von oben und unten. Denn im Denksystem ›sozialer Aufstieg‹ gibt es als nieder verachtete Tätigkeiten[3], die als etwas gezeichnet werden, das im Optimalfall in der eigenen Biografie zurückgelassen werden kann, und zwar durch herausragende persönliche Leistungen. Das wiederum legitimiert die Existenz einer Elite: Diese Menschen müssen es im Umkehrschluss ganz alleine und unter großer Anstrengung – man hört sie fast keuchen und riecht ihre Ausdünstungen beim Leiterkraxeln – an die Spitze geschafft haben; ihre privilegierte Position in der Gesellschaft haben sie sich folglich redlich verdient.
Die oben erwähnten Tätigkeiten werden zu einem großen Teil von – teilweise gezielt angeworbenen – (Arbeits-)Migrant*innen durchgeführt. Über diese Menschen und ihre Kinder wird dann geschrieben, dass sie den sozialen Aufstieg irgendwie nicht schafften – oder dass Einzelne von ihnen ihn ganz wundersam gegen alle Widerstände verwirklichten.
Im Sprechen über den Erfolg von Arbeiter*innenkindern und Migrant*innen verbirgt sich so immer auch die »unausgesprochene Normalitätsvorstellung« (Lang/Pott/Schneider 2018: 26), dass es für diese Gruppen ungewöhnlich sei, Erfolg zu haben. Somit stellen selbst gut gemeinte Storys über Aufsteiger*innen aus dem ›Arbeiter*innenmilieu‹[4] oder aus ›Migrant*innenfamilien‹[5] eine Form des Otherings dar.
Zudem stechen die widersprüchlichen Elemente der Aufstiegserzählung ins Auge: War der Aufstieg nun leicht und machbar, weil die Gesellschaft Fleiß und Initiative honoriert, oder war er schwer und voller Hürden? Was von beidem war es denn nun?
Nicht zuletzt wälzt der Diskurs vom sozialen Aufstieg viele systemische Fragen wie den Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und Altersvorsorge oder die Aufteilung der Reproduktionsarbeit auf das Individuum ab. Anstatt darüber zu sprechen, wie wir für alle ein selbstbestimmtes Leben, ein funktionierendes Gesundheitssystem anbieten könnten, wird folgende Message versandt: »Wenn du es schwer hast, dann steig doch einfach auf! Dann kannst du dir auch eine bessere medizinische Versorgung und eine lebenswerte Pension leisten!«
Wie wird man zur Aufsteigerin? Der Zugang zu akademischen Räumen und zu den damit verbundenen Privilegien hängt stark von der Performance ab: davon, ob Individuen einen bestimmten Code (akademische Fachsprache, Start-up-Sprech, Jurist*innenjargon) beherrschen oder nicht, ob sie sich den Räumen angemessen kleiden oder nicht. Es erstreckt sich bis zu Dingen wie Akzent, Sprachmelodie, Mimik und Gestik. Ähnlich wie bei Genderfragen geht es bei Klassenzugehörigkeit und sozialem Aufstieg darum, wer was wie überzeugend performt.
Der Schlüssel zum Aufstieg, so der dominante Diskurs, sei die Veränderung des Selbst. Den Arbeiter*innenkindern wird geraten, anders zu werden, jemand anders zu werden. Sie sollen ihre Herkunftsorte, Stadtteile, Wurzeln, ihre Communitys und Familien räumlich und mental zurücklassen. Zur Lösung eines strukturellen, gesellschaftlichen Problems wird also vorgeschlagen, persönlich auf Distanz zu gehen und die eigene Performance zu verändern. Das erinnert an Techniken im Umgang mit Sexismus und Rassismus: wenn jungen Mädchen gesagt wird, sie sollen keine kurzen Röcke tragen und nachts nicht alleine rausgehen, um nicht sexuell belästigt zu werden; oder wenn Schwarze Jugendliche dazu angehalten werden, keine Kapuzenpullover zu tragen und nicht in Gruppen draußen herumzustehen.
Heutzutage geht man bei Gender- und race-Fragen zumindest langsam weg von der Idee, dass Individuen ihre Performance verändern müssten, um Diskriminierung zu verhindern. Dass die Bringschuld bei der Gesellschaft liegt, dass die Marginalisierten nicht einerseits ihre Marginalisierung und andererseits auch noch die Lösung dafür schultern müssen, liegt auf der Hand. Doch bei der Klassenfrage hält sich dieser Lösungsansatz hartnäckiger als anderswo: Die Einzelnen sollten sich besser bilden, fleißiger arbeiten, sich positiv hervortun, auf Distanz gehen zu dem, was vom Mainstream verachtet wird – dann kämen bessere Zeiten, versprochen.
Das Gerede vom sozialen Aufstieg dient nicht der Überwindung von Armut und Entrechtung. Es ist vielmehr das unbeabsichtigte Eingeständnis, dass Menschen gezielt in Armut und Entrechtung gehalten werden. Das kapitalistische Versprechen, man könne sich von seiner Klassenzugehörigkeit lösen, spielt eine Schlüsselrolle in der Erhaltung des Klassensystems. Narrative wie jene vom sozialen Aufstieg oder vom American Dream entstehen in fundamental ungerechten Gesellschaften als Stabilisatoren eben jenes Systems. Damit werden die Arbeiter*innen geblendet und mit falscher Hoffnung zu fehlgeleiteten Kletteranstrengungen animiert – statt zum Sturz des Systems.
Am Beispiel des sozialen Aufstiegs lässt sich gut nachzeichnen, wie gesellschaftliche Narrative quergelesen werden können, um die darunterliegenden ungerechten Systematiken freizulegen. Bei dieser Technik des Gegenlesens handelt es sich um ein wichtiges Werkzeug für emanzipatorische Kämpfe, eines, das konsequent angewandt und gepflegt werden sollte. Anstatt die vorgefertigten Begrifflichkeiten (und damit auch Denksysteme) zu übernehmen, müssen wir mit unseren eigenen Maßstäben an Probleme herantreten. Mit Audre Lorde gesprochen, gilt: »For the master’s tools will never dismantle the master’s house« (Lorde 1984: 110, sinngemäß: Des Herrschenden Werkzeug wird nie dessen eigenes Haus niederreißen). Das gilt selbstverständlich auch für das Werkzeug Sprache. Wir sollten lieber dreimal überlegen, ob wir, auch in emanzipatorischen und antiklassistischen Kontexten, mit denselben Werkzeugen arbeiten wollen wie die Architekten jener Räume, aus denen wir uns befreien möchten.
Deshalb sollten wir nicht (nur) nach Gründen und Bedingungen für einen erfolgreichen sozialen Aufstieg fragen oder neue Vergleichsstudien zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen anstellen.[6] Vielmehr sollte das ganze Gedankenkonstrukt hinterfragt werden. Das Aufstiegsstreben ist immerhin ein vergleichsweise modernes, sozio-kulturelles Phänomen und nicht etwa, wie gerne behauptet, eine menschliche Konstante. Generell sollten Dinge, die als Konstanten menschlicher Existenz dargestellt werden, auf ihre historische Konstruiertheit hin abgeklopft werden. Wer profitiert eigentlich davon, das Aufstiegsstreben als unveränderliches Element der menschlichen Natur darzustellen? Welche Narrative gehen mit welchen politischen und ökonomischen Umständen einher? Und welche Geschichten müssen wir in Zukunft erzählen, um in Zukunft gerechtere Geschichte schreiben zu können?
Wir sollten nicht mehr fragen, warum es der eine geschafft hat und die andere nicht. Die ›Millionenfrage‹ lautet vielmehr: Wie sichern wir Zugang zu Bildung, Institutionen und Entfaltungsmöglichkeiten, eine spitzenmäßige Gesundheitsversorgung und ein selbstbestimmtes, würdevolles Leben für alle Mitglieder der Gesellschaft – unabhängig von ihrer Tätigkeit, ihrem Einkommen und ihrer Wohn- und Lebenssituation, unabhängig von ihrem Körper und ihrer Performance? Das geht langfristig nur mit einem klassenbewussten Gerechtigkeitsdenken und Strategien der Umverteilung von Macht.
Ich weiß jetzt auch, was die Sprossenwand-Übung uns damals lehren sollte: Dass, wenn jemand hinaufwill, immer gleichzeitig jemand hinabsteigen muss. Doch auch eine Sprossenwand ist nur eine Wand. Nieder mit ihr.
Institut der deutschen Wirtschaft (2020): IW-Report 8/2020. IW-Verteilungsreport 2020. www.iwkoeln.de/fileadmin/user_upload/Studien/Report/PDF/2020/IW-Report_2020_Verteilungsreport-2020.pdf (12.6.2020).
Lang, Christine / Pott, Andreas / Schneider, Jens (2018): Erfolg nicht vorgesehen. Sozialer Aufstieg in der Einwanderungsgesellschaft – und was ihn so schwer macht. Münster: Waxmann Verlag.
Lorde, Audre (1984): Sister Outsider. Berkeley, CA: Crossing Press.
Reuter, Julia u.a. (2020): Vom Arbeiterkind zur Professur. Bielefeld: Transcript Verlag.
World Economic Forum (2020): The Global Social Mobility Report 2020. http://www3.weforum.org/docs/Global_Social_Mobility_Report.pdf (12.6.2020).
Francis Seeck und Brigitte Theißl
Unsere Interviewpartnerin Jutta Werth ist in den 1950er-, 1960er-Jahren aufgewachsen und sozialisiert. Seit dem 14. Lebensjahr stand sie im Arbeitsleben.
In den 1970ern war sie aktiv in der Antiknastbewegung. Seit 40 Jahren ist sie in der Gewerkschaft und seit vielen Jahren in wohnungs- und sozialpolitischen Zusammenhängen engagiert. Sie ist Altersrentnerin mit Grundsicherung und verarmt.
Wie bist du dazu gekommen, dich mit Klasse/Klassismus/sozialer Ausgrenzung auseinanderzusetzen?
Jutta Werth: In der Kleinstadt, in der ich mit meiner Familie wohnte, gab es ein sogenanntes Armenhaus, in dem Familien untergebracht waren, die wenig Geld hatten, als arm galten und auf die verachtend herabgeschaut wurde. Es waren diese abfälligen, hochnäsigen Erzählungen über diese Familien, die mich aufhorchen ließen und gegen die ich eine Abneigung entwickelte. Denn ich fühlte mich persönlich angesprochen, weil bei uns das Geld auch immer knapp war und weil die Eltern mit sorgenvollen Mienen darüber sprachen und Angst davor hatten, in solch ein Armenhaus ziehen zu müssen.
Damals hatte ich dafür keine Begriffe, aber ich habe diese Unterschiede gespürt zwischen denjenigen, die Besitz hatten und gut leben konnten, und denen im Armenhaus. Besitz hatten in der Gegend, in der ich aufgewachsen bin, die Bäuer*innen. Ihnen gehörten der meiste Grund und Boden, Häuser, Äcker und Felder, Weinberge, Wald; und sie hatten Mägde und Knechte, die für sie arbeiteten.