Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2021
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«Unnatural Death» Copyright © 1927 by The Trustees of Anthony Fleming (deceased)
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ISBN 978-3-644-01165-6
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Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
ISBN 978-3-644-01165-6
Doch wie ich drankam, wie mir’s angeweht,
Von was für Stoff es ist, woraus erzeugt,
Das soll ich erst erfahren.
DER KAUFMANN VON VENEDIG
Der Tod war zweifelsohne plötzlich, unerwartet und für mich rätselhaft.
BRIEF VON DR. PATERSON AN DEN STANDESBEAMTEN IM FALLE REG. V. PRITCHARD
«Aber wenn er meinte, die Frau sei ermordet worden …»
«Mein lieber Charles», erwiderte der junge Mann mit Monokel, «es geht nicht an, dass Leute, vor allem Ärzte, so einfach etwas ‹meinen›. Das kann sie in arge Ungelegenheiten bringen. Im Falle Pritchard hat Dr. Paterson meiner Meinung nach alles Zumutbare getan, indem er den Totenschein für Mrs. Taylor verweigerte und diesen ungewöhnlich besorgten Brief ans Standesamt schickte. Dass der Beamte ein Trottel war, dafür kann er nichts. Wenn im Falle Mrs. Taylor eine Untersuchung stattgefunden hätte, wäre es Pritchard sicher unheimlich geworden, und er hätte seine Frau in Ruhe gelassen. Immerhin hatte Paterson nicht die Spur eines Beweises. Und wenn er nun ganz im Unrecht gewesen wäre – was hätte das für einen Wirbel gegeben!»
«Trotzdem», beharrte der schwierig zu beschreibende andere junge Mann, indem er zögernd eine brodelnd heiße Helix pomatia aus dem Schneckenhaus zog und misstrauisch betrachtete, bevor er sie zum Mund führte. «Es ist doch eindeutig eine staatsbürgerliche Pflicht, einen einmal gefassten Verdacht auch auszusprechen.»
«Deine Pflicht – ja», sagte der andere. «Übrigens gehört es nicht zu den Pflichten des Staatsbürgers, Schnecken zu essen, wenn er sie nicht mag. Na eben, hab mir’s doch gedacht, dass du keine magst. Wozu noch länger hadern mit dem grausamen Geschick? Ober, nehmen Sie die Schnecken dieses Herrn wieder mit und bringen Sie dafür Austern … Also – wie gesagt, es mag zu deinen Pflichten gehören, Verdacht zu fassen und Ermittlungen zu veranlassen und allen die Hölle heiß zu machen, und wenn du dich geirrt hast, sagt keiner was, höchstens, dass du ein kluger, gewissenhafter Beamter und nur ein bisschen übereifrig bist. Aber diese armen Teufel von Ärzten balancieren doch ihr Lebtag sozusagen auf dem Hochseil. Wer holt sich schon jemanden ins Haus, der ihm beim kleinsten Anlass womöglich eine Mordanklage an den Hals hängt?»
«Entschuldigen Sie bitte.»
Der schmalgesichtige junge Mann, der allein am Nebentisch saß, hatte sich interessiert umgedreht.
«Es ist sehr ungehörig von mir, mich da einzumischen, aber was Sie da sagen, stimmt Wort für Wort, dafür kann mein Fall als Beispiel dienen. Ein Arzt – Sie ahnen ja nicht, wie abhängig er von den Launen und Vorurteilen seiner Patienten ist. Die selbstverständlichsten Vorsichtsmaßnahmen nehmen sie übel. Sollte man es gar wagen, eine Autopsie vorzuschlagen, schon geraten sie in hellen Zorn, dass man ‹den armen Soundso jetzt aufschneiden› will, und Sie brauchen nur darum zu bitten, im Interesse der Wissenschaft einer besonders merkwürdigen Krankheit auf den Grund gehen zu dürfen, gleich bilden sie sich ein, man habe unschöne Hintergedanken. Aber wenn man der Sache ihren Lauf lässt und hinterher stellt sich heraus, dass dabei nicht alles mit rechten Dingen zugegangen ist, dann geht einem natürlich der Untersuchungsrichter an den Kragen, und die Zeitungen machen einen fix und fertig. Wie man’s auch macht, man wünscht sich hinterher, man wäre nicht geboren.»
«Sie sprechen aus eigener Erfahrung», sagte der Mann mit Monokel in angemessen interessiertem Ton.
«Allerdings», antwortete der Schmalgesichtige mit Nachdruck. «Wenn ich mich wie ein Mann von Welt benommen und nicht den übereifrigen Staatsbürger gespielt hätte, brauchte ich mir heute keine andere Stelle zu suchen.»
Der Monokelträger sah sich mit feinem Lächeln in dem kleinen Restaurant um. Rechts von ihnen versuchte ein dicker Mann mit öliger Stimme zwei Damen von der Revue zu unterhalten; dahinter demonstrierten zwei ältere Stammgäste, dass sie mit der Speisekarte des Au Bon Bourgeois in Soho vertraut waren, indem sie «Tripes à la mode de Caen» verzehrten (die dort wirklich hervorragend sind) und eine Flasche Chablis Moutonne 1916 dazu tranken; auf der gegenüberliegenden Seite brüllten ein Provinzler und seine Frau stumpfsinnig nach ihrem Schnitzel mit einer Limonade für die Dame und einem Whisky-Soda für den Herrn, während am Nebentisch der gutaussehende silberhaarige Wirt ganz darin vertieft war, eine Salatplatte für eine Familie herzurichten, sodass er im Augenblick für nichts anderes Gedanken hatte als die hübsche Verteilung der gehackten Kräuter und Gewürze. Der Oberkellner kam und ließ eine Forelle blau begutachten. Er bediente den Monokelträger und seinen Begleiter und zog sich dann zurück, um sie jener Ungestörtheit zu überlassen, die der Unerfahrene in vornehmen Cafés zu suchen pflegt, dort aber nie findet.
«Ich komme mir vor wie Prinz Florizel von Böhmen», sagte der Mann mit Monokel. «Sie haben gewiss eine interessante Geschichte zu erzählen, Sir, und ich wäre Ihnen überaus verbunden, wenn Sie uns die Ehre erweisen und uns daran teilhaben lassen würden. Ich sehe, dass Sie schon fertig gegessen haben und es Ihnen daher wohl nicht allzu viel ausmacht, an unseren Tisch zu kommen und uns beim Essen mit Ihrer Erzählung zu unterhalten. Verzeihen Sie meine Stevenson’sche Art – meine Anteilnahme ist deshalb nicht weniger ernsthaft.»
«Führ dich nicht so albern auf, Peter», sagte der schwer zu Beschreibende. «Mein Freund ist an sich viel vernünftiger, als Sie aus seinem Gerede vielleicht schließen möchten», fügte er an den Fremden gewandt hinzu, «und wenn Sie etwas haben, was Sie sich von der Seele reden wollen, können Sie vollkommen darauf vertrauen, dass es über diese vier Wände nicht hinausgeht.»
Der andere lächelte ein wenig grimmig.
«Ich will es Ihnen gern erzählen, wenn es Sie nicht langweilt. Es ist eben nur ein einschlägiges Beispiel.»
«Und zwar zu meinen Gunsten», meinte der mit Peter Angesprochene triumphierend. «Erzählen Sie nur. Und trinken Sie etwas. Ein armes Herz, das nie sich erfreuet. Aber fangen Sie ganz von vorn an, wenn’s recht ist. Ich bin sehr trivial veranlagt. Kleinigkeiten ergötzen mich. Verwicklungen faszinieren mich. Entfernungen spielen keine Rolle, Branchenkenntnis nicht erforderlich. Mein Freund Charles wird das bestätigen.»
«Gut», sagte der Fremde. «Also, um wirklich ganz von vorn zu beginnen, ich bin Mediziner, und mein Hauptinteresse gilt dem Krebs. Wie so viele hatte ich gehofft, mich darauf spezialisieren zu können, aber nach dem Examen hatte ich einfach nicht das erforderliche Geld, mich der Forschung zu widmen. Folglich musste ich eine Landpraxis übernehmen, aber ich bin mit den wichtigen Leuten hier in Verbindung geblieben, weil ich eines Tages wiederzukommen hoffte. Ich darf dazu noch sagen, dass ich von einem Onkel eine Kleinigkeit zu erwarten habe, und man war der Meinung, es könne mir nicht schaden, wenn ich in der Zwischenzeit ein bisschen Erfahrung als praktischer Arzt sammelte, um nicht einseitig zu werden und so.
Nachdem ich mir also eine kleine Praxis in … den Namen nenne ich lieber nicht – es ist ein kleines Landstädtchen von rund 5000 Einwohnern, nach Hampshire zu, und wir wollen es ‹X› nennen … jedenfalls fand ich dort zu meiner Freude einen Fall von Krebs in meiner Patientenkartei. Die alte Dame –»
«Wie lange ist das jetzt her?», unterbrach Peter ihn.
«Drei Jahre. Viel war in diesem Fall nicht mehr zu machen. Die Dame war 72 Jahre alt und hatte schon eine Operation hinter sich. Aber sie war zäh und wehrte sich tapfer, wobei ihre gesunde Konstitution ihr half. Ich sollte noch erwähnen, dass sie zwar nie eine Frau von besonders hohen Geistesgaben und großer Charakterfestigkeit im Umgang mit anderen Menschen gewesen war, aber in manchen Dingen konnte sie ungemein halsstarrig sein, und vor allem war sie fest entschlossen, nicht zu sterben. Damals lebte sie allein mit ihrer Nichte, einer jungen Frau von etwa 25 Jahren. Davor hatte sie mit einer anderen alten Dame zusammengelebt – ebenfalls eine Tante des Mädchens nach der anderen Seite –, mit der sie seit der Schulzeit eng befreundet gewesen war. Als diese Freundin starb, gab das Mädchen, die einzige lebende Verwandte beider, ihre Stelle als Krankenschwester am Royal Free Hospital auf und zog zu der Überlebenden – meiner Patientin. Sie waren etwa ein Jahr, bevor ich dort meine Praxis übernahm, nach X gekommen. Hoffentlich drücke ich mich klar aus.»
«Vollkommen. War außerdem noch eine Krankenschwester da?»
«Zunächst nicht. Die Patientin war noch in der Lage, auszugehen und Bekannte zu besuchen, leichte Hausarbeiten zu machen, Blumen zu pflegen, zu stricken, zu lesen und so weiter und ein bisschen in der Gegend herumzufahren – also das, womit die meisten alten Damen ihre Zeit verbringen. Natürlich hatte sie auch hin und wieder ihre schlimmen Tage, mit Schmerzen und so, aber die Nichte hatte so viel Berufserfahrung, dass sie alles Notwendige tun konnte.»
«Wie war denn diese Nichte überhaupt?»
«Nun, sie war sehr nett, wohlerzogen und tüchtig und erheblich intelligenter als ihre Tante. Selbständig, nüchtern und so weiter. Der moderne Typ Frau. Eine, die zuverlässig ihren klaren Kopf behält und nichts vergisst. Natürlich meldete sich mit der Zeit wieder dieses verflixte Gewächs – wie immer, wenn es nicht gleich von Anfang an bekämpft wird, und eine weitere Operation wurde notwendig. Um diese Zeit war ich seit etwa acht Monaten in X. Ich habe sie nach London zu Sir Warburton Giles gebracht, meinem früheren Chef, und die Operation selbst war sehr erfolgreich, obwohl schon damals allzu deutlich zu sehen war, dass ein lebenswichtiges Organ allmählich eingeschnürt wurde und das Ende nur noch eine Frage der Zeit sein konnte. Die Details kann ich mir sparen. Es wurde jedenfalls alles getan, was möglich war. Ich wollte, dass die alte Dame in London unter Sir Warburtons Aufsicht blieb, aber davon wollte sie nichts wissen. Sie war an das Landleben gewöhnt und fühlte sich nur in ihren eigenen vier Wänden wohl. Also kehrte sie nach X zurück, und ich konnte sie mit gelegentlichen ambulanten Behandlungen in der nächsten größeren Stadt, die ein ausgezeichnetes Krankenhaus hat, weiter über die Runden bringen. Sie erholte sich von der Operation so erstaunlich gut, dass sie schließlich ihre Krankenschwester entlassen konnte und wie früher mit der Pflege ihrer Nichte auskam.»
«Moment mal, Doktor», warf der Mann namens Charles ein. «Sie sagten, Sie hätten sie zu Sir Warburton Giles gebracht und so weiter. Daraus schließe ich, dass sie recht wohlhabend war.»
«O ja, sie war eine ziemlich reiche Frau.»
«Wissen Sie zufällig, ob sie ein Testament gemacht hat?»
«Nein. Ich glaube, ich erwähnte schon ihre extreme Abneigung gegen jeden Gedanken ans Sterben. Sie hat sich stets geweigert, ein Testament zu machen, weil sie über derlei Dinge einfach nicht reden mochte. Einmal, das war kurz vor der Operation, habe ich es gewagt, das Thema so beiläufig wie möglich anzuschneiden, aber das führte nur dazu, dass sie sich ganz furchtbar aufregte. Außerdem meinte sie – und das ist vollkommen richtig –, ein Testament sei ganz und gar unnötig. ‹Du, meine Liebe›, hat sie zu ihrer Nichte gesagt, ‹bist die einzige Verwandte, die ich auf der Welt habe, also wird alles, was ich besitze, sowieso eines Tages dir gehören, komme, was da wolle. Und ich weiß ja, dass du die Dienerschaft und meine kleinen Wohltätigkeiten nicht vergessen wirst.› Da habe ich dann natürlich nicht weiter nachgehakt.
Da fällt mir übrigens ein – aber das war ein gut Teil später und hat mit meiner Geschichte eigentlich nichts zu tun –»
«Bitte», sagte Peter. «Alle Einzelheiten.»
«Nun gut, ich erinnere mich, dass ich eines Tages hinkam und meine Patientin in einem Zustand antraf, der gar nicht meinen Wünschen entsprach, und sehr erregt dazu. Die Nichte erzählte mir, Anlass für den Ärger sei ein Besuch von ihrem Anwalt gewesen – dem alten Familienanwalt aus ihrem Heimatort, nicht dem bei uns am Ort. Er hatte die alte Dame unbedingt unter vier Augen sprechen wollen, und danach war sie schrecklich aufgeregt und wütend gewesen und hatte erklärt, alle Welt habe sich verschworen, sie vorzeitig unter die Erde zu bringen. Der Anwalt hatte der Nichte beim Weggehen keine näheren Erklärungen gegeben, ihr aber aufgetragen, falls ihre Tante ihn je zu sehen wünsche, solle sie sofort nach ihm schicken, und er werde zu jeder Tages- oder Nachtzeit kommen.»
«Und – wurde nach ihm geschickt?»
«Nein. Die alte Dame war so gekränkt, dass sie ihm, sozusagen in ihrer letzten eigenhändigen Amtshandlung, die Wahrnehmung ihrer Angelegenheiten entzog und den Anwalt am Ort damit beauftragte. Bald darauf wurde eine dritte Operation notwendig, und danach wurde sie immer hinfälliger. Auch ihr Geist begann nachzulassen, sodass sie bald nicht mehr imstande war, komplizierte Zusammenhänge zu begreifen – und sie hatte auch wirklich zu arge Schmerzen, um sich noch mit geschäftlichen Dingen abzugeben. Die Nichte hatte Handlungsvollmacht und verwaltete das Vermögen ihrer Tante jetzt ganz.»
«Wann war das?»
«Im April 1925. Aber wissen Sie, wenn sie auch ein bisschen trottelig wurde – schließlich wurde sie ja auch älter –, körperlich war sie erstaunlich widerstandsfähig. Ich befasste mich gerade mit einer neuen Behandlungsmethode, und die Ergebnisse waren außerordentlich interessant. Das machte die Überraschung, die es dann gab, für mich umso ärgerlicher.
Ich sollte erwähnen, dass wir mittlerweile noch eine zweite Pflegerin für sie brauchten, denn die Nichte konnte nicht Tag und Nacht bei ihr sein. Die erste kam im April. Es war eine sehr charmante und tüchtige junge Person – die ideale Krankenschwester. Ich konnte mich vollkommen auf sie verlassen. Sie war mir von Sir Warburton Giles besonders empfohlen worden, und obwohl sie damals erst achtundzwanzig war, besaß sie die Besonnenheit und Urteilskraft einer doppelt so alten Frau. Ich sage Ihnen gleich, dass ich eine tiefe Zuneigung zu ihr fasste, und sie zu mir. Wir sind verlobt und hätten dieses Jahr geheiratet – wenn ich nicht so verdammt gewissenhaft und verantwortungsbewusst gewesen wäre.»
Der Doktor verzog wehmütig das Gesicht und sah Charles an, der etwas halbherzig von wahrhaftem Pech sprach.
«Meine Verlobte interessierte sich, wie ich, sehr für den Fall – einmal weil es meine Patientin war, aber sie hatte sich auch selbst schon sehr eingehend mit dieser Krankheit befasst. Sie freute sich schon darauf, mir bei meinem Lebenswerk zu assistieren, sollte ich es je in Angriff nehmen können. Aber das gehört nicht zur Sache.
So ging es nun bis September weiter. Dann fasste meine Patientin aus irgendeinem Grund eine dieser unerklärlichen Abneigungen, die man häufig bei Leuten beobachtet, die nicht mehr ganz richtig im Kopf sind. Sie hatte sich in die Angst hineingesteigert, die Schwester wolle sie umbringen – Sie erinnern sich, dass es bei ihrem Anwalt auch so war –, und versuchte ihrer Nichte allen Ernstes einzureden, man wolle sie vergiften. Zweifellos hat sie darin die Ursache für ihre Schmerzen gesehen. Es war sinnlos, mit ihr zu reden – sie hat geschrien und wollte die Schwester nicht in ihre Nähe lassen. Nun, in einem solchen Fall bleibt einem nichts anderes übrig, als die Schwester zu entlassen, denn sie kann der Patientin ja sowieso nichts mehr nützen. Ich habe also meine Verlobte nach Hause geschickt und an Sir Warburtons Klinik telegrafiert, man möge mir eine andere Pflegerin schicken.
Die neue Schwester kam am nächsten Tag. Natürlich war sie für mich gegenüber der anderen nur zweite Wahl, aber sie schien ihrer Aufgabe gewachsen zu sein, und die Patientin hatte nichts gegen sie einzuwenden. Aber allmählich bekam ich jetzt Schwierigkeiten mit der Nichte. Diese endlos sich hinziehende Geschichte muss dem armen Ding wohl an die Nerven gegangen sein. Sie setzte es sich in den Kopf, ihrer Tante ginge es sehr viel schlechter. Ich sagte ihr, natürlich müsse es allmählich immer mehr mit ihr bergab gehen, aber sie halte sich großartig, und zu unmittelbarer Sorge bestehe kein Anlass. Das Mädchen gab sich damit aber keineswegs zufrieden, und einmal, Anfang November, ließ sie mich mitten in der Nacht eilig herbeirufen, weil ihre Tante im Sterben läge.
Als ich hinkam, traf ich die Patientin mit starken Schmerzen an, aber von Lebensgefahr war keine Rede. Ich habe die Schwester angewiesen, Morphium zu injizieren, und der Nichte habe ich ein Beruhigungsmittel gegeben und gesagt, sie solle sich ins Bett legen und am nächsten Tag keine Pflegearbeiten tun. Am Tag darauf habe ich die Patientin sehr gründlich untersucht, und es ging ihr sogar noch viel besser, als ich angenommen hatte. Ihr Herz schlug ungewöhnlich kräftig und gleichmäßig, ihre Nahrung verarbeitete sie erstaunlich gut, und das Fortschreiten der Krankheit schien vorübergehend gestoppt.
Die Nichte entschuldigte sich für ihren Auftritt und erklärte, sie habe wirklich geglaubt, ihre Tante liege im Sterben. Ich sagte, ich könne im Gegenteil jetzt sogar garantieren, dass sie noch fünf bis sechs Monate zu leben habe. Sie müssen wissen, dass man in solchen Fällen den Verlauf mit ziemlicher Sicherheit vorhersagen kann.
‹Auf alle Fälle›, habe ich zu ihr gesagt, ‹würde ich mich an Ihrer Stelle nicht zu sehr aufregen. Der Tod, wenn er kommt, wird eine Erlösung von ihren Leiden sein.›
‹Ja›, sagte sie, ‹armes Tantchen. Ich fürchte, ich bin egoistisch, aber sie ist nun mal die einzige Verwandte, die ich auf der Welt habe.›
Drei Tage später, ich wollte mich gerade zum Abendessen hinsetzen, kam ein Anruf. Ob ich sofort kommen könne. Die Patientin sei tot.»
«Mein Gott!», rief Charles. «Es ist doch vollkommen klar –»
«Schweig, Sherlock», sagte sein Freund, «an der Geschichte des Doktors ist überhaupt nichts klar. Weit gefehlt, sagte der Gefreite, als er auf die Scheibe zielte und den Feldwebel traf. Aber ich sehe unseren Ober verlegen um uns streichen, während seine Kollegen Stühle aufstapeln und die Salzstreuer einsammeln. Wollen Sie nicht mitkommen und die Geschichte bei mir zu Hause fertig erzählen? Ich kann Ihnen ein anständiges Gläschen Portwein anbieten. Sie kommen? Gut. Ober, rufen Sie uns bitte ein Taxi … zum Piccadilly 110 A.»
Ha! mir juckt der Daumen schon,
Sicher naht ein Sündensohn.
MACBETH
Die Aprilnacht war klar und kühl, und auf dem Kaminrost knisterte wie zur Begrüßung ein munteres Holzfeuer. Die Bücherregale an den Wänden waren gefüllt mit wertvollen alten Bänden, deren Lederrücken weich im Licht der Lampe schimmerten. Im Zimmer standen ein geöffneter Flügel, ein großes, dick mit Kissen ausgelegtes Polstersofa und zwei Sessel, die so richtig zum Hineinflegeln einluden. Der Portwein wurde von einem imposanten Diener hereingebracht und auf ein hübsches Chippendale-Tischchen gestellt. Aus den dunklen Ecken winkten fähnchengleich rote und gelbe Tulpen in großen Schalen.
Der Doktor hatte seinen neuen Bekannten soeben als Ästheten mit literarischen Neigungen eingestuft, der Stoff für eine menschliche Tragödie suchte, als der Diener wieder eintrat.
«Inspektor Sugg hat telefoniert, Mylord. Er hat diese Nachricht hier hinterlassen und lässt Sie bitten, Sie möchten die Güte haben und ihn anrufen, sobald Sie wieder da sind.»
«So? – Na schön, geben Sie ihn mir. Das ist die Worplesham-Sache, Charles. Sugg hat sie wie gewöhnlich verpfuscht. Der Bäcker hat ein Alibi – klar – war zu erwarten. Ja, danke … Hallo! Sind Sie’s, Inspektor? Na, was hab ich gesagt? – Ach, pfeifen Sie auf die Vorschrift. Jetzt passen Sie mal auf. Sie schnappen sich den Wildhüter und holen aus ihm heraus, was er in der Sandgrube gesehen hat … Nein, das weiß ich, aber ich glaube, wenn Sie ihn nachdrücklich genug fragen, wird er schon damit herausrücken. Nein, natürlich nicht – wenn Sie ihn fragen, ob er da war, sagt er nein. Sie müssen sagen, Sie wissen, dass er da war, und er soll erzählen, was er gesehen hat – und hören Sie, wenn er drum herumredet, sagen Sie, Sie lassen einen Trupp schicken und den Bach umleiten … Gut. Überhaupt nicht. Geben Sie mir Bescheid, wenn etwas dabei herauskommt.»
Er legte den Hörer auf.
«Entschuldigen Sie, Doktor. Kleine dienstliche Angelegenheit. Nun fahren Sie bitte mit Ihrer Geschichte fort. Die alte Dame war also tot, wie? Im Schlaf gestorben, nehme ich an. Auf die allerunschuldigste Weise dahingegangen. Alles tipptopp und in schönster Ordnung. Keine Kampfspuren, Wunden, Blut, keine offensichtlichen Symptome. Natürlich, was?»
«Genau. Sie hatte um sechs Uhr etwas zu sich genommen – ein bisschen Suppe und Milchpudding. Um acht hatte die Schwester ihr eine Morphiumspritze gegeben und war dann gleich hinausgegangen, um ein paar Blumenvasen für die Nacht auf ein Tischchen im Flur zu stellen. Das Hausmädchen kam, um ein paar Dinge für den nächsten Tag zu besprechen, und während sie miteinander redeten, kam Miss … das heißt, die Nichte … die Treppe herauf und ging zu ihrer Tante ins Zimmer. Sie war ein paar Sekunden darin, da rief sie plötzlich: ‹Schwester! Schwester!› Die Schwester stürzte hinein und fand die Patientin tot.
Natürlich war mein erster Gedanke, sie hätte aus Versehen vielleicht die doppelte Morphiumdosis bekommen –»
«Das hätte doch sicher nicht so schnell gewirkt.»
«Nein – aber ich dachte, man habe vielleicht ein tiefes Koma irrtümlich für den Tod gehalten. Die Schwester versicherte mir aber, das sei bestimmt nicht der Fall, und die Möglichkeit konnte dann auch mit Sicherheit ausgeschlossen werden, nachdem wir die Morphiumampullen nachgezählt und festgestellt hatten, dass sie alle ordentlich abgerechnet waren. Es wies auch nichts darauf hin, dass die Patientin versucht hätte, sich zu bewegen oder sonst wie anzustrengen, oder dass sie irgendwo angestoßen wäre. Das Nachttischchen war etwas zur Seite gerückt, aber das hatte die Nichte getan, als sie ins Zimmer gekommen und über das leblose Aussehen der Tante so erschrocken war.»
«Was war mit der Suppe und dem Milchpudding?»
«Daran habe ich auch gedacht – nicht im bösen Sinne, nur dass sie vielleicht zu viel gegessen haben könnte –, Magen gedehnt, Druck aufs Herz und so weiter. Aber bei genauerem Hinsehen erschien das auch nicht sehr wahrscheinlich. Die Menge war zu klein, und überhaupt hätten zwei Stunden für die Verdauung ausreichen müssen – wenn es also daran gelegen hätte, wäre sie früher gestorben. Ich stand vor einem völligen Rätsel, und die Schwester auch. Der war es ganz arg.»
«Und die Nichte?»
«Die Nichte hat immer nur sagen können: ‹Ich hab’s ja gesagt, ich hab’s ja gesagt – ich wusste doch, dass es schlimmer um sie stand, als Sie gemeint haben.› Nun, um es kurz zu machen, es hat mich so gepackt, dass meine Lieblingspatientin so mir nichts, dir nichts gestorben sein sollte, dass ich noch am nächsten Morgen, nachdem ich mir die Sache reiflich überlegt hatte, um die Erlaubnis für eine Autopsie bat.»
«Hat man Ihnen Schwierigkeiten gemacht?»
«Nicht die mindesten. Ein gewisser Widerwille, selbstverständlich, aber keinerlei Einwände. Ich erklärte, nach meiner Überzeugung müsse da noch eine versteckte Krankheit im Spiel gewesen sein, die ich nicht erkannt hätte, und mir wäre sehr viel wohler, wenn ich der Sache auf den Grund gehen dürfte. Das Einzige, wovor der Nichte zu grausen schien, war eine gerichtliche Untersuchung. Ich habe gesagt – und das war wohl im Hinblick auf die herrschenden Gepflogenheiten nicht sehr klug von mir –, dass ich nicht glaubte, es werde zu einer gerichtlichen Untersuchung kommen müssen.»
«Das heißt, Sie wollten die Autopsie selbst vornehmen.»
«Ja – ich habe keinerlei Zweifel geäußert, dass ich schon eine hinreichende Todesursache finden würde, um den Totenschein ausstellen zu können. Ein bisschen Glück hatte ich auch dabei, denn die alte Dame hatte sich irgendwann einmal gesprächsweise für eine Feuerbestattung ausgesprochen, und die Nichte wollte es so halten. Das hieß, dass ich sowieso einen zweiten Arzt mit besonderen Qualifikationen brauchte, der den Totenschein mit mir zusammen unterschrieb, und diesen Mann habe ich überreden können, herzukommen und die Autopsie mit mir vorzunehmen.»
«Und haben Sie etwas gefunden?»
«Nicht die Spur. Mein Kollege hat mich natürlich einen Narren geheißen, dass ich so ein Theater machte. Er meinte, da die alte Dame doch sowieso über kurz oder lang gestorben wäre, hätte es völlig ausgereicht, als Todesursache Krebs, unmittelbare Ursache Herzversagen hinzuschreiben und fertig. Aber ich übergenauer Trottel musste sagen, ich sei davon nicht überzeugt. An der Leiche war überhaupt nichts festzustellen, was den Tod auf natürliche Weise erklärt hätte, und so bestand ich auf einer Analyse.»
«Hatten Sie wirklich den Verdacht –?»
«Hm – nein, nicht direkt. Aber – ich war eben nicht zufrieden. Übrigens hat die Analyse klar ergeben, dass es am Morphium nicht gelegen hatte. Der Tod war so kurz nach der Injektion eingetreten, dass die Droge noch nicht einmal ganz den Arm verlassen hatte. Wenn ich es mir jetzt überlege, muss ich fast eine Art Schock vermuten.»
«Wurde die Analyse vertraulich vorgenommen?»
«Ja. Aber die Beisetzung verzögerte sich natürlich, und es gab Gerüchte. Die kamen dem Untersuchungsrichter zu Ohren, und er begann sich zu erkundigen, und dann hat sich noch die Schwester darauf versteift, ich unterstellte ihr Pflichtverletzung oder so etwas. Sie hat sich wenig standesgemäß benommen und erst recht für Gerede und Verwirrung gesorgt.»
«Und herausgekommen ist nichts dabei?»
«Nichts. Keine Spur von Gift oder sonst etwas dergleichen, und nach der Analyse standen wir so klug da wie zuvor. Natürlich dämmerte mir allmählich, dass ich mich grässlich blamiert hatte. So habe ich dann – eigentlich entgegen meinem ärztlichen Urteil – den Totenschein unterschrieben: Herzversagen nach Schock, und meine Patientin kam nach einer turbulenten Woche ohne gerichtliche Untersuchung ins Grab.»
«Ins Grab?»
«Ach ja, das war der nächste Skandal. Die Leute vom Krematorium, die es sehr genau nehmen, hatten von dem Wirbel gehört und wollten die Leiche nicht annehmen, und so liegt sie nun auf dem Friedhof, damit man notfalls wieder auf sie zurückgreifen kann. Es war ein großes Begräbnis, und die Nichte wurde gebührend bedauert. Am nächsten Tag bekam ich von einem meiner einflussreichsten Patienten die Mitteilung, dass meine ärztlichen Dienste nicht mehr benötigt würden. Am übernächsten Tag ging die Frau des Bürgermeisters mir auf der Straße aus dem Weg. Meine Praxis wurde immer kleiner, und ich erfuhr, dass ich als der Mann bekannt wurde, ‹der diese nette Miss Soundso doch praktisch des Mordes verdächtigt hat›. Einmal sollte ich die Nichte verdächtigt haben, ein andermal ‹diese nette Krankenschwester – nicht das Flittchen, das entlassen wurde, sondern die andere, Sie wissen schon›. Nach einer anderen Version soll ich versucht haben, die Schwester in Schwierigkeiten zu bringen, weil ich wegen der Entlassung meiner Verlobten sauer gewesen sei. Schließlich hörte ich sogar Gerüchte, die Patientin hätte mich dabei erwischt, wie ich mit meiner Verlobten ‹herumgeknutscht› hätte – dieses hässliche Wort ist wirklich gefallen –, anstatt meine Pflicht zu tun, und dann hätte ich die alte Dame aus Rache selbst beseitigt – nur warum ich in diesem Fall den Totenschein hätte verweigern sollen, dafür blieben die Skandalnudeln die Erklärung schuldig.
Ein Jahr lang habe ich das durchgestanden, aber dann wurde meine Situation unerträglich. Meine Praxis hatte sich praktisch in Luft aufgelöst, weshalb ich sie verkaufte und erst einmal Urlaub machte, um den faden Geschmack aus dem Mund zu bekommen – und nun bin ich also hier und versuche von vorn anzufangen. Das war’s, und die Moral von der Geschichte ist, man soll es mit seinen staatsbürgerlichen Pflichten nicht übertreiben.»
Der Doktor lachte böse auf und ließ sich in den Sessel zurückfallen.
«Ich pfeife auf die Klatschmäuler», fügte er streitbar hinzu. «Auf dass sie an ihrer Bosheit ersticken!» Damit leerte er sein Glas.
«Hört, hört!», pflichtete sein Gastgeber ihm bei. Ein paar Sekunden blickte er nachdenklich ins Feuer.
«Wissen Sie», sagte er plötzlich, «irgendwie interessiert mich der Fall. Ich fühle so ein boshaftes Kribbeln in mir, das mir sagt, da gibt’s was zu erforschen. Dieses Gefühl hat mich noch nie getrogen – und wird es auch hoffentlich nicht. Erst neulich hat es mir gesagt, ich soll mir einmal meinen Steuerbescheid ansehen, und siehe da, ich stellte fest, dass ich in den letzten drei Jahren rund 900 Pfund Steuern zu viel bezahlt habe. Und vorige Woche, als ich mich von jemandem über den Horseshoe-Pass fahren lassen wollte, hat es mir eingegeben, den Kerl zu fragen, ob er auch genug Benzin im Tank habe, und er stellte prompt fest, dass er noch ungefähr einen halben Liter hatte – gerade genug, um uns halb hinüberzubringen. Es ist eine ziemlich einsame Gegend dort. Natürlich kenne ich den Mann – es war also keine reine Intuition. Trotzdem habe ich es mir zur Regel gemacht, diesem Gefühl zu folgen, wenn es mir rät, einer Sache nachzugehen. Ich glaube», fügte er erinnerungsselig hinzu, «ich muss als Kind ein wahrer Unhold gewesen sein. Jedenfalls sind merkwürdige Fälle so etwas wie mein Steckenpferd. Übrigens bin ich nicht nur der vollkommene Zuhörer. Ich habe Sie hinters Licht geführt. ‹Ich habe ein weiter gehendes Motiv, sagte er, seine falschen Koteletten abnehmend, unter denen Sherlock Holmes’ unverkennbare hohle Wangen zum Vorschein kamen.›»
«Ich hatte allmählich auch schon meine Zweifel», sagte der Doktor nach kurzer Pause. «Sie müssen Lord Peter Wimsey sein. Ich habe mich schon gefragt, wieso Ihr Gesicht mir so bekannt vorkam; aber natürlich, es war ja vor ein paar Jahren in allen Zeitungen, nachdem Sie das Rätsel von Riddlesdale gelöst hatten.»
«Ganz recht. Ein dummes Gesicht natürlich, aber ziemlich entwaffnend, finden Sie nicht? Ich weiß nicht, ob ich es mir selbst ausgesucht hätte, aber ich versuche das Beste daraus zu machen. Hoffentlich wird es nur nicht mit der Zeit einem Spürhund ähnlich oder sonst etwas Unerfreulichem. Der da ist nämlich der eigentliche Spürhund – mein Freund, Kriminalinspektor Parker von Scotland Yard. Die eigentliche Arbeit tut er. Ich stelle nur schwachsinnige Vermutungen an, die er in mühsamer Kleinarbeit eine nach der andern widerlegt. Durch dieses Eliminationsverfahren finden wir dann schließlich die richtige Lösung, und alle Welt sagt: ‹Mein Gott, hat dieser junge Mann eine Intuition!› Also passen Sie auf – wenn Sie nichts dagegen haben, nehme ich mir den Fall einmal vor. Vertrauen Sie mir Ihre Anschrift und die Namen der beteiligten Personen an, und ich will mich gern daran versuchen.»
Der Doktor dachte einen Augenblick nach, dann schüttelte er den Kopf.
«Das ist sehr nett von Ihnen, aber das möchte ich wohl lieber nicht. Ich habe schon Ärger genug gehabt. Es ginge sowieso gegen die Standesvorschriften, mehr zu sagen, und wenn ich jetzt noch mehr Staub aufwirbelte, dürfte ich wahrscheinlich ganz aus dem Land verschwinden und mein Leben als einer dieser ständig betrunkenen Schiffsärzte irgendwo in der Südsee beschließen, die allen Leuten ihre Lebensgeschichte erzählen und düstere Prophezeiungen verkünden müssen. Schlafende Hunde soll man nicht wecken. Haben Sie trotzdem vielen Dank.»
«Wie Sie wünschen», sagte Wimsey. «Ich werde aber einmal nachdenken, und wenn mir etwas Brauchbares einfällt, lasse ich es Sie wissen.»
«Sehr freundlich», antwortete der Besucher, indem er gedankenabwesend Hut und Stock von dem Diener entgegennahm, der auf Wimseys Klingeln erschienen war. «Also gute Nacht, und vielen Dank, dass Sie mir so geduldig zugehört haben. Ach so, übrigens», meinte er, indem er sich an der Tür plötzlich umdrehte, «wie wollen Sie mir denn Bescheid geben, wenn Sie nicht einmal Namen und Adresse von mir wissen?»
Lord Peter lachte.
«Ich bin Falkenauge, der Detektiv», antwortete er, «und Sie hören so oder so von mir, bevor die Woche um ist.»
Es gibt in England und Wales zwei Millionen mehr Frauen als Männer. Das allein ist ein furchtgebietender Umstand.
GILBERT FRANKAU
«Was hältst du denn nun wirklich von der Geschichte?», fragte Parker. Er war am Morgen darauf wiedergekommen, um mit Wimsey zu frühstücken, bevor er in Richtung Notting Dale aufbrach, um sich um einen anonymen Briefschreiber zu kümmern. «Ich fand, es klang so, als ob unser Freund sich ein bisschen zu viel auf seine ärztliche Kunst einbildete. Das alte Mädchen könnte schließlich einen Herzanfall oder so etwas erlitten haben. Sie war alt und krank.»
«Könnte sein, obwohl ich glaube, dass Krebskranke wirklich selten so unerwartet das Zeitliche segnen. In der Regel erstaunen sie alle Welt mit der Zähigkeit, mit der sie sich ans Leben klammern. Trotzdem würde ich nicht weiter darüber nachdenken, wenn diese Nichte nicht wäre. Weißt du, sie hat den Tod der Tante ja so schön vorbereitet, indem sie ihren Zustand immer schlimmer machte, als er war.»
«Das habe ich auch gedacht, während der Doktor davon erzählte. Aber was hat die Nichte getan? Sie kann sie nicht vergiftet und nicht einmal erstickt haben, sonst hätte man der Leiche doch wohl etwas angemerkt. Und die Tante ist gestorben – also hatte vielleicht die Nichte recht und unser voreingenommener junger Medikus unrecht.»
«Vielleicht. Und natürlich haben wir nur seine Version über die Nichte und die Schwester – und der Schwester war er offensichtlich, wie man so schön sagt, nicht ganz grün. Wir dürfen sie übrigens nicht außer Acht lassen. Sie war als Letzte bei der alten Dame, und sie hat ihr die Injektion gegeben.»
«Ja, ja – aber die Injektion hatte doch nichts damit zu tun. Wenn eines klar ist, dann das. Sag mal, hältst du es für möglich, dass die Schwester vielleicht etwas gesagt hat, was die alte Dame aufgeregt und ihr einen Schock versetzt haben könnte? Die Kranke war ja ein bisschen verdreht, aber sie könnte doch noch so weit bei Verstand gewesen sein, um etwas wirklich Schreckliches zu verstehen. Vielleicht hat die Schwester nur etwas Dummes übers Sterben gesagt – in diesem Punkt scheint die alte Dame ja sehr empfindlich gewesen zu sein.»
«Aha!», sagte Lord Peter. «Ich hatte schon gewartet, wann du damit kommst. Ist dir aufgefallen, dass in der Erzählung wirklich eine recht finstere Gestalt auftaucht, und zwar der Familienanwalt?»
«Du meinst den, der wegen des Testaments gekommen war und so unversehens in die Wüste geschickt wurde?»
«Ja. Nehmen wir doch mal an, er wollte, dass die Kranke ein Testament zugunsten von jemand völlig anderem aufsetzte – einem, der in der Geschichte, wie wir sie kennen, überhaupt nicht vorkommt. Und als er sah, dass er sich kein Gehör verschaffen konnte, hat er die neue Schwester sozusagen als seine Stellvertreterin geschickt.»
«Das wäre aber sehr an den Haaren herbeigezogen», meinte Parker zweifelnd. «Er konnte doch nicht wissen, dass die Verlobte des Doktors den Laufpass bekommen würde. Es sei denn, er stand mit der Nichte im Bunde und hat sie veranlasst, für eine Ablösung der Schwester zu sorgen.»
«Die Karte sticht nicht, Charles. Die Nichte würde sich doch nicht mit dem Anwalt verbünden, damit er für ihre eigene Enterbung sorgt.»
«Das wohl nicht. Trotzdem finde ich, es ist etwas an der Idee, dass die alte Dame versehentlich oder absichtlich zu Tode erschreckt wurde.»
«Schon – und so oder so wäre das juristisch gesehen kein Mord. Jedenfalls lohnt sich’s, glaube ich, sich die Sache einmal näher anzusehen. Dabei fällt mir etwas ein.» Er läutete. «Bunter, würden Sie einen Brief für mich zur Post bringen?»
«Gewiss, Mylord.»
Lord Peter zog einen Schreibblock zu sich her.
«Was willst du schreiben?», fragte Parker, indem er ihm amüsiert über die Schulter sah.
Lord Peter schrieb:
«Ist die Zivilisation nicht etwas Wunderbares?»
Er unterschrieb diesen simplen Satz und steckte das Blatt in einen Umschlag.
«Wenn du vor albernen Briefen sicher sein willst, Charles», sagte er, «trag dein Monomark-Zeichen nicht im Hut spazieren.»
«Und was schlägst du als Nächstes vor?», fragte Parker. «Du willst mich doch hoffentlich nicht zu Monomark schicken, um den Namen eines Kunden zu erfahren! Ohne amtlichen Auftrag ginge das nicht, und die würden wahrscheinlich einen furchtbaren Krach machen.»
«Nein», antwortete sein Freund, «ich gedenke nicht, das Beichtgeheimnis zu verletzen. Jedenfalls nicht in diesen Gefilden. Aber wenn du dich für einen Augenblick von deinem mysteriösen Brieffreund losreißen könntest, der wohl sowieso keinen Wert darauf legt, gefunden zu werden, würde ich dich bitten, mit mir eine Freundin zu besuchen. Es dauert nicht lange. Ich glaube, sie wird dich interessieren. Ich – eigentlich bist du sogar der Erste, den ich zu ihr mitnehme. Sie wird sehr gerührt und erfreut sein.»
Er lachte ein bisschen verlegen.
«Oh», machte Parker, peinlich berührt. Obgleich sie so gute Freunde waren, hatte Wimsey doch stets seine Privatangelegenheiten für sich zu behalten gewusst – nicht indem er sie versteckte; er ignorierte sie einfach. Diese Enthüllung jetzt schien eine neue Stufe der Vertrautheit einzuleiten, und Parker wusste nicht recht, ob ihn das freuen sollte. Er selbst lebte nach den kleinbürgerlichen Moralvorstellungen, die er seiner Abstammung und Erziehung verdankte, und wenn er auch theoretisch anerkannte, dass in Lord Peters Welt andere Maßstäbe galten, so hatte er sich noch nie gewünscht, praktisch damit konfrontiert zu werden.
«– eigentlich ein Experiment», meinte Wimsey gerade etwas schüchtern. «Jedenfalls sitzt sie jetzt ganz gemütlich in einer kleinen Wohnung in Pimlico. Du kannst doch mitkommen, Charles, ja? Ich möchte wirklich, dass ihr beide euch kennenlernt.»
«Ja, ja, natürlich», sagte Parker eilig. «Sehr gern. Äh – wie lange – ich meine –»
«Ach so, nun, die Sache läuft erst seit ein paar Monaten», sagte Wimsey, schon auf dem Weg zum Lift, «aber sie scheint sehr erfreulich zu funktionieren. Das erleichtert mir natürlich so einiges.»
«Natürlich», sagte Parker.
«Aber du verstehst, dass ich – mich über die Einzelheiten erst auslassen möchte, wenn wir da sind, und dann siehst du ja selbst», plauderte Wimsey weiter, indem er unnötig wuchtig die Fahrstuhltür zuknallte, «aber wie gesagt, du wirst feststellen, dass es sich um etwas völlig Neues handelt. Ich glaube nicht, dass es etwas in genau der Art schon einmal gegeben hat. Natürlich, es geschieht nichts Neues unter der Sonne, wie schon Salomo sagte, aber ich möchte behaupten, dass ihm da die vielen Weiber und Kohlkusinen, wie der kleine Junge sagte, ein bisschen die Optik getrübt haben, meinst du nicht?»
«Sicher», sagte Parker. Armer Irrer, fügte er im Stillen an; dass sie doch immer glauben, bei ihnen war’s ganz was anderes!
«Ein Ventil», sagte Wimsey, und dann energisch: «Hallo, Taxi! … Ein Ventil – jeder braucht ein Ventil – St. George’s Square 97 A – und man kann den Leuten eigentlich keinen Vorwurf machen, wenn sie doch wirklich nur ein Ventil brauchen. Ich meine, warum schimpfen? Sie können doch nichts dafür. Ich finde es viel netter, ihnen ein Ventil zu geben, als sich in Büchern über sie lustig zu machen – und ein Buch zu schreiben ist ja nun wirklich nicht schwer. Besonders, wenn man entweder schlechte Geschichten in gutem Englisch oder gute Geschichten in schlechtem Englisch schreibt, und darüber scheint man heutzutage ja nicht mehr hinauszukommen, findest du nicht auch?»
Mr. Parker pflichtete ihm bei, und Lord Peter schweifte in die Gefilde der Literatur ab, bis das Taxi vor einem dieser großen, schrecklichen Häuser anhielt, die einst für viktorianische Familien mit nimmermüder Dienerschaft gedacht gewesen waren, jetzt aber mehr und mehr in je ein halbes Dutzend ungemütliche Schuhschachteln aufgeteilt wurden, die man dann als Wohnungen vermietete.
Lord Peter drückte auf den obersten Klingelknopf, neben dem der Name CLIMPSON stand, und lehnte sich lässig an die Wand.
«Sechs Stiegen hoch», erklärte er. «Da braucht sie ein Weilchen mit dem Öffnen, denn einen Fahrstuhl gibt’s nun mal nicht. Eine teurere Wohnung wollte sie aber nicht haben. Das fand sie unangemessen.»
Mr. Parker nahm die Bescheidenheit der Dame überaus erleichtert, wenn auch etwas erstaunt zur Kenntnis und richtete sich, den Fuß leger auf dem Schuhabkratzer, geduldig aufs Warten ein. Es dauerte jedoch gar nicht lange, bis die Tür aufging und eine Dame mittleren Alters mit scharfgeschnittenem, blässlichem Gesicht und lebhafter Erscheinung vor ihnen stand. Sie trug ein adrettes dunkles Kostüm mit hochgeschlossener Bluse und eine lange Goldkette um den Hals, an der in Abständen aller möglicher Zierat hing. Ihr eisengraues Haar wurde von einem Netz gehalten, wie sie zur Zeit des verstorbenen Königs Edward in Mode waren.
«Oh, Lord Peter! Wie furchtbar nett, Sie zu sehen. Es ist ja ein recht früher Besuch, aber dafür werden Sie das bisschen Unordnung im Wohnzimmer gewiss entschuldigen. Bitte, treten Sie doch ein. Die Listen sind auch schon ganz fertig. Gestern Abend habe ich sie abgeschlossen. Sie finden doch hoffentlich nicht, dass ich unverantwortlich lange dafür gebraucht habe, aber es waren ja so erstaunlich viele Eintragungen. Es ist ja zu nett von Ihnen, dass Sie extra vorbeikommen.»
«Aber gar nicht, Miss Climpson. Und das ist mein Freund, Inspektor Parker, von dem ich schon gesprochen habe.»
«Sehr erfreut, Mr. Parker – oder sollte ich wohl Inspektor sagen? Sie müssen schon entschuldigen, wenn ich danebengreife – es ist wirklich das erste Mal, dass ich es mit der Polizei zu tun habe. Hoffentlich ist es nicht ungehörig, so etwas zu sagen. Bitte, kommen Sie herauf. Es sind ja leider furchtbar viele Treppen, aber das stört Sie hoffentlich nicht. Ich wohne so gerne ganz oben. Da ist die Luft so viel besser, Mr. Parker, und dank Lord Peters Freundlichkeit habe ich ja einen so schönen, luftigen Ausblick über die Dächer. Ich finde, man kann viel besser arbeiten, wenn man sich nicht so umschränkt, gepfercht und umpfählt fühlt, wie Hamlet sagt. Du meine Güte, da lässt diese Mrs. Winterbottle doch schon wieder ihren Eimer auf der Treppe stehen, und immer in der dunkelsten Ecke! Ich sage ihr das ständig. Halten Sie sich dicht ans Geländer, dann kommen Sie gut vorbei. Jetzt nur noch eine Treppe. So, da wären wir. Bitte, sehen Sie über die Unordnung hinweg. Ich finde, Frühstücksgeschirr sieht nach dem Gebrauch immer so hässlich aus – direkt schweinisch, um mal ein unschönes Wort für eine unschöne Sache zu gebrauchen. Ein Jammer, dass diese klugen Leute nicht einmal Teller erfinden können, die sich von selbst spülen und von selbst einräumen, nicht wahr? Aber nehmen Sie doch Platz; ich bin sofort wieder da. Und Sie, Lord Peter, haben doch sicher keine Hemmungen, zu rauchen. Ich mag den Duft Ihrer Zigaretten so sehr – einfach köstlich –, und Sie können ja so schön die Enden ausdrücken.»
In Wahrheit war das kleine Zimmer natürlich tipptopp aufgeräumt, obwohl unzählige Nippesfigürchen und Fotos jedes freie Fleckchen beanspruchten. Das Einzige, was man als Unordnung hätte bezeichnen können, war das Frühstückstablett mit einer leeren Eierschale, einer benutzten Tasse und einem Teller voller Krümel. Miss Climpson erstickte prompt diesen Keim der Anarchie, indem sie das Tablett höchsteigenhändig hinaustrug.
Sichtlich verwirrt ließ Parker sich behutsam auf einem kleinen Sessel nieder, den ein ebenso dickes wie hartes Kissen zierte, sodass man sich unmöglich zurücklehnen konnte. Lord Peter schlängelte sich auf den Fenstersitz, zündete sich eine Sobranie an und legte die Hände auf die Knie. Miss Climpson, die aufrecht am Tisch saß, strahlte ihn mit einer Freude an, die einfach rührend war.
«Ich habe mich sehr eingehend mit all diesen Fällen befasst», begann sie, indem sie einen dicken Packen maschinebeschriebener Blätter zur Hand nahm. «Ich fürchte, meine Notizen sind wirklich sehr umfangreich, und hoffentlich finden Sie die Schreibkosten nicht zu hoch. Meine Handschrift ist sehr deutlich, sodass eigentlich keine Fehler darin sein dürften. Mein Gott, was für traurige Geschichten manche von diesen Frauen mir erzählt haben! Aber ich habe mich sehr eingehend erkundigt – mit freundlicher Unterstützung des Pfarrers, der ein sehr netter und hilfsbereiter Mensch ist –, und ich bin sicher, dass in den meisten Fällen Ihre Hilfe sehr angebracht sein wird. Wenn Sie einmal hinein –»
«Im Augenblick nicht, Miss Climpson», unterbrach Lord Peter sie rasch. «Schon gut, Charles – es geht nicht um Hilfe für die Taubstummen oder ledige Mütter. Ich erklär’s dir später. Im Moment, Miss Climpson, benötigen wir Ihre Hilfe für etwas völlig anderes.»
Miss Climpson brachte ein ganz gewöhnliches Notizbuch zum Vorschein und saß abwartend da.
«Diesmal bestehen die Ermittlungen aus zwei Teilen», sagte Lord Peter. «Der erste Teil ist, fürchte ich, ziemlich langweilig. Ich möchte, dass Sie (wenn Sie so nett wären) zum Somerset-Haus gehen und dort alle Sterbeurkunden für Hampshire vom November 1925 durchsehen oder durchsehen lassen. Ich weiß weder die Stadt noch den Namen der Verstorbenen. Was wir suchen, ist die Sterbeurkunde einer dreiundsiebzigjährigen Frau; Todesursache Krebs, unmittelbare Ursache Herzversagen. Die Urkunde ist von zwei Ärzten unterschrieben, von denen der eine ein Amtsarzt oder Polizeiarzt, Vertrauensarzt, Gerichtsmediziner, Internist oder Chirurg eines großen Krankenhauses oder Vertragsarzt der Krematoriumsbehörde sein muss. Wenn Sie für Ihre Erkundigungen einen Vorwand brauchen, können Sie sagen, Sie arbeiten an einer Krebsstatistik; in Wirklichkeit suchen Sie aber die Namen der beteiligten Personen und der Stadt.»
«Und wenn mehrere Sterbeurkunden diese Merkmale aufweisen?»