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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

© 2020 Verlag Anton Pustet

Herausgeber: ProMÖLLTAL – Initiative für Bildung, Kultur, Wirtschaft und Tourismus

eISBN 978-3-7025-8071-1

Auch als gedrucktes Buch erhältlich: ISBN 978-3-7025-0965-1.

www.pustet.at

GEGENWIND

DAS LANGE TAL

DER KURZGESCHICHTEN

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INHALT

VORWORT

HEIMFAHRT HARALD JÖLLINGER

ÜBERWIEGEND HEITER MIT GEGENWIND BETTINA SCHNEIDER

WER DEN HIMMEL VERDIENT ROBERT KLEINDIENST

REBELLION CHRISTINA WERMESCHER

DIE KATZE EDITH ANNA POLKEHN

DER STILLE STURM ANNA FERCHER

DER PERFEKTE PLAN ANKE ELSNER

LOISE MARTINA LEDERER

TANZEN IM WIND MATTHIAS DAXER

219A UND 219B HARALD TRIEBNIG

BAUCHGEFÜHL ROSA AMON

DIE FRAU MIT DEM HUT LIVIA THURNER

AUSBRUCH NICOLE MAKAREWICZ

DAS ALTE HAUS VON NEBENAN DANIELA KOFLER

SANFT STRICH DER WIND SILVIA EBNER

FERNAB VON DOSENFUTTER – KAUEN WIR BIRKEN, WIND UND SCHNEE EVA WASSERTHEURER

PAULA! HELMUT LOINGER

NICHT MIT ADELE REGINA APPEL

DUMMA BUA GERHARD BENIGNI

DAS VERLORENE KIND HEIKE NEUMANN

DER TIERISCHE BEISTAND JOSEF MESSNER

ONKEL JOGL KARINA LUGER

IN VENT BARBARA RIEGER

… UND GEHT BEATE ROLA

GEGEN DEN WIND ODER WIE HÄLT MAN EINEN MOMENT FEST? CORINA LERCHBAUMER

MARIA UND GEORG KARIN SEIDNER

UND DIE LIEBE, DIE SPUCKT DIR INS GESICHT JOHANNA WURZINGER

DER FALSCHE STORCH CHRISTIAN PERNEGG

GEGEN DIE STRÖMUNG, GEGEN DEN WIND WOLFGANG FERCHER

EIN TAG, EIN LEBEN PAUL ZINELL

AM FENSTER KERSTIN BRICHZIN

HART AM WIND SYLVIA ISEPP

MITTERNACHTSFIASKO ROMAN MARKUS

NACHWORT

VORWORT

Letztes Jahr, Ende Oktober, fegte ein Sturm, von der Adria kommend, über die Dolomiten ins Mölltal. Die Fichten an den steilen Hängen hatten keine Chance. Sie konnten sich noch weit zurückbiegen, aber als sie zurückschnalzten, brachen sie. Als es endlich zu regnen und zu stürmen aufhörte, gab es große Flächen des vormals dichten Waldes nicht mehr und die Stämme lagen wie Knochen am Boden.

Nicht nur deshalb wurde „Gegenwind“ zum Thema des 4. Mölltaler Geschichten Festivals. Es war ein Jahr, in dem vielen unsere Verletzlichkeit und die unserer Erde bewusst geworden sind. Von Zeit zu Zeit jedoch bringt Gegenwind auch Inspiration, Lebenslust, Humor und Triumph.

Viel Vergnügen beim Lesen!

HEIMFAHRT

HARALD JÖLLINGER

Es ist halt schon wichtig, dass man sich seinen Grant aufhebt. Wenigstens ein bisschen, aber das muss bleiben, das bisschen. Das bisschen Wiener Grant. Sonst bin ich eh schon fast durchpiefkisiert. Sag Tüte zum Sackerl. Sogar das braune Gebräu, das man hier Kaffee nennt, schmeckt mir schon. Auch den Bahnhof find ich genauso grauslich wie alle Berliner. Wie der Fritz auf Besuch war, vor fünf Monaten oder so, sagt der glatt, wieso, ist doch eh schön geworden, euer neuer Hauptbahnhof. In Wirklichkeit ist er schiach, pseudomodern schiach, der Bahnhof, und es zieht überall. Und darüber grantelt er auch gern, der Berliner. Der kennt zwar das Wort Grant gar nicht, aber er grantelt trotzdem. Aus Gewohnheit. Der richtige Wiener zelebriert ja glatt seinen Grant. Der typische Berliner grantelt cooler. Cooler, aber doch ebenso gewohnheitsmäßig. Fahr ich halt wieder einmal nach Wien. Vier Jahre war ich nicht da. Hat mir auch nichts gefehlt. Ob mir der Fritz fehlen wird? War fast mein letzter Bekannter in Wien. Aber sicher werd ich ein paar alte Freunderl treffen bei seinem Begräbnis. Wird mich noch wer erkennen? Wahrscheinlich schon. Das Problem wird eher sein, ob ich die anderen noch erkennen werd. Haben sich ja sicher auch verändert. Ist immer saupeinlich, wenn man begrüßt wird wie ein alter Freund, und man hat keine Ahnung, wer das sein soll. Bisschen nachdenken während der Fahrt. An die alten Zeiten denken, die alten Freunde, die alten Feinde, die alten Gesichter. Apropos Fahrt, wann fährt der denn endlich los, der Zug? 39 ist es schon und um 37 hätt er abfahren sollen. Scheiß deutsche Pünktlichkeit. Das bisschen Wind kann den doch nicht aufhalten. So ein echter deutscher Zug fährt doch auch bei Gegenwind. Und apropos Gesichter, alt bin ich geworden. Sogar der Bart ist schon grau. Hab mich eh gestern rasiert, aber man sieht ihn schon wieder, den Bart. Bei der Matura damals haben mich alle noch verarscht. Noch immer kein Bart. Hormonmangel. Heut müsst ich mich glatt jeden Tag rasieren. Sollte ich wirklich machen. Schaut blöd aus bei einem Begräbnis mit Dreitagebart. Sagen dann alle, pietätlos. Na super, füttert die alte Frau glatt die Tauben. Echte Bahnhofstauben. Da verweht’s die Brösel über den Bahnsteig. Eh schon so fett, die Viecher. Die Wiener sind ja auch sehr lieb. Also zu den Tieren. Zu den Tauberln und zu den Katzerln und Hunderln. Zu den Menschen weniger. Aber das ist so. Tauben füttern im Bahnhofsbereich. Überall gibt’s die gleichen Trottel. Und die Trottelhaftigkeit ist eine Tugend, die über die ganze Welt gerecht verteilt ist. Es gibt ärmere Länder und reichere, wärmere Länder und kältere, freiere Länder und Länder, die als Ganzes ein Gefängnis sind, außer für den Diktator und seine Familie. Aber die Trottelhaftigkeit der Leute ist sehr gerecht verteilt. Überall so zehn Prozent. Auch quer durch die Gesellschaftsschichten, egal wo man hinkommt, Opernball oder Kaffeekränzchen bei der Pfarrersköchin, jeder Zehnte ist ein Trottel. So wie die Frau, die da die Tauben füttert. Probiert der hinteren Taube mit nur einem Haxen die Stücke zuzuwerfen. Eh sinnlos. Die fetteren zweibeinigen Tauben sind einfach schneller. Pech gehabt. Nur die Trottelhaftigkeit ist gerecht verteilt, das Futter nie. Bei uns Menschen ja auch nicht. Aber mehr Gerechtigkeit wär schon gut, wenigstens ein bisschen mehr. Himmelherrgott, fährt der Zug heut gar nimmer? Jetzt hab ich so schön das Abteil für mich allein. Und wenn der noch lange wartet, kommt sicher irgend so ein Typ angelaufen, setzt sich dann verschwitzt zu mir her und stinkt mich nieder. Ich hab drei Sandwiches eingepackt. Die will ich allein essen. Ich mag das nicht, wenn mir wer beim Essen zuschaut. Die guten Sandwiches aus dem Automaten. Drei Doppelpackungen um je drei Euro. Leicht gekühlt, eins mit Ei, eins mit Thunfisch und eins mit Schinken und Käse. Völlig letschert die Dinger, aber saugut. Gibt’s nicht im Supermarkt. Gibt natürlich schon Sandwiches im Supermarkt, aber nicht so gute. Manchmal fahr ich extra zum Bahnhof, nur um mir ein paar zu holen, ein paar Sandwiches. Und einmal möcht ich an Sandwich denken, ohne dass mir Sandhexe einfällt. Lässt sich aber nicht verhindern. Und der depperte Zug soll endlich fahren. Wenigstens ein bisschen, dass keiner mehr einsteigen kann. Wenn der depperte Wind endlich aufhören … Na typisch, Pfefferoni hab ich auch wieder vergessen. Ich bin so ein Hirsch. Die sind zwar saugut, die Sandhexen, aber zu wenig scharf. Ein, zwei Pfefferoni dazu und ich hab das perfekte Nachtmahl. Na, wird auch ohne Pfefferoni gehen. Hab ich mir extra noch gekauft gestern und jetzt steht das Glas bei mir daheim im Kühlschrank. Dort steht’s gut. Werden aber eh nicht schimplig, die Pfefferoni. Irgendwas vergess ich immer. Kauf ich mir extra die guten, die mittelscharfen. Die ganz scharfen vertrag ich nicht und die milden … Da könnt ich gleich Essiggurkerl nehmen. Der Fritz hat mir einmal so extrascharfe mitgebracht. Aus Indien, glaub ich. Waren aber keine Pfefferoni, sondern Chilischoten. Die waren nicht zum Fressen. Ein futzikleines Stückl davon auf ein Wurstbrot und der ganze Gaumen hat gebrannt. Und dann erst hinterher beim Scheißen … Die waren einfach zu scharf. Die hab ich in so einem Plastiksackerl in den Kühlschrank gelegt und dort sind sie mir glatt verschimmelt. Allen Respekt für den Schimmel, der hat die Pfefferoni … nein, Chilischoten waren das, der hat die Chilischoten ja pur fressen müssen, ohne Wurstbrot. Harter Hund, der Schimmel. Meine Karin hat mich damals ausgelacht. Man gibt halt nichts im Plastiksackerl in den Kühlschrank. Hat immer alles besser gewusst, die Karin. Jetzt fehlt sie mir. Seit anderthalb Jahren schon. Sogar ihre Besserwisserei fehlt mir. Und ihr Grant. Ist fad, so allein vor sich hin zu granteln. Der Fritz wird mir schon auch fehlen, aber weniger. Und am meisten fehlt’s da an der Pünktlichkeit. So ein Schas. Der Zugführer wird doch losfahren können. So ein Heini. Fahr endlich! Fahr endlich! Jetzt fahr endlich! Bin eh allein im Abteil. Kann ich meine Wut herausschreien. Hört ja keiner. „Fahr endlich, du depperter Zug du! Und du narrischer Wind, hör auf zu wehen!“ So, jetzt ist mir leichter. Ich pack’s nicht, jetzt fährt der wirklich. Ja, man muss nur was sagen. Nicht immer nur den Grant runterschlucken, man kann ihn herausschreien. Und das hilft. Also, dann fahr ich ohne Grant heim nach Wien. Wien ohne Grant. Das ist auch nichts. Aber egal, der Tod bleibt ein Wiener. Weil in Wien muss ich ja zum Begräbnis.

Harald Jöllinger

Der Niederösterreicher, der für seine Nonsens- und schwarzhumorige Lyrik bekannt ist, war Absolvent der Leondinger Akademie für Literatur, Teilnehmer der Celler Schule und Gewinner des Irseer Pegasus 2013. 2016 bekam er den Publikumspreis bei der „Nacht der schlechten Texte“ in Villach. 2019 erschien der Erzählband „Marillen und Sauerkraut“ bei Kremayr & Scheriau.

ÜBERWIEGEND HEITER MIT GEGENWIND

BETTINA SCHNEIDER

Dieses Mal wird es klappen. Christian ist sich nahezu sicher, nachdem er das Café betreten hat. Die Lokalität, die sie vorgeschlagen hat, gefällt ihm auf Anhieb. Kein Schickimicki, dafür gemütlich, ein bisschen plüschig: rote Samtsessel, bunt zusammengewürfelte Holztische, Parkettfußboden und bis zum Boden reichende Spiegel an den goldpatinierten Wänden. In der Vitrine am Tresen reiht sich eine Torte an die andere. Jede ist eine Augenweide und schmeckt vermutlich köstlich.

Er wählt einen Tisch, von dem er den Eingang im Blick hat und die blühenden Japanischen Kirschbäume vor der Tür – ein Rausch rosafarbener Blüten.

„Kann ich Ihnen etwas bringen?“ Die Kellnerin in ihrem luftigen, gelben Kleid sieht wie ein überdimensionierter Zitronenfalter aus und schafft es, Frühlingsheiterkeit auch in den Räumen des Cafés zu versprühen.

Christian schüttelt den Kopf, erklärt, dass er auf jemanden warte und eine halbe Stunde zu früh sei. Was eigentlich gelogen ist, vierzig Minuten ist er zu früh. Die Aufregung hat ihn hierhergetrieben und seine Vorfreude, die er genüsslich auskosten möchte.

Mit einem wissenden Lächeln nickt die Kellnerin und lässt ihn allein.

Die Spiegel, die ihn beim Betreten leicht irritiert haben, bieten ungeahnte Einblicke in das Geschehen um ihn herum, stellt er jetzt fest: In den Spiegeln sieht Christian, dass die mehrfach gepiercte Rothaarige, die zwei Tische weiter sitzt und mit ihren Augen am Smartphone klebt, sich heimatfilmtaugliche Bilder aus den Bergen anschaut – M-Ö-L-L-T-A-L, entziffert er die Überschrift. Der ältere Herr am Ecktisch liest nicht in dem aufgeschlagenen Buch, sondern einen in schönster Handschrift verfassten Brief, der auf den Buchseiten liegt. Darüber hinaus halten sich zwei Paare im Café auf: zwei Rentner, die ohne ein Wort zu wechseln Kuchen verzehren, und ein Pärchen in Christians Alter, attraktiv und in ein Gespräch versunken, als existierte die Welt nicht.

Die erste Verabredung – lange haben sie gewartet. Langsam und bedächtig, darin sind sie sich einig gewesen, haben sie es im Vorfeld angehen lassen. Unzählige E-Mails haben sie getauscht; stundenlang, ohne zu merken, wie die Zeit verfliegt, hat er am Computer gesessen, um seine Nachrichten zu tippen und ihre zu lesen. Von Beginn an hat ihm gefallen, was sie geschrieben hat, und wie sie schreibt. Ihre Nachrichten schmücken zahlreiche Emojis und er hat sich dabei ertappt, dass er diese plötzlich auch – entgegen seiner Gewohnheit – an das Ende seiner Nachrichten setzt. Seitdem WhatsApp ins Spiel gekommen ist, wünschen sie sich „Gute Nacht“ und „Guten Morgen“. Zwischendurch, wenn einer an den anderen denkt, schicken sie sich kurze Mitteilungen. Ihre Smartphones laufen heiß, denn sie denken häufig aneinander. Seit einer Woche telefonieren sie, sprühende Wortwechsel bereichern das digitale Pingpong. Christian grinst wie ein Honigkuchenpferd, als er die Phase des Kennenlernens gedanklich noch einmal durchlebt.

Von Anfang an hat diese Beziehung – Beziehung?, also gut, Bekanntschaft – ihm einen wunderbaren Aufwind gegeben. Julia – auch ihr Name gefällt ihm.

Julia besitzt eine authentische, frische Art und Fröhlichkeit. Wenn er mit ihr spricht, fühlt er Wärme und Nähe, eine vertraute Basis. Sie haben gemeinsame Hobbys sportlicher Natur, teilen Vorlieben (italienisches Essen und Kinobesuche) und – ganz wichtig – denselben Humor. Sie haben schon viel miteinander gelacht. Seit er Julia kennt, steht seine Lebensampel auf Grün, er fühlt sich lebendig und kraftvoll.

Es muss einfach passen.

Längst bereut Christian, dass er sich auf seinem Profil ein paar Monate jünger geschummelt hat. 39 hört sich anders an als vierzig. Seine Schwester, die ihn beim Onlinedating beraten hat, meint, man kaufe auch lieber etwas für 9,99 statt zehn Euro und außerdem sei bei diesem virtuellen Dating immer ein bisschen Mogelpackung dabei. Bestimmt auch bei ihr.

Christian legt den kleinen Strauß kunterbunter Wildtulpen, den er später überreichen will, auf den Tisch. Ewig hat er im Blumenladen gestanden, sich den Kopf zermartert, welche Blumen, welche Farben die richtigen für sie sein könnten.

Noch eine Viertelstunde.

Langsam wird es ernst. Bestimmt ist sie pünktlich. Unzählige Male hat er sich den Augenblick vorgestellt, dieses eine erste Mal, wenn er sie sieht, wenn sie zur Tür hereinspaziert, nein, -schwebt, denn sie ist Tänzerin. Genau genommen, Tänzerin und Tanzlehrerin für Modern Dance. Christian hat sich nicht getraut zu fragen, was das ist, es stattdessen im Nachhinein gegoogelt.

Ein Detail wissen sie beide nicht voneinander: wie sie aussehen (ihre Profilbilder sind nur schemenhaft). Ob ihm das wichtig sei, hat sie im Vorfeld gefragt, sie sehe ganz normal aus. Christian, der nicht oberflächlich klingen wollte, hat etwas von Nebensächlichkeit des Aussehens gestottert und laut überlegt, wie er eigentlich aussieht.

Julia hat gelacht: „Du siehst bestimmt gut und jünger als 39 aus!“

Sieht er gut und jünger aus? Seine Kumpels braucht er nicht zu fragen, er wäre die Lachnummer. Blendend, laut seiner älteren Schwester, aber das ist nicht objektiv. Der Kommentar seiner fünfzehnjährigen, oberkritischen Nichte, die das geschwisterliche Gespräch zufällig mitbekommen hat, hat anders geklungen: „Wenn du deine Haare färben würdest, würdest du halbwegs passabel aussehen, vor allem jünger.“ Sie spielte auf seine Schläfen an, dort sprießen zwischen den braunen Haaren auch vereinzelt ein paar graue. „Und megaalt wirkst du, wenn du fragst, was Wörter wie dissen oder spoilern heißen.“

Er hofft, er kann eine 35-jährige Tänzerin mit seinem Aussehen überzeugen. Seit ein paar Wochen joggt er länger und häufiger als in den letzten Monaten, hat im Fitnessstudio wieder Hanteln gestemmt.

Zehn Minuten noch.

Vor den bis zum Boden reichenden Fenstern des Cafés flanieren wenige Passanten. Jedes Mal, wenn sich die Eingangstür öffnet, schnellt sein Herzschlag katapultartig in die Höhe. Immer sind es Kinder, die nach Schulschluss süße Gummischlangen am Tresen verlangen.

Und wenn sie nicht kommt? Gestern hat sie am Telefon etwas besorgt geklungen, dass das Bild ihrer Vorstellung nicht der Realität standhalten könne.

Fünf Minuten vor drei betritt eine Frau in Jeans und Bluse das Café. Sie wirkt gehetzt. Ist sie das? Die Frau trägt eine Melange aus blassen Grau-, Blau- und Rosatönen, mit der sie nicht auffallen will, wirkt älter als 35. Aber wer weiß das schon? Sie holt einen vorbestellten Kuchen ab, eilt wieder auf die Straße.

Aufatmend lehnt er sich zurück.

Sein Handy vibriert, es ist eine WhatsApp-Nachricht seiner Schwester, die ihm Erfolg wünscht. Zeitgleich entdeckt er eine andere Mitteilung von Julia, vor einer halben Stunde geschrieben. Sein Herzschlag beschleunigt sich.

„Bis gleich – ich freue mich auf DICH!“ mit einem Kuss-Smiley und einem roten Herz.

Sie wird kommen.

Wenige Sekunden ist er abgelenkt gewesen. Sofort grasen seine Augen den Raum auf Veränderungen ab. Nein, er hat nichts versäumt. Inzwischen schnürt die Aufregung ihm beinahe die Kehle zu.

Dieses Mal hat es ihn wirklich erwischt.

Ein Seitenblick auf die Gepiercte zeigt ihm: Sie beobachtet ihn. Wie lange schon? Warum?

Ruhig Blut, ermahnt er sich, und: einatmen, ausatmen.

Eine Minute vor drei schiebt sich eine Frau in einem weiten Blümchenkleid, das ihn an die Bettwäsche seiner Großmutter erinnert, durch die Tür.

Die Gute trägt bestimmt zwanzig Kilo Übergewicht mit sich rum, geht ihm durch den Kopf, während sie durch das Café watschelt. Mindestens fünfundzwanzig Kilo, japst sein Gehirn, als sie mit einem Grinsen vor ihm stehenbleibt.

„Du bist bestimmt Christian!“

Mit einem lauten Knall zerplatzt die in den schönsten Farben schillernde Seifenblase Julia, ehe der nächste Gedanke wie ein alles vernichtender Blitz einschlägt: Er hat sich getäuscht. Gewaltig getäuscht.

Als entleerte sich ein Kübel Eiswasser über ihn, fühlt er sich. Schlagartig ernüchtert bis auf die Knochen. Sich an seine Manieren erinnernd, schafft er es irgendwie aufzustehen.

Freudig umarmt sie ihn, da er nichts tut. Weich fühlt sie sich an, merkt er, sehr weich, wie ein Daunenbett.

Dreißig Kilo wohl eher.

„Ich bin Julia“, sagt sie und nimmt ihm das letzte Quäntchen Hoffnung, das sich in einer Zelle im hintersten Winkel seines Gehirns versteckt hat. „Bist du überrascht?“

„Nein. Na ja“, beginnt er zu stammeln und dann weiß er nicht weiter.

„Du siehst besser aus, als ich erwartet habe!“

Christian merkt, wie ihm das Blut in die Wangen schießt. Auch wenn er sie bisher als angenehm geradlinig empfunden hat, heute klingt sie sehr direkt.

„Möchtest du etwas trinken?“, fragt er, nachdem sie sich mit einem Plumps in den Sessel hat fallen lassen und nun breitbeinig, wie ein Mann, dasitzt. Nach wie vor um Fassung ringend sinkt auch er in die Polster.

„Später.“

Später. Sie erwartet eine längere Verabredung, wie auch er es geplant hat.

Ursprünglich.

„Die Blumen sind bestimmt für mich! Du bist altmodisch süß wie ein Usambaraveilchen!“ Sie greift nach dem Strauß und steckt ihre Nase kurz hinein.

Altmodisch? Christian schluckt trocken.

Mit einem breiten Lächeln schaut sie ihm für eine Weile in die Augen, bis er schließlich den Blick abwendet. Er muss seine Gedanken, seine Gefühle, die wie im Schleudergang einer Waschmaschine wirbeln, in den Griff bekommen. Er muss der Nähe, die er bis vor etwa fünf Minuten zu ihr gefühlt hat, eine Chance geben. Viele Gemeinsamkeiten, Vorlieben haben sie, ruft er sich ins Gedächtnis, obendrein Charaktereigenschaften, die ihm gefallen. Das ist es, was zählt, nicht die paar Kilos zu viel auf den Rippen. Ihr Gesicht ist hübsch, zweifelsohne. Er könnte sich arrangieren. Bestimmt.

„Manch einer ist erstaunt, dass ich Tänzerin bin!“

Er nickt geistesabwesend. Fotos, die er beim Googeln von Modern Dance gesehen hat, tun sich wie Schnappschüsse vor seinem geistigen Auge auf: Frauen in akrobatischen Posen, in hautengen Anzügen. Er stellt sich Julia darin vor, kein schönes Bild, das sein Gehirn da fabriziert. Haben sie sich nicht ausgiebig über die Halbmarathon-Strecke von Berlin unterhalten, die sie beide – ohne voneinander zu wissen – im letzten Jahr gelaufen sind? Welches Bild hat ihm seine Fantasie in das Gehirn gepinselt, dass er jetzt so enttäuscht sein kann?

Julia kramt in ihrer Handtasche, zückt ein Taschentuch, lässt es ungeschickt zu Boden fallen.

Wie ein konditionierter Hund bückt er sich danach.

„Hm, ganz old school“, sagt Julia, „ich glaube, ich kann dich erlösen. Test bestanden! Julia hat recht: Du bist ein anständiger Kerl!“

Christian überkommt das Gefühl, dass die Situation ihn nun eindeutig überfordert. Sein Gesichtsausdruck muss ein einziges Fragezeichen sein.

„Ich bin nicht Julia, sondern Marlene, ihre Freundin. Julia kommt gleich rüber.“

„Sie ist auch hier?“, presst er hervor.

„Seit über einer Stunde. Sie hat dich beobachtet, die Spiegel eignen sich hervorragend dafür. Bei Internet-Bekanntschaften ist sie extrem vorsichtig, deswegen ist auch mein Bruder dabei … Ich hatte die geniale Idee mit dem Fatsuit, um dich zu testen.“ Marlene klopft sich auf ihren fülligen Bauch. „Der hat bisher jeden sofort abgeschreckt. Aber du meinst es wirklich ernst mit ihr!“

Christian nickt wie ferngesteuert, während sich sein Gedankenkarussell erneut in Bewegung setzt.

Wer ist Julia?

Als sie sich erhebt und auf ihn zuschwebt, spürt er wieder die vertraute Wärme. Sein Herz macht einen Glückssprung.

Bettina Schneider

Die gebürtige Berlinerin, verheiratet, zwei Kinder, lebt nach dem Studium der Betriebswirtschaftslehre ebendort. Nach Jahren in der Privatwirtschaft bleibt ihr heute genügend Freiraum für kreative Tätigkeiten. Kurzprosa schreibt sie mit Begeisterung, wovon einiges schon den Weg in die Öffentlichkeit gefunden hat. Die Publikumsjury prämierte ihre Geschichte mit dem 3. Platz.

WER DEN HIMMEL VERDIENT

ROBERT KLEINDIENST

Als Matteo an einem schwülen Julimorgen mit seinem Motorboot aufs Mittelmeer hinausfuhr, konnte er nicht ahnen, dass bald etwas so Unheilvolles aufziehen würde, dass er sich wünschte, er wäre nie von zu Hause aufgebrochen. Heiß brannte die Sonne vom Himmel herab, in dem sich, der Wetterprognose entsprechend, nur vereinzelt Wolken zeigten. Voller Ungeduld und Vorfreude dachte er an seinen Bungalow auf der Insel, die Hängematte zwischen schattenspendenden Pinien, in der er abschalten wollte nach einer Woche voll Arbeit und Ärger.

Die Küste lag bereits in einiger Entfernung, zeichnete sich gleich dem Gemälde eines alten Meisters am dunstigen Horizont ab, als der Motor zu stottern begann. Zunehmend langsamer trieb das Boot über die Wellen, bis nach einem letzten Knattern der Antrieb gänzlich abstarb. Matteo stieß einen dreifachen Fluch aus. Er nahm einen Schluck Wasser, versuchte, den Motor erneut zu starten, vergeblich. Verärgert blickte er zum Ufer zurück, dorthin, wo er kurz zuvor guter Dinge gestartet war, sah auf sein Handy, das keinen Empfang anzeigte, verfluchte den Tag, an dem er sein Funkgerät einem Freund zur Reparatur gegeben hatte, das sich noch immer in der Werkstatt befand.

Stunde um Stunde wurde die Hitze unerträglicher. Am frühen Nachmittag tauchte dann endlich ein Boot am Horizont auf. Wie wild geworden winkte Matteo seinen vermeintlichen Rettern zu, schrie um sein Leben, und während sich das Boot langsam näherte, musste er ernüchtert feststellen, dass es Menschen dunkler Hautfarbe waren, eng wie Sardinen in einer Blechbüchse zusammengepfercht.

„Salve!“, rief er den Fremden zu, deren Boot bald neben seinem trieb. „Ihr kommt zur rechten Zeit, der Motor hat seinen Geist aufgegeben.“

Da keiner antwortete, versuchte er es in gebrochenem Englisch. Erneut blieb es still, starrten ihn die Fremden wie einen Wassergeist an.

„Seenot!“, rief Matteo, nun schon etwas ungehalten. „SOS. Helfen!“ Da sich noch immer niemand rührte, zeigte er auf sein Boot und führte seine Hand quer über den Hals. Jetzt verstummte auch der Motor der anderen.

„Sie wollen wirklich auf ein Schiff voller Sklaven, Nichtstuer, Faulpelze und Verbrecher?“, rief ihm ein großgewachsener Mann nach einer kurzen Pause zu.

„Auf ein Schiff, voll mit Menschenfleisch?“, fragte ein anderer weiter hinten.

Matteo rollte seine Augen, fuhr sich über seinen Bart, so wie er es immer tat, wenn er wütend war.

„Gemäß Seerechtsübereinkommen ist es eure Pflicht, einem Schiffbrüchigen zu helfen“, schrie er so laut, dass sich seine Stimme überschlug.

„Sie irren“, sagte der Großgewachsene. „Die Pflicht zur Rettung obliegt dem Kapitän des Schiffes. Wir aber haben keinen Kapitän an Bord. Man hat uns ausgesetzt, seit Tagen versuchen wir, Land zu erreichen. So leid es uns tut, wir können wirklich niemanden mehr bei uns aufnehmen.“

„Keinen Einzigen mehr“, pflichtete ihm eine junge Frau bei, die ein kleines Kind im Arm trug.

„Nein! Völlig unmöglich! Das Boot ist voll!“, riefen mehrere durcheinander.

„Und jetzt?“, fragte Matteo. „Soll ich hier meinen Tod finden? Verhungern? Verdursten? Fischfutter werden?“

„Sehen Sie“, sagte ein greiser Mann, der ganz hinten im Boot am Boden kauerte und seine Augen beim Sprechen geschlossen hielt, „wir sind unter uns und möchten gerne unter uns bleiben. Wir sind ein gewachsenes Gefüge, eine Einheit. Jemand Fremder, wie Sie doch einer sind, würde nur Unruhe stiften. Würden Sie auf unser Boot kommen, könnte die Stimmung schnell kippen. Chaotische Zustände würden Oberwasser erlangen.“

„Es wäre unser Untergang!“, rief die junge Frau dazwischen, und fast schien es, als würde auch ihr Kind bestätigend nicken.

„Wegen eines zusätzlichen Menschen auf eurem Boot redet ihr von Untergang“, sagte Matteo verächtlich, begreifend, dass er gegen eine Mauer redete.

„Jemand von uns müsste Ihren Platz einnehmen“, erwiderte der Greise sanft. „Doch so, wie es aussieht, wird keiner freiwillig mit Ihnen tauschen. Ganz sicher gibt es auch für Sie Rettung. Werfen Sie nur nicht Ihren Glauben über Bord.“ Er machte eine längere Pause, atmete tief durch. „Nun müssen Sie uns bitte entschuldigen. Wir haben nichts mehr zu essen, nichts zu trinken. Die Zeit drängt, denn es steht uns noch ein weiter Weg bevor, bis wir an Land gehen können.“

„In Wahrheit seid es doch ihr, die gerettet werden wollt!“, schrie Matteo mit hochrotem Gesicht. „Ihr seid jene, die Hilfe benötigen. Abschaum, ihr seid nichts anderes als unser Untergang! Lasst mich nur auf dem Meer herumtreiben bis ans Ende meiner Tage und rettet eure eigene verdammte Haut. Haut endlich ab, ihr Mörder. Mörder!“

Einige Männer zuckten resigniert mit ihren Schultern. Der Motor wurde angeworfen, das Boot nahm wieder Kurs Richtung Küste. Fassungslos blickte Matteo den Menschen nach, die kleiner und kleiner wurden, und während er an die Worte des alten Mannes dachte, schien ihm, als winkte er ihm zu.

Robert Kleindienst

Der Salzburger Schriftsteller ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung, der IG Autorinnen Autoren und der Salzburger Autorengruppe. 2007 war er erster Stadtschreiber von Kitzbühel. Prämiert mit dem Georg-Trakl-Förderungspreis für Lyrik und dem Rauriser Förderungspreis, schreibt Kleindienst vorwiegend Prosa und Lyrik. Zuletzt hat er seinen Roman „Zeit der Häutung“ (Edition Laurin) über die Kinderlager der Ustascha veröffentlicht.

REBELLION

CHRISTINA WERMESCHER

Mit sauertöpfischem Ausdruck starrte mich das Gesicht meiner Schwiegermutter Gerda von der Leinwand aus an. Der Künstler schien sich alle Mühe gegeben zu haben, ihr garstiges Wesen in Öl einzufangen. Und er schien sein Handwerk zu verstehen, es war ihm außerordentlich gut gelungen. Kaum sah man in die streng blickenden Augen des Porträts, war man versucht zusammenzuzucken, um sich mit eingezogenem Kopf und schlechtem Gewissen zu überlegen, was man womöglich alles falsch gemacht hatte. Dass sie uns diese Scheußlichkeit nun zu Weihnachten schenkte, konnte ich im ersten Moment nur schwer deuten. Mein Mann in seinem einfältigen Gemüt nahm das Geschenk in ehrlicher Freude entgegen, während ich fieberhaft überlegte, wo wir es aufhängen konnten, ohne dass ich es jemals wieder würde ansehen müssen. Doch so verzweifelt meine Gedanken auch durch die entlegensten Ecken unseres Hauses schlichen, mir wollte einfach kein Platz einfallen, der dieses Gemälde verdient hatte.