John Lennon

Cover

Impressum

rowohlts monographien

begründet von Kurt Kusenberg

herausgegeben von Uwe Naumann

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2021

Copyright © 1987 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Für das E-Book wurde die Bibliographie aktualisiert, Stand: April 2021

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Redaktionsassistenz Katrin Finkemeier

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Covergestaltung any.way, Hamburg

Coverabbildung ullstein bild – AP (John Lennon bei einem Benefiz-Konzert in New York, 1972)

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ISBN 978-3-644-01017-8

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-01017-8

Anmerkungen

The Playboy Interviews with John Lennon und Yoko Ono (1981), S. 136

Ebd.

Ebd., S. 136f.

Lennon Remembers (1971), S. 164

Alle Lieder von Lennon und McCartney, die von den Beatles aufgenommen wurden, werden als gemeinschaftliche «Lennon-McCartney»-Kompositionen angegeben. Tatsächlich lässt sich bei einem Großteil dieser Lieder feststellen, dass sie entweder ganz oder überwiegend von einem der beiden allein geschrieben wurden. Alle hier zitierten Beatles-Songs sind in den Büchern «The Beatles Songbook I» und «The Beatles Songbook II» erschienen – deutsche Ausgaben mit Übertragungen erschienen bei dtv 1971 bzw. 1981. Ich habe mich bei der Übersetzung auf diese Übertragungen (von Peter Zentner und Lutz-W. Wolff) gestützt, in der Regel jedoch eigene Formulierungen gewählt, die wortgetreuer, wenn auch in der Metrik holpriger sind. Die Songs, die John Lennon ohne die Beatles aufgenommen hat, sind bis heute (1985) nicht gesammelt erschienen. Hier sind die Quellen die Plattenhüllen (s. Discographie).

The Playboy Interviews, S. 133f.

John Lennon In His Own Words (1981), S. 9f.

Hunter Davies: The Beatles (1968), S. 10

Ebd., S. 11

The Playboy Interviews, S. 136

Davies, a.a.O., S. 51f.

J.L. In His Own Words, S. 17

The Playboy Interviews, S. 71

J.L. In His Own Words, S. 97

Lennon Remembers, S. 100f.

Ebd., S. 184f.

J.L. In His Own Words, S. 19

Ebd., S. 15f.

Ebd.

Lennon Remembers, S. 160

Ebd., S. 18

J.L. In His Own Words, S. 18; The Playboy Interviews, S. 117

The Playboy Interviews, S. 116f.

S. Anm. 5

Lennon Remembers, S. 32f.

J.L. In His Own Words, S. 19; Davies, a.a.O., S. 51

Davies, a.a.O., S. 51

Ebd., S. 52

Ebd., S. 66

Lennon Remembers, S. 34

Davies, a.a.O., S. 82f., 99

Ebd., S. 82

Lennon Remembers, S. 34

Ebd., S. 99f.

Ebd., S. 112

Mersey Beat, 6. Juli 1961

Mersey Beat, 31. August 1961

Lennon Remembers, S. 45

The Playboy Interviews, S. 144

Davies, a.a.O., S. 185

Lennon Remembers, S. 87

Barry Miles und Pearce Marchbank: The Beatles In Their Own Words. London 1978, S. 47

J.L. In His Own Words, S. 36

Ebd., S. 39

Michael Braun: Love Me Do (1964), S. 25

Davies, a.a.O., S. 159

The Playboy Interviews, S. 145

J.L. In His Own Words, S. 53

Lennon Remembers, S. 12f.

Ebd., S. 82

Ebd., S. 84f., S. 87f.

Ebd., S. 18f.

Interview mit M. Cleave, Evening Standard (London), 4. März 1966

Zitiert nach Nicholas Schaffner: The Beatles Forever (1977), S. 82

J.L. In His Own Words, S. 59

Davies, a.a.O., S. 219/J.L. In His Own Words, S. 55

Lennon Remembers, S. 46

George Melly: Revolt Into Style (1969)

The Playboy Interviews, S. 138

John Lennon In His Own Write (1964), S. 11

J.L. In His Own Words, S. 48

John Lennon In His Own Write, S. 19/John Lennon in seiner eigenen Schreibe, S. 17. Ich habe hier und in den folgenden Ausschnitten die Übertragung Helmut Kossodos, auf die ich mich gestützt habe, etwas verändert.

John Lennon In His Own Write, S. 72/John Lennon in seiner eigenen Schreibe, S. 70

John Lennon In His Own Write, S. 15/John Lennon in seiner eigenen Schreibe, S. 13

J.L. In His Own Words, S. 48

John Lennon in seiner eigenen Schreibe, S. 120f.

John Lennon In His Own Write, S. 64/John Lennon in seiner eigenen Schreibe, S. 62

The Playboy Interviews, S. 129

Lennon Remembers, S. 126

Lennon Remembers, S. 29

The Playboy Interviews, S. 149

Lennon Remembers, S. 126, S. 188

Anthony Scaduto: Bob Dylan, An Intimate Biography, New York 1973, S. 203f.

Lennon Remembers, S. 188

The Playboy Interviews, S. 165

Bob Dylan: Texte und Zeichnungen. Deutsch von Carl Weissner. Frankfurt a.M. 1975, S. 412f.

The Playboy Interviews, S. 149

Ebd., S. 156

Ebd., S. 150

David A. Noebel: The Marxist Minstrels. A Handbook on Communist Subversion of Music, Tulsa 1974, S. 96

S. Anm. 53

Jon Wiener: Come Together (1984), S. 15f.

New York Times, 23. August 1966

J.L. In His Own Words, S. 59

The Playboy Interviews, S. 152f.

Ebd., S. 93

Lennon Remembers, S. 76

Ebd., S. 77f.

The Playboy Interviews, S. 132

Lennon Remembers, S. 78

J.L. In His Own Words, S. 63

The Playboy Interviews, S. 106f.

Lennon Remembers, S. 51f.

Ebd.

William Shakespeare: Der Sturm, übersetzt von August Wilhelm von Schlegel, Stuttgart (Reclam) 1982, S. 18

Yoko Ono: Yoko Ononism, International Times (London), 23. Juli 1967

Lennon Remembers, S. 173

The Playboy Interviews, S. 86f.

Ebd., S. 87

Lennon Remembers, S. 174

The Playboy Interviews, S. 87f.

J.L. In His Own Words, S. 74

The Playboy Interviews, S. 85

Ebd., S. 130

The Rolling Stones Songbook. Frankfurt a.M. 1977, S. 194f.

John Muldoon: Subculture. The Street Fighting Pop Group, Black Dwarf (London), 15. Oktober 1968

Black Dwarf, 27. Oktober 1968

Black Dwarf, 10. Januar 1969

Ebd.

Lennon Remembers, S. 155

Black Dwarf, 10. Januar 1969

Bill Harry: The Book of Lennon (1984), S. 86f.

The Playboy Interviews, S. 91

Interview mit Amos Vogel, Village Voice (New York), 24. Juni 1971

Lennon über Lennon – Leben in Amerika (1981), S. 56

Interview mit David Wigg: «The Beatles Tapes», Schallplatte (Polydor) – nicht in Deutschland lieferbar

Zitiert nach Wiener, a.a.O., S. 106

Ebd., S. 107f.

Ebd., S. 109

Lennon Remembers, S. 122

The Playboy Interviews, S. 103

Lennon Remembers, S. 29

Lennon über Lennon, a.a.O., S. 42, S. 99f.

Lennon Remembers, S. 11f., S. 31

The Playboy Interviews, S. 182

Red Mole (London), 22. März 1971

Walter Benjamin: Versuche über Brecht, Frankfurt a.M. 1966, S. 122

The Playboy Interviews, S. 178

Lennon Remembers, S. 122

New York Times, 24. September 1981

Richard M. Nixon: The Memoirs of Richard Nixon, Bd. 1, New York 1976, S. 562

Zitiert nach Lawrence Winter: Cold War America. From Hiroshima to Watergate. New York 1878, S. 356

Zitiert nach Frank Donner: The Age of Surveillance. New York 1980, S. 233

New York Times, 15. September 1970

Der Historiker Jon Wiener hat erreicht, dass ein Großteil der Dokumente des Weißen Hauses, des FBI und der INS über den «Fall Lennon» öffentlich zugänglich gemacht wurden; ein Teil der Unterlagen wird allerdings «aus Gründen der nationalen Sicherheit» (möglicherweise wegen der Verwicklung des CIA in den Fall) noch geheimgehalten (Stand 1985). Wieners Buch «Come Together» zitiert ausführlich aus den zugänglich gemachten Dokumenten, die die systematische Natur der Verfolgung John Lennons durch die Nixon-Administration belegen.

Interview mit John Hamill, 5. Juni 1975, abgedruckt in: Die Ballade von John und Yoko. München 1984, S. 220

Zitiert nach Jerry Rubin: Interview mit Jon Wiener, in: Wiener, a.a.O., S. 253

Zitiert nach Schaffner, a.a.O., S. 165

The Playboy Interviews, a.a.O., S. 19

Harry, a.a.O., S. 117

Wiener, a.a.O., S. 268

The Playboy Interviews, S. 183

Live-Mitschnitt des Konzerts, im Besitz des Autors

Die Ballade von John und Yoko, S. 207

Lennon über Lennon, S. 84, a.a.O. (Übersetzung nach einem Vergleich mit dem Original leicht verändert)

The Playboy Interviews, S. 59

Ebd., S. 66

Lennon über Lennon, a.a.O., S. 42

The Playboy Interviews, S. 58f.

Die Ballade von John und Yoko, S. 221

Lawrence Shames: John Lennon, Where Are You? In: Esquire (New York), November 1980

Liverpool

Die folgende Beschreibung der Stadt Liverpool muss man als Zeitdokument lesen. Als diese Monographie geschrieben wurde, schien Liverpool infolge der Deindustrialisierung tatsächlich dem Untergang gewidmet. Die Stadt war zahlungsunfähig und hoffnungslos. Sie hat sich aber – und darauf deutet der letzte Abschnitt hin – als Stadt des Tourismus und des Entertainments neu erfunden. Wer heute vom «John Lennon International Airport» in das zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärte und fein herausgeputzte alte Hafengebiet mit dem riesigen «Beatles Story»-Museum fährt, erlebt nicht mehr jene Stadt voller Halbwahnsinnigen, die der Autor Mitte der 1980er Jahre vorfand. Auch ist Liverpool nicht mehr vor allem wegen der Beatles berühmt, sondern, bei Jüngeren zumal, wegen des Fußballs. Wer allerdings das Glück hat, ein Heimspiel des FC Liverpool zu erleben, wird dort die Hymne «You’ll Never Walk Alone» hören, gegrölt von den Fans in der Fassung von «Gerry and the Pacemakers», einst Freunde und Rivalen der Beatles und mit ihnen Vertreter des «Liverpool Sounds», der Mitte der 1960er Jahre zuerst Großbritannien, dann die Welt eroberte.

Liverpool ist heute eine sterbende Stadt, ja eigentlich mehr ein Museum der Industriekultur als eine Stadt. Großbritanniens wichtigster Atlantikhafen wurde reich durch den Handel mit Sklaven, Zucker und Baumwolle. Von Liverpool aus segelten die großen weißen Ozeanriesen der Cunard-Linie in alle Welt; nach Liverpool kämpften sich die Konvois durch, die Hitlers U-Booten und dem allnächtlichen Bombenterror trotzten, um die Lebensmittel über den Atlantik zu schaffen, die es Britannien ermöglichten, in dem verzweifelten Jahr 1940 dem triumphierenden deutschen Faschismus die Stirn zu bieten. Doch was Hitlers Bomben nicht schafften, das besorgte der Prozess der Deindustrialisierung Englands: die Docks liegen verwaist da, außer den Mersey-Fähren legt kein Schiff mehr am Pier Head an, und aus dieser industriellen Ruinenlandschaft wird nun – symbolträchtig genug – mit Regierungsgeldern eine riesige Parkanlage geschaffen, aus der die Wahrzeichen Liverpools, das Liver-Gebäude mit seinen Zwillingskuppeln gekrönt von den berühmten Liver-Vögeln, das Cunard-Büro und das Gebäude der Hafenverwaltung, nutzlos und verloren herausragen.

Die Liverpooler sind ein buntes Gemisch aus Engländern, Walisern, eingewanderten Iren (darunter die Familien Lennon und McCartney), Schwarzen, Chinesen, Juden und dem exotischen Treibgut des Empires. Sie sind bekannt für ihre politische Radikalität und ihren eigentümlichen Humor, versinken aber heute angesichts einer konstanten Arbeitslosenquote von fast einem Fünftel der Arbeitsfähigen in einen Zustand weinerlicher Apathie, die gelegentlich in die blinde Gewalt von Rassenkrawallen umschlägt. Heroin ist hier so billig zu haben wie nirgends sonst in England und fast so allgegenwärtig wie der Alkohol. Man hat zuweilen das Gefühl, eine Stadt von Selbstmördern vor sich zu haben.

Und während die Stadt ihrem Tod entgegendämmert, zieht sie immer mehr Touristen an: beflissene Kunstreisende, die die dunklen Paläste der Industriekultur – Fabriken, Lagerhäuser, Verwaltungsgebäude – mit romantischer Verklärung bestaunen – und eine neue Art Pilger, die nach Liverpool wallfahren, weil hier die Beatles geboren wurden, «Vier Jungs, die die Welt erschütterten», wie die Gedenktafel stolz verkündet, die in der Nähe des «Cavern Club» angebracht worden ist, wo die «Jungs» einst spielten. Der «Cavern Club» ist verschwunden – zubetoniert unter einem Parkplatz – wie so vieles von dem Liverpool, das die Beatles einst kannten, und wie die Beatles selber. Aber den Wallfahrern bietet der Tourism Development Officer «Mersey Beatle Weekends», Führungen zu den heiligen Stätten – Penny Lane, Strawberry Fields, den nach den vier Beatles benannten Straßen in einer öden Vorstadtsiedlung, «Mendips», dem gutbürgerlichen Häuschen, in dem John Lennons Tante Mimi ihn aufzog usw. – und ein Beatles-Museum an. Wenn die Beatles aus der Jugendrevolte einen Stil kreierten, so hat eine Mischung aus Geschäftssinn, politischem Kalkül und der Nostalgie einer Generation, die ihrer Jugend und ihrer Unschuld nachtrauert, um die Beatles selbst einen stil- und geschmacklosen Totenkult hervorgebracht und aus dem toten Beatle, der am reinsten und konsequentesten den Gestus der Revolte verkörperte und zu leben versuchte, einen Heiligen gemacht.

John Lennon wurde in der Nacht des 9. Oktober 1940 während eines deutschen Luftangriffs geboren. Kurz nach der Entbindung explodierte eine Luftmine gleich neben dem Krankenhaus, und das Baby musste den Rest der Nacht zum Schutz vor herabfallendem Deckenputz unter dem Bett seiner Mutter Julia verbringen. Das mag erklären, warum die sonst völlig unpolitische Julia in einem Anfall von Patriotismus beschloss, ihren Sohn mit zweitem Namen Winston, nach Großbritanniens Retter Winston Churchill, zu nennen.

Julia war eine von fünf Töchtern eines Offiziers auf einem Bergungsschiff. Es gab fünf Frauen, die meine Familie waren. Fünf starke, intelligente, schöne Frauen, fünf Schwestern. Eine war eben meine Mutter. Meine Mutter wurde einfach mit dem Leben nicht fertig. Sie war die jüngste. Und sie hatte einen Mann, der zur See abhaute, und es war Krieg, und schließlich wohnte ich bei ihrer älteren Schwester.[1]

Julia Stanley hatte Freddie Lennon über ihre gemeinsame Kinoleidenschaft kennengelernt. Freddie war Schiffskellner auf der Atlantikroute und sang und spielte oft bei Bordkonzerten. Von ihm lernte Julia Banjo zu spielen. Kurz nach Johns Geburt verschwand Freddie. Nur zu gern gab Julia dem Drängen ihrer Schwester Mimi nach, die John ein «ordentliches Zuhause» geben wollte. Mimi hatte einen bescheidenen, sanften Mann namens George Smith geheiratet, der in dem Vorort Woolton unweit von Penny Lane eine kleine Molkerei betrieb. Für die kinderlose Frau wurde John der Mittelpunkt ihres Lebens. Julia und die anderen Schwestern kamen oft zu Besuch. Dieses Bild von mir als Waise ist Müll, weil ich von meinem Onkel und Tantchen gut behütet wurde, und sie haben sehr gut für mich gesorgt … Also, diese Frauen waren phantastisch … Sie dominierten die Situation in der ganzen Familie. Die Männer waren schlichtweg unsichtbar in der Familie. Ich war immer mit den Frauen zusammen. Ich hörte sie reden, über die Männer und über das Leben, und sie wussten immer genau, was ablief. Die Männer wussten nie, nie, nie Bescheid. Und das war meine erste feministische Erziehung.[2]

Mimis Zuhause «Mendips» war ein typisches englisches «semidetached house», eine in den dreißiger Jahren gebaute Doppelhaushälfte im «Pseudo-Tudor»-Stil mit Erkerfenstern, Holzpaneelen in der Eingangshalle und einem kleinen Garten: ein Symbol kleinbürgerlicher Geborgenheit und Wohlanständigkeit.

Ein traumatisches Erlebnis aus dieser Zeit sollte John aber nachdrücklich prägen: 1946 tauchte Freddie Lennon wieder auf und nahm seinen Sohn mit zum Urlaub im Seebad Blackpool. Die beiden hatten viel Spaß miteinander, und Freddie beschloss, den Jungen bei sich zu behalten. Er wollte mit ihm nach Neuseeland auswandern. Julia erschien im Ferienhäuschen und forderte Freddie auf, ihren Sohn herauszugeben. Nach einigem Hin und Her sollte der Sechsjährige entscheiden, bei wem er bleiben wollte. Er entschied sich für den Vater. Wortlos verließ Julia das Haus, der Junge rannte ihr schreiend auf die Straße nach. Sie brachte ihn zu Mimi zurück. Ein Gefühl der Unsicherheit, des Nicht-Gehörens, eine panische Angst vor Liebesverlust, die er meistens durch Zynismus, Grobheit oder offene Brutalität überspielte, sollten John sein Leben lang begleiten.

Ich tat mein Bestes, das Zuhause aller meiner Freunde kaputtzumachen. Teilweise aus Neid, weil ich dieses sogenannte Zuhause nicht hatte … hatte ich aber doch! Ich hatte Onkel und Tante und ein nettes Zuhause im Vorort, vielen Dank … aber ich war nicht an Eltern gebunden, das war der Unterschied, ich unterwanderte die Gedanken der anderen Jungen. Ich konnte sagen: «Eltern sind keine Götter, denn ich lebe ja nicht mit meinen zusammen, also weiß ich Bescheid.» Ich konnte zu Paul McCartney sagen: «Wenn du enge Hosen tragen willst, Paul, sag deinem Vater, er soll sich selbst ficken.» … Das war das Geschenk, keine Eltern zu haben. Ich weinte viel, weil ich sie nicht hatte, aber ich hatte auch dieses Geschenk, das Bewusstsein, etwas nicht zu sein.[3]

Äußerlich aber wuchs John wie ein «normaler Junge» auf. Mimi war darauf bedacht, ihn nicht zu verwöhnen und hielt ihn knapp bei Kasse, wenn auch «Onkel George» ihm manchmal heimlich Geld für Süßigkeiten oder das Kino zusteckte.

Mit dem Realitätsprinzip, wie es Tante Mimi und seine Lehrer vertraten, konnte er wenig anfangen:

Leute wie ich erkennen ihr sogenanntes Genie mit zehn, neun, acht Jahren. Ich fragte mich immer: «Warum hat mich niemand entdeckt? Sehen sie nicht, dass ich klüger bin als alle in dieser Schule? Dass die Lehrer auch doof sind? Dass sie nur Informationen hatten, die ich nicht brauchte?»[4]

Rückblickend schrieb er über seine Schulzeit in seinem Lied Working Class Hero (Held der Arbeiterklasse), 1970:

They hurt you at home and they hit you at school

They hate you if you’re clever and they despise the fool.

 

Sie tun dir weh zu Hause, in der Schule schlagen sie dich

Sie hassen dich, wenn du klug bist, den Dummen verachten sie.[5]

Wie viele begabte und sensible Kinder erfuhr John Lennon bald die Einsamkeit, die mit dem Anderssein verbunden ist. Und in der Einsamkeit wuchs sich dieses Gefühl seiner Andersartigkeit zu einem Dünkel aus, zur Identifizierung mit den verkannten, verstoßenen Genies der Literatur und Kunst:

Es machte mir als Kind Angst, weil es niemanden gab, mit dem ich mich vergleichen konnte. Weder mein Tantchen noch meine Freunde – niemand konnte jemals sehen, was ich sah. Es war sehr, sehr unheimlich, und der einzige Kontakt, den ich hatte, war, über Oscar Wilde oder Dylan Thomas oder van Gogh zu lesen – alles Bücher, die mein Tantchen hatte, in denen erzählt wurde, wie sie wegen ihrer Visionen litten … Der Surrealismus machte einen großen Eindruck auf mich, weil mir dabei klar wurde, dass meine Gedanken und meine Bilder nicht Wahnsinn bedeuteten: oder wenn es Wahnsinn ist, gehöre ich zu einem exklusiven Club, der die Welt in jenen Begriffen sieht. Surrealismus ist für mich Realität … Wenn ich mich im Spiegel ansah, mit zwölf, dreizehn Jahren … sah ich halluzinatorische Bilder, mein Gesicht verwandelte sich, wurde kosmisch und vollkommen. Das machte mich zum Rebell. Diese ganze Geschichte machte mich zornig, aber auf der anderen Seite wollte ich geliebt, akzeptiert werden. Deshalb bin ich auf der Bühne, wie ein Zirkusfloh.[6]

John Lennon war ein Rebell ohne Warum, Wogegen und Wofür, wie James Dean, den er nicht kannte, wie Holden Caulfield, der Held von Salingers Roman «Der Fänger im Roggen», der gegen die Falschheit der Erwachsenenwelt aufbegehrt und der Mark David Chapman zum Mord an dem arrivierten Millionär und Ex-Beatle John Lennon inspirierte.

Die Erfahrung der Einsamkeit verarbeitete John später in seinem Lied Strawberry Fields Forever:

Let me take you down / ’Cause I’m going to / Strawberry Fields

Nothing is real / And nothing to get hung about …

No one I think is in my tree / I mean it must be high or low.

 

Steigt mit mir herab / Denn ich gehe nach / Strawberry Fields

Nichts ist wirklich / Kein Grund, sich aufzuregen …

Niemand ist, glaube ich, in meinem Baum / Ich mein’ es muss doch hoch oder niedrig sein.

In der Nähe von meinem Zuhause war Strawberry Fields (ein Erziehungsheim der Heilsarmee), wo ich als Kind mit meinen Freunden zu den Gartenfeten hinging. Wir gingen dahin und verkauften Limonadenflaschen für einen Penny. Wir hatten immer Spaß in Strawberry Fields. Daher habe ich den Namen. Aber ich benutzte es als Bild …: Die zweite Strophe geht: «No one I think is in my tree.» Also, ich war zu schüchtern und zweifelte an mir selbst. Was ich sagte, ist, niemand scheint so auf Draht zu sein wie ich. Also muss ich verrückt sein oder ein Genie – «I mean it must be high or low», die nächste Zeile.[7]

Der einsame Junge wurde ein eifriger Leser, der besonders gern in die Phantasiewelt des Lewis Carroll entfloh: Ich las «Alice im Wunderland» mit Leidenschaft und malte alle die Charaktere. Ich machte Gedichte im Stil des «Jabberwocky». Ich habe «Alice» förmlich gelebt, und «William». Ich schrieb meine eigenen «William»-Geschichten, in denen ich die ganzen Sachen machte.[8]

William ist der Held einer Romanfolge von Richmal Crompton, der als Anführer einer Bande von Mitschülern seine spießige Umwelt durch herrliche Eskapaden schockiert und buchstäblich in den Dreck zieht. John begnügte sich nicht damit, John/William-Geschichten zu schreiben – er hatte bald seine eigene Bande zusammen. Es blieb aber nicht bei harmlosen Schülerstreichen: Die Bande, die ich anführte, machte in Sachen wie Ladendiebstahl und Mädchen die Höschen herunterziehen. Als die Bombe platzte und alle erwischt wurden, war ich immer derjenige, den sie übersahen. Ich hatte Angst, aber Mimi war die Einzige, die nie etwas herausbekam … Als wir älter wurden, gingen wir eine Stufe weiter, haben uns nicht nur Müll wie Süßigkeiten aus den Läden in die Taschen gesteckt, sondern genug, um es anderen verkaufen zu können, wie Zigaretten.[9]

John war dreizehn, als sein Onkel George an einer Gehirnblutung starb. Danach geriet er völlig außer Mimis Kontrolle. Zwar hatte er mühelos das Eingangsexamen für das Gymnasium bestanden, an der Quarry Bank Grammar School aber sank er bald in allen Fächern von der obersten Leistungsgruppe in die niedrigste. Er wurde der Clown der Klasse auf Kosten der Lehrer, war gleichzeitig ein gefürchteter Prügler und derjenige, an den man sich wandte, wenn man an Zigaretten und Alkohol herankommen wollte. Ich war derjenige, von dem die Eltern all der anderen Jungen sagten: «Bleib bloß weg von dem.»[10]

Vielleicht wäre aus dem hochsensiblen Bandenführer wirklich ein kleiner Provinzgauner geworden: Ich wusste nicht, was ich wirklich werden wollte, außer dass ich am Ende ein exzentrischer Millionär sein wollte … Ich musste ein Millionär sein. Wenn ich es nicht schaffen konnte, ohne ein Verbrecher zu sein, musste ich wohl ein Verbrecher sein. Ich war dazu bereit …[11] Doch da kam Elvis Presley und der Rock ’n’ Roll, und Johns Leben bekam einen Mittelpunkt und eine Richtung.

Es war Elvis, der mich süchtig nach Beatmusik machte. Ich hörte «Heartbreak Hotel» und dachte: «Das ist es». Ich fing an, mir Koteletten wachsen zu lassen und diese ganzen Sachen.[12]

Was der Rock ’n’ Roll einfing und artikulierte war das Lebensgefühl einer ganzen Generation, der ersten amerikanischen Nachkriegsgeneration, geboren unter dem Schatten der Atombombe, aufgewachsen in einer Gesellschaft, die sich unter dem Druck einer aufgeblähten Kriegsindustrie, die einen inneren Markt brauchte, auf einen hemmungslosen Konsum orientierte, während der ideologische Konservatismus des Kalten Kriegs gerade der Jugend Patriotismus, Idealismus und die Mittelklassewerte der aufgeschobenen Bedürfnisbefriedigung verordnete. Mochten erst die Punks der siebziger Jahre die Parolen «No Future» und «Wir wollen alles und zwar sofort» aufstellen – sie leben im Rock ’n’ Roll und im Lebensstil der Kinder von Einstein und Coca-Cola. Sie spielten mit den Attrappen der erwachsenen Konsumkultur: Autos, Sex, Alkohol, Kleidung, während sie die Rebellenhaltung der Jugend kultivierten: lange Haare für die Männer, hochgekämmt und mit Pomade in Form eines monströsen, herausfordernden Horns zusammengeklebt, Röhrenhosen, die die Genitalien betonten, Petticoats, Blusen und Hemden in den schockierendsten Farben, die Lederkluft der Motorradrebellen James Dean und Marlon Brando – und die Auftritte Elvis Presleys, genannt «Elvis the Pelvis» («das Becken»), offen zelebrierter Beischlaf mit dem Mikrofonständer, seine Lieder, deren jedes ein Aufschrei des allzu lange verdrängten Lustprinzips war.

Ich betete ihn an, so wie Leute die Beatles anbeteten. Denn als ich sechzehn war, war Elvis die Sache. Ein Typ mit langen Haaren, der mit dem Arsch wackelte und «Hound Dog» und «That’s All Right Mama» sang …[13]

Gegen die Langeweile und Enge der restaurativen Nachkriegsgesellschaft setzten ihre Kinder den Spaß am Leben. Wenn schon die Gesellschaft insgesamt nicht zu verändern war, sollte wenigstens Jungsein ein permanenter Technicolor-Traum-Film sein. Der Rock ’n’ Roll war der Soundtrack zu diesem Film.

Als ich anfing, war Rock ’n’ Roll die grundlegende Revolution für Menschen meines Alters und meiner sozialen Herkunft. Wir brauchten etwas Lautes, Klares, um die ganze Gefühllosigkeit und Repression zu durchbrechen, die wir als Kinder eingesteckt hatten. Am Anfang waren wir etwas gehemmt, weil wir Ersatz-Amerikaner waren. Aber wir setzten uns mit der Musik auseinander und fanden, dass sie zur Hälfte weiße Country-Musik ist und zur anderen Hälfte schwarzer Rhythm ’n’ Blues. Die meisten Lieder kamen aus Europa und Afrika, und jetzt kamen sie zurück zu uns … Es war eine Art kultureller Austausch. Allerdings muss ich sagen, dass für mich die interessantesten Lieder die schwarzen waren, weil sie einfacher waren. Sie sagten irgendwie: wackel mit dem Arsch oder mit dem Schwanz, und das war wirklich etwas Neues … Immer haben die Schwarzen über ihren Schmerz gesungen, und auch über Sex, deshalb mag ich es.[14]