Impressum
© 2017 Münster Verlag GmbH, Basel
Alle Rechte vorbehalten.
Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden, insbesondere nicht als Nachdruck in Zeitschriften oder Zeitungen, im öffentlichen Vortrag, für Verfilmungen oder Dramatisierungen, als Übertragung durch Rundfunk oder Fernsehen oder in anderen elektronischen Formaten. Dies gilt auch für einzelne Bilder oder Textteile.
Umschlagsbild: |
Aquarell von Cornelia Ziegler, Basel |
ISBN 978-3-905896-74-9
eISBN 978-3-907146-19-4
Printed in Germany
www.muensterverlag.ch
Für Franziska
Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.
Elizabeth
Abuya
Jane
Abuya
Rebecca
Moira
Jane türmte ein Dutzend flache Steine neben sich auf. Einen nach dem anderen schleuderte sie über die spiegelglatte Oberfläche. «… vier, fünf, sechs …», zählte sie die Hüpfer, bis die platten Kiesel ihre Energie verloren und versanken.
Plötzlich stand ihre Mutter an ihrer Seite.
«Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du nicht alleine an den Strand hinuntergehen darfst?»
«Aber heute ist das Meer so ruhig. Es sieht aus wie ein See», wehrte sich Jane mit entwaffnendem Charme.
Wortlos griff Elizabeth nach der Hand des Kindes. Zusammen stiegen sie die in den Felsen gehauenen Stufen hoch zum imposanten Haus.
Clifftop schwebte zwischen Wolken und Wasser, nahe einer kleinen Ortschaft in Cornwall.
Als Mutter und Tochter im Garten ankamen, fragte Finlay, Janes älterer Bruder:
«Warum lässt du sie nicht am Strand spielen? Sie ist kein Baby mehr.»
Elizabeth schwieg. Finlay gab keine Ruhe.
«Wegen Olivers Unfall hast du schon Claire und mir alles verboten. Jetzt machst du es mit Jane genauso. Mit acht ist sie alt genug, um auf sich aufzupassen.»
Elizabeth floh ins Haus, und Jane folgte ihr.
Corran Penrose kehrte an jenem Abend früh von der Werft zurück. Er ging durch den alten Lieferantenzugang, ein Holztor in der Steinmauer, die das grosse Grundstück einfasste.
Zügig durchquerte er den Hof und trat durch die hintere Haustüre in die Küche. Die Bassets sprangen an ihm hoch. Corran streichelte sie und nahm danach seine Frau in den Arm.
«Was ist passiert?», fragte er, als er die Anspannung in ihrem Körper wahrnahm.
«Ach nichts. Alles in Ordnung, mein Lieber. Finlay meint, ich bemuttere Jane zu sehr», antwortete Elizabeth.
Corran zog die Augenbrauen hoch, sagte jedoch nichts.
Sie befreite sich aus seiner Umarmung und trug den vollen Wäschekorb, den die Haushaltshilfe in der Halle hatte stehen lassen, in den ersten Stock. Auf dem Arbeitstisch, der in einer Nische im Gang stand, faltete sie die Wäsche. Sie legte die ihre und Corrans ins Elternschlafzimmer und den Rest auf die Betten der Kinder.
Als sie an Olivers verschlossenem Zimmer vorbeiging, seufzte sie.
Finlays Bemerkung hatte alte Erinnerungen geweckt. Sie dachte an die Latzhose mit dem aufgestickten Hundegesicht und daran, wie gerne Oliver diese getragen hatte. Zusammen mit seinen anderen Kleidungsstücken hing sie noch immer in seinem Schrank.
Elizabeths Gedanken führten sie ein Dutzend Jahre zurück.
Es war ein trockener Abend im Mai gewesen. Elizabeth hatte mit Claire im Wohnzimmer gesessen und mit ihr ein Bilderbuch durchgeblättert. Die mit einem Stopper fixierte Küchentür zum Hof hin und das Fenster zum Meer standen weit offen. Alle paar Minuten schaute sie auf die Uhr. Dann hörte sie, wie jemand ins Haus trat.
«Hallo, Jungs. Seid ihr endlich hier?», rief sie vom Wohnzimmer aus.
Finlay antwortete: «Ich bin’s. Wann gibt’s Abendessen?»
«Lies weiter, Mum!», bettelte Claire und schubste ihre Mutter in die Seite. Ohne zu antworten, stand Elizabeth auf und ging in die Halle.
«Wo ist Oliver?», fragte sie Finlay.
«Keine Ahnung. Ich glaube, bei Henry. Wenn es noch nichts zu essen gibt, gehe ich noch kurz in mein Zimmer.»
Es war bereits nach sechs. Elizabeth ärgerte sich, dass Oliver regelmässig zu spät nach Hause zurückkehrte. Henrys Eltern hatten kein Telefon in ihrem kleinen Cottage am Hafen. Sie konnte nicht anrufen und nach Oliver fragen. Ein letztes Mal noch würde sie ihrem Sohn die Verspätung durchgehen lassen, dann aber wollte sie strengere Saiten aufziehen. Sie begann mit der Zubereitung des Abendessens.
Claire setzte sich mit ihrem Bilderbuch aus Halbkarton vor die Küche ins Freie und wartete dort auf ihren Vater.
Der mit Kopfstein gepflasterte Platz war mit Topfpflanzen und Kräutern begrünt. In einer windgeschützten Ecke standen zwei gusseiserne Stühle an einem kleinen, runden Tisch. Elizabeth benutzte sie kaum. Sie betrachtete den Hof als Arbeitsplatz fürs Grobe. Hier spritzte sie die Hunde und die Gummistiefel der Kinder ab. Hier hängte sie nasse Wäsche an die Leine, die sie hoch in den Wind zog. Hier band sie Kräuter, die sie über dem Aga-Herd trocknete. Einzig Corran hatte die Gewohnheit, bei warmem Wetter ein verschlissenes Sitzkissen aus dem Schuppen zu holen, es auf einen der Stühle zu legen und zwischen Thymian und Pfefferminze seine Pfeife zu stopfen, einen Blick in die Zeitung zu werfen und tief durchzuatmen.
Elizabeth hörte, wie Corran sein Auto in die Garage fuhr. Auch Oliver musste jetzt jeden Moment eintreffen.
Claire rief: «Hallo, Dad. Liest du mir eine Geschichte vor, jetzt gleich? Mum ist drinnen, beim Kochen.»
Elizabeth schaute durchs Küchenfenster. Corran hob seine Tochter hoch und liess sich mit ihr im Arm auf einen Stuhl fallen.
«Mein Schatz. Jetzt will ich erst einmal ausruhen. Der Abend ist wunderbar warm. Heute wird es lange hell bleiben», sagte er und drückte die Kleine an sich.
Dann vernahm Elizabeth schwere Schritte und warf einen erneuten Blick durchs Küchenfenster. Mit rotem Kopf stand der beleibte Joe Ferrer Senior im Hof. Als er Corran und Claire dort sitzen sah, rang er nach Worten: «Meine Buben sind soeben nach Hause gekommen. Total verstört. Sie sagen, Oliver liege in der alten Mine.»
«Was ist mit Oliver?», rief Elizabeth von der Küche her. Sie liess das Rüstmesser fallen, rannte ins Freie, packte den muskulösen Mann am Arm. «Joe, sag!»
Ihr Nachbar, der fünfhundert Meter hinter Clifftop einen Bauernbetrieb führte, schnaufte wie ein Ross.
«Die Jungen haben den ganzen Nachmittag miteinander gespielt. Dann sind sie plötzlich verschwunden. Anscheinend zur Mine. Sie wissen, dass sie dort nicht hindürfen. Und jetzt sind sie ohne Oliver nach Hause gekommen.»
«Geht ihn sofort suchen», sagte Elizabeth. Doch Joe sprach weiter.
«Sie waren zu viert. Henry Linn war auch dabei. Oliver wollte in den Schacht klettern und sei hinuntergestürzt.»
Elizabeth hoffte, falsch gehört zu haben, und hielt sich an Corran fest. Joe schob ihr ungelenk einen Gartenstuhl hin.
«Ich habe bereits die Ambulanz gerufen. Sie sind unterwegs. Wir nehmen meinen Land Rover. So kommen wir am schnellsten hin», bestimmte der Bauer.
Corran zögerte, blickte zu Elizabeth, die sich bereitmachen wollte.
«Bleib du am besten hier. Mach dir keine Sorgen. Vielleicht ist alles nur halb so schlimm.»
Elizabeth sah, dass Finlay plötzlich im Hof aufgetaucht war, sich neben Claire gestellt hatte und erschrocken zu den Erwachsenen hinblickte. Auch Joe schien die Furcht der Kinder zu bemerken.
«Die beiden schickst du am besten zu uns hinüber. Sie können bei uns essen. Für den Fall, dass du später auch wegmusst. Wir rufen dich an, sobald wir mehr wissen. Los jetzt, Corran. Beeil dich.»
Stunden später parkte Joe Ferrer seinen Land Rover mit Elizabeth auf dem Beifahrersitz vor der Notaufnahme. Sie atmete auf. Die Beruhigungstropfen aus der Hausapotheke, die sie vorsorglich eingenommen hatte, schienen zu wirken. Gleich würde sie Oliver sehen, der wohl die eine oder andere Schramme, eine Platzwunde oder gar eine Gehirnerschütterung abbekommen hatte.
«Danke, Joe, es ist lieb von dir, dass du mich gefahren hast. Nun wird es voraussichtlich dauern. Am besten kehrst du nach Hause zurück. Corran und ich werden alleine zurechtkommen und später ein Taxi nehmen.»
Elizabeths Schritte hallten durch den Korridor im Krankenhaus. Sie fand eine Schwester und schliesslich den diensthabenden Arzt. Er begleitete sie zu Corran und bat sie, sich neben ihren Mann zu setzen.
«Ihr Sohn hat das Genick gebrochen», sagte er leise.
Elizabeth nahm nicht auf, was er meinte.
«Er ist sofort tot gewesen. Er hat keinen Schmerz, nur einen kurzen, heftigen Aufprall empfunden», präzisierte der Arzt.
Sie blickte fragend zu Corran, erkannte seine Verzweiflung und wurde von Schwindel erfasst. Ihr Herz stand einen Moment lang still. Sie begann zu zittern und rutschte vom Stuhl.
Sie fasste sich erst, nachdem die Beruhigungsspritze, die ihr der Arzt verabreicht hatte, wirkte und Corran sie in den Arm nahm.
«Als Joe und ich beim Bergwerk ankamen, trugen die Sanitäter Oliver bereits zum Krankenwagen. Wir konnten nichts mehr tun.»
Elizabeth weinte leise. Corran neben ihr entfuhr ein Schluchzen.
Eine halbe Stunde später half sie der Krankenschwester dabei, Oliver zu waschen und ihn in ein weisses Nachthemd zu kleiden. Sie wusste nicht, woher sie die Kraft nahm. Wie in Trance kämmte sie Oliver, grub eine kleine Dose aus ihrer Handtasche, puderte ihm einen rosa Hauch auf die Wangen und bettete seinen Kopf auf das weiche Kissen.
«Er scheint zu schlafen», flüsterte sie und küsste ihn auf die Stirn.
«Ja, er schläft», sagte Corran und barg sein Gesicht in den Händen.
Elizabeth wurde erneut von Schluchzern geschüttelt. Als sie nicht mehr aufhören konnte zu weinen, liess Corran die Stationsvorsteherin holen.
«Meine Frau braucht ein weiteres Beruhigungsmittel. Und ich habe noch eine Bitte: Können Sie unserem Sohn für diese Nacht nicht ein Patientenzimmer herrichten? Vor ein paar Stunden hat er noch gespielt und gelacht. Wir möchten bei ihm bleiben.»
Nachdem sich Corran durchgesetzt und jemand Blumen und Kerzen besorgt hatte, flüchtete er ins Stationsbüro. Von dort rief er Joe Ferrer an.
«Joe, bist du’s? Elizabeth und ich bleiben über Nacht bei Oliver.»
«Ja, das ist –» Joe konnte seinen Satz nicht beenden.
«Bitte kümmere dich um Finlay und Claire. Können die beiden bei euch übernachten?»
«Klar doch.» Joes Stimme klang leise, heiser, ganz anders als sonst.
Corran schüttelte den Telefonhörer.
«Hörst du mich, Joe? Sag den Kindern, dass Elizabeth und ich beim verunfallten Oliver im Krankenhaus bleiben. Ich möchte nicht, dass sie vor dem Einschlafen von seinem Tod erfahren. Und Joe …», fügte er hinzu, «… jetzt ist nicht die Zeit für Vorwürfe. Das macht ihn nicht wieder lebendig.»
«Ja. Geht in Ordnung.» Joe schien sich etwas gefasst zu haben. «Doch meine Buben sind alt genug. Sie hätten mehr Verstand haben sollen als dein Kleiner. Ich kann es nicht glauben, dass er tot sein soll.»
Langsam legte Corran den Hörer zurück auf die Gabel und weinte so heftig, wie er es seit dem Tod seiner Mutter, als er ein kleiner Junge gewesen war, nicht mehr getan hatte.
Am nächsten Nachmittag tauchte Henry Linn im Manor auf. Er fand Finlay im Garten.
Die beiden stiegen hinunter an den Strand, setzten sich so nahe, dass sie sich beinahe berührten, auf einen grossen Stein und starrten in die Wellen.
«Mum und Dad sind drinnen. Sie müssen die Beerdigung planen. Pat wohnt diese Woche bei uns im Haus.» Pat war die Frau aus dem Dorf, die vormittags im Haushalt half.
«Sie kümmert sich um Claire», fuhr Finlay fort und würgte seine aufsteigenden Tränen hinunter. «Ich komme schon zurecht.»
Henry war ein Einzelkind, zwei Jahre älter als Finlay. Beide gingen zusammen mit Oliver in dieselbe, mehrere Jahrgänge umfassende Klasse. Er wiederholte für Finlay die exakte Version der Todesnachricht, die ihre Lehrerin den Kindern noch vor der ersten Lektion überbracht hatte.
Finlay nickte. Er war den ganzen Tag über zuhause geblieben.
«Haben Little Joe und Bob dir erzählt, wie der Unfall genau passiert ist?», fragte Henry.
«Gestern Abend? Nein, warum? Wir haben mit ihnen gegessen, und alle sassen schweigend am Tisch. Danach gingen Claire und ich mit Bob und Little Joe die Kaninchen füttern. Beim Stall haben sie uns gesagt, dass Oliver auf ihr Rufen hin nicht geantwortet habe. Sie seien sofort nach Hause gerannt, um ihren Vater zu holen. Doch der ging nicht mit ihnen zur Mine, sondern kam direkt zu uns. Little Joe und Bob dachten, Oliver habe sich nur verletzt.»
Jetzt begann Finlay tatsächlich zu weinen.
«Dad hat uns heute Morgen abgeholt. Zuhause haben wir erfahren, dass Oliver tot ist. Darum musste ich auch nicht zur Schule.»
Henry errötete. «Ich weiss. Aber bitte komm morgen wieder», flüsterte er und erhob sich zögernd, so, als wolle er noch etwas beifügen. Bevor er nach Hause ging, griff er in seine Hosentasche und reichte Finlay eine wunderschöne Muschel. Finlay nahm sich vor, sich künftig mehr als früher um Henry zu kümmern. Henry war Olivers Freund gewesen. Zudem war er sehr schüchtern. Finlay schmerzte es jedes Mal, wenn er beobachtete, wie grob die Jungs in der Schule mit Henry umsprangen. Ganz anders als mit Oliver, der sich für sein Alter gut hatte wehren können. Jetzt fehlte Oliver ihnen beiden.
Noch Wochen nach der Bestattung brachten die Ferrers regelmässig Eier und Milch, die Linns frischen Fisch ins Manor. Zusammen mit der grossen Anteilnahme, die Corran und Elizabeth nach Olivers Tod erfuhren, wurden ihnen diese Aufmerksamkeiten bald zu viel. Sie zogen sich zurück und untersagten Finlay und Claire, mit den Nachbarskindern zu spielen.
Elizabeth schüttelte den Kopf über sich selber, als sie bemerkte, dass sie an Olivers Platz am Küchentisch ein Gedeck aufgelegt hatte. Ein halbes Jahr war seit dem Unfall verstrichen, und noch immer gab es Tage, an denen sie glaubte, er käme jeden Moment von der Schule. Sie setzte sich neben den Aga und atmete tief durch.
Aus dem Nichts tauchten vor ihrem inneren Auge Bilder von Olivers letztem Geburtstag auf. Es hatte Bindfäden geregnet, und sie meinte, den Geruch von feuchtem Hundefell und den Duft von Ingwer, Orangen und Äpfeln zu riechen, die an jenem Tag in der Luft gehangen hatten.
Sie dachte daran, wie sie den Kuchen gebacken und sieben Kerzen in die fingerdicke Glasur gesteckt hatte. Sie sah die bunten Papiersets auf dem durchgescheuerten Küchentisch und spürte die Wärme des Aga. Die Behaglichkeit der Küche hatte sie und die Kinder wie ein sicherer Kokon umschlossen. Alles vorbei.
Elizabeth merkte nicht, dass sie inzwischen kaum mehr ass.
Mittags zog sie sich ins Wohnzimmer zurück. Dort sank sie in einen Sessel und legte die Füsse hoch. Der Raum, an dessen Fenstern ein geblümtes Sofa und Fauteuils zum Verweilen einluden, wurde zu ihrem Refugium. Die zu den Polsterstoffen passenden Vorhänge rahmten den Blick aufs im November meist graue, oft stürmische Meer ein. Das hässliche TV-Gerät und die von mehreren Hundegenerationen abgewetzte Ledercouch ausgenommen, hätte man den Raum für ein Wohnmagazin wie Country Life ablichten können. Doch im Gegensatz zu früher schien Elizabeth die geschmackvolle Einrichtung nicht zu beachten. Ihre Gedanken wanderten vom Manor weg dem schmalen Küstenpfad entlang über das windgefegte Feld bis hin zur verlassenen Mine.
Immer wieder zwang sie sich, einen Krimi zu lesen oder ein Rätsel zu lösen. In den Ecken stapelten sich Nachschlagewerke mit Eselsohren und Kinderbücher, doch zum Aufräumen konnte sie sich nicht aufraffen. Es kostete sie schon unglaubliche Kraft, sich auch nur von den zerfledderten Zeitungen zu trennen. Am meisten fürchtete sie die Weihnachtstage, die ersten ohne Oliver, die bald auf sie zukamen. Wie sollte sie sie bloss überstehen? Die Hunde, die zu ihren Füssen lagen, blickten mitfühlend zu ihr auf.
Am späten Nachmittag, wenn sie Claire von der Spielgruppe abholte und Finlay von der Schule oder vom Sport heimkehrte, ging es Elizabeth jeweils besser.
Abends kochte sie für Corran und sich, während die Kinder in der Küche Käsebrote oder Toast mit süssem Aufstrich assen. Unaufgefordert verzogen sie sich nach ihrem Abendbrot in den ersten Stock.
Elizabeth deckte derweil die Tafel im Esszimmer und trug die Speisen in vorgewärmten Schüsseln auf. Die Küche lag auf der anderen Seite der Eingangshalle – zu weit, um hin- und herzupendeln.
«Lass dir Zeit mit den Kindern», sagte Corran jeweils, nachdem sie schweigend zusammen gegessen hatten, und räumte den Tisch ab. In der Küche gab er die Essensreste in Plastikbehälter, verschloss diese und stellte sie in den Kühlschrank. Die übriggebliebenen Brotscheiben legte er zur Seite für die Pferde des Nachbarn. Während er das Geschirr wusch und trocknete, hing er seinen Gedanken nach.
Elizabeth erzählte Finlay und Claire eine Gutenachtgeschichte, löschte danach das Licht und schloss die Türen der Kinderzimmer. Später schaute sie zusammen mit Corran fern, meistens die Nachrichten und eine Show oder ein Quiz. Hie und da erzählte sie ihm von den Ereignissen des Tages.
«Heute habe ich im Dorfladen vernommen, dass vor zwei Tagen ein junger Bursche beim Fischen verunfallt ist. Eine unerwartet hohe Welle habe ihn vom Felsen gespült. An der Nordküste. Morgen ist die Beerdigung.»
Corran schluckte leer. «Es scheint mir, dass in letzter Zeit viele Unglücke passieren. Jedenfalls mehr als vor Olivers Tod.»
Elizabeth schwieg. Sie erinnerte sich an jenen Bericht, der einen Monat zuvor in der Lokalzeitung erschienen war. Ein kleiner Junge, einer in Olivers Alter, sei beim Spielen in der Nähe von St Austell, im Sumpf einer Grube, wo Porzellanerde abgebaut wurde, eingesunken. Ein beherzter Arbeiter habe das Kind im letzten Moment befreien können. Elizabeth hatte jene Zeitung am Nachmittag weggeräumt und gehofft, Corran habe den Artikel nicht schon beim Frühstück gelesen.
Das Leben im ländlichen Cornwall bot kaum Abwechslung und, ausser im Pub, keinerlei Zerstreuung. Bekannte, die früher bei ihnen vorbeigeschaut hatten, blieben seit dem Unglück aus. Elizabeth wusste, dass ihre selbst gebackenen Scones und der auserlesene Tee, den sie an ihren Frauennachmittagen serviert hatte, genauso der Vergangenheit angehörten wie der wöchentliche Lesezirkel in Clifftop.
«Vielleicht sollte ich die Bridge Partys mit Cocktails und Sandwiches wiederaufnehmen. Doch ich habe keine Energie und sicherlich kein Verständnis für die nichtigen Probleme der Nachbarn. Obwohl. Es könnte ja sein, dass auch dir etwas Gesellschaft guttäte», mutmasste Elizabeth.
«Ich verbringe die Abende gerne mit dir alleine», lächelte Corran.
Seit Olivers Unfall hatte er es sich angewöhnt, vor dem Schlafengehen einen Blick in die Kinderzimmer zu werfen, Finlay über die Wange zu streichen und Claire einen Kuss auf die Stirne zu drücken. Er ging nun bedeutend früher, gleichzeitig mit Elizabeth, zu Bett. Die ersehnte Ruhe, frei von Albträumen, fand er nur, wenn er beim Einschlafen ihre Hand hielt. Sie selbst lag wach, bis sie sein Schnarchen hörte. Dann fiel sie in einen kurzen, oberflächlichen Schlummer.
Morgens, sobald Corran und die Kinder aus dem Haus waren, legte sich Elizabeth nochmals für eine Stunde hin, während Pat so geräuschlos wie möglich ihre Arbeiten im Haushalt verrichtete. Gegen zehn Uhr tranken sie zusammen einen starken Tee und assen dazu zwei oder drei Kekse. Dann nahm Elizabeth die Hunde an die Leine und eilte den von Hecken gesäumten Weg zur Kirche entlang. Sobald sie am schmiedeeisernen Tor zum Friedhof ankam, band sie die Bassets fest und schritt zielgerichtet zu Olivers Grab. Die Hunde ruhten sich aus, während Elizabeth in Gedanken mit Oliver sprach.
Vor dem Unglück hatte Elizabeth nie drüber nachgedacht, warum es so wichtig war, einen geliebten Menschen beim Sterben zu begleiten. Nun wusste sie es. Es räumte die Zweifel aus darüber, wie jemand seine letzten Stunden, Minuten oder Sekunden erlebte. Sie hätte alles darum gegeben, in jenem Moment bei Oliver gewesen zu sein. Einmal glaubte sie, Corrans Silhouette auf dem Friedhof zu sehen, wo er doch in der Werft hätte arbeiten sollen. Als sie wieder aufblickte, standen nur die nassen Steine schief im Nebel.
Corran Penrose war 1926 geboren und in Clifftop unter der Obhut einer Haushälterin gross geworden. Als einziger Sohn war er dazu bestimmt gewesen, die von seinem Grossvater gegründete Werft weiterzuführen.
Wie selbstverständlich waren er und Elizabeth davon ausgegangen, dass ihr Ältester diese Tradition fortsetzen würde. Oliver hatte sich in jeder freien Minute bei den Arbeitern in der Werft und bei den Fischern im Hafen aufgehalten oder mit den Nachbarskindern auf dem Bauernhof gespielt.
Als hätte sie ein Unglück geahnt, hatte sich Elizabeth mehr um ihren Erstgeborenen geängstigt als um seine jüngeren Geschwister. Finlay war ein Stubenhocker, ein altkluger Bücherwurm, und Claire hing ihr oder Pat am Rockzipfel. Seit Olivers Tod waren die beiden unzertrennlich und gehorchten aufs Wort – so, als wollten sie den Eltern keine Sorgen bereiten.
Elizabeth selbst war mit drei älteren Schwestern in der Grafschaft Kent aufgewachsen, in einem konservativen Haus, das mitten in einem riesigen Apfelgarten stand, in sicherer Distanz von der Küste.
Am vierten Weihnachtsfest nach Olivers Unfall spiegelte sich wieder ein grosser, üppig dekorierter Christbaum in der schwarzen Fensterscheibe der Eingangshalle. Dahinter wechselten die Gezeiten.
Elizabeth und Corran standen Seite an Seite und blickten hinaus in die Nacht. Er legte ihr seinen rechten Arm um die Schulter. Finlay und Claire schliefen. Längst hatten sie ihre Bescherung in ihren Zimmern verstaut.
«Ich habe noch ein winziges Geschenk für dich», flüsterte Elizabeth: «Rate einmal. Ich bin fast sicher, dass du nicht darauf kommst.»
«Wie sollte ich? Zeig es mir. Dann kann ich es vielleicht ertasten.»
Sie stellte sich unmittelbar vor Corran, lehnte ihren Rücken an seine Brust, fasste seine Hände und legte sie sich auf den Bauch.
«Es ist perfekt verpackt. Ich weiss es erst seit einer Woche.»
Sie war Mitte dreissig und sich bewusst, dass ein neues Baby den Alltag aus dem Lot heben konnte. Als ihr Wilson, der Hausarzt, die Neuigkeit eröffnet hatte, war sie zuerst ein wenig schockiert gewesen.
«Ich weiss nicht so richtig, ob ich mich freuen soll oder nicht. Das hängt auch von dir ab. Was meinst du dazu?»
Corran wollte Elizabeth nicht mehr loslassen.
«Ich könnte mir kein schöneres Geschenk vorstellen. Am liebsten würde ich Finlay und Claire schon morgen davon erzählen. Es passt so wunderbar zu Weihnachten.»
«Wie du meinst. Aber in den ersten drei Monaten kann noch sehr viel passieren. Wir dürfen uns nicht zu früh freuen und sollten es als kleines Familiengeheimnis wahren. Pat weihe ich erst ein, wenn sie meine Schwangerschaft bemerkt. Dann werde ich sie bitten, nach der Geburt ein paar zusätzliche Aufgaben zu übernehmen. Genauso wie die Kinder. Sie sind alt genug, um mitzuhelfen.»
«Das klappt schon. Pat ist nicht mit Blindheit geschlagen. Doch sie und die Kinder können ein Geheimnis für sich behalten. Und in einem Jahr werden wir unser eigenes Christkind haben. Stell dir vor: ein Baby in seiner Wiege neben dem Christbaum.»
Ab dem neuen Jahr assen Elizabeth und Corran zusammen mit ihren Kindern früh zu Abend. Meist war es eine einfache Mahlzeit, die Elizabeth in der Küche auftischte, oder Brot, Käse und Pickles, die sie auf Tellern anrichtete und zusammen mit einer Kanne Tee, vier Mugs und Milch ins Wohnzimmer trug. Dort plauderten die Eltern während dem Abendessen mit Finlay und Claire oder schauten mit ihnen zusammen eine Fernsehsendung.
Finlay war zehn Jahre alt. Er würde nach der Geburt des jüngsten Kindes ins Internat gehen. Claire wollte weiterhin die Schule im Ort besuchen. Sie ging fest davon aus, dass das Baby ein Mädchen würde.
«Wir nennen es Jane. Ich male schon einmal Bilder für sein Zimmer.»
Elizabeth lachte. «Jane klingt nett. Du musst dich aber noch bis Ende Sommer gedulden. Babys brauchen Zeit, bis sie auf die Welt kommen. Jane wächst nur langsam.»
Finlay wandte ein: «Es könnte genauso gut ein Junge werden.»
«Sicher», sagte Elizabeth, «dann werden wir ihn Renato nennen.»
Ganz anders, als sie es mit den älteren Kindern getan hatte, trug Elizabeth das Baby bei all ihren Verrichtungen mit sich herum. Nach der Schule half Claire ihrer Mutter, die kleine Jane zu baden und zu füttern.
Corran arbeitete mehr denn je. Finlay war im Internat. Elizabeth konzentrierte sich auf die Erziehung ihrer Töchter. Zusammen mit Pat, die neuerdings erst Mitte Vormittag zum Helfen kam, hielt sie mehr Ordnung im Haus als je zuvor.
Corran installierte in der geräumigen Küche ein Radio. Die Esszimmertüre blieb bis auf die Feiertage verschlossen. Der Alltag war einfacher geworden und spielte sich wie zu Corrans Kindheit und Jugend wieder um den Aga ab. Im Winter, wenn der Wind ums Haus heulte, igelte sich Elizabeth mit ihrem Baby ein.
Als Jane ein knappes Jahr alt war, schob ihre Mutter sie im Kinderwagen durchs Dorf. Im zweiten Sommer machte die Kleine ihre ersten Schritte am Strand, im dritten sammelte sie dort Steine und Muscheln. Später spazierte Elizabeth mit ihr und den Hunden auf den Küstenpfaden und kaufte ihr zum Schluss im Dorf ein Eis.
Jane war pflegeleicht, anhänglich und besonnen. Doch sie war auch neugieriger als andere Kinder, was Elizabeth an Oliver erinnerte und manchmal Sorgen bereitete. Sie behütete Jane beinahe wie ein Einzelkind und hoffte, dass Mädchen von Natur aus vorsichtiger waren als Jungs. Erst mit der Pubertät drehte sich die Geschichte. Dann wurden die Töchter schwierig, während die Söhne ihren Müttern weniger Probleme bereiteten.
Jane wusste, dass sie nebst Finlay einen zweiten Bruder gehabt hätte, der aber tot war, weil er in der Mine, wo man ihr strengstens verboten hatte hinzugehen, in einen Schacht gestürzt war. Sonst wusste sie ausser seinem Namen nichts von ihm. Wenn sie ihre Eltern nach ihm fragte, antworteten sie ausweichend.
Manchmal wurde Jane von einer richtigen Unruhe getrieben, mehr über ihn zu erfahren. Mit jener intensiven, Kindern vorbehaltenen Fantasie vermutete sie überall Geheimnisse, die die Erwachsenen ihr vorenthielten.
Auf ihren Erkundungen – sie war mittlerweile acht Jahre alt – entdeckte sie an einem Regennachmittag in einem seit Jahren unbenützten Zimmer im zweiten Stock eine kaum erkennbar in die Wand eingelassene Türe. Sie drehte und rüttelte so lange an dem aus der geblümten Tapete baumelnden Eisenring, bis sich der verklemmte Zugang öffnen liess. Dahinter führte eine Treppe auf den Dachboden.
Durch ein von Möwenkot verdrecktes Rundfenster am fernen Ende des langen, schmalen Raums fiel Licht auf scheinbar wertlosen Plunder, den allem Anschein nach die Gross- und Urgrosseltern hier gelagert hatten. Jane sog die abgestandene Mischung eines Geruchs von Holz und Moder ein.
Als sie auf dem miefigen Teppich beim Fenster einen Feldstecher fand, war sie sofort enttäuscht. Sie war nicht die Erste, die diesen Platz entdeckte. Jemand musste vor nicht allzu langer Zeit hier gewesen sein. Bestimmt Finlay.
Zwei stinkende Kissen lagen beim runden, tief gelegenen Fenster auf dem Boden. Jane breitete eine Decke darüber und stützte sich probeweise darauf. Wie ein Schiffsjunge im Korb starrte sie durch die Glasscheibe in den zerrissenen Nebel, suchte zwischen seinen Schwaden die Küste ab, während sie von fernen Inseln und verborgenen Schätzen träumte.
Schliesslich drückte das Strickmuster ihres groben Wollpullovers in ihre Ellbogen. Sie fröstelte und suchte nach einer weiteren Decke. In einer Truhe fand sie einen weichen Bettüberwurf und ein paar weniger muffige Kissen; in einer zweiten lagen Mützen, zerknitterte Hüte und Damenkleider, die fein nach Puder und Parfum dufteten.
Als Jane hungrig wurde, verliess sie den feuchten Raum. Sie würde wiederkommen, mit einer Taschenlampe und mit ein paar Keksen ausgerüstet, und sich die faszinierenden Gegenstände genau anschauen. Es verstand sich von selbst, dass sie niemanden – nicht einmal ihre Mutter – in ihre geheimnisvolle Entdeckung einweihen wollte.
Am nächsten Tag strahlte die Sonne vom Himmel. Jane kletterte auf einen alten Apfelbaum im Obstgarten. Sie setzte sich rittlings in eine Astgabel, beobachtete die Wolken durch das Laub und dachte an ihren verstorbenen Bruder. Ob er mit ihr spielen würde, wenn er noch lebte? Sie versuchte sich vorzustellen, wie er gewesen wäre: lustig oder langweilig? Doch es wollte ihr nicht richtig gelingen. Sie kannte ihn nur von einem Foto, das auf dem Klavier stand.
Schliesslich sprang sie vom Baum. Dabei kratzte sie sich einen Arm auf. Sie drückte so lange an den Hautabschürfungen herum, bis ein paar Tropfen Blut erschienen.
Pat würde Mitleid haben. Jane fand sie in der Küche.
«Pat, hast du ein Pflaster für meine Verletzung?»
«Zeig her!» Pat tupfte Janes Arm mit einem feuchten Tuch ab.
«Das sind bloss Kratzer. Du brauchst kein Pflaster.»
Durch die offene Tür zog der Duft von Rosen, Lavendel und Geissblatt. Vor dem Fenster bogen sich schlanke Palmen und dichte Farnbäume im Wind. Chinesische Zitronenbäume standen nur wenige Meter von blassblauen und rosaroten Hortensien entfernt. Etwas abseits, im Gewächshaus, gediehen Tomaten.
«Pat, darf ich dich etwas fragen?»
«Ja, natürlich, frag nur.»
«Versprichst du mir, dass du mir die Wahrheit sagst?», bohrte Jane nach.
«Aber sicher.»
«Hast du Oliver gekannt?»
Pat hielt einen Moment inne, bevor sie antwortete.
«Ja, natürlich habe ich ihn gekannt. Als er verunglückte, arbeitete ich schon ein Jahr lang hier.»
«Weisst du, wie lange er verletzt in der Mine lag?»
«Kaum sehr lange. Wer das Genick bricht, ist sofort tot. Warum fragst du?» Pat tupfte weiter an Janes Arm herum und verteilte mit dem Zeigefinger Spucke auf die Schürfungen.
«Ich hätte ihn gerne gekannt. Dann hätte ich jemanden zum Spielen.»
«Ach Jane, er war doch ein Jahr älter als Finlay. Er wäre schon mit der Schule fertig, wenn er noch leben würde», überlegte Pat.
«Wo ist sein Grab?», wollte Jane wissen.
«Auf dem Friedhof natürlich. Aber mach dir nicht zu viele Gedanken. Seine Seele ist schon lange im Himmel. Dort geht es ihm gut.»
Dann gab sie Jane einen leichten Klaps auf den Hintern und fügte mit einem Blick auf den Arm bei: «In ein paar Tagen sieht man nichts mehr. Und jetzt hopp, raus mit dir.»
Elizabeth war an jenem Vormittag, ohne die Bassets mitzunehmen, einkaufen gegangen. Jane musste sich nichts überlegen: Jetzt bot sich ihr die Gelegenheit, mit den Hunden zur Kirche zu spazieren und dort den Gottesacker nach Olivers Grab abzusuchen.
Der Weg zwischen den hohen Hecken schien ihr lange, doch die Hunde zogen sie zielgerichtet vorwärts. Schliesslich erreichten sie das Friedhofstor, wo sich die Bassets sofort niederlegten.
Rascher, als sie es erwartet hatte, fand Jane Olivers Grabstein. Er war mit Efeu überwachsen und zeigte neben dem Namen einen Engel.
To the Memory of Oliver, aged 7 years
The beloved eldest son of Elizabeth and Corran Penrose
Who departed this life 10th May 1956, taken to an early rest
Jane konnte die Inschrift nur mit Mühe entziffern, aber das Bildnis des Engels beruhigte sie. Sie ging zu den Hunden, die zu bellen begonnen hatten. Zusammen rannten sie die Strecke heim. Sie musste zuhause sein, bevor Pat sie vermisste oder ihre Mutter zurückkehrte.
An trübseligen Regennachmittagen, die sich hinzogen, als dauerten sie ein halbes Kinderleben lang, stieg Jane auf den Dachboden.
Claire rebellierte zu jener Zeit. Sie war faul und mit ihrem schlaksigen Aussehen unzufrieden, und sie war es leid, mit ihrer kleinen Schwester zu spielen. Finlay benahm sich schon beinahe erwachsen. Er besuchte seine Familie nur während der Schulferien und brachte jeweils beste Noten mit.
Aus einer Mischung aus Langweile und Neugierde bearbeitete Jane in ihrem Versteck ein morsches, halbwegs durchgebrochenes Bodenbrett beim Fenster, bis es sich schliesslich löste. Unter der Diele verbarg sich etwas. Jane klaubte ein altmodisches Holzkästchen hervor. Sie hielt den Atem an und öffnete es vorsichtig. Neugierig betrachtete sie den Schmuck, der darin lag. Vielleicht war dies genau jener Schatz, von dem sie immer geträumt hatte. Ohne lange nachzudenken, packte sie ihren Fund und trug ihn zu Claire. Es war ihr egal, dass sie ihre Schwester störte, die verheult auf dem Bett liegend einen Liebesschmöker las und mit rotgeränderten Augen mit der Heroine litt.
Jane beschrieb Claire, wo genau sie das Schmuckkästchen entdeckt hatte. «Dort oben? Dort spielst du ganz alleine? Gib her. Ich möchte alles anprobieren», gebot Claire, die nun nicht mehr weinte. Jane bewunderte ihre Schwester, wie sie sich vor dem Spiegel drehte und wandte. Schliesslich aber wollte sie ihren Fund zurückhaben.
«Wir zeigen ihn Mum», bestimmte sie, und Claire gab nach.
Elizabeth und die Mädchen rätselten einen Nachmittag lang, wessen Schmuckstücke das sein könnten und warum und wie lange sie schon auf dem Dachboden versteckt gelegen hatten. Eine halbwegs befriedigende Antwort erhielten sie erst, als Corran nach Hause kam.
«Das Kästchen gehörte womöglich meiner Mutter. Ich weiss sonst niemanden, der es unter der losen Holzdiele versteckt haben könnte.» Corrans Gesichtszüge waren weich, wie immer, wenn er an seine Mutter dachte.
«Und sie hat niemandem etwas erzählt? Niemand hat davon gewusst?», fragte Elizabeth erstaunt.
Sie wusste, dass ihre Schwiegermutter unter der Abgeschiedenheit des Hauses und damit verbundenen diffusen Ängsten gelitten hatte – vorstellbar sogar unter einem Verfolgungswahn. Vor Elizabeths Hochzeit hatte ihr Schwiegervater, der inzwischen längst verschieden war, Elizabeth vor den Wintern in Cornwall gewarnt. Es sei einsam hier und manchen Frauen sei dies nicht zuträglich, hatte er gesagt. Seine Alice habe immer einen Koffer gepackt gehabt, damit sie jederzeit zu ihren Eltern nach London hätte abreisen können. Doch sie sei geblieben und sehr jung, nur drei Tage nach der Totgeburt von Corrans jüngerem Bruder, im Kindbett verstorben.
Elizabeths Blick wanderte zu Corrans starken, sehnigen Fingern, die so geschickt mit Holz umgehen und so zärtlich sein konnten. Behutsam legte er die schönste Kette um Janes Hals.
«Du hast diesen alten Schmuck nach all den Jahren gefunden, meine Kleine. Wir werden ihn für dich zur Seite legen, bis du erwachsen bist.»
Jane nickte, und Claire sagte: «Damit er nicht wieder verschwindet. Das wäre echt blöd.»
Elizabeth streichelte Corrans Hand. «Deine Mutter. Das unbekannte Wesen», murmelte sie und lächelte. «Wie bin ich froh, dass Cornwall und das Leben auf dem Land meinem Gemüt entsprechen. Ich kann mir gut vorstellen, wie es hier früher gewesen sein muss. Ohne Telefon, ohne Autos und ohne Freundinnen. Die arme Frau.»
«In Cornwall fühlen sich die seltensten Pflänzchen wohl, die man sonst nirgends in England sieht», erzählte Elizabeth. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit fütterte sie die Wissbegierde ihrer Jüngsten: In der Wärme des Wohnzimmers erzählte sie ihr von den Reisen und Abenteuern der Entdecker, Forscher und Pflanzenjäger, die im 19. Jahrhundert Samen und Setzlinge nach Cornwall und Devon gebracht hatten, und zeigte ihr die Blumen und Bäume in botanischen Bilderbüchern.
Wenn sie und Jane auf ihren Spaziergängen am Eingangstor zum Landgut, wo ein Lord und seine Lady wohnten, vorbeikamen, beflügelte dies Janes Fantasie. Das Mädchen blieb dort regelmässig stehen.
«Mum, schau, die beiden Ananasse aus Stein. Erzähl.»
«Jane, du kennst die Geschichte längst. Du weisst, wie stolz die Gärtner waren, wenn es ihnen gelang, eine Ananas zu kultivieren.»
«Ja. Dann durften die Steinmetze sie ins Portal meisseln. Damit zeigten sie jedem, der vorbeikam, wie reich ihre Herrschaften waren. Mach weiter, wie die Gärtner die Gräben mauerten und sie mit Pferdemist heizten. Das hat bestimmt gestunken.» Jane rümpfte die Nase.
«Keineswegs. Pferde riechen angenehm. Noch immer ist es üblich, die Beete mit Pferdemist zu bedecken und sie mit Glasscheiben vor Nässe und Kälte zu schützen. Und auch in den geheizten Gewächshäusern wurden die empfindlichen Setzlinge mit viel Liebe und Ehrgeiz gehegt und gepflegt. Anders wären sie bei uns nie gediehen.»
«Und doch hat damals kein Mensch Ananas gegessen!», rief Jane.
«Stimmt, sie waren zu kostbar zum Essen. Die Herrschaften legten immer wieder einmal eine reife Ananas in eine Früchteschale, damit ihre Gäste diese bewunderten. Wie wir heute einen schönen Blumenstrauss auf den Tisch stellen, wenn Besuch kommt.»
Jane fuchtelte wie wild, um eine aufdringliche Silbermöwe zu verscheuchen. Elizabeth hob einen abgebrochenen Ast auf und warf ihn nach dem riesigen Vogel, der Jane eines Kekses wegen attackiert hatte. Jane schmiss den Keks ins Gras und griff nach der Hand ihrer Mutter.
Elizabeth war Janes beste Freundin. In ihren Augen war sie schön, gescheit und mutig. Die liebste Mum auf der Welt.
«Ich weiss nicht, was ich mit Claire machen soll. Zurzeit lässt sie sich von mir gar nichts sagen», klagte Elizabeth Corran, der ihr in der Küche half. Er brummte nur und deckte den Tisch.
Jane machte auf dem Absatz kehrt und spitzte in der Eingangshalle die Ohren, gespannt, ob noch etwas folgen würde.
Es war wie eine Sucht. In letzter Zeit horchte sie beständig hinter irgendeiner halboffenen Tür. Einerseits den Gesprächen zwischen den Eltern, andererseits jenen zwischen ihrer Mutter und ihrer Schwester.
Wenn Finlay während seiner Ferien zuhause weilte, bekam sie auch mit, was ihre Geschwister sich anvertrauten.
Die Einzige, die Jane nicht belauschte, war Pat.
Pat barg keine Geheimnisse und behandelte Jane, als wäre sie schon erwachsen. Wenn Jane etwas von Pat wissen wollte, so fragte sie sie einfach und erhielt eine klare Antwort.
«Claire pubertiert», meinte Corran, als ihm Elizabeth weitererzählte, was genau vorgefallen war. Claires Provokationen seien auch ihrem Klassenlehrer aufgefallen, den er kürzlich zufällig getroffen habe. Sie sei eine Minimalistin, habe der Pädagoge gesagt, clever zwar und künstlerisch begabt, doch verwöhnt und ohne jegliches Ziel vor Augen.
Jane sass an einem Sommerabend, kurz nach Claires Mittelschulabschluss, einmal mehr an ihrem Lieblingsplatz auf dem Absatz der Treppe, die von der Halle in den ersten Stock führte. Während sie die Bassets liebkoste, verfolgte sie die Fortsetzung von Claires Geschichte.
Sie hörte ihre Schwester in der Küche laut heulen. Eine Stunde zuvor hatte Claire sich überaus heftig, ausnahmsweise einmal nicht mit ihrer Mutter, sondern mit ihrem Vater gestritten. Jetzt vertraute sie sich Finlay an, der zurzeit seine Semesterferien in Clifftop verbrachte. Die beiden bemühten sich nicht darum, leise zu sprechen. Im Gegenteil, Claire schrie.
«Sie wollen mich im Herbst auf eine Handelsschule schicken. Buchhaltung, Stenographie, Tippen, Korrespondenz. Mein Gott, ich werde sterben vor Langeweile.»
«Komm schon, wird schon nicht so schlimm sein», versuchte sie Finlay zu beruhigen.
«Siehst du mich als Sekretärin? Auf einer Bank vielleicht? Oder im Büro einer Kaolingrube Porzellanerde in alle Welt exportieren? Schlimmer noch, die Lohnlisten in Vaters Werft führen?»
«Entweder du besuchst diese Schule. Oder du kämpfst für deine Talente und kommst zu uns. In meiner WG hat es Platz. Du kannst bei uns wohnen», sagte Finlay, der ein Jahr zuvor in London ein Jura-Studium aufgenommen hatte. Seine Stimme war jetzt etwas leiser, doch sehr bestimmt.
Jane lauschte weiter. Daisy und Poppy lagen ihr zu Füssen und schielten nach dem zerkauten Tennisball, den sie in der Hand hielt. Claire schluchzte noch immer.
«Seit meinem Schulabschluss nörgelt Mum täglich an mir rum. Ich würde bloss herumhängen, käme abends nicht ins Bett und schliefe den ganzen Vormittag. Sie behandelt mich wie ein Kind, so, wie sie es mit Jane tut. Aber ich bin beinahe doppelt so alt! Mum muss endlich verstehen, dass ich erwachsen bin. Ich bin zu alt, um mich rumkommandieren zu lassen.»
«Claire, sei vernünftig. Die Eltern wollen nur unser Bestes. Du kannst nicht einfach nichts tun.»
«Trotzdem. Ich bin erwachsen, und ich möchte selbst über mein Leben entscheiden. Am liebsten wäre ich Fotomodell oder eine Künstlerin. Ich kann malen, Klavier spielen, singen und tanzen. Aber das kann ich alles vergessen. Für Mum und Dad zählen bloss meine A-Levels.»
«Die sind auch wichtig. Damit hast du mehr Möglichkeiten. An deiner Stelle würde ich mich in London an einer Kunstschule einschreiben. Dad wird dich sicher unterstützen.»
Claire war noch nicht volljährig, und ihre Eltern würden etwas dagegen haben, wenn sie so jung schon allein in London leben würde.
«Wie gesagt, du kannst zu mir in die WG ziehen.» Finlay war die Ruhe selbst.
Jane ahnte, dass er die Eltern überzeugen konnte, dass es das Beste sei, wenn Claire bei ihm wohnen würde. Corran und Elizabeth vertrauten darauf, dass er sie beaufsichtigen, ihr ein Vorbild sein würde. Sie hielten grosse Stücke auf Finlays Vernunft.
Finlay galt als Streber. Claire hatte Jane erzählt, wie viel wichtiger als Bestnoten es für ihn im Internat gewesen wäre, ein kräftiger Stürmer auf dem Rugbyfeld zu sein. Wie viel mehr es seinen Mitschülern imponiert hätte, wenn er mit einer hübschen Eroberung aus dem nahen Mädchen-Pensionat hätte prahlen können.
«Doch unser Bruder ist bloss an Büchern interessiert», sagte Claire.
Jane konnte die diesbezüglichen Diskussionen ihrer Eltern nicht richtig einordnen. Dennoch war sie alt genug, zu spüren, dass Finlay in London besser aufgehoben war als in Cornwall. Sie fragte sich, ob dies nicht auch für ihre Schwester galt, und wunderte sich, wie wenig ihr Vater und ihre Mutter von Claires Verhalten mitbekamen. Jane wusste jedenfalls, dass sich Claire wochenlang mit einem hergezogenen Hippie in einem verlotterten Cottage getroffen hatte und dass dieser, den niemand im Dorf gekannt hatte, inzwischen wieder verschwunden war. Sie vermutete auch, dies sei der Grund, weshalb ihre grosse Schwester so unleidig und bereit war, zu Finlay nach London zu ziehen.
Zwei Monate später reiste Claire jedenfalls ab und schrieb sich auf einer namhaften Kunstakademie im Süden Londons ein.
Als Jane volljährig wurde, hatte Finlay sein Studium längst abgeschlossen und sich eine Stelle bei einem Wirtschaftsanwalt ergattert. Er wohnte zusammen mit seinem Freund, auch er ein Jurist, in einem Loft in Londons Hafenviertel. Die beiden planten, eine gemeinsame Kanzlei zu gründen, sobald sie die nötige Erfahrung vorweisen konnten.
Finlay besuchte seine Eltern und Jane nur, wenn er es als unumgänglich betrachtete: an runden Geburtstagen und an Weihnachten, und immer alleine.
Claire hatte die Kunstschule bloss ein Jahr lang durchgehalten. Dann war sie mit einem bedeutend älteren Lover, wie Elizabeth sich ausdrückte, in die Bretagne gezogen.
Hin und wieder verbrachte Claire ein paar Tage bei ihrer besten Freundin in London und besuchte dabei Finlay. In Cornwall hingegen tauchte auch sie kaum auf.
Jane wollte keinesfalls in die Fussstapfen ihrer älteren Geschwister treten. Seit ihrem Schulabschluss arbeitete sie im Büro der Werft und lebte weiterhin mit ihren Eltern.
Bloss zwischendurch wurde ihr bewusst, dass es auf der Welt zweierlei Menschen gab. Längst hätte sie es an der Zeit gefunden, mit einem Burschen zu schlafen. Doch sie hatte sich noch nie verliebt und kannte weit und breit niemanden, der dazu in Frage gekommen wäre.
An einem windigen Nachmittag im August, einen Tag vor Janes einundzwanzigstem Geburtstag, nahmen Claire und Finlay zusammen den Zug nach Cornwall. Ihre Lebenspartner hatten sie zuhause gelassen. Beide lachten vergnügt, als sie das Haus am Abend vor Janes Fest mit grossem Hallo überfielen. Sowohl Finlay wie auch Claire trugen enge Jeans und selbst gefärbte T-Shirts, grobmaschige, handgestrickte Pullover um die Schultern und ihre mitgebrachten Geschenke im Gepäck.
Jane fühlte sich linkisch, altbacken und ausgeschlossen, und Elizabeth dämpfte umgehend die Stimmung.
«Das Kleid, das du bei deinem letzten Besuch getragen hast, hat mir gut gefallen», begrüsste sie Claire, die ihre Mutter sofort verstand.
«Keine Angst, Mum, ich mache dir morgen keine Schande», sagte sie und warf sich ihrem Vater an den Hals.
Jane hoffte auf Frieden. Auch sie konnte die Zwischentöne ihrer Mutter bestens interpretieren. Möglicherweise noch besser als Claire.
Finlay hingegen bat Elizabeth, Klartext zu reden. Seit seiner Kindheit legte er jedes Wort auf die Goldwaage. Jetzt, wo sich sein Leben um Recht und Unrecht und um seine sowohl geschäftliche wie private Partnerschaft mit Lance drehte, war ihm die Wortwahl noch wichtiger geworden.
Jane fühlte sich zwischen ihren Eltern und Geschwistern hin- und hergerissen. Sie mischte sich bloss in die Diskussionen ein, wenn es galt, jemanden zu beschwichtigen.
«Du benimmst dich, als würdest du den Friedensnobelpreis anstreben», lachte Claire.
An ihrem Fest trug Jane ihr bestes Kleid sowie die silberne Halskette mit dem grossen, eingefassten Aquamarin und die dazu passenden Ohrringe ihrer Grossmutter. Sie schminkte sich äusserst dezent und spürte Selbstvertrauen in sich hochsteigen. Sie genoss den Augenblick, die Geschenke, das Essen und die Harmonie zwischen den Generationen.
Zwei Tage später reisten Claire und Finlay wieder ab, die Ruhe kehrte zurück, und Jane fragte ihre Mutter: «Warum nur bin ich so ganz anders geraten als meine Geschwister? Habt ihr mich strenger erzogen?»
«Vielleicht. Du bist auch ernsthafter und verlässlicher, das hat weniger mit der Erziehung als mit dem Charakter zu tun», sagte Elizabeth.
Jane murmelte: «Ich wünschte, ich wäre mehr wie Claire. Unbeschwert, attraktiv und frech. Ich bin viel zu scheu. Zu angepasst.»
«Wie kommst du denn auf solche Gedanken?», warf Elizabeth ein. «Du bist perfekt, so, wie du bist. Immerhin hilfst du in der Werft mit und wirst sie vielleicht eines Tages sogar übernehmen.»
Jane warf einen Blick auf Olivers lachendes Bubengesicht auf dem Schwarz-Weiss-Foto, das in einem Silberrahmen auf dem Klavier im Wohnzimmer stand. Still umarmte sie ihre Mutter.
Elizabeth stand in einem warmen Pullover und mit einem wollenen Schal um die Schultern gelegt dicht neben Corran. Er hatte seine Staffelei aufgestellt. Sie kommentierte das Bild darauf, das einen blühenden Apfelbaum zeigte. Der zum Obstgarten hin liegende Flügel des Hauses war jahrelang unbenützt gewesen. Corran hatte erst kürzlich begonnen, dort zu malen.
«Du hast Talent. Jetzt weiss ich auch, woher Claire das hat.»
Corran rieb sich seine steifen Finger. Zusammen mit Elizabeth ging er in die Küche, um sich am Aga aufzuwärmen.
«Was hältst du davon, im Anbau eine Zentralheizung, eine Toilette und ein Bad zu installieren? Es ist genügend Platz da. Zudem sind dort alle Zimmer ebenerdig, und sie gehen auf den Garten hinaus. Im Hinblick aufs Alter ist das praktisch und sehr schön», murmelte er.
«Praktisch für den Fall, dass wir tatterig werden und nicht mehr die Treppen hochkommen?», lachte Elizabeth.
Corran zögerte. «Wer weiss. Ich möchte jedenfalls auch im Alter hier mit dir leben. Hoffentlich auch mit Jane und eines Tages vielen Enkeln.»
Als Jane mit dreiundzwanzig drei Wochen Ferien in London verbrachte, um Finlay besser kennenzulernen, war Lance mit einem Reeder in Griechenland unterwegs. Jane genoss es, Finlay für sich zu haben. Während der ersten Tage fand sie nicht den Mut, ihn über sein Leben auszufragen. Stattdessen entdeckte sie London und freute sich nach der Hektik der Grossstadt darüber, jeweils in das ruhig gelegene Haus zurückzukehren.
Sie brachte gewöhnlich eine Kleinigkeit vom nahen Delikatessengeschäft mit, und Finlay und sie assen jeden Abend zuhause.
«Erzähl mir von dir und von Claire», platzte sie schliesslich am dritten Abend heraus. «Mum und Dad sprechen mit mir nie über euch oder darüber, wie es früher war.»
«Was willst du denn wissen?», fragte Finlay. «Ich kenne auch nicht alle Details. Zudem sind Erfahrungen immer subjektiv. Frag lieber Claire, die sieht alles viel positiver.»
«Ja. Claire. Obwohl ich die ersten Jahre mit ihr aufgewachsen bin, kenne ich sie kaum. Der Altersunterschied war zu gross. Ich möchte unbedingt auch John-Pierre kennenlernen. Sie hat ihn noch kein einziges Mal nach Cornwall mitgenommen. Weisst du mehr über ihn?»
«Kaum. Aber Lance war ja auch noch nie dort. Abgesehen davon, dass Claire und ich euch selten besuchen. Nicht, weil wir euch nicht mögen würden, sondern weil wir nach Olivers Unfall dermassen überbehütet wurden, dass wir dem noch heute entfliehen wollen. Das war auch der Grund, dass wir beide so früh wie möglich von zu Hause ausgezogen sind. Doch ansonsten ticken wir total unterschiedlich.»
«Das verstehe ich nicht. Olivers Unfall hat euch doch sicherlich zusammengeschweisst.»
«Zum Teil. Als Kinder brauchten wir einander. Doch von da an, als ich ins Internat ging, verbrachten wir nur noch die Ferien zusammen. Zudem spielte Claire in jener Zeit lieber mit dir. Du warst so etwas wie eine lebendige Puppe für sie. Ausser Henry hatte ich während der Ferien in Cornwall keine Spielkameraden.»
«Und wie lief es, als Claire mit dir in der WG lebte?»
«Überhaupt nicht. Sie benahm sich seltsam. Ich hatte mir das ganz anders vorgestellt.»
«Seltsam? Sie war doch so glücklich, von Mum wegzukommen …»