Roman
Impressum
2. Auflage 2018
© 2017 Münster Verlag GmbH, Basel
Alle Rechte vorbehalten.
Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden, insbesondere nicht als Nachdruck in Zeitschriften oder Zeitungen, im öffentlichen Vortrag, für Verfilmungen oder Dramatisierungen, als Übertragung durch Rundfunk oder Fernsehen oder in anderen elektronischen Formaten. Dies gilt auch für einzelne Bilder oder Textteile.
Umschlaggestaltung: |
Andrea Mühlemann |
Umschlagbild: |
Carl Vilhelm Holsøe, «Frau am Fenster» |
ISBN 978-3-905896-68-8
eISBN 978-3-907146-10-1
www.muensterverlag.ch
Meinem Mann
Die Signora will allein sein
Lydia Welti-Escher und Karl Stauffer-Bern
Quellen und Literatur
Zusätzliche Literatur
Sein reimt sich auf Schein und Schmerz,
wie könnt es anders sein, auf Herz.
Macht die Ähnlichkeit der Worte sie nicht im Sinn auch ebenbürtig?
Was man sich zusammenreimt, entspringt der eigenen Wirklichkeit.
Doch sind die Gedanken frei. Es gilt nur, diese festzuhalten,
um sie damit aus dem Kopf, der viel zu voll ist, zu befreien.
Jetzt bin ich also angekommen, und die Begleiter sind gegangen.
Ein wahrlich imposantes Haus und durchaus angemessen,
inmitten eines grossen Parks, sehr ruhig auch gelegen.
Zwar ist es nur ein Übergang, ich werde hier nicht bleiben.
Doch besser ist es allemal, als im Hotel zu weilen.
Es sei ein Kloster, sagte man, mit vorzüglicher Bewirtung.
Es ist ein ansprechender Ort, um mir das Warten zu erleichtern.
Ich fühle mich hier aufgehoben.
Die angenehme Ambiance, die grosszügigen Zimmer –
sogar mit Baderaum und Wanne – sowie der Villa traute Stille,
die mich umgibt wie eine Decke. Dies stärkt meine Zuversicht.
Fast ständig ist jemand zugegen, um meine Wünsche zu erfüllen.
Einerseits zuvorkommend und andrerseits mit einer fast
ehrfürchtigen Zurückhaltung werde ich rege umsorgt,
was mir manchmal etwas viel ist. Denn allein sein möchte ich.
Wenigstens zeitweilig. Doch immerzu ist jemand da,
als könnte man mich nicht einmal für einen einzigen Moment
aus den Augen lassen.
Es fehlt mir nichts. Ich darf nicht klagen. Es wird wohl nicht lange dauern,
bis Karl wieder bei mir ist. Man wird ihn aus der Haft entlassen,
da es sich ja nur um einen dummen Irrtum handelt.
Wir haben freilich nichts getan, was ungesetzlich wäre.
Wir sind frei und in der Absicht, uns die Zukunft anzueignen.
Daran kann uns niemand hindern. Unrecht ist es darum nicht,
wie wir gehandelt haben.
Ungewöhnlich und nicht üblich mag es zweifellos erscheinen,
unser Bruch mit dem Gewohnten. Warum nicht einmal mutig sein
und etwas tun, das wir uns schon so lange Zeit erträumten?
Es liegt so vieles hinter uns, doch noch mehr steht uns bevor.
Die Pläne haben wir gemacht. Sie wollen nun verwirklicht werden.
Die Zeit dafür ist nun gekommen.
Ich erwarte ihn mit Freude, meinen Wegbegleiter.
Darum will ich schreiben.
Um mich selber zu erklären.
Vielleicht eher mir als allen, die um mich herum sind.
Denn ich stehe mittendrin in ungewisser Gegenwart.
Ich lasse die alltägliche Vergangenheit weit hinter mir.
Doch fehlt mir jede Sicherheit zu wissen, was nun sein wird.
Es formt sich ein Anbeginn von irgendetwas Neuem,
doch ohne einen Blick darauf und ohne das Verständnis
für das, was ich zurückgelassen – immer bleibt es ein Versuch –,
ist das Bild von einem neuen Leben viel zu fern, um zu erkennen,
wie es einmal sein wird, wie man es gestalten will.
Kann ich hier von Wollen sprechen? Habe ich denn eine Wahl?
Ist nicht vieles unausweichlich, und was wird erwartet?
Wie viel wird mir vorgeschrieben? Wer ist es, der die Weichen stellt?
Manche nennen es womöglich Schicksal, eine höhere Macht.
Demnach soll man darauf vertrauen, dass es etwas Grosses ist,
was Vorfälle, Begegnungen herbeiführt, und sie glauben,
dass schon alles vorbestimmt ist und wir nichts zu lenken haben.
Ich kann diese Sicht nicht teilen.
Es fällt mir schwer, mich vorbehaltlos einzufügen, mich zu schicken,
ohne selber zu bestimmen, wie es weitergehen soll.
Ich stelle mich nicht gegen Gott.
Soll es ihn ruhig geben, für alle, die sich daran halten
und sich darauf stützen wollen. Mir ist des Menschen eigenes Wirken
von grösserer Bedeutung.
Jetzt mehr denn je.
Selbst eine Frau soll Einfluss nehmen, wohin ihr Weg sie führen soll,
hat sie doch ihren Willen. Und auch Wünsche, Vorstellungen,
nach denen sie sich richten soll.
Ich habe meine Träume und will sie auch verwirklichen.
Das gebe ich nicht aus der Hand. Ich überlasse mich nicht länger
dem Geschick des Himmels, an den ich gar nicht glauben kann.
Der sogenannte Liebe Gott, falls ein solcher existiert,
hätte wohl recht viel zu tun mit allen seinen Schäfchen.
Wie könnte er das Treiben hier auf Erden überblicken?
Das Gerangel um Macht, um Geld und den Kampf um den Frieden,
dann das Ringen gegen Armut, gegen Krankheit und den Tod?
Das kann nicht einem Einzigen allein wohl überlassen sein.
Deshalb gibt es vielleicht Kirchen, Räte und Gerichte.
Als Helfer und als Unterstützung beim Regeln der Gesellschaft,
damit die Welt regierbar bleibt und nicht auseinanderfällt.
Man nehme, so ist es geboten, die Bibel, ein Gesetzesbuch
und lese nach, was richtig ist.
Ich ziehe mein Gewissen vor als die Instanz, die mir den Weg weist,
den für mich richtigen. Schliesslich geh ich diesen selber.
Sogar in Gesellschaft.
Und am Ende bin ich wieder ganz allein auf mich gestellt.
Denn sterben muss ein jeder selber. Doch warum ans Sterben denken?
Kommt man vielleicht so zum Anfang, indem man ans Ende denkt?
Es ist längst noch nicht so weit. Ich lebe, und das ziemlich gern.
Nur weiss ich nicht, auf welche Weise.
Dass Emil sich nicht abgewendet hat, ist ihm hoch anzurechnen.
Ich nehme mit Erleichterung zur Kenntnis, dass dem so ist.
Und nicht ohne Verwunderung.
Aber eben, er ist anders. Nicht vergleichbar mit den meisten.
Er zeigt löbliches Verhalten unter widrigsten Umständen.
Welcher Ehegatte wird – nach eigener Betrachtungsweise –
betrogen, zeigt sich trotzdem noch besorgt, sogar fürsorglich?
Schickt sogleich nach einem Arzt, der sich um der Gattin Wohl
bemüht und ihm bestätigt, diese sei rundum gesund?
Natürlich hat es mich gewundert, dass man mich untersuchen wollte,
da mir doch nichts fehlte. Aber meinem Mann zuliebe
liess ich es geschehen.
Den Umzug in die Villa hier hielt man darauf für angebracht,
aus dem Grunde, dies entspräche besser meinem Stand.
Für eine Dame sei unziemlich, allein im Gasthaus zu verbleiben.
Das einzusehen fiel mir leicht. Darum bin ich also hier.
Und die Begleiter sind gegangen.
Jetzt erwarte ich nur sehnlich alle meine Koffer.
Dass sie in Kürze hier eintreffen, hat man mir versprochen.
Zugesichert wurde mir auch eine eigene Zofe,
die sich leichttut mit Obliegenheiten einer Dame.
Die Mädchen hier, so scheint es mir, sind etwas unbeholfen.
Ich brauche eine Angestellte, welche weiss, was sie zu tun hat,
ohne dass ich ihr erst alles auseinandersetzen muss.
Dann werde ich gerüstet sein und wieder in der Lage,
Besuche zu empfangen und die Villa zu verlassen.
Nichts beschämt mich mehr als dieses eine Reisekleid,
das ich schon seit Tagen trage, da es mir an Garderobe
und Toilette mangelt, um mich meiner angemessen
fein zu präsentieren. Mir fehlt sogar ein Mantel.
Wo er wohl geblieben ist?
Ging ich ohne ihn auf Reisen? Habe ich ihn hängen lassen?
Nein, ich bin es nicht gewohnt, auf so etwas zu achten.
Denn gewöhnlich reise ich nicht ohne meine Zofe.
Das Kleid hat man mir zwar gewaschen und in die Form gebügelt.
Doch keine Möglichkeit zu haben, mich zum Essen oder Bummeln
anders anzuziehen, ist mir recht unangenehm.
Weil ich nicht im immergleichen Rock mich zeigen kann,
lasse ich mein Essen lieber auf das Zimmer bringen.
Ich gehe nicht in den Garten. Auch wenn ich im Süden bin
und mich also niemand kennt, ziemt es sich nicht für eine Dame,
ohne Mantel auszugehen. Ausserdem ist jetzt November.
Daher manchmal etwas kühl. Ich muss auf die Gesundheit achten,
sorgsam mit den Kräften sein.
Es kommt noch so viel auf uns zu.
Vorerst an diesem Ort zu sein hat wohl seine Richtigkeit.
Hier kann ich zur Ruhe kommen, habe weiter nichts zu tun.
Nichts, was zu erledigen ist oder zu entscheiden.
Es wird wohl zwei, drei Wochen dauern, bis Karl wieder hier ist
und wir zusammen weitergehen. Bis dahin werde ich mich ordnen.
Regeln, was zu regeln ist.
Die Scheidung kann vollzogen werden, das wird nach Emils Willen sein.
Dass diese Angelegenheit sich nicht gross in die Länge zieht,
liegt mir sehr am Herzen. Es soll ihn nicht belasten.
Schliesslich kann er nichts dafür, mein Mann, der er noch immer ist.
Das habe ich ihm aufgeschrieben. Und hinterlassen in Florenz.
Das ganze schöne Protokoll, dazu die beigelegten Briefe.
Sie lassen keine Fragen offen.
Ich habe ihn nicht hintergangen. Nicht in meinem Sinne.
Offen habe ich die Fakten alle auf den Tisch gelegt.
Dass es um mich geht, nicht um ihn. Dass ich ihn nicht verletzen will.
Auch Betrug soll es nicht sein. Denn so ehrlich, wie ich bin,
schrieb ich alles auf. Er wird also lesen können, wie es um mich steht.
Und verstehen. Und auch wissen, was genau zu tun ist.
So liegt es nun in seiner Hand, die Dinge gut voranzutreiben.
Auf ihn ist Verlass.
Gewiss wird sich bald alles weisen, auch wenn ich hier in diesem Haus
in meiner Einsamkeit nicht eben viel ausrichten kann.
Nicht einmal reden kann ich hier. Ich wüsste nicht, mit wem.
Darum habe ich nach Feder und Papier gefragt.
Briefe will ich schreiben. Doch nicht nur das.
Es gehen mir so viele Worte durch den Kopf. Denn noch mehr als eine Zofe
fehlt mir eine Freundin. Ein offenes Ohr für alle diese
Fragen und Gedanken, die in einem Geist sich formen,
wenn sich Veränderung ergibt.
Ich bin also unterwegs. Weiss nicht, wohin die Reise,
die ich in Gedanken mache, mich am Ende führen wird.
Die Räder drehen sich im Kopf. Es geht immer weiter,
als fahre ich auf neuen Schienen in mir unbekanntes Land.
Der Rhythmus trägt mich immer weiter, und die Worte folgen ihm.
Es ist wie in der Eisenbahn. Man sitzt und kommt doch vorwärts.
Nun schreibe ich in diese Hefte und finde so Gehör.
Vielleicht werde ich verstanden, später, falls dies jemand liest.
Das ist meine Hoffnung.
Denn die Gedanken einer Frau sind anderen oft unergründlich.
Wohl hauptsächlich aus dem Grund, dass nicht die Hälfte, was gedacht,
auch jemals ausgesprochen wird. Das tut eine Dame nicht.
Doch deswegen hört das Denken nicht auf einmal auf.
Zum Nachdenken ist immer Zeit. Vielleicht oft sogar zu viel,
denn der Geist ist unterfordert ohne Konversation.
Viel zu selten hatte ich doch für Gespräche und Geschäfte
in letzter Zeit Gelegenheit. Auch jetzt weiss ich nicht, was zu tun ist,
ausser zu sinnieren und in Notizen festzuhalten,
was als halbes Leben ich schon hinter mich gebracht
und jetzt zurückgelassen habe.
Es gibt so vieles, von dem niemand irgendetwas weiss.
Denn darüber spricht man nicht. Eine Frau ist immer ganz allein auf ihrem Weg,
wenn sie ihn nicht in der Art geht, wie man es sich wünscht.
Denn gelenkt wird sie bekanntlich von dem Urteil und dem Anspruch,
den die anderen an sie stellen. Nur bin ich nicht eine Frau,
die sich fügen und Erwartungen genügen kann,
ohne darauf achtzugeben, was ihr selber wichtig ist.
Wie schnell erscheint man renitent, wenn man sich nur erklären möchte.
Wer hat zum Beispiel je gefragt, warum gerade Emil mir
der Liebste war von allen?
Solches wage ich zu schreiben.
Ohnehin, wo nichts mehr so ist, wie es einmal war.
Mein Ehemann wird bald nicht mehr mit mir zusammen sein.
Doch steht dies nicht mit meiner Wahl, die ich getroffen habe,
in einem Zusammenhang. Man hat schon damals nicht verstanden,
warum ich mich so entschied, war dafür und dagegen,
dass ich mich vermählte. Alle hatten ihre Gründe.
Ich hatte den meinen. Und das ist der einzige, den ich gelten lasse.
In Emils Blick lag keine Gier, als wir uns erstmals trafen.
Dies vom ersten Tage an.
Das ist nun bald zehn Jahre her.
Er meinte mich, wenn er mich ansah. Nicht den Vater, nicht das Geld.
Wir sprachen über dies und das. Sehr zögerlich noch zu Beginn.
Da sprach er wenig. Es schien fast, als fehlten ihm die Worte.
Dann formten sie sich jedoch langsam zu wohlbedachten Sätzen.
Niemals formulierte er, um mir zu imponieren.
Er sagte, was er meinte, und dies immer in Bescheidenheit.
Seine Unaufdringlichkeit, so denke ich noch heute,
entsprang der inneren Schüchternheit. Oder dem Respekt?
Für ihn war ich nie eine Frau als minderwertiges Geschöpf.
Er sah in mir, da bin ich sicher, ein gleichgestelltes Gegenüber.
Er wollte meine Meinung wissen, nahm sie immer ernst.
Und dadurch mich.
Und sein Interesse schien mir niemals unglaubhaft zu sein.
Ich fühlte mich ihm ebenbürtig, überlegen vielleicht gar,
wenn die Gedanken mir manchmal davonzulaufen drohten
und ich mich richtig bremsen musste, um ihn nicht in Verlegenheit
zu bringen, wenn ich plauderte und er nur immer stiller wurde.
In seiner Nähe war mir wohl. Er gab mir seine Wertschätzung,
in allem, was ich bin und nicht bin.
Den Hof hat er mir nie gemacht
und schickte keine Karten, Blumen
oder gar Präsente, wie die anderen dies taten
und sich fast überschlugen mit lächerlichen Bücklingen.
Und sich um die Tänze rissen an den vielen Bällen,
den Vater immerzu im Auge. Ihm wollten sie Eindruck machen.
Nicht mir. Genau dies Imponieren hatte Emil niemals nötig.
Und wohl dachte er vorerst nicht einmal an Hochzeit.
Sein Handeln schien mir absichtslos. Ohne Hintergedanken.
Er schätzte die Zusammentreffen, so, wie sie sich ergaben.
Allmählich kamen wir uns näher. Aber niemals wie Verliebte.
Es war nicht so, dass ich mich jemals wirklich nach ihm sehnte.
Und wenn, dann mehr nach guter, ebenbürtiger Gesellschaft.
Sein Erscheinen war mir lieb, auch seine Gegenwärtigkeit.
Emil war ein schöner Mann.
Ist es natürlich immer noch.
Mit erlesenem Geschmack und immer tadellos gekleidet,
den Umständen stets angepasst. Er wählt die Kleidung mit Bedacht,
und früher hatte ich mich oft gefragt, wer ihn dabei beriet.
Heute weiss ich, dass es gar nicht nötig ist. Denn meinen Rat
hat er nur selten eingeholt. Es scheint, als sei ihm dies gegeben,
der ungetrübte Blick fürs Schöne. Klug ist er dazu.
Jedoch niemals aufgeblasen, wie man dies erwarten könnte
bei einer solchen Herkunft. Eher schien sein grosser Vater
ihn zu schmälern. Stand er doch in dessen Schatten und trug trotzdem
dieses Leuchten in sich, dieses sanfte, unscheinbare,
das man erst bemerkt, wenn man ihn gut kennt.
Bescheidenheit kann man es nennen.
Manch einer fand, Zielstrebigkeit und Ehrgeiz fehlten ihm.
So war es wohl auch bei Papa. Für mich aber war genau dies
seine wahre Grösse. Nie war er Täuschung oder Schein.
Ohne sich zu überschätzen, wusste er um sein Niveau.
Er machte sich nichts vor und auch den anderen nicht.
Das hatte er nicht nötig.
Ihm haftete nichts Falsches an. Oder gar Berechnendes.
Ehrlichkeit ist seine Art, daher kann ich ihn nicht betrügen.
Wir waren immer aufrichtig einander gegenüber.
Das will ich auch weiter sein. Ich schätze diesen Mann noch immer.
Auch wenn wir in Bälde nun nicht mehr als Eheleute gelten.
Als Freund will ich ihn nicht verlieren. Und er mich wohl nicht als Vertraute.
Darf ich auf seine Güte zählen, nach allem, was geschehen ist?
Die Tinte fliesst auf das Papier.
Die Gedanken springen mir zum Fenster raus und in den Park.
Wie grün er ist, jetzt im November.
Die Zypressen stechen in den Himmel und die Pinien
spannen ihre weiten Schirme aus, auch jetzt im Herbst noch,
wo Schatten gar nicht nötig ist.
Der Hauch des Fremden liegt vor mir, und doch scheint es so vertraut.
Vielleicht, weil ich als Heimat wählte, was Mama immer lieb war?
Ich bin in Rom, das wird mir erst allmählich recht bewusst.
Die Tage sind so schnell vergangen, dass ich nicht wirklich ankam.
Die Wochen in Florenz und kurz darauf die lange Reise,
dann der Umzug. Alles nicht von langer Hand geplant,
wie mir dies Gewohnheit ist. Und bald kommt der nächste Tag,
das ist morgen auch nicht anders.
Wie schnell mir doch die Zeit vergeht, indem sich Sätze fügen.
Ich spüre mich zurück, gleichzeitig auch darüber nach,
wo die Weiche umgestellt und mein Zug abgebogen ist
und nicht mehr länger diesem Ziel, das am vorgesehenen Ende
der Strecke liegt, entgegenfährt. Ich bin auf einem anderen Gleis.
Auf einem unbekannten. Ich fahre nun irgendwo hin,
an einen Ort, der mir zwar fremd ist, mich jedoch nicht ängstigt.
Und ja, ich denke wie Papa.
Das hat man mir schon oft gesagt. Ganz nach Eisenbahnmanier.
Nur dass er, den ich verehre, immer klar gewusst hat,
wohin es mit ihm gehen soll. Er hat die Weichen selbst gestellt.
Meistens war es richtig.
Und er hat mich stets gelehrt, allzeit zu hinterfragen.
Seine Unerschrockenheit hat er mir hinterlassen.
Wo ich auch immer stehen mag, er ist ein Teil von mir.
So fühle ich mich nicht allein.
Er war schon sehr früh erwacht und sogleich aufgestanden. Sie lag noch da und schlief tief und fest, hatte sich im Schlaf von ihm abgewandt, und nun betrachtete er im Spiegel des Waschtischs ihr Gesicht, in das sich über der Nase kleine, zornige Falten gegraben hatten. Ein Zeichen von Kummer? Oder war es eher die Entschlossenheit? Um den Mund hingegen lag ein kindliches Lächeln. Dies verlieh ihren Zügen eine entspannte Zufriedenheit, welche er bei ihr zuvor selten gesehen hatte. Trotz allem schien es ihr also gut zu gehen, das machte ihn fast fröhlich in diesen ersten Stunden eines weiteren gemeinsamen Tages. Und auch die Tatsache, dass sie schlafen konnte, endlich. Es war ein gutes Zeichen, dass sie sich jetzt entspannte, sogar in solch bewegter Zeit. Sie war bei ihm, und das schien sie friedlich zu stimmen, auch wenn die Umstände noch alles andere als geklärt waren.
Karl hätte dieses Gesicht skizziert, mit sicherem, raschem Strich, wäre er nicht von der Notwendigkeit getrieben gewesen, die Dinge zu regeln, welche seine Zukünftige in Sorge versetzten. Denn sorglos war sie bei Weitem nicht. Und er auch nicht, wenn er ganz ehrlich war. Auch wenn er sich so gab, um sie nicht zu beunruhigen. Ausgestanden war noch nichts. Es stand noch einiges bevor, und dass sie keinen Rappen Geld mehr bei sich hatten, beunruhigte ihn am meisten.
Hastig wusch er sich Gesicht und Achselhöhlen. Mehr Wasser wollte er nicht verschwenden. Der Krug war noch drei Viertel voll. Wenn sie sich schon die wenigen Utensilien, die hier auf dem Waschtisch lagen, vom Zimmermädchen hatte erbitten müssen, sollte es ihr bei der Toilette wenigstens nicht an Wasser fehlen. Er schlüpfte in Hemd und Hose und schnürte sich die Schuhe. Zumindest er hatte frische Kleider, welche er am Vortag aus dem Atelier geholt hatte. Heute würde er für sie noch einen Mantel organisieren. Ein neues Kleid musste warten. Dafür musste er erst einmal ein paar Lire auftreiben. Nur wusste er nicht wo.
Die Tapferkeit der Frau an seiner Seite beeindruckte ihn tief. Kannte er sie doch als das verwöhnte Wesen, das manchmal dreimal am Tag das Kleid wechselte, nur weil es der Laune nicht mehr ganz entsprach. Jetzt hatte sie nur dieses eine, das sie für die Reise angezogen hatte. Die Koffer waren irgendwo. Auch die Haare musste sie sich selber machen, was man der einfachen Frisur ansah, wenn sie zum Frühstück erschien. Doch sie trug auch dies mit Fassung. Und benahm sich so wie immer, ganz die reiche Dame. Beklagte sich auch nicht darüber. Liess sich den Kaffee einschenken und verlangte nach warmer Milch, als wäre diese Herberge ein Hotel der ersten Klasse. Sie sah über die Flecken auf dem Tischtuch hinweg und über den Umstand, dass man ihr am Nachmittag den Tee nicht auf dem Zimmer servierte. Den brachte er ihr, so wie auch die Bücher aus dem Atelier, damit sie sich nicht langweilte, wenn er sie alleine lassen musste. Unternehmen konnte er nicht viel mit ihr. Seine Geschäfte riefen. Dennoch ging viel Zeit verloren, welche er für sie aufwandte. Er konnte sie nicht einfach sich selbst überlassen in dieser Stadt, welche ihr doch gänzlich fremd war.
Es war ihm neu, für jemanden da zu sein. Noch nie hatte er Verantwortung übernommen für einen anderen Menschen. Er war es ihr jedoch schuldig. So lange, bis sie endlich alles hatten, was sie zum Leben brauchten. Und sie brauchten viel. Eine Frau wie sie vor allem. Sie kannte es nicht anders und hatte hohe Ansprüche.
Da, wo sie herkam, trug man selbst im Bett noch seidene Gewänder und liess sich die feuchten Haare flechten für den Schlaf, wohl damit sie morgens dann in den rechten Wellen lagen, wenn ein Mädchen sie minutenlang kämmte und Strähne für Strähne richtete, so dass am Ende das entstand, was ein Mann niemals verstehen konnte. Die wilden, ungebändigten Mähnen seiner Modelle hatten ihm immer besser gefallen. Er fand Haar sehr anziehend. Doch nur, wenn es ihn zum Spiel einlud. Die Haartracht einer Dame jedoch galt es unberührt zu lassen. Und dies selbst beim Liebesspiel. War es das, was ihn bisher davon abgehalten hatte, sich mit einer wie ihr einzulassen? War er ihr gewachsen?
Nun lag sie also da in grobem Leinen, auf dem Kopfkissen ein einziger Zopf, den sie selber zustande gebracht hatte. Das Nachthemd hatte er auftreiben können, um ihr Reisekleid über Nacht waschen zu lassen. Am Morgen danach hatte er es wieder abgeholt. Samt Unterwäsche und den Strümpfen. Sogar die Schuhe waren blank geputzt. So konnte sie sich wieder zeigen. Auch wenn sie sich schämte, wie er wusste, selbst wenn sie es nicht sehen liess. Doch tagelang in derselben Kleidung zu sein war sie nicht gewohnt. Sie tat es aber mit einem bitteren Lachen ab und meinte, man kenne sie ja nicht in Rom. Und bald kämen wieder andere Zeiten. Er war dankbar um ihre Zuversicht. Bei ihm wechselten die Gefühle stündlich. Ungeduld und Ärger, Besorgnis oder Euphorie, eine Empfindung löste die nächste ab, noch bevor er sich an einen Zustand so recht gewöhnen konnte. Sie dagegen schien ausgeglichen. Obwohl Gelassenheit nicht ihrem Naturell entsprach. Die Nervosität der letzten Tage hatte ihr schon zugesetzt, doch machte sie vielleicht der Umstand, dass sie jetzt entschieden hatte, mit wem ihr Leben weitergehen sollte, so ruhig und duldsam. Sie hatte ihr Schicksal vertrauensvoll in seine Hände gelegt, was ihn mit Stolz erfüllte. Und auch mit Angst. Konnte er denn für sie da sein, er, der immer nur für sich selber geschaut hatte? Ein Egoist war er, das hatte man ihm so oft vorgeworfen, dass er selber daran glaubte, oder eher, dass er meinte, es stünde ihm nichts anderes zu, da er so geboren wäre. War sie ihm nicht ein Klotz am Bein? Konnte er denn Rücksicht nehmen auf jemanden neben sich? Hatte er nicht anderes vor? War er nicht der Kunst verpflichtet?
Vorerst verscheuchte er solcherlei Gedanken und trat aus dem Zimmer, aus dem Haus. Die Post war nicht weit, und die Briefe mussten weg. Für eine Zeitung reichten die paar Münzen noch, die er in der Hosentasche bei sich trug. Dann kehrte er zurück, setzte sich ins Frühstückszimmer und wartete auf sie.
Und als sie kam, roch sie wieder nach den frischen Veilchen, so wie an dem ersten Tag, als er sie im Park begrüsste und er diesen Duft wahrnahm, der ihrem Wesen ähnlich war und ihm doch auch zuwiderlief. Dies war ein erster Widerspruch, den er an ihr festgestellt hatte. Es sollte noch so mancher dazukommen. Nun stand sie aber vor ihm, und er küsste ihr sanft die Hand. Er konnte sehr galant sein. Rückte ihr den Stuhl zurecht und winkte einen Kellner herbei. Ihre Laune schien, so wie der Tag, mit Sonne erfüllt zu sein, und er konnte ihr gut mitteilen, er werde sie nun für eine Weile allein lassen müssen, um ein paar Dinge zu erledigen. Es schien ihr nicht viel auszumachen. Mit Appetit biss sie lächelnd in ihr Brötchen und meinte vergnügt, natürlich nicht mit vollem Mund, es würde ihnen noch genügend Zeit verbleiben, um die Stadt und ihre Zukunft aufs Gründlichste zu erkunden.
Doch nun traten zwei unbekannte Männer zu ihnen hin. Und baten ihn diskret hinaus. Das konnte schon vorkommen, dass er, bekannt wie er hier nun einmal war, vom Tisch gerufen wurde. Arglos ging er mit ihnen, ohne sich von seiner Tischdame zu verabschieden, in der Annahme, gleich wieder bei ihr zu sein. Sie entschuldigte ihn mit einem Nicken und wandte sich dem Kaffee zu. Wie lange sie wohl noch an dem Tisch geblieben war, bevor sie merkte, dass er nicht zurückkommen würde?
In der Eingangshalle gab man ihm dann zu verstehen, er habe mit ihnen mitzugehen. Vorerst sei er festgenommen. Und noch bevor ihm ein Einwand einfallen wollte, spürte er das Metall um seine Handgelenke. Was sollte er sich widersetzen? Es konnte nur ein Irrtum sein. Denn er war sich keinerlei Schuld bewusst. Darum setzte er sich nicht zur Wehr und stieg in diesen Wagen, dessen Rückseite mit Gitterstäben versehen war. Wenn ihn jetzt nur niemand sah!
Die eisenbeschlagenen Räder ratterten über das Pflaster und vorne trabten schnaubend die Pferde, wie wenn es nichts Schöneres gäbe, als rasch voranzukommen. Er fuhr durch die Strassen, die ihm so vertraut waren. Er sah die Stände auf dem Marktplatz und erblickte in seiner Mitte den Helden auf seinem hohen Sockel. Der stand hier für die Freiheit. Und die Freiheit würde man auch ihm nicht nehmen, dem zu Unrecht Verhafteten. Das Denkmal stieg jedoch nicht zu ihm herunter, um ihn zu befreien, sondern liess ihn vorüberziehen, dem Tiber immer näher, dem Gefängnis entgegen. Die Carceri Nuovi, die schlimmsten Verliese der ganzen Stadt, waren bekannt dafür, dass man hier nur die Übelsten aller Täter einlochte. Und einmal mehr zweifelte er an der Richtigkeit seiner Festnahme. Lag vielleicht eine Verwechslung vor? Die Kutsche fuhr durch das mächtige Tor in der hohen Mauer, und vor dem Portal hiess man ihn aussteigen. Die paar Stufen führten in einen freundlichen Empfangskorridor, der in einem hellen Hof endete, wo sogar ein paar Pflanzen wuchsen. Die fein gekleideten Beamten empfingen ihn mit Höflichkeit und füllten Formulare aus. Was er bei sich trug, musste er abgeben. Auch das wurde säuberlich notiert. Dann führte man ihn ab. Und es begann die Dunkelheit. Zwischen hohe, enge Mauern wurde er gebracht, jede Öffnung war vergittert, und es fiel kaum Licht ins Innere. Und auch keine frische Luft. Es stank fürchterlich nach Exkrementen und die Wände waren schmierig von Feuchtigkeit und Schmutz. Eine enge Wendeltreppe führten sie ihn hoch. Die Zellentüren, die er im schummrigen Licht erkennen konnte, verfügten über schmale Klappen, die wohl für das Durchreichen des Essens gedacht waren. Das sah man ihnen an. Klebrige Spuren eingetrockneter Speisereste konnte er daran ausmachen. Ihm wurde übel von dem allem, doch machte er sich noch nicht viele Gedanken, er rechnete immer noch mit einem Versehen. Bald würde er ja wieder draussen sein.
Im Dachgeschoss wurde ihm eine Tür geöffnet. Das Klappern der Schlüssel am Bund des Wärters würde er nun noch oft hören. Doch das wusste er da noch nicht. Er trat hinein in die geräumige Zelle, die ihm in ihrer Düsternis dennoch wie ein Loch erschien. Die kleinen Fenster, die weit oben in der Wand eingelassen und ebenfalls vergittert waren, liessen kaum einen Sonnenstrahl herein. Und dass er nicht allein hier drinnen war, merkte er auch erst mit der Zeit. Neunzehn Männer waren sie insgesamt. Zum Glück verstand er ihre Sprache, so dass er bald wusste, mit wem er es zu tun hatte: Strassenräuber, Schwerverbrecher, Mörder oder Kinderschänder waren sie. Und er darunter. Noch blieb er aufrecht. Es grauste ihn, sich in diesen Dreck zu setzen. Und bis man ihn wieder holen würde, konnte er wohl stehen bleiben.
Ich weiss nicht, wo ich bin, wenn ich erwache in der Nacht.
Zu oft bin ich in letzter Zeit von Stadt zu Stadt gezogen.
Nie habe ich mehr die Gewissheit, irgendwo daheim zu sein,
denn ein Zuhause, das fehlt mir in diesen Tagen sehr.
Es ist kein Ort mir mehr vertraut. Gewohntes habe ich verlassen.
Dieses Wissen folgt mir sogar noch in meinen Schlaf.
Doch nicht Sehnsucht oder Heimweh machen es mir schwer,
mich zu orten. Schlage ich die Augen auf und versuche dann,
mich im Dämmerlicht zu finden, dauert es ein Augenzwinkern,
und die Zeit steht still – und auch das Herz.
Der Blick sucht dann nach Anhaltspunkten, bis ich wieder atmen kann
und mich zurechtgefunden habe.
Ich rufe mir, was gestern war, in mein Bewusstsein und die Tage,
die von Unruhe geprägt und so unstet waren
wie mein halbes Leben nicht.
Das Kofferpacken, Abschiednehmen. Ich machte es voll Freude.
Das fremde Land lockte mich mehr, als mich die Heimat hielt.
Mein Elternhaus! Mit welcher Zuversicht ich es verliess.
Das schöne Heim, das letztlich doch nichts weiter barg als Umtrieb,
der mich doch nie weiterbrachte. Eine Arbeit ohne Ende,
diese Pflichten, deren Sinn darin bestand, das Haus zu halten,
dieses stattliche Anwesen, das mir vorkam wie ein Uhrwerk,
das nie von selber laufen wollte, da immer irgendwo ein Rädchen
sich nicht richtig drehte.
Es lag an mir, dafür zu sorgen, dass dennoch alles lief.
Wie viele haben mich ums Schloss beneidet und die Angestellten.
«Wie schön und angenehm sie lebt in solch einer Umgebung!»
So haben sie sich wohl geäussert, meine vielen Neider.
«Rundum bedient und im Besitze von jedweder Freiheit.»
Sie haben nur das Geld gesehen und die vielen Möglichkeiten,
die man damit hat.
Dass es aber auch viel Last bedeutet, diese Arbeit,
eine grosse Liegenschaft mit weitem Umschwung zu betreuen,
das hat niemand von den Leuten nachvollziehen können.
Im Reichtum sahen sie Genuss, nie aber das Bemühen.
Tochter nur aus gutem Hause, eine adelige Dame
war es, was sie in mir sahen. Mehr war ich ihnen nicht.
Emil hatte mir die Leitung voll und gänzlich übertragen.
Er hatte andere Aufgaben ausserhalb des Hauses.
Und dieses kümmerte ihn nicht. Ich hätte ja die Zeit dazu,
so meinte er. Und auch die rechte Hand dafür.
Das mag stimmen, was den Garten und die Einrichtung betrifft.
Immer sah ich etwas Neues, das sich anzuschaffen lohnte,
um uns das Heim noch prächtiger und schöner zu gestalten.
Emil hatte nicht den Blick. Er pflegte mich zu bremsen,
wenn ihm schien, die Kosten überstiegen den Etat,
den er mir für unseren Haushalt zugestehen wollte.
Auch er war sich der Anstrengungen, was Hausführung betraf,
nicht im Mindesten bewusst.
Wie musste ich so manches Mal um Angestellte kämpfen,
sei es bei der Wäsche, in der Küche oder auch im Park.
Er fand das Haus an jedem Tag in bester Ordnung vor
und dachte wohl, die ganze Arbeit täte sich von selbst.
Doch mir in den langen Jahren grösste Sorge
war das Personal, die Führung unserer Angestellten.
Was ich an Missgunst, Faulheit, sogar Unterschlagung litt,
kann sich niemand vorstellen.
Vielleicht fehlte ja die harte, starke Hand des Mannes.
Macht wird einer Frau nicht in dem gleichen Masse zugestanden.
Der Respekt ist kläglich, und kaum dreht man dem Betrieb den Rücken,
fängt das Gebilde auch schon an zu wackeln und zu bröckeln.
Nach jeder Reise gab es vieles, was wider die Ordnung war.
Fehlte das wachsame Auge, blieb die Arbeit manchmal liegen.
Ich litt immer stärker unter solcherlei Belastung.
Zu Vaters Zeit gab es das nie. Da hätte niemand sich ermächtigt,
nachlässig zu sein. Er hätte es nicht toleriert.
Liederlichkeit liess er nicht gelten. Er kannte kein Pardon.
Es lief alles wie am Schnürchen.
So sollte es weitergehen.
Doch ich merkte schnell einmal, dass dem leider nicht so war.
Dann kam es vor, dass er mir fehlte. Als starker Mann an meiner Seite,
der mich einzig durch Präsenz ermutigte, auch stark zu sein.
In den Zeiten meiner Ängste, Schwächen und Krankheiten
war es immerzu sein Fehlen, das mich widerstandslos machte.
Ich musste mich darauf besinnen, wer ich war und was mir zustand.
Denn er war es, der mich lehrte, mich selbstbewusst zu geben,
und mir die Art und Weise zeigte, wie Mann und Frau sich gegenseitig
stärken und ergänzen können.
So habe ich mir angewöhnt, mit einem Mann zu leben.
Einer war dem anderen in guter Absicht zugetan,
mit dem einzigen Ansinnen, sich zu unterstützen.
Und wie hat Papa mich gebraucht, als stille Kraft an seiner Seite.
Niemals widersprach ich ihm, wenn andere zugegen waren,
nicht einmal vor dem Personal. Nie stellte ich etwas in Frage,
und wenn ich einen Einwand hatte, war er sich durchaus bewusst,
dass der nicht unbegründet war. Was immer wir besprochen haben,
geschah allein, ganz unter uns.
Und es war nicht etwa wenig, was wir zu bereden hatten.
Wenn er sich vergrub in seinen Akten und Papieren,
setzte ich mich oft zu ihm, ans Fenster in die Ecke.
Als Vorwand diente mir der warme Ofen seines Arbeitszimmers
und der Geruch nach Büchern, Tabak und dem vielen Wissen.
Mit der Stickerei beschäftigt, hatte ich das Augenmerk
auf ihn am Tische gerichtet.
Seine Art, zu seufzen und sich wiederholt den Bart zu kratzen,
verriet mir, dass er haderte und gern gesprochen hätte.
So bestellte ich uns Tee, wir setzten uns an einen Tisch.
Ich bat ihn zu erzählen. Dann kam es zögerlich hervor,
was ihm zu denken gab, und zusammen dachten wir
uns eine Lösung aus.
Mit der Zeit gab er sehr viel auf meine dezidierte Meinung,
und immer öfter liessen wir den Tee sein, sassen an Papieren.
So teilten wir die Sorgen, aber auch die Freude am Gelingen.
Nur in einer einzigen Sache verwehrte er mir Zugang.
Seine Bücher waren mir, der Tochter, stets verboten.
«Das Geld, mein Kind», so sagte er, «soll eine Frau nicht beschäftigen.
Das überlässt sie ihrem Mann. Sie soll damit wirtschaften,
nicht sich darum Gedanken machen.
Und sorgen wirst du dich deswegen dein Leben lang nicht müssen.»
Nein, das muss ich nicht.
Ein Mädchen half mir heute Morgen mit meiner Frisur.
Für eine Zofe in solch feiner Villa schien sie ungewandt.
Sie hatte einen wachen Blick und auch geschickte Hände,
doch wusste sie mit meinem Haar nicht sehr viel anzufangen.
Auch ihre Uniform ist nicht so ganz dem Stand entsprechend.
Das Grau des Rocks und diese Schürze. Der ganze Schnitt ohne den Hauch
von Weiblichkeit und Eleganz.
Das Haar ganz straff, der Knoten satt unter dem weissen Häubchen,
fast hätte «Schwester» ich gerufen, als ich etwas brauchte.
Es herrschen hier wohl andere Sitten als bei uns daheim.
Ich bin in einem fremden Land. Und noch nicht heimisch, vorerst Gast.
Doch das wird sich bald ändern.
Am Essen habe ich nichts weiter auszusetzen, zu bemängeln.
Nur das Brot, ganz ohne Salz, ist mir doch ziemlich ungewohnt.
Und daran, dass man am Mittag keinen Wein bekommt,
störe ich mich auch ein wenig – nicht, dass ich solchen bräuchte.
Hat man doch seine Angewohnheit, und zu einem Rinderbraten
ein gutes Gläschen Wein trinken ist wohl durchaus angemessen.
Das kennt man nicht nur in der Schweiz.
Das Mädchen blieb während des Essens an der Türe stehen.
Auch als ich sie schliesslich bat, mich allein zu lassen,
sah sie mir nur unverhohlen bei der Mahlzeit zu,
als könne sie es kaum erwarten, endlich abzuräumen.
Das Wasserglas hätte ich gern behalten und den Krug,
doch wurde mir dies nicht gewährt. Bin ich denn eine Diebin?
Ich werde mich beschweren müssen.
Denn solch ein Service scheint mir nun doch ziemlich eigenartig.
Fast habe ich schon überlegt, an Emil zu gelangen.
Habe mir dann eingestanden, dass es nicht länger ihm obliegt,
mir mein Wohlsein zu erfüllen. Dass er erneut den Doktor schickte,
um sich zu erkundigen, soll genug sein im Moment.
An Karl zu schreiben überlege ich mir gar nicht erst.
Er gehört nicht zu den Männern, die mit solchem sich befassen.
Sein Kopf hat anderswo zu tun. Die Kunst erfordert freien Geist,
erlöst von Alltagssorgen. Es ist doch die Selbständigkeit,
die Karl an mir zu schätzen weiss.
Ich werde die sein, die sich um das Wohlergehen sorgt,
die dem Künstler es ermöglicht, sich dem Schaffen hinzugeben,
ohne sich darum zu kümmern, wie man lebt oder wovon.
Das ist von nun an meine Pflicht. Ich habe auch die Mittel.
Mein Wille, auf die Art und Weise Höheres zu fördern,
entschuldigt meine Handlungsweise, dessen bin ich mir gewiss.
Weder habe ich im Sinn, schlecht zu sein, noch falsch zu spielen.
Im Gegenteil! Denn Grosses will ich
wenn schon nicht vollbringen, so wenigstens ermöglichen.
Das gelingt mir dieser Tage, wo ich nun mein Werkzeug habe.
Und genau das ist er, Karl.
Ich lasse mich hier nicht von falschen Vorstellungen leiten.
Wir weihen uns zwar ganz der Kunst, mir als Mann wird er jedoch
sich niemals in dem Masse geben, als eine Gattin es verdient.
Ein Künstler muss ausschliesslich und allein sich selber treu sein.
Er braucht Freiheit. Trotz der Ehe kann ich dies gewähren.
Er wird mir nie ganz gehören. Doch bleibt er an meiner Seite,
solange ich ihn unterstütze. Und das nicht bloss materiell.
An Mitteln wird es uns nicht fehlen.
Dass ich ihm auch Stütze bin auf schöpferische Weise,
haben wir rundum erfahren in den letzten Tagen.
So beflügelt waren wir und unseren Ideen nah,
als wären sie schon Wirklichkeit. Ich kann seine Muse sein.
Wir haben es vollzogen. Und es ist gelungen.
Nun wandle ich im grossen Garten,
wähne mich an seiner Seite.
Mit jedem unserer Schritte wuchsen Tempel und Gemeinsamkeit,
wenn wir durch die Landschaft schritten, so, wie ich im Park.
Welche Bilder hat mir Karl entworfen, die ich zu Papier
brachte und in Worte fasste, damit sie nicht verloren gingen.
Edler kann kein Traum mehr sein, reiner keine Absicht.
Zukunft von der schönsten Sorte, die er mir da ausgemalt.
Wie ausgestorben ist der Park.
Kein Mensch auf den gekiesten Wegen. Fast ist es mir nicht aufgefallen.
Spazierte ich daheim doch ebenfalls immer allein.
Der Garten war jeweils ganz mein, wenn ich mich hinausbegab.
Und jetzt steht auch nur dieses Mädchen oben an der Treppe
und verfolgt meinen Spaziergang mit wachsamem Blick.
So wie die Frau am oberen Fenster. Ich begegne ihren Augen,
Sehnsucht liegt darin verborgen, Müdigkeit in ihrer Haltung.
Plötzlich ist sie dann verschwunden, wie von unsichtbarer Hand
schliessen sich auch die Gardinen.
Der Himmel will sich gar nicht öffnen, doch die frische Luft tut gut.
Mit jedem Atemzug füllt sich mein Körper mit heilsamer Kraft.
Dennoch beschleicht mich Einsamkeit, und trotz der Jacke, die man mir
aufgrund der Frische auf den Weg gab, beginne ich zu frösteln.
Es wird Zeit zurückzugehen. Ich möchte jetzt gern Tee und Kuchen.
Süsses hat mir immer schon mein Inneres beruhigt.
Das Mädchen hält die Türe auf. Ich äussere mein Begehren.
Frage sie auch noch nach Büchern, doch bleibt eine Antwort aus.
Sie führt mich wortlos durch den Gang. Der Teppich dämpft die Schritte.
An der Treppe steht ganz plötzlich eine Frau mit Kinderwagen.
Es ist nicht die Frau am Fenster, welche ich vom Park aus sah.
Wo sie wohl hergekommen ist?
Als ich mich zum Wagen beuge, weniger aus Interesse
denn aus Anteilnahme, fixieren mich die kalten Augen
dieser anderen Frau. Wieder spüre ich ein Frösteln.
«Gehen wir!», zischt da das Mädchen, schiebt mich die Stufen hoch.
«Die Dame, sie ist die Contessa, hat ihr Kind verloren»,
flüstert sie im Weitergehen. «Hier erholt sie sich davon.»
«Ach, wie lange ist das her?»
Es müsse dies wohl kürzlich erst geschehen sein, so denke ich.
«Jetzt sind es drei Jahre.»
Die Antwort gibt sie mir sehr leise, als wir endlich oben sind.
Mein Italienisch ist sehr gut. Ich kann dem Wortlaut folgen.
Doch nicht dem Sinn.
Das Mädchen öffnet mir mein Zimmer, wendet sich zum Gehen.
«Ich …»
Sie macht die Türe zu, als hätte sie zu viel gesagt.
So bleibe ich allein mit dem Gedanken an die arme Frau.
Ein Bild taucht auf.
Meine schmale, bleiche Mutter in ihrem viel zu grossen Bett,
tief in weissen Kissen. Blasse Haut, die bläulich schimmert
und Knochen sehen lässt. Trotz des ziemlich hohen Fiebers
waren ihre dünnen Finger auf meiner Kinderhand eiskalt.
Ich spürte ihre Haut auf meiner. Mir ist, als spürte ich sie jetzt.
«Bald werde ich bei Hedwig sein, dann geht es mir auch wieder gut.»
Wie muss Mama gelitten haben, ohne dies auch je zu zeigen.
Viel und lange hatten wir von meinem Schwesterchen geredet,
und immer dachte ich, sie mache dies, um mich zu trösten.
Dabei war es vielleicht eher eigene Trauer, der Versuch,
den Verlust mit mir zu teilen, um ihn zu verarbeiten.
Nach Hedwigs Tod war Mama nie mehr so, wie sie gewesen war.
Mit welchem Stolz hat sie den Kinderwagen durch den Park geschoben,
auch wenn sie mir erzählte, dass Papa einen Sohn sich wünschte.
«Mädchen machen gleich viel Freude, wenn nicht gar noch mehr.»
Das konnte sie mir augenzwinkernd flüsternd anvertrauen.
«Denn Mädchen sind viel braver als die kleinen wilden Buben.
Du bist natürlich etwas anders. Etwas ganz Besonderes.»
Dann rannte sie mir hinterher, tat so, als wäre ich viel schneller.
Und wenn sie mich dann schliesslich doch am Rockzipfel erwischte,
zog sie mich zu sich heran und gab mir einen Kuss.
Natürlich nur, wenn Grossmama nicht in der Nähe war.
Denn die konnte es nicht haben, wie Mama mich auf ihre Art
verzog und wie sie Hedwig herzte und mit sich herumtrug,
kaum dass diese auch nur sachte mit dem Weinen anfing.
Als Hedwig starb, schien Mutters Leuchten langsam zu erlöschen.
Nur noch selten kam es vor, dass sie von Herzen lachte,
so sehr ich mich darum bemühte, sie etwas zu erheitern.
Immer war sie für mich da und brachte mich zu Bett,
erzählte mir die im Moment erfundenen Geschichten.
Doch auch die verloren nach und nach die bunten Farben,
so dass ich sie denn eines Tages bat, mir vorzulesen.
Brachte sie mich in die Schule, fiel mir zwar der Abschied schwer,
doch erlöste es mich auch von dieser Schwere, die mit uns war,
wohin wir auch gingen.
Nur der Traum von diesem Land – Italien – liess sie strahlen.
«Wir werden in den Süden ziehen.»
Das verriet sie mir.
So oft, dass mir schien, dies sei doch kein richtiges Geheimnis mehr.
Und gleichwohl musste es eins sein. Denn Papa sprach niemals davon,
und Mama fror weiterhin, später auch im Sommer.
Nun bin ich also im Süden.
Und seit Langem denke ich nun wieder an die Mutter,
von der ich mich so jämmerlich im Stich gelassen fühlte.
Ich war nämlich überzeugt, sie hätte meine Schwester mir,
der Älteren, vorgezogen, da sie doch zu dieser ging
und nicht bei mir blieb.
Was mir blieb, war der Papa. Den hatte ich jetzt ganz für mich.
Und ich war ihm sein Ein und Alles, auch wenn ich nur ein Mädchen war.
Ich war ihm mehr, sein Leben lang. Und er mir alles, bis er ging.
Sein Platz in mir bleibt unbesetzt.
Denn einen Mann, so wie er war, gibt es nicht ein zweites Mal.
Darum suche ich auch nicht. Weder in Emil noch in Karl.
Beide können mir den grössten Mann im Leben nicht ersetzen.
Denn ich weiss, was Liebe ist und was sie kann. Vor allem aber,
was sie nicht kann. Nämlich dies: von Dauer sein und währen.