Jared Diamond
Der dritte Schimpanse
Evolution und Zukunft des Menschen
FISCHER E-Books
Jared Diamond, 1937 in Boston geboren, ist Pulitzer-Preisträger und Autor des Bestsellers »Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen«. Er ist Professor für Geographie an der Universität von Kalifornien in Los Angeles. Sein Hauptforschungsgebiet ist die Evolutionsbiologie. Für seine Arbeit auf dem Feld der Anthropologie und Genetik ist Jared Diamond vielfach ausgezeichnet worden. Nach »Der dritte Schimpanse«, »Arm und Reich«, hat er zuletzt in den S. Fischer Verlagen »Vermächtnis« und »Krise. Wie Nationen sich erneuern können« veröffentlicht.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Wie sich der Mensch innerhalb kurzer Zeit von einer Säugetierart unter vielen zu einem Eroberer der Welt aufschwang; und wie wir die Fähigkeit erwarben, all jenen Fortschritt über Nacht auszulöschen.
In diesem mehrfach ausgezeichneten Buch erklärt Jared Diamond den Menschen und seine Fähigkeiten aus seiner Abstammung als ›dritter Schimpanse‹.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© Die amerikanische Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel
»The Third Chimpanzee: The Evolution and Future of the Human Animal« im Verlag Harper Perennial
Erweiterte Neuausgabe (2006)
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 1994 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt
Covergestaltung: Andreas Heilmann und Gundula Hissmann, Hamburg
Coverabbildung: Getty Images
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491492-3
Im Deutschen verhält es sich ganz ähnlich wie im Englischen: Während »Schaf« wie »sheep« einen anderen Ursprung hat, lebt der urindogermanische Wortstamm in der mundartlichen Bezeichnung »Aue« fort, die ebenfalls die Bedeutung »Mutterschaf« hat und im süddeutschen Raum und in den Alpenländern noch gebraucht wird; Anm. d. Übers.
Shelley, Percy Busshe: Gedichte. Deutsch von Alexander von Bernus, Walter Schmiele (u.a.), Schneider, Heidelberg 1958.
Für meine Söhne Max und Joshua,
damit sie begreifen, woher wir kamen
und wohin unser Weg führen mag
Wie sich der Mensch innerhalb kurzer Zeit
von einer Säugetierart unter vielen
zu einem Eroberer der Welt aufschwang;
und wie wir die Fähigkeit erwarben,
all jenen Fortschritt über Nacht auszulöschen.
Der Mensch unterscheidet sich unverkennbar von allen Tierarten. Ebenso unverkennbar gehören wir zu den größeren Säugetierarten, bis ins kleinste Detail unserer Anatomie und Moleküle. Dieser Widerspruch ist das faszinierendste Merkmal unserer Art. Jeder kennt ihn, und dennoch begreifen wir immer noch nicht so recht, wie es zu ihm kam und was er bedeutet.
Auf der einen Seite trennt uns von allen anderen Arten eine scheinbar unüberbrückbare Kluft, die uns erst von »Tieren« als Kategorie sprechen läßt. Demzufolge teilen Schnecken, Schlangen und Schimpansen in unseren Augen entscheidende Merkmale miteinander, jedoch nicht mit uns, und fehlen ihnen Eigenschaften, die nur wir besitzen. Zu diesen einmaligen Charakteristika des Menschen gehört unter anderem, daß wir sprechen, schreiben und komplizierte Maschinen bauen. Zum Überleben brauchen wir nicht nur unsere bloßen Hände, sondern eine ganze Reihe von Hilfsmitteln, ohne die wir verloren sind. Die meisten Menschen tragen Kleidung und haben Freude an Kunstwerken, viele glauben an eine Religion. Wir bevölkern den gesamten Erdball, verfügen über einen Großteil seiner Energie und sonstigen Ressourcen und sind dabei, auch in die Tiefe der Meere und ins Weltall vorzudringen. Einzigartig sind wir aber auch, wenn es um unheilvolle Dinge wie Völkermord, Lust an der Folter, Drogenabhängigkeit und die tausendfache Ausrottung von Pflanzen und Tieren geht. Einige Tierarten mögen zwar eine oder zwei dieser Eigenschaften ansatzweise mit uns teilen (zum Beispiel den Gebrauch von Werkzeugen), aber selbst darin übertreffen wir Tiere bei weitem.
Aus praktischer und rechtlicher Sicht gelten Menschen folglich nicht als Tiere. Als Darwin 1859 behauptete, wir stammten von Affen ab, war es kein Wunder, daß die Menschen seine Theorie erst einmal für absurd hielten und darauf bestanden, daß der Mensch eine separate Schöpfung Gottes sei. Viele halten noch heute an diesem Glauben fest, in den Vereinigten Staaten sogar jeder vierte College-Absolvent.
Doch auf der anderen Seite sind wir ganz offenkundig Tiere, mit deren körperlichen Merkmalen, Molekülen und Genen. Sogar unser Platz im Tierreich läßt sich klar bestimmen. Äußerlich ähneln wir so sehr den Schimpansen, daß bereits im 18. Jahrhundert Anatomen, noch fest überzeugt von der Göttlichkeit der Schöpfung, die Gemeinsamkeiten erkannten. Stellen Sie sich nur einige ganz normale Menschen vor, die ihre Kleidung und sonstigen Habseligkeiten ablegen, ihre Sprache verlieren, nur noch grunzen könnten und in einen Zookäfig neben den Schimpansen gesperrt würden. An diesen sprachlosen Käfigmenschen könnten wir erkennen, was wir in Wirklichkeit sind: Schimpansen mit schwacher Behaarung und aufrechtem Gang. Ein Zoologe von einem fremden Stern würde nicht zögern, den Menschen als dritte Schimpansenart zu klassifizieren, neben dem Zwergschimpansen oder Bonobo von Zaire und dem gewöhnlichen Schimpansen, der im übrigen tropischen Afrika vorkommt.
Molekulargenetische Untersuchungen der letzten Jahre ergaben, daß wir über 98 Prozent unserer genetischen Anlagen mit den beiden anderen Schimpansen gemeinsam haben. Der genetische Abstand zwischen uns und den Schimpansen ist sogar noch geringer als der zwischen so eng verwandten Vögeln wie den Laubsängerarten Fitis und Zilpzalp. Somit schleppen wir den größten Teil unseres uralten biologischen Gepäcks noch immer mit uns herum. Seit Darwins Zeiten wurden die fossilen Überreste Hunderter von Lebewesen, welche die verschiedenen Übergangsstufen vom Affen zum modernen Menschen darstellen, entdeckt, so daß es heute bei vernünftiger Betrachtung unmöglich ist, das einst absurd Erscheinende zu leugnen: Die Evolution des Menschen vom Affen fand tatsächlich statt.
Doch die Entdeckung fehlender Zwischenglieder hat alles nur noch faszinierender gemacht, ohne das Rätsel ganz zu lösen. All unsere Besonderheiten müssen auf das Konto jener zwei Prozent unserer genetischen Anlagen gehen, die sich von denen der Schimpansen unterscheiden. Ziemlich rasch und vor noch gar nicht langer Zeit in unserer Evolutionsgeschichte erlebten wir mehrere geringfügige, aber höchst folgenreiche Veränderungen. Noch vor 100000 Jahren hätte der Zoologe aus dem Weltall den Menschen als eine Säugetierart unter vielen anderen eingestuft. Es stimmt, daß wir schon damals mehrere Besonderheiten in unserem Verhalten aufwiesen, vor allem die Beherrschung des Feuers und den Gebrauch von Werkzeugen. Aber das hätte den außerirdischen Besucher wohl nicht mehr beeindruckt als das erstaunliche Verhalten von Bibern und Laubenvögeln. Innerhalb einiger zehntausend Jahre – eines für einen einzelnen Menschen unendlich lang erscheinenden, aber gemessen an unserer Stammesgeschichte sehr kurzen Zeitraums – waren jene Eigenschaften zum Vorschein gekommen, die den Menschen so einzigartig, aber auch anfällig machen.
Welches waren jene wenigen Ingredienzen, die uns zu Menschen werden ließen? Da unsere Besonderheiten erst so kürzlich auftraten und mit so geringfügigen Veränderungen einhergingen, müssen sie oder zumindest Vorläufer von ihnen bereits im Tierreich vorhanden gewesen sein. Welches waren also die tierischen Vorläufer von Kunst und Sprache, Völkermord und Drogensucht?
Unser derzeitiger biologischer Erfolg als Spezies beruht auf besonderen Merkmalen des Menschen. Von den größeren Tierarten ist keine andere auf allen Kontinenten heimisch oder bevölkert sämtliche Lebensräume, von der Wüste und dem Polargebiet bis zum tropischen Regenwald. Kein größeres Wildtier kann es zahlenmäßig mit uns aufnehmen. Doch zu unseren Besonderheiten gehören auch zwei, die unser Überleben in Frage stellen: der Hang zum gegenseitigen Töten und zur Zerstörung der Umwelt. Beides kommt auch bei anderen Arten vor: Löwen und viele andere Tiere töten Angehörige der eigenen Art, und Elefanten trampeln die Vegetation nieder. Doch beim Menschen nimmt die Bedrohung ein viel größeres Ausmaß an – wegen unserer technologischen Potenz und der Explosion unserer Zahl.
Schon oft wurde der Weltuntergang für den Fall prophezeit, daß wir keine Einsicht zeigten und uns nicht zur Umkehr entschlössen. Neu daran ist heute, daß die Vorhersage aus zwei Gründen wahrscheinlich eintrifft. Erstens gibt es Atomwaffen, mit denen die Menschheit erstmals in ihrer Geschichte ein Mittel zur völligen Selbstvernichtung besitzt. Und zweitens eignen wir uns bereits 40 Prozent der Nettoproduktivität der Erde (d.h. der aus der Sonneneinstrahlung gewonnenen Nettoenergie) an. Da sich die Weltbevölkerung zur Zeit im Rhythmus von 41 Jahren verdoppelt, werden die biologischen Grenzen des Wachstums bald erreicht sein. Kriege um die begrenzten Ressourcen unseres Planeten erscheinen dann unausweichlich. Zudem werden bei anhaltendem Tempo der Artenausrottung im Laufe des nächsten Jahrhunderts die meisten Pflanzen- und Tierarten ausgestorben oder vom Aussterben bedroht sein – und das, obwohl wir viele dringend zum eigenen Überleben brauchen.
Warum soll man diese ebenso bekannten wie deprimierenden Fakten immer wiederholen? Und welchen Nutzen hat es, die tierischen Ursprünge der destruktiven Eigenschaften des Menschen zurückzuverfolgen? Wenn sie tatsächlich Teil unseres evolutionären Erbes sind, dann heißt das doch nicht daß sie genetisch festgelegt und also unveränderlich sind?
Doch in Wirklichkeit ist unsere Lage nicht hoffnungslos. Uns mag ja der Drang zum Töten von Fremden und Geschlechtsrivalen angeboren sein. Aber dennoch haben menschliche Gesellschaften immer wieder – und nicht ohne Erfolg – den Versuch unternommen, diese Instinkte unter Kontrolle zu bekommen und die meisten Menschen vor der Ermordung zu bewahren. Selbst wenn man die beiden Weltkriege mitberücksichtigt, sind im 20. Jahrhundert in den Industrieländern im Verhältnis viel weniger Menschen durch Gewalt ums Leben gekommen als in steinzeitlichen Stammesgesellschaften. In vielen modernen Bevölkerungen ist die Lebenserwartung deutlich höher als in der Vergangenheit. Umweltschützer verlieren auch nicht mehr jeden Kampf gegen Vertreter des Fortschritts um jeden Preis. Selbst eine Reihe von Erbkrankheiten, wie das Fölling-Syndrom und die Kinderdiabetes, können heute behandelt oder geheilt werden.
Wenn ich auf die drohenden Gefahren hinweise, möchte ich deshalb nur dazu beitragen, daß wir Fehler nicht wiederholen, sondern aus der Vergangenheit lernen und unser Verhalten korrigieren. Diese Hoffnung steht auch hinter der Widmung am Anfang des Buches. Meine Zwillingssöhne sind Jahrgang 1987 und werden im Jahre 2044 – so alt sein wie ich jetzt. Was wir heute tun, wird ihre Welt bestimmen.
Es geht mir in diesem Buch nicht um bestimmte Lösungsvorschläge. Es ist ja ohnehin ziemlich klar, was alles geschehen muß. Dazu gehören die Eindämmung des Bevölkerungswachstums, die Begrenzung oder besser Abschaffung der Atomwaffen, die Entwicklung friedlicher Methoden zur Beilegung internationaler Konflikte, die Verringerung der Umweltzerstörung und der Erhalt von Arten und natürlichen Lebensräumen. Viele hervorragende Bücher enthalten detaillierte Vorschläge dazu, von denen einige bereits hier und da in die Tat umgesetzt werden; nun kommt es »nur« darauf an, daß daraus der Normalfall wird. Wenn nur alle von der Richtigkeit und Wichtigkeit dieser Vorschläge überzeugt wären, könnten wir schon morgen mit ihrer Verwirklichung beginnen.
Indessen mangelt es jedoch an dem nötigen politischen Willen. Ihm nachzuhelfen ist eines der Anliegen dieses Buches. Unsere aktuellen Probleme haben tiefe Wurzeln und reichen bis zu unseren Vorfahren im Tierreich zurück. Sie wurden über die Jahrzehntausende, während sich der Mensch ausbreitete und an Macht gewann, immer größer und spitzen sich heute in dramatischer Weise zu. Wohin unser kurzsichtiges Handeln führen muß, zeigen die Erfahrungen von Gesellschaften, die sich vor uns durch Zerstörung der eigenen Rohstoffbasis um die eigene Existenzgrundlage brachten – und das mit vergleichsweise harmloseren technischen Hilfsmitteln. Historiker begründen das Studium von Staaten und Herrschern damit, daß man aus der Vergangenheit lernen könne. Das gilt um so mehr für unsere Stammesgeschichte, weil die aus ihr zu ziehenden Lehren viel einfacher und deutlicher sind.
Angesichts der Breite des Themas können nicht alle Aspekte gleich ausführlich behandelt werden. So werden sicher manche Leserein nach ihrer Ansicht wichtiges Gebiet vermissen, andere dieses oder jenes Kapitel zu detailliert finden. Ich möchte daher, damit niemand sich getäuscht fühlt, von vornherein deutlich machen, wo meine eigenen Interessenschwerpunkte liegen und wie es zu ihnen kam.
Mein Vater ist Arzt, meine Mutter eine Musikerin mit Sprachbegabung. Immer, wenn ich als Kind nach meinen Berufsplänen gefragt wurde, antwortete ich, ich wolle Arzt werden wie mein Vater. Gegen Ende meiner College-Ausbildung hatte ich mich dann aber entschieden, statt dessen in die medizinische Forschung zu gehen. Also studierte ich Physiologie, das Fach, das ich heute an der University of California Medical School in Los Angeles lehre und in dem ich als Forscher tätig bin.
Außerdem interessiere ich mich jedoch seit dem Alter von sieben Jahren für Vogelkunde. Und glücklicherweise ging ich auf eine Schule, die mir die gründliche Beschäftigung mit Sprachen und Geschichte ermöglichte. Nachdem ich meinen Doktor gemacht hatte, erschien mir die Perspektive, mich fortan nur noch der Physiologie zu widmen, immer bedrückender. Glückliche Umstände verhalfen mir damals zu der Gelegenheit, einen Sommer im Hochland von Neuguinea zu verbringen. Der offizielle Zweck der Reise war die Erforschung des Nistverhaltens neuguineischer Vögel, ein Vorhaben, das innerhalb von Wochen kläglich scheiterte, da ich im Dschungel nicht ein einziges Vogelnest entdecken konnte. Ein voller Erfolg wurde die Reise dennoch, denn ich konnte endlich meinen Abenteuerdurst stillen und in einem der noch wildesten Gebiete der Erde Vögel beobachten. Was ich von der fantastischen Vogelwelt Neuguineas sah, zum Beispiel Lauben- und Paradiesvögel, veranlaßte mich, eine parallele Karriere in Vogelökologie, Evolution und Biogeographie anzustreben. Seit damals bin ich wohl ein dutzendmal nach Neuguinea und auf benachbarte Pazifikinseln zurückgekehrt, um Vogelstudien zu betreiben.
Während meines Aufenthalts in Neuguinea ergab es sich angesichts der immer rascheren Zerstörung der Wälder und der damit verbundenen Bedrohung der Vogelwelt ganz von selbst, daß ich mich für den Artenschutz interessierte und an entsprechenden Maßnahmen beteiligte. Ich konnte meine akademischen Studien mit der praktischen Tätigkeit als Regierungsberater verbinden, indem ich mein Wissen über die räumliche Verteilung bestimmter Tierarten in den Dienst der Planung von Nationalparks stellte und die dafür vorgesehenen Gebiete begutachtete. In einem Land, in dem alle 30 km eine Sprachgrenze verläuft und in dem die Kenntnis der Vogelnamen in jeder der lokalen Sprachen die Voraussetzung ist, um das enorme Wissen der Einheimischen über ihre Vogelwelt anzuzapfen, war auch eine Rückkehr zu meinem früheren Interesse für Sprachen naheliegend. Vor allem aber war es fast unmöglich, die Evolution und das Aussterben von Vogelarten zu erforschen, ohne mehr über die Evolution und das mögliche Aussterben des Homo sapiens, der mit Abstand interessantesten Spezies von Lebewesen, erfahren zu wollen. Dies um so mehr, als Neuguinea von einer überwältigenden ethnischen und kulturellen Vielfalt geprägt ist.
Auf diese Weise entwickelte sich mein Interesse an den speziellen Aspekten der Menschheit, die das Thema dieses Buches sind. Ich muß mich dabei nicht für unangemessene Einseitigkeit entschuldigen. Viele ganz hervorragende Bücher von Anthropologen und Archäologen befassen sich mit der menschlichen Evolution unter dem Gesichtspunkt von Werkzeugen und Skeletten, so daß ich diese Bereiche relativ kurz abhandeln kann. Viel weniger Aufmerksamkeit erhielten hingegen bisher meine besonderen Interessensgebiete: der menschliche Lebenszyklus, die Bevölkerungsgeographie, unsere Einwirkung auf die Umwelt und die Betrachtung des Menschen als eines Angehörigen des Tierreichs. Diese Themen sind im Zusammenhang mit der Evolution des Menschen ebenso wichtig wie die traditionelle Beschäftigung mit Werkzeugen und Skeletten.
Was zunächst als Fülle von Beispielen aus Neuguinea erscheinen mag, ist nach meiner Ansicht eine sehr nützliche Basis. Zugegeben, Neuguinea ist nur eine Insel in einem bestimmten Gebiet der Erde, dem tropischen Pazifik, und liefert kaum einen repräsentativen Querschnitt der modernen Menschheit. Doch dafür beherbergt Neuguinea ein wesentlich breiteres Spektrum der Menschheit, als man, ausgehend von der Größe der Insel, zunächst annehmen würde. Rund tausend der weltweit 5000 Sprachen der Gegenwart werden nur in Neuguinea gesprochen. Die Insel birgt auch einen großen Teil der kulturellen Vielfalt, die unserem Planeten noch geblieben ist. Alle Hochlandvölker im gebirgigen Landesinneren waren bis in die jüngste Vergangenheit hinein noch steinzeitliche Bauern, während viele der Tieflandstämme als nomadische Jäger und Sammler oder Fischer lebten, die nebenbei ein wenig Landwirtschaft betrieben. Die Fremdenfeindlichkeit hatte, ebenso wie die kulturelle Vielfalt, ein extrem hohes Ausmaß, und eine Reise außerhalb des eigenen Stammesgebietes glich einem Selbstmordversuch. Viele der Einheimischen, mit denen ich zusammenarbeitete, waren großartige Jäger und hatten ihre Kindheit noch in den Tagen der Steinwerkzeuge und des Fremdenhasses verbracht. Neuguinea dürfte damit das beste noch verbliebene Beispiel für die Verhältnisse sein, die in vielen Teilen der Welt bis vor gar nicht langer Zeit geherrscht haben müssen.
Die Geschichte von unserem Aufstieg und Fall gliedert sich naturgemäß in fünf Teile. In Teil I (Kapitel 1 und 2) verfolge ich unseren Werdegang von vor mehreren Jahrmillionen bis kurz vor dem Erscheinen der Landwirtschaft vor zehntausend Jahren. In den beiden Kapiteln geht es um Skelette, Werkzeuge und genetische Anlagen – also um archäologische und biochemische Indizien, die uns den unmittelbarsten Einblick in unsere Entwicklung geben. Fossile Skelettreste und Werkzeuge lassen sich oft datieren, so daß auch der Zeitpunkt von Veränderungen abgeleitet werden kann. Wir befassen uns mit der Aussage, daß der Mensch genetisch noch zu 98 Prozent ein Schimpanse ist, und versuchen festzustellen, was wohl in den übrigen zwei Prozent unseren großen Sprung nach vorn bewirkt haben mag.
Im zweiten Teil (Kapitel 3 bis 7) geht es um Veränderungen im menschlichen Lebenszyklus, die für das Entstehen der Sprache und Kunst ebenso wichtig waren wie die in Teil I behandelten anatomischen Veränderungen. Für uns ist es absolut natürlich, daß wir unsere Kinder nach der Entwöhnung von der Muttermilch weiter mit Nahrung versorgen, statt sie sich selbst zu überlassen; daß die meisten Männer und Frauen als Paare zusammenleben; daß die meisten Väter genauso wie die Mütter für den Nachwuchs sorgen; daß viele Menschen alt genug werden, um noch ihre Enkel zu erleben; und daß Frauen in die Wechseljahre kommen. Für uns ist das alles selbstverständlich, doch nach den Maßstäben unserer engsten Verwandten im Tierreich sind diese Verhaltensweisen höchst seltsam. Sie stellen krasse Abweichungen im Vergleich zu unseren Vorfahren dar, wenngleich sie keinen fossilen Ausdruck finden und wir deshalb nicht wissen, wann sie entstanden. Aus diesem Grunde erfahren sie in Schriften zur menschlichen Paläontologie viel weniger Aufmerksamkeit als Veränderungen beispielsweise unseres Hirnvolumens und der Beckengröße. Doch für die einzigartige kulturelle Entwicklung des Menschen waren sie von entscheidender Bedeutung und verdienen daher die gleiche Beachtung.
Nachdem sich Teil I und II mit der biologischen Grundlage unserer kulturellen Entfaltung beschäftigten, geht Teil III (Kapitel 8 bis 12) auf die kulturellen Merkmale ein, die uns nach eigener Auffassung von den Tieren unterscheiden. Dabei kommen einem sicher zuerst jene Eigenheiten in den Sinn, auf die wir besonders stolz sind: Sprache, Kunst, Technik und Landwirtschaft, die Wegmarken unseres Aufstiegs. Doch zu den kulturellen Besonderheiten des Menschen zählen auch negative Merkmale wie der Mißbrauch giftiger Substanzen. Es läßt sich zwar darüber streiten, ob alle der genannten Markenzeichen nur beim Menschen anzutreffen sind, aber zumindest stellen sie einen gewaltigen Fortschritt im Vergleich zu ihren Vorläufern im Tierreich dar. Denn solche Vorläufer muß es gegeben haben, da sich die genannten Eigenheiten aus evolutionsgeschichtlicher Perspektive erst vor kurzer Zeit herausbildeten. Welches waren diese Vorläufer? War ihre Entfaltung im Laufe der Geschichte des Lebens auf der Erde unvermeidlich? War sie etwa gar so unvermeidlich, daß wir mit der Existenz vieler anderer Planeten draußen im Weltall rechnen können, auf denen Geschöpfe wie wir leben?
Neben dem Mißbrauch chemischer Stoffe umfaßt unser Sündenregister zwei besonders schwerwiegende Merkmale, die uns zum Verhängnis zu werden drohen. Teil IV (Kapitel 13 bis 16) behandelt das erste: unseren Drang zum Töten von Angehörigen fremder Gruppen. Dieser Wesenszug hat direkte Vorläufer im Tierreich, nämlich die Auseinandersetzungen zwischen konkurrierenden Individuen und Gruppen, die auch bei vielen anderen Arten nicht selten tödlich enden. Der Unterschied liegt nur in unserem technischen Vermögen und unserer größeren Tötungskapazität. In Teil IV erörtern wir die Fremdenfeindlichkeit (Xenophobie) und den ausgeprägten Zustand der Isolation vor der Bildung von Staaten, die zu größerer kultureller Homogenität beitrugen. Wir werden sehen, wie Technik, Kultur und Geographie den Ausgang zweier der bekanntesten historischen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Menschengruppen beeinflußten. Weiterhin untersuchen wir das überlieferte Wissen über Massenmord aus Fremdenhaß. Dabei handelt es sich um ein trauriges Thema, aber es soll hier vor allem als Beispiel dafür dienen, daß die Weigerung, unserer Vergangenheit ins Gesicht zu blicken, uns zur Wiederholung alter Fehler in noch gefährlicherem Ausmaß verdammt.
Das andere düstere Merkmal, das unser Überleben in Frage stellt, betrifft die immer raschere Zerstörung der Umwelt. Auch hierfür gibt es Vorläufer im Tierreich. Schon oft versagten bei tierischen Populationen, die aus dem einen oder anderen Grund keine natürlichen Feinde hatten und sich ungehindert vermehren konnten, auch die internen Kontrollmechanismen, so daß sich die Vermehrung so lange fortsetzte, bis die Ernährungsgrundlage der betreffenden Population beeinträchtigt war; zuweilen geschah es sogar, daß sich die betreffende Art buchstäblich um die Möglichkeit zur eigenen Fortexistenz fraß und ausstarb. Diese Gefahr droht dem Menschen in besonderer Weise, da unsere Zahl heute nicht mehr durch natürliche Feinde in Schach gehalten wird, kein Lebensraum vor unserem Zugriff sicher ist und unser Vermögen, Tiere zu töten und Lebensräume zu zerstören, ohne Beispiel ist.
Leider teilen noch heute viele Menschen die Vorstellung Rousseaus, daß dieser finstere Wesenszug des Menschen erst mit der Industriellen Revolution auftauchte und daß wir davor in Harmonie mit der Natur lebten. Träfe dies zu, könnten wir aus der Vergangenheit nur lernen, wie tugendhaft wir einst waren und welch schreckliche Verwandlung wir erfahren haben. Teil V (Kapitel 17 bis 19) versucht deshalb, die Rousseausche Vorstellung anhand der langen Geschichte der Umweltzerstörung durch den Menschen zu widerlegen. Ebenso wie in Teil IV liegt die Betonung in Teil V darauf, daß unsere gegenwärtige Situation nicht gänzlich neu ist, sondern sich nur im Ausmaß von früheren unterscheidet. Die Ergebnisse vieler früherer »Experimente«, bei denen menschliche Gesellschaften ihre Umwelt zerstörten, sollten wir nutzen, um daraus zu lernen.
Das Buch endet mit einem Epilog, der die Fährte unseres Aufstiegs aus dem Tierreich zurückverfolgt und die immer rasantere Entwicklung der Mittel darstellt, die uns zum Verhängnis zu werden drohen. Ich hätte dieses Buch nicht geschrieben, wenn ich die Gefahr für gering hielte, aber ich hätte es auch nicht geschrieben, wenn die Menschheit für mich bereits verloren wäre. Für den Fall, daß mancher Leser wegen des Verhaltens der Menschen in der Vergangenheit und wegen der heutigen Lage so entmutigt sein sollte, daß ihm diese Botschaft entgeht, mache ich auf ein paar Hoffnungszeichen aufmerksam und auf die Wege, wie wir aus der Vergangenheit lernen können.
Wann, warum und auf welche Weise der Mensch begann, mehr zu sein als nur eine Säugetierart unter vielen – dafür gibt es drei Kategorien von Belegen. Teil I dieses Buches beschäftigt sich mit den traditionellen Erkenntnissen der Archäologie, also der Untersuchung von erhaltenen Skeletten und Werkzeugen, sowie mit neueren Erkenntnissen der Molekularbiologie.
Eine grundlegende Frage betrifft den genetischen Abstand zwischen Mensch und Schimpanse: Unterscheiden wir uns in 10, 50 oder gar 99 Prozent unserer genetischen Anlagen? Die bloße Betrachtung und das Addieren sichtbarer gleicher Merkmale helfen nicht weiter, da viele genetische Veränderungen überhaupt keinen sichtbaren Ausdruck finden, während andere überwältigende Folgen haben. So unterscheiden sich Hunderassen wie dänische Dogge und Pekinese im Aussehen viel stärker voneinander als Mensch und Schimpanse. Dennoch können sich alle Hunderassen untereinander fortpflanzen (sofern anatomisch möglich) und gehören zur gleichen Art. Bei bloßer Betrachtung wäre man sicher zu dem Schluß gekommen, der genetische Abstand zwischen dänischer Dogge und Pekinese sei viel größer als der zwischen Mensch und Schimpanse. Die mit dem Auge wahrnehmbaren Unterschiede zwischen verschiedenen Hunderassen, also Größe, Körperbau und Färbung des Fells, werden durch eine relativ kleine Zahl von Genen verursacht, die praktisch ohne Folgen für das Fortpflanzungsverhalten sind.
Wie läßt sich aber sonst unser genetischer Abstand vom Schimpansen bestimmen? Dieses Problem konnte erst vor wenigen Jahren von der Molekularbiologie gelöst werden. Die Antwort ist nicht nur überraschend, sondern sie hat womöglich auch praktische ethische Folgen für die künftige Behandlung des Schimpansen durch den Menschen. Wir werden sehen, daß die genetischen Unterschiede zwischen uns und den Schimpansen, wenngleich sie groß sind im Verhältnis zu den Unterschieden zwischen menschlichen Populationen oder Hunderassen, im Vergleich zu den Unterschieden zwischen vielen anderen verwandten Arten immer noch sehr klein sind. Offenbar hatten Veränderungen an nur einem geringen Prozentsatz der Schimpansengene enorme Folgen für unser Verhalten. Es konnte außerdem ein Zusammenhang zwischen genetischem Abstand und verstrichener Zeit hergestellt werden, so daß jetzt annähernd feststeht, daß Mensch und Schimpanse sich vor sieben Millionen Jahren (plus minus einige Millionen) von ihrem gemeinsamen Ahnen auf jeweils getrennten Wegen fortentwickelten.
Diese Erkenntnisse der Molekularbiologie geben uns zwar Auskunft über den genetischen Abstand und die verstrichene Zeit, sie sagen jedoch nichts darüber, worin wir uns im einzelnen von Schimpansen unterscheiden und wann es zu diesen Unterschieden kam. Deshalb wollen wir fragen, was man noch aus den Skeletten und Werkzeugen jener Geschöpfe lernen kann, welche die verschiedenen Stufen zwischen unseren affenähnlichen Vorfahren und dem modernen Menschen markieren. Von besonderer Bedeutung waren dabei die Zunahme unseres Hirnvolumens, Skelettveränderungen in Verbindung mit dem aufrechten Gang und eine Verringerung der Schädeldicke, Zahngröße und Kiefermuskulatur.
Die Größe unseres Gehirns war sicher eine Voraussetzung für die Entwicklung der Sprache und der Innovationsfähigkeit. Man könnte deshalb erwarten, daß die Skelettfunde eine enge Parallele zwischen der Zunahme des Hirnvolumens und der Verfeinerung der Werkzeuge zeigen würden. Das war jedoch zur großen Überraschung der Evolutionsforscher nicht der Fall. Auch nachdem das Gehirnwachstum bereits weitgehend abgeschlossen war, blieben die Steinwerkzeuge noch Hunderttausende von Jahren äußerst primitiv. Noch vor 40000 Jahren hatten die Neandertaler Gehirne, die größer waren als die des modernen Menschen, doch ihre Werkzeuge zeigten keine Spur von Neuerungen und auch keinerlei kunstvolle Verzierungen. Die Neandertaler waren immer noch eine Säugetierart wie viele andere. Bei anderen menschlichen Populationen blieben die Werkzeuge auch Zehntausende von Jahren nach Erreichen einer modernen Skelettanatomie so langweilig wie bei den Neandertalern.
Diese paradoxen Erkenntnisse werfen mehr Licht auf die Aussagen der Molekularbiologie und deren Schlußfolgerungen. Es muß also innerhalb des geringen Prozentsatzes von Genen, durch die sich Mensch und Schimpanse unterscheiden, einen noch geringeren Prozentsatz geben, der nicht an der Formung des Skeletts beteiligt ist, sondern für die unverwechselbar menschlichen Merkmale wie Innovationsfähigkeit, Kunst und die Anfertigung komplexer Werkzeuge verantwortlich ist. Zumindest in Europa traten diese Merkmale unerwartet plötzlich auf den Plan, zu einer Zeit, als der Neandertaler dem Cro-Magnon weichen mußte. Dessen Erscheinen läutete das Ende der Epoche ein, in der wir noch eine Säugetierart unter vielen waren. Am Schluß von Teil werde ich einige Überlegungen dazu anstellen, welche wenigen Veränderungen die Auslöser unseres steilen Aufstiegs zum Menschentum gewesen sein mögen.
Wenn Sie das nächste Mal in den Zoo gehen, schauen Sie einmal ganz bewußt bei den Affenkäfigen vorbei. Stellen Sie sich vor, die Affen hätten fast ihr ganzes Haar verloren und in einem Nachbarkäfig befänden sich einige bedauerliche, nackte Menschen, die zwar nicht sprechen könnten, aber ansonsten ganz normal wären. Nun raten Sie einmal, wie ähnlich uns die Affen genetisch sind. Würden Sie zum Beispiel vermuten, daß ein Schimpanse 10, 50 oder 99 Prozent seiner Gene mit dem Menschen teilt?
Und fragen Sie sich dann, warum Affen in Käfigen zur Schau gestellt und zu medizinischen Experimenten benutzt werden, was beides bei Menschen unzulässig ist. Angenommen, es stellte sich heraus, daß Schimpansen 99,9 Prozent ihrer Gene mit uns gemeinsam hätten und die bedeutenden Unterschiede zwischen Menschen und Schimpansen auf ganz wenigen Genen beruhten – würden Sie es dann immer noch für gerechtfertigt halten, Schimpansen in Käfige zu sperren und an ihnen Experimente vorzunehmen? Denken Sie zum Vergleich an Menschen, die das Unglück hatten, geistig behindert zur Welt zu kommen. Von ihnen besitzen manche eine viel geringere Fähigkeit als Affen, Probleme zu lösen, für sich zu sorgen, zu kommunizieren, soziale Beziehungen einzugehen und Schmerz zu empfinden. Nach welcher Logik sind medizinische Experimente an ihnen verboten, aber nicht an Affen?
Vielleicht werden Sie entgegnen, Affen seien eben »Tiere« und Menschen eben Menschen, und das reiche aus. Ein ethischer Verhaltenskodex für die Behandlung von Menschen solle nicht auf ein »Tier« übertragen werden, gleich, wieviel Prozent seiner Gene mit unseren übereinstimmen, und gleich, ob es soziale Beziehungen eingehen oder Schmerz empfinden kann. Eine solche Antwort entbehrt zwar nicht der Willkür, aber sie ist zumindest in sich stimmig und nicht leicht von der Hand zu weisen. In diesem Fall blieben Erkenntnisse über unsere Beziehungen zu Vorfahren ohne ethische Folgen, sie würden aber immerhin unsere geistige Neugierde befriedigen, indem sie uns ein Verständnis unserer Herkunft vermittelten. Alle bisherigen Gesellschaften haben das Bedürfnis verspürt, die eigene Herkunft zu ergründen, ein Bedürfnis, das in Schöpfungsgeschichten Ausdruck fand. Betrachten Sie die Geschichte von den drei Schimpansen als Schöpfungsgeschichte unseres Zeitalters.
Seit Jahrhunderten ist bekannt, wo der Mensch im Tierreich ungefähr anzusiedeln ist. Ohne Zweifel gehören wir zu den Säugetieren, der Klasse von Wirbeltieren, zu deren Merkmalen die Behaarung und das Stillen der Jungen zählen. Innerhalb der Säugetiere wiederum gehören wir ganz offensichtlich wie die Affen und Menschenaffen zu den Primaten. Mit diesen teilen wir eine ganze Reihe von Eigenschaften, die den meisten anderen Säugetieren fehlen, zum Beispiel flache Finger- und Fußnägel statt Klauen, Greifhände, ein Daumen, der den anderen vier Fingern gegenübergestellt werden kann, und einen frei herunterhängenden statt am Unterleib anliegenden Penis. Schon im zweiten Jahrhundert n.Chr. leitete der griechische Arzt Galen aus der anatomischen Zerlegung verschiedener Tiere unsere ungefähre Stellung in der Natur richtig ab, als er feststellte, daß der Affe dem Menschen »von den Eingeweiden, den Muskeln, Arterien, Venen, Nerven und der Skelettform her am stärksten ähnelt«.
Es ist auch nicht schwer, den Platz des Menschen unter den Primaten zu bestimmen, denn wir ähneln ganz offensichtlich den Menschenaffen, unter anderem darin, daß wir anders als die übrigen Affen keinen Schwanz besitzen. Klar ist auch, daß die kleinwüchsigen Gibbons mit ihren langen Armen unter den Menschenaffen aus dem Rahmen fallen und daß Orang-Utans, Schimpansen, Gorillas und Menschen enger miteinander verwandt sind als mit den Gibbons. Hiernach wird die Bestimmung von Verwandtschaftsbeziehungen jedoch unerwartet schwierig, und die Wissenschaftler streiten intensiv über drei Fragen:
Wie genau sieht der Stammbaum der Verwandtschaftsbeziehungen von Menschen, lebenden Menschenaffen und ausgestorbenen Affenahnen aus? Welcher der lebenden Menschenaffen ist beispielsweise unser nächster Verwandter?
Wann lebte der letzte gemeinsame Ahne von uns und jenem Verwandten, welcher Affe es auch sein mag?
Welchen Teil unseres genetischen Programms haben wir mit unserem nächsten lebenden Verwandten gemeinsam?
Die erste dieser drei Fragen, so möchte man annehmen, müßte durch die vergleichende Anatomie bereits geklärt sein. Wir besitzen eine starke äußerliche Ähnlichkeit mit Schimpansen und Gorillas, unterscheiden uns von ihnen jedoch in Merkmalen wie dem Hirnvolumen, dem aufrechten Gang, der wesentlich schwächeren Behaarung sowie einer Vielzahl weniger deutlich sichtbarer Eigenschaften. Bei näherer Betrachtung dieser anatomischen Fakten ist jedoch viel weniger klar, was aus ihnen folgt. Je nachdem, welche anatomischen Merkmale man für die wichtigsten hält und wie man sie interpretiert, sind Biologen unterschiedlicher Ansicht darüber, ob wir am engsten mit dem Orang-Utan verwandt sind (die Meinung der Minderheit) – in diesem Fall wären die Schimpansen und Gorillas von unserem Stammbaum abgezweigt, bevor wir uns von den Orang-Utans trennten – oder ob wir nicht vielmehr den Schimpansen und Gorillas am nächsten stehen (die Mehrheitsauffassung), wobei dann die Vorfahren der Orang-Utans ihren eigenen Weg früher eingeschlagen hätten.
Unter den Vertretern der Mehrheitsansicht sind die meisten Biologen davon ausgegangen, daß Gorillas und Schimpansen einander stärker ähneln als dem Menschen, was bedeuten würde, daß unsere Linie vom Stammbaum fortführte, bevor sich Gorillas und Schimpansen voneinander trennten. Dieser Schluß entspricht dem gesunden Menschenverstand, demzufolge ja Schimpansen und Gorillas in eine Kategorie mit der Bezeichnung »Menschenaffen« gehören, während wir Menschen etwas ganz anderes sind. Denkbar ist jedoch auch, daß wir uns nur deshalb im Aussehen unterscheiden, weil sich Schimpansen und Gorillas seit den Tagen unseres gemeinsamen Ahnen nur unwesentlich veränderten, während wir uns in wenigen besonders auffälligen Merkmalen wie dem aufrechten Gang und dem Hirnvolumen sehr stark veränderten. In diesem Fall könnte der Mensch entweder dem Gorilla oder dem Schimpansen am meisten ähneln, oder der Abstand in der allgemeinen genetischen Ausstattung könnte zwischen allen dreien ungefähr gleich sein.
Unter Anatomen herrscht also nach wie vor Uneinigkeit über die Details unseres Stammbaums. Welche Version man auch bevorzugt, anatomische Studien geben keine Antwort auf die zweite und dritte Frage nach dem Zeitpunkt unserer Abzweigung und dem genetischen Abstand von den Menschenaffen. Vielleicht könnten Fossilienfunde die Probleme mit dem Stammbaum und der Datierung lösen, allerdings nicht die Frage des genetischen Abstands. Das heißt, wenn wir nur genügend Fossilien hätten, so wäre die Hoffnung berechtigt, auf eine Serie datierter proto-menschlicher Fossilien und eine weitere Serie datierter proto-schimpansischer Fossilien zu stoßen, die vor etwa zehn Millionen Jahren auf einen gemeinsamen Ahnen zuliefen und die sich wiederum einer Serie von Proto-Gorilla-Fossilien vor zwölf Millionen Jahren näherten. Leider wurde die Hoffnung, durch Fossilien Aufschluß zu erhalten, ebenfalls enttäuscht, da für den entscheidenden Zeitraum vor fünf bis 14 Millionen Jahren in Afrika kaum Fossilien von Menschenaffen gefunden wurden.
Die Antwort auf diese Fragen nach unserer Herkunft kam aus unerwarteter Richtung, nämlich aus der Molekularbiologie in ihrer Anwendung auf die Klassifikation von Vögeln (Vogeltaxonomie). Vor rund 30 Jahren erkannten Molekularbiologen, daß die Stoffe, aus denen sich Pflanzen und Tiere zusammensetzen, wie eine Uhr zur Messung genetischer Abstände und zum Datieren evolutionsgeschichtlicher Abzweigungen dienen könnten. Dahinter steckt folgender Gedanke: Angenommen, es gibt eine Klasse von Molekülen, die in allen Arten vorkommen und deren genaue Struktur bei jeder Art genetisch festgelegt ist, und weiter angenommen, daß sich die genannte Struktur im Laufe der Jahrmillionen aufgrund genetischer Mutationen langsam verändert und daß das Tempo dieser Veränderung bei allen Arten konstant ist. Zwei vom gleichen Ahnen abstammende Arten hätten zunächst identische, von ihrem Vorfahr geerbte Molekülformen. Später würde es jedoch bei beiden unabhängig voneinander zu Mutationen und folglich Veränderungen im Molekülaufbau kommen. Wüßten wir nun, wie viele solcher Veränderungen im Durchschnitt alle Million Jahre erfolgen, so könnten wir die heutige Differenz zwischen den Strukturen des Moleküls bei zwei verwandten Tierarten wie eine Uhr benutzen und ausrechnen, wieviel Zeit vergangen ist, seit der gemeinsame Ahne beider Arten lebte.
Nehmen wir beispielsweise an, wir wüßten aufgrund von Fossilienfunden, daß Löwen und Tiger vor fünf Millionen Jahren begannen, sich auseinanderzuentwickeln. Angenommen, die Moleküle wären bei Löwen und Tigern zu 99 Prozent von identischer Struktur und nur zu einem Prozent unterschiedlich. Betrachtete man dann zwei Arten mit unbekannter fossiler Geschichte und fände heraus, daß sich die Moleküle dieser beiden Arten um drei Prozent unterschieden, dann würde die Molekularuhr besagen, sie hätten sich vor drei mal fünf Millionen Jahren, also vor 15 Millionen Jahren, auseinanderentwickelt.
So schön dieses Schema auf dem Papier aussieht, soviel Mühe mußten Biologen investieren, uni seine praktische Brauchbarkeit zu testen. Vier Dinge mußten geschehen, bevor Molekularuhren funktionieren konnten: Es mußte das am besten geeignete Molekül gefunden werden; eine rasche Methode zur Messung von Veränderungen in seiner Struktur wurde benötigt; der Beweis für den gleichmäßigen Gang der Uhr mußte erbracht werden (daß sich also die Struktur des Moleküls bei allen untersuchten Arten tatsächlich im gleichen Tempo entwickelt); und es mußte ebendieses Tempo bestimmt werden.
Für die ersten beiden Punkte haben Molekularbiologen um 1970 Lösungen gefunden. Als geeignetstes Molekül erwies sich die Desoxyribonukleinsäure (abgekürzt DNS), jene berühmte Substanz, deren Struktur den bahnbrechenden Untersuchungen von James Watson und Francis Crick zufolge aus einer Doppelhelix besteht. Die DNS setzt sich aus zwei komplementären, sehr langen Strängen zusammen, von denen jeder aus vier Arten kleinerer Moleküle besteht, deren Sequenz sämtliche von den Eltern an ihre Nachkommen weitergegebenen genetischen Informationen beinhaltet. Eine schnelle Methode zur Messung von Veränderungen der DNS-Struktur besteht darin, die DNS zweier Arten zu vermischen (man spricht deshalb von der Hybridisierungstechnik) und festzustellen, um wieviel Grad der Schmelzpunkt der Misch-DNS unter dem Schmelzpunkt der reinen DNS einer der beiden Arten liegt. Wie sich herausstellte, bedeutet das Sinken des Schmelzpunktes um ein Grad Celsius (abgekürzt: Delta T = 1 °C), daß sich die beiden Arten in der C), daß sich die beiden Arten in der DNS um etwa ein Prozent unterscheiden.
In den siebziger Jahren interessierten sich die meisten Molekularbiologen und Taxonomen kaum für das jeweils andere Arbeitsfeld. Zu den wenigen Taxonomen, die von den Möglichkeiten der neuen DNS-Hybridisierungstechnik überzeugt waren, gehörte der Ornithologe Charles Sibley, damals Professor an der Yale-Universität und Leiter des dortigen naturgeschichtlichen Museums. Die Vogeltaxonomie ist ein besonders schwieriges Fachgebiet, bedingt durch die engen anatomischen Erfordernisse der Flugfähigkeit. Es gibt nur eine begrenzte Zahl möglicher Konstruktionen, die einem Vogel beispielsweise den Insektenfang in der Luft ermöglichen, so daß sich Vögel mit ähnlichen Lebensgewohnheiten meist auch anatomisch sehr stark ähneln, unabhängig von ihrer Abstammung. Amerikanische Geier zum Beispiel ähneln in Aussehen und Verhalten stark den Altweltgeiern, obwohl Biologen herausfanden, daß erstere Verwandte der Störche, letztere der Habichte sind und daß die Ähnlichkeiten nur vom gleichen Lebensstil herrühren. Enttäuscht von den begrenzten Erfolgen beim Aufdecken der Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Vögeln mit herkömmlichen Methoden, wandten sich Sibley und Jon Ahlquist 1973 der DNS-Uhr zu. Ihre Arbeit blieb bis heute die umfangreichste taxonomische Anwendung der Methoden der Molekularbiologie. Erst 1980 waren Sibley und Ahlquist so weit, daß sie ihre Ergebnisse veröffentlichen konnten. Insgesamt hatten sie die DNS-Uhr auf rund 1700 Vogelarten angewendet – fast ein Fünftel aller heutigen Vogelarten.
Obwohl Sibley und Ahlquist eine sensationelle Leistung vollbracht hatten, entspann sich zunächst eine heftige Kontroverse, da nur wenige andere Wissenschaftler die richtige Kombination von Fachkenntnissen besaßen, um sie zu verstehen. Hier sind ein paar typische Reaktionen, die mir gegenüber geäußert wurden:
»Ich kann davon nichts mehr hören. Ich achte gar nicht mehr darauf, was die schreiben« (ein Anatom).
»Ihre Methoden sind okay, aber wer will sich denn mit so einem langweiligen Thema wie Vogeltaxonomie beschäftigen?« (ein Molekularbiologe).
»Interessant, aber ihre Ergebnisse müssen erst noch gründlich mit anderen Methoden getestet werden, bevor wir ihnen glauben können« (ein Evolutionsbiologe).
»Ihre Ergebnisse sind eine wahre Offenbarung, davon können Sie ausgehen« (ein Genetiker).
Nach meiner Einschätzung kommt das letzte Zitat der Wahrheit am nächsten. Die Prinzipien, auf denen die DNS-Uhr beruht, sind unanfechtbar, und die von Sibley und Ahlquist angewandten Methoden entsprechen dem neuesten Stand der Wissenschaft. Außerdem bezeugt die interne Konsistenz ihrer genetischen Distanzmessungen an über 18000 Vogelpaaren die Gültigkeit der Befunde.
So wie Darwin seine Hypothesen zur Variation zunächst an Hand von Entenmuscheln getestet hatte, bevor er das explosive Thema und seine Relevanz für den Menschen erörterte, beschränkten sich Sibley und Ahlquist während fast des gesamten ersten Jahrzehnts ihrer Forschungsarbeit mit der DNS-Uhr auf Vögel. Erst 1984 begannen sie mit der Veröffentlichung ihrer Folgerungen aus der Anwendung der gleichen DNS-Methoden für die Herkunft des Menschen. Ihre Studie beruhte auf DNS von Menschen und unseren engsten Verwandten: dem gewöhnlichen und dem Zwergschimpansen, Gorilla, Orang-Utan, zwei Arten von Gibbons und sieben Arten von Altweltaffen. Die Abbildung faßt die Ergebnisse zusammen.
Wie jeder Anatom prophezeit hätte, besteht der größte genetische Unterschied, ausgedrückt in einer starken Verringerung des DNS-Schmelzpunkts, zwischen der DNS von Affen und der von Menschen oder Menschenaffen. Damit wurde nur bestätigt, was jeder weiß, seit Menschenaffen der Wissenschaft bekannt sind. In Zahlen ausgedrückt, haben Affen 93 Prozent der DNS