Marianne Fredriksson
Inge und Mira
Roman
Roman
Aus dem Schwedischen von Senta Kapoun
FISCHER E-Books
Marianne Fredriksson wurde 1927 in Göteborg geboren. Als Journalistin arbeitete sie lange für bekannte schwedische Zeitungen und Zeitschriften. Im Jahre 1980 veröffentlichte sie ihr erstes Buch. Sämtliche Romane der Autorin wurden in Deutschland große Bestsellererfolge. Die Autorin starb am 12. Februar 2007.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Inge und Mira ist die sensibel und zugleich kraftvoll erzählte Geschichte zweier Frauen im Schweden der 90er Jahre, die nicht unterschiedlicher sein könnten und sich zugleich doch so vertraut sind. Marianne Fredriksson hat ein ergreifendes und sehr persönliches Buch über die Freundschaft und die Macht der Erinnerung geschrieben.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die schwedische Originalausgabe erschien 1999 unter dem Titel »Flyttfaglar« im Verlag Wahlström & Widstrand, Stockholm
Published by agreement with Bengt Nordin Agency, Stockholm
© Marianne Fredriksson 1980
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2000 Wolfgang Krüger Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Buchholz / Hinsch / Hensinger
Coverabbildung: Stone / Liz und Jeff von Hoene
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491500-5
Mein besonderer Dank gilt Luisa, die mir Farben und Düfte, Gedanken und Erinnerungen an jenes Chile zu vermitteln vermochte, das sie einmal verlassen hat – und die mir auch den Reichtum meines Landes Schweden vor Augen führen konnte, indem sie sich und ihren Kindern dort eine neue Existenz schuf.
Es ist aber nicht ihr Leben, das ich hier schildere. Ich habe einen Roman geschrieben und somit der Phantasie keine Grenzen gesetzt. Meine Absicht ist es, die Anstrengungen und Bemühungen der Einwanderer aufzuzeigen, die ein neues Land mit andersartigem Lebensstil, ungewohnten Denkweisen zu dem ihren machen wollen.
Dies ist die Geschichte von zwei Frauen, die Freundinnen wurden.
Wo es um Erfahrungen geht, liegen Ozeane zwischen den beiden.
Das Erbe der einen ist das lange Winterdunkel, das der anderen Sonnenschein. Gott selbst trennt sie. Die eine glaubt an die Vernunft und braucht keinen Gott, die andere hält täglich Zwiesprache mit Dem Herrn.
Und doch gleichen sie sich in vielem, sie sind beide geschieden und haben ihre Kinder alleine großgezogen. Und ihr eigentlicher Lebensinhalt ist die unnötige Sorge um die inzwischen erwachsenen Kinder.
Sie sind gleich alt, schon fast fünfzig, haben ihre Falten gezählt und erkannt, dass es langsam bergab geht.
Dass sie sterblich sind. Und dass deshalb die eine wie die andere bei sich selbst Vergebung finden muss.
Die Winterfrau führt ein Tagebuch. Manchmal meint sie, hier Dinge aussprechen zu dürfen, die sie nie zu sagen gewagt hat. Aber das stimmt nicht. Sie hat nie ein Blatt vor den Mund genommen.
Vielleicht ist sie auf der Suche nach einem Lebensmuster.
Auf das Vorsatzblatt hat sie geschrieben: »Woher kommt dieses Verlangen, ein Leben widerzuspiegeln, das auch das Leben so vieler anderer Frauen war? Will ich die Rückseite des Spiegels erkunden?«
Sie findet nur selten Antworten, füllt aber weiterhin Seite um Seite. Mit den kleinen täglichen Ereignissen und den großen Fragen des Daseins.
Am 28. März 1988 schreibt sie: »Heute regnet es, der Schnee weicht Fleck für Fleck. Bilde ich es mir ein, oder steigt wirklich ein Duft von Frühling aus der schwarzen Erde?«
Ganz unten auf der Seite steht: »Was eigentlich wird verletzt, wenn man verletzt wird?«
Die andere, die Sonnenfrau, schreibt kein Tagebuch, obwohl ihr sogar zwei Sprachen geläufig sind. Sie denkt spanisch und flucht auf Schwedisch. Sie würde sich aber nie die Frage stellen, wie Verletzung sich äußert. Sie weiß es, und zwar ganz genau. Und bei dem Gedanken daran steigt jedes Mal die Wut in ihr hoch.
Einige Menschen sind für sie gestorben. Auch Unersetzliche.
Sie hat sie aus ihrem Leben verbannt. Sie haben mit dem neuen Land nichts zu tun.
Ihre Einstellung zu Schweden ist ebenso gespalten wie das Verhältnis zu ihrem Heimatland: Sie hasst es und sehnt sich danach.
Die großen Wahrheiten interessieren sie nicht. Ihr Dasein war immer mit der Notwendigkeit erfüllt, zu überleben.
Das Aufallendste an ihrem Gesicht sind die unersättlichen Augen. Dieser Appetit schenkt ihr große Freude.
Trotzdem weiß sie besser als viele andere, dass Freude und Angst mit dem Tod verknüpft sind. Und dass deshalb jede Entscheidung wichtig ist.
Sie spricht Abend für Abend mit Gott.
Aber sie weiß nicht sicher, ob sie an ihn glaubt.
Wir lernen einander in der Gärtnerei kennen.
Zwischen uns steht ein Tisch auf Rädern, drei Meter breit und sicher acht Meter lang. Er ist bedeckt mit Tausenden Stiefmütterchen, einem wogenden Meer von gelb gestreiftem Blau und Violett, wie Sonnengeglitzer auf Wasser.
Sie steht mir gegenüber. Ihr Gesicht spiegelt meine eigene Freude wider, und ich zeige mit gestrecktem Arm auf die Blumen und sage, das sei unglaublich. Sie antwortet mit einem blendend weißen Lächeln, sagt, dass fast nichts auf der Welt solche Lebensfreude vermittle wie Blumen.
»Höchstens kleine Kinder«, fügt sie hinzu.
Ich kann mir ihre Worte nicht ganz erklären, obwohl sie gut schwedisch spricht. Allerdings mit einem kleinen Akzent, und nun sehe ich, dass sie eine Einwanderin ist, vermutlich Chilenin.
»Der Gedanke ist mir noch nie gekommen«, sage ich. »Aber ich glaube, du hast Recht.«
Dann hören wir den Wind am Dach des hohen Gewächshauses klappern und sind uns einig, dass es noch zu früh ist, Stiefmütterchen zu pflanzen. Es friert noch jede Nacht.
»Und dann dieser Wind«, sagt sie.
Wir wickeln uns fester in unsere Jacken und gehen geduckt zwischen den Glashäusern zum Laden.
»Ich heiße Ingegerd«, sage ich. »Meistens nennt man mich Inge.«
»Ich heiße Edermira, aber hier in Schweden wird es zu Mira.«
Wir nicken zustimmend. Ich bin neugierig auf sie.
Kurz darauf spricht sie schnell und lebhaft mit dem Mädchen hinter dem Ladentisch, fragt nach Zwiebeln für … Jetzt muss sie innehalten, schließt einen Moment lang die Augen und nennt einen Namen. Spanisch.
Das Mädchen verzieht die Mundwinkel zu einem unsicheren und gleichzeitig verächtlichen Lächeln. Dann lacht sie auf, zuckt mit den Schultern und wendet sich an mich: »Verstehst du, was sie sagt?«
Ich antworte verlegen und schamrot: »Sie fragt nach dieser blauen afrikanischen Lilie.«
Ich versuche Miras Blick einzufangen und sage: »Diese Gärtnerei ist auf Tulpenzwiebeln spezialisiert. Komm, gehen wir.«
Aber meine Stimme versagt, als ich ihren Zorn sehe, blauschwarzen Zorn mit rotem Einschlag, wie entfesselte Elektrizität, die alles an ihr zum Knistern bringt. Ich beginne zu ahnen, welche Energien in ihr schlummern.
Wir gehen. Kämpfen gegen den Wind an, der durch Jacken und Wollpullover dringt.
Ich friere.
Mira scheint die Kälte nichts auszumachen.
Unten am Strand blinzelt die Sonne durchs Grau. Wir finden eine windgeschützte Klippe und wenden die Gesichter dem Licht zu. Ich möchte ihr so vieles sagen, wie sehr ich mich schäme, und dass es bei allen Völkern dumme Menschen gibt, und dass das Gärtnermädchen nur einfältig, aber nicht boshaft ist.
Befangen, fällt mir dazu ein.
Aber ich schweige, es sind ja alles nur Worthülsen, die weder Samen tragen noch Spuren hinterlassen. Ein Gefühl von Hilflosigkeit rumort in meinem Bauch: Nichts kann zurechtgerückt werden.
Impulsiv lege ich Mira den Arm um die Schultern, weiß aber sofort, dass ihr das zu viel ist. Also ziehe ich ihn zurück und zeige in den Himmel: »Siehst du die Möwen? Die sind auf der Jagd nach Regenwürmern. In meinem Rasen.«
Aber das interessiert Mira nicht. Sie sagt: »Ich bin so höllisch auf meine Würde bedacht.«
Jetzt kreischt die Möwenschar über unseren Köpfen, und ich muss schreien, um mir Gehör zu verschaffen: »Das bin ich auch. Ich glaube, es ist eine Alterserscheinung.«
Dann schweige ich, schäme mich wieder, füge hinzu: »Klar gibt es Unterschiede …«
»Ja. Ich denke, Ihnen wird überall Respekt entgegengebracht.«
Eine Antwort erübrigt sich.
Der Sonne gelingt das Unmögliche, sie bricht den Himmel auf und färbt ihn violett.
Auch die See färbt sich bläulich.
Wir lächeln einander zu, ich sehe, dass der Schimmer auf der honigfarbenen Haut wieder da ist. Und dass die hübsche Kurzhaarfrisur sich wieder zurechtlegt.
»Im Herbst war ich auf Madeira«, sage ich. »Im November, wenn es hier am unerträglichsten ist. Im Bazar von Funchal habe ich mir zehn Knollen Agapanthus africanus gekauft. Sie stehen in Töpfen in meinem Glashaus, und mindestens drei haben schon grüne Triebe. Komm mit und such dir zwei davon aus.«
Dann erschrecke ich, weil das vielleicht zu großspurig geklungen hat, und füge hinzu: »Du musst wissen, ich habe nur ein Reihenhaus mit einem kleinen Garten. Dort ist nicht genügend Platz für weitere zehn Töpfe. Und diese Afrikaner wachsen sich ja zu richtigen Büschen aus.«
Jetzt können wir endlich lachen.
Wir stehen auf und setzen unseren Weg am Strand entlang fort. Sie geht schnell, macht lange Schritte, zielstrebig.
Ich bleibe zurück, rufe: »Nicht so schnell!«
Sie bleibt stehen und wartet auf mich, kichert entschuldigend.
»Hast du aber eine Kondition«, sage ich.
Später sollte ich lernen, dass die langen Schritte ihre natürliche Gangart sind. Sie rennt auch in geschlossenen Räumen, auf Treppen, über den Rasen wie ein Hürdenläufer.
»Ich habe immer solchen Tatendrang«, sagt sie.
Dann ist der Uferpfad zu Ende und geht in eine Villenstraße über. Ich bleibe stehen, schaue auf die weite Wasserfläche hinaus, sage: »Ich bin am Meer geboren. Es zieht mich an, manchmal habe ich das Gefühl, es ist ein Teil meiner selbst. Ich empfinde eine Art Verwandtschaft.«
Jetzt werde ich verlegen, aber sie hört voller Ernst zu, nickt, als verstünde sie es: »Ich bin auch am Wasser aufgewachsen. Es war ein Fluss. Als Kind bin ich immer heimlich ans Ufer gegangen. Obwohl es mir verboten war.«
Ihr Blick verliert sich in Erinnerungen, und ich sehe zum ersten Mal, dass ihre Augen nicht so braun sind, wie ich dachte, dass sie einen grünen Schimmer haben.
»Ich liebte den Gedanken, dass der Rio Mapocho aus den Bergen kommt, dass er sich auf den Andengipfeln durch den Schnee bricht. Den Steilhängen verdankt er seine Schnelligkeit, und er wächst zu einem mächtigen Strom heran. Oben in den Bergen ist der Fluss rein und das Wasser klar.«
Sie schweigt eine Weile, das Gesicht verschließt sich.
»Aber dann fließt der Rio Mapocho durch die Stadt Santiago und muss tonnenweise Dreck mitnehmen. Wenn er den Vorort erreicht, in dem ich aufgewachsen bin, ist er braun und träge geworden.«
Ich nicke und sage, dass auch meine Gewässer verschmutzt sind, dass die ganze Ostsee verunreinigt ist und dass es auf den Meeresböden angeblich kein Leben mehr gibt.
»O lieber Gott«, sagt sie. Aber ihre Stimme klingt eher ironisch und ich schweige.
Wir schweigen noch immer, als wir das letzte Stück bis zu meinem Haus zurücklegen und sie ihre Schritte den meinen anzupassen versucht. Plötzlich sagt sie: »Ich glaube, Sie kennen meinen Fluss vom Fernsehen her. Pinochets Soldaten haben die Ermordeten einfach in den Mapocho geworfen.«
Ich wage nicht einzugestehen, dass ich die Augen schließe, wenn mir die Bilder auf dem Fernsehschirm unerträglich werden.
Ich bin stolz auf mein Treibhaus. Nicht weil es etwas Besonderes ist, es ist weder schön noch groß. Aber es besteht aus Panzerglas, hat Fußbodenheizung und Dachfenster, die sich selbsttätig öffnen, wenn es drinnen zu warm wird. Während der kalten Jahreszeit stehen meine Topfpflanzen dort und die Orangenbäumchen mit ihren gelben Früchten, die Zitronen, die richtige Dauerblüher sind. Und duften.
Jetzt, zu Beginn des Frühjahrs, dient das Glashaus dem Kultivieren der Aussaat. In den Torftöpfchen auf Bänken und Wandbrettern keimen die Samen der einjährigen Pflanzen, die irgendwann im Juni in den Garten gesetzt werden, wenn kein Nachtfrost mehr zu befürchten ist.
Kapuzinerkresse hängt über einen Topfrand und öffnet ihre feuerroten Blüten.
»Wie schön es hier ist!«, sagt Mira und es klingt glücklich.
Ich sage ihr, dass das für mich die einzige Möglichkeit ist, das lange Warten zu ertragen. Im langen, langsamen schwedischen Frühling.
Mira erzählt mir, dass sie eine Glasveranda in Südwestlage hat. Dort gibt es einen langen Tisch, und nun stellt sie sich vor, dass an jedem Ende dieses Tisches eine afrikanische Lilie stehen wird. Dazwischen sollen rosa Geranien blühen.
Mit der Zeit begreife ich, dass Mira Symmetrie liebt.
Wir sehen uns gemeinsam meine überwinterten Geranien an. Sie sehen abgestorben aus.
»Am Wochenende werde ich mich ihrer annehmen«, sage ich. »Sie zurückschneiden und in größere Töpfe umpflanzen.«
»Leben die denn noch?« Mira klingt verwundert.
»Verlass dich drauf«, sage ich und fange an zu erklären. Ich klinge wie eine Lehrerin und verabscheue diese Stimme.
Also halte ich den Mund und wende mich den Knollengewächsen aus Madeira zu. Wir sehen sofort, dass die Wurzeln kurz davor sind, die Torftöpfchen zu sprengen.
»Sie entwickeln sich wunderbar!«, jubelt Mira. Und ich sage, dass ich große Tontöpfe und neue Blumenerde kaufen muss.
Wir einigen uns, dass Mira in etwa einer Woche wieder herkommt, um zu sehen, wie die Pflänzchen das Umtopfen vertragen haben.
»Hättest du gern eine Tasse Kaffee?«
»Bitte.«
Wir gehen durch die Küchentür, ich stelle Wasser auf.
»Es gibt leider nur Pulverkaffee.«
»Haben Sie keinen Tee?«
Ich wühle im Vorratsschrank und finde tatsächlich eine ganze Tüte Tee. Und eine Packung amerikanische Kekse, zwar alt, aber immerhin …
»Wohnen Sie hier alleine?«
Wie, um Himmels willen, kann ich sie dazu bringen, du zu mir zu sagen, denke ich, wage aber keinen Versuch.
»Ja, ich bin geschieden.«
»Das bin ich auch.«
Unsere Blicke begegnen sich, und bald beginnen wir, wie alle Frauen es tun, von unseren Kindern zu erzählen.
»Ich habe zwei Töchter, schon erwachsen.«
»Ich habe zwei Söhne«, sagt sie, und ich höre ihrer Stimme an, dass sie stolz ist. Ihr Gesicht leuchtet auf, wird aber gleich wieder ernst.
»Sie sind schon richtige Schweden geworden.«
»Aber das ist doch gut?«
Ich höre selbst, wie es klingt.
»Doch«, sagt sie. »Mag sein. Aber manchmal beunruhigt mich das. Zum Beispiel wenn ihnen auf diese schwedische Art alles egal ist. Ein Chilene darf nicht naiv sein.«
»Meinst du, dass deine Söhne hier in Schweden benachteiligt
werden?«
Jetzt wird sie verlegen, gibt aber nicht klein bei.
»Das ist nie vorgekommen. Noch nie.«
Ich wage nicht zu lachen, aber sie tut es.
»Manchmal bin ich entsetzlich dumm.«
Ich schweige, denke aber, dass Mütter immer nach einer Begründung für ihre Sorgen suchen.
Ganz unvermittelt sagt sie: »Ich habe immer wieder das Gefühl, dass ich neu geboren wurde, als ich nach Schweden kam und meine Menschenwürde erhielt.«
Sie lächelt entschuldigend, als schämte sie sich der feierlichen Worte: »Sofern man noch geboren werden kann, wenn man schon Kinder hat und über dreißig ist.«
»Erzähl mir davon.«
»Wir kamen vom dänischen Flughafen Kastrup auf dem Bahnhof von Malmö an. Es war merkwürdig dunkel, obwohl es schon nach neun Uhr morgens war. Plötzlich hörten wir Musik und sahen eine Menschenmenge mit einer Heiligenfigur auf uns zukommen.
Ich dachte nur, sie jedenfalls sind Christen.
Als sie näher kamen, sah ich, dass die Heilige mit ihren eigenen Beinen lief und elektrische Kerzen im Haar hatte. Das Seltsame war, dass sie sang, laut und falsch, obwohl eine Musikkapelle ihr den Ton vorgab.
Außerdem war sie ziemlich dick.
Ich versuchte zu verstehen und kam zu dem Schluss, dass hier in diesem Land die Heiligen gewöhnliche Menschen sind. Ich fand das großartig.«
»Erzähl weiter«, sage ich, als wir uns ausgekichert haben.
»Nun, unser Zug setzte sich in Bewegung und wurde schneller, dum, dum, schneller, immer schneller. Aber die Dämmerung ließ lange auf sich warten. Sie schlich sich so vorsichtig an, dass ich dachte, irgendwann wird sie sich’s noch anders überlegen.
Und das stimmte irgendwie auch.
Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Wald. Es hatte geschneit, und die Bäume waren schwer von diesem Weiß. Und wie weiß es war!«
Miras Gesicht drückt immer noch Erstaunen aus.
»Ich hatte zu Hause vom Fenster aus Schnee auf den Gipfeln der Anden gesehen. Als Kind reimte ich mir Geschichten über dieses Weiße zusammen, das in der Dämmerung blau wurde. In weiter Ferne, unmöglich zu erreichen.«
Miras Blick verliert sich.
»Mutter behauptete, dass alles nur gefrorener Regen sei. Und von Vater hörte ich, dass dort oben wilde Indianer lebten, Chiles berühmte Krieger, die sowohl die Inkas als auch die Spanier besiegt hatten.«
Ich schenke Tee nach und zünde auf dem Küchentisch Kerzen an. Gerade will ich sagen, dass ich mehr über die Indianer wissen möchte.
Aber Mira bleibt bei ihrem Thema. Und ich merke, dass ihre Erinnerung aus Bildern besteht, dass sie ein fotografisches Gedächtnis hat. Und einer Bilderflut, die keine Unterbrechung duldet.
»Wir blieben irgendwo auf einem Bahnhof stehen, und nichts konnte meine Söhne daran hindern, ins Freie zu stürmen. Sie waren wie von Sinnen, hüpften in dem Weiß herum, ballten es mit den Händen zusammen, leckten daran, riefen: ›Wie Softeis, Nana.‹
Dann kamen sie ins Abteil zurück, nass und durchgefroren.
Und der Zug rollte weiter durch die Wälder. Aber nach einigen Stunden öffnete sich die Landschaft, wir fuhren an schönen roten Häusern mit großen Stallungen vorbei, Herrensitze, dachten wir. Durch die Ortschaften fuhren wir langsamer. Dort gab es elegante Villen. Und höhere Wohnhäuser mit großen Fenstern und Balkons, auf denen Tannenbäume standen.
Ich erinnere mich, dass ich dachte, wo wohnen hier nur die gewöhnlichen Leute? Die Armen.«
Sie lacht. Und was vom Lachen übrig bleibt, reicht für ein Lächeln, als sie weiterspricht: »Dann geschah etwas Überraschendes. Der Schaffner kam in unseren Wagen und sagte, irgendwo sei ein Chilene zugestiegen. Der Schaffner versuchte es mit Zeichensprache, wir verstanden nicht richtig, was er meinte, aber es wirkte freundlich. Und dann kam ein Mann herein, der uns auf Spanisch begrüßte. Er heiße Luis, sagte er. Und sei in Valparaiso geboren.
Wir waren nicht allein gelassen in diesem fremden Land.
Er sagte uns, dass es in Schweden viele Chilenen gebe.
Er selbst lebte schon seit zehn Jahren hier und war schwedischer Staatsbürger.
Wir konnten hören, dass er stolz darauf war.
Wir waren zu achtzehnt unterwegs, und die Männer stellten viele Fragen. Luis schien auf alles eine Antwort zu wissen. Er sprach von Politik und Demokratie, von Einwanderungsbehörden und Aufenthaltsgenehmigungen. Das sagte mir nichts.
›Die Schweden wissen eine Menge über Chile, vom Militärputsch und den Folterungen und davon, dass viele Menschen spurlos verschwinden. Sie haben in ihren Zeitungen darüber gelesen und das ganze Inferno im Fernsehen verfolgen können‹, erklärte Luis.
Ich schämte mich. Ich wusste nichts über Schweden. Hatte nie von diesem Land gehört. Aber Luis sprach weiter, sagte, Schweden sei ein gutes Land, und vieles, was Allende sich für Chile erträumt habe, sei hier schon Wirklichkeit.
Aber dann sagte er – und da merkte mein ganzes Ich auf –, dass in Schweden die Frauen dieselben Rechte hätten wie die Männer. Sie verdienten eigenes Geld und trafen ihre Entscheidungen selbst.
›Hier sitzen auch Frauen in der Regierung‹, sagte er und lachte über unser Erstaunen, erzählte dann aber weiter, dass lateinamerikanische Männer nicht selten mit der schwedischen Polizei in Konflikt kämen. Hier sei es nämlich gesetzlich verboten, eine Frau zu schlagen.
›Und wenn sie ihm untreu ist?‹
Es war ein jung verheirateter Mann, der das fragte.
›Dann hat sie ein Recht dazu. Sie entscheidet selbst über Leib und Leben‹, antwortete Luis.
›Das ist ja absolut verrückt!‹, schrie der junge Mann und ringsum stimmte man ihm aufgebracht zu.
›Aber denkt doch einmal nach‹, wandte Luis ein. ›In Chile werden Männer wegen Untreue nicht bestraft. Und ich habe schon gesagt, dass hier in diesem Land Frauen dieselben Rechte haben wie Männer.‹
Ab und zu übertönte das Lachen einer Frau die aufgeregten Männerstimmen. Ich selbst war so erstaunt, dass mir der Mund offen stand und ich nicht sprechen konnte. Ich schielte zu meinem Mann hinüber, doch der war ganz in sich versunken. Also konnte ich in das Lachen der Frauen einstimmen.
Ich hätte gerne Fragen gestellt, traute mich aber nicht. Alle Frauen hielten ihre Worte zurück, aber ihr Lachen klang immer hysterischer.
Nach einiger Zeit musste Luis in sein Abteil zurückgehen. Er verabschiedete sich und wünschte uns viel Glück. Die kleinen Kinder waren auf dem Schoß ihrer Mütter längst eingeschlafen. Nur meine Söhne saßen sehr aufrecht auf ihren Sitzen und schienen von Luis‹ seltsamen Worten verhext zu sein. Mein Ältester, José, legte mir den Arm um die Schultern und sagte, wir schaffen das schon, Nana.
Es gab Tee und belegte Brote. Dann brachte der Schaffner uns Decken und Kissen, und wir machten uns auf den Bänken, so gut es eben ging, ein Bett zurecht. Es war so eng, dass wir Kopf bei Fuß liegen mussten. Wir waren alle sehr müde. Bevor ich einschlief, musste ich noch an das denken, was Luis über die Frauen in Schweden gesagt hatte, und dass da irgendwie ein Zusammenhang bestehen musste mit der Heiligen, die in Malmö auf dem Bahnhof gesungen hatte.
Aber ich konnte den Zusammenhang nicht finden.«
Vor dem Küchenfenster des Reihenhauses senkte sich die Märzdämmerung, die lange blaue Stunde der Wehmut. Wir kochten noch einmal Wasser und tranken eine weitere Tasse Tee, bis Mira aufstand und sagte, sie müsse jetzt gehen, sie möge die Dunkelheit nicht.
Wir tauschten unsere Telefonnummern aus, ich begleitete sie zur Tür. Der Wind hatte sich gelegt, es war kalt und sternenklar.
»Es gibt wieder Nachtfrost«, sagte Mira.
Dann verschwand sie mit langen Schritten auf der Straße. Ich blieb an der Tür stehen und wurde den Eindruck nicht los, dass diese Frau Funken sprühte. Aber das konnte nicht stimmen, sie war ja jetzt nicht zornig.
Mira war fassungslos.
Warum hatte sie soviel gesagt? Sie, die die schwedische Art zu reden, ohne dabei etwas auszusagen, jahrelang geübt hatte. Abstand zu halten. Zuzustimmen. Vom Wetter, von der Mode zu plaudern, über die Dunkelheit und das Schneeschaufeln zu jammern. Einfach zu tratschen, nicht über die Nachbarn, sondern über die Leute, die in den Illustrierten abgebildet waren. Mira konnte sich solche Zeitschriften nicht leisten, also konnte sie sich auch keine eigene Meinung bilden. Aber das spielte keine Rolle, sie hatte gelernt, ein bejahendes Gesicht zu machen.
Während ihrer ersten Jahre hier hatte sie viel über die Ausdrucksweise der Schweden nachgedacht. Das Ergebnis war, dass sie niemanden zu nah an sich herankommen lassen wollte.
Anfangs fand sie das gut.
Doch bald kam eine Zeit, in der sie sich größte Mühe gab, es diesen Schweden gleichzutun. Um von ihnen anerkannt zu werden. Nach und nach begriff sie, dass das unmöglich war, sie unterschied sich schon allein durch ihr Aussehen von den Schweden. Und durch die Aussprache. Und ihre Herkunft, ihre Erfahrungen aus einer Welt, in der andere Grundsätze galten.
Die Schweden liebten anders geartete Menschen. Hauptsache, sie waren ihnen gleich.
Zum Teufel, dachte sie auf Schwedisch.
Normalerweise dachte sie spanisch, aber bei Flüchen war sie zu feige dazu.
Was hatte diese Frau an sich, dass es ihr gelungen war, Mira dazu zu bringen, so offen zu erzählen? Inge Bertilsson war interessiert, neugierig und grauenhaft verständnisvoll. Ohne zu verstehen. Deshalb hatte Mira auch die Toten im Fluss erwähnen können.
Verdammt blöde, dachte sie, wieder auf Schwedisch.
Als sie den Schlüssel ins Türschloss ihrer Wohnung steckte, schämte sie sich.
Sie erinnerte sich, dass sie Inge hartnäckig gesiezt und so Abstand zu ihr gehalten hatte. Die Schweden sagten immer du zu einander, und sie duzte sie auch. Normalerweise. Aber es gab gewisse Hemmungen, und die hatten mit Klassenbewusstsein zu tun.
Klassenunterschiede waren etwas, was die Schweden ablehnten. Das ärgerte Mira.
Sie hatte, als sie durch Inges Haus ging, schon auf den ersten Blick erkannt, dass die Einfachheit ihrer Einrichtung reine Angeberei war. Etwas, das man bei besseren Leuten oft beobachten konnte. Weichholzböden, Flickenteppiche, überquellende Bücherregale und Stapel von Büchern auf Tischen und Stühlen. Undefinierbare Bilder, hängemattenähnliche Ruhemöbel mit geflochtenen Gurten statt Polsterungen.
Staub und Unordnung.
Mira hatte bei sich zu Hause weiche Ledersessel und Teppiche mit orientalischen Blumenmustern. Und Ordnung.
Inge gehörte zu diesen reizenden Schweden, deren andauernde Zuvorkommenheit eine echte Freundschaft verhinderte.
Sie sah sich die Fernsehnachrichten an. Hochdruckwetter war angesagt, Sonne. Die Wahrscheinlichkeit von Nachtfrost nahm zu.
Als sie ihr Bett für die Nacht zurechtmachte, fühlte sie sich eher traurig als wütend.
Sie wusch sich, putzte sich die Zähne, zog das Nachthemd an und dachte dabei die ganze Zeit an Inge.
Sie war ein so offener Mensch.
Also ich habe wohl einfach erzählen müssen.
Im Bett sprach Mira wie immer mit Gott. Er fand Inge auch eingebildet.
Bald nach dem Einschlafen kamen die Träume, ein Strudel von Kindheitsbildern. Wie immer waren die Bilder der Nacht, als sie aufwachte, vergangen, doch Licht und Stimmung waren geblieben.
Sie filterte sich ihren Kaffee und blieb am Küchentisch sitzen, gab sich zum ersten Mal seit langem ihren Erinnerungen hin.
Verwundert merkte sie, dass sie immer nur spanisch dachte, dass sich nicht ein einziges schwedisches Wort einschlich.
Sie ist sieben Jahre alt und schlüpft durch das Loch in der Mauer, flink flitzen ihre Füße durch die Gassen, zunächst geradeaus, dann nach links Richtung Fluss. Das ist verboten und daher besonders spannend.
Nun hört sie den Rio Mapocho rauschen, und bald kann sie dem strömenden Wasser mit den Augen folgen. Das ist der Moment, in dem sie sich den Ursprung dieses Flusses hoch oben in den Anden vorzustellen versucht.
Sie denkt auch darüber nach, was er mit seiner Reise bezweckt, wohin er unterwegs sein mag?
Zum Meer, hatte Vater gesagt, zum größten Meer der Welt.
Warum sehnt sich der Fluss nach dem Meer, das ihn verschlingt?
Der Stille Ozean, sie hatte viel über diesen Namen nachgedacht. Und einmal hatte sie ihren Vater nach Valparaiso begleiten dürfen, er besaß damals einen Lastwagen. Da hatte sie es gesehen, dieses endlose Meer.
Von Stille konnte nicht die Rede sein. Der Ozean dröhnte, hohe Wellen schlugen gegen die Felsen.
Das Seltsamste von allem war, dass sie und ihr Vater mit einem Lift hinauf in die Berge fuhren. Es gab siebzehn Lifte, sie wusste es, denn sie hatte sie gezählt.
Hier an den Ufern des Mapocho schaufelten müde, schmutzige Männer den Schlamm aus dem Flussbett, hielten ihn feucht, rührten ihn zu einem Brei, den sie mit Stroh vermengten. Den gossen sie in Holzformen und fertigten auf diese Weise Ziegel, die in der Sonne trocknen mussten. Aus diesen Lehmquadern wurden in den Vororten Mauern und Wohnhäuser errichtet.
Der braune Modder stank, in Ufernähe schwammen tote Katzen und ersäufte Hunde im Wasser. Es war aufregend.
Endlich schaute das Kind nach der Sonne und musste feststellen, dass Stunden vergangen waren. Jetzt traute sie sich erst nach Hause, wenn der Vater von der Arbeit kam, er würde sie vor der Mutter in Schutz nehmen. Mutter konnte sehr böse werden.
Also stahl die Kleine sich in die Gasse zurück, drückte sich in den tiefen Schatten der Mauer, wo die Strahlen der untergehenden Sonne nicht mehr hinreichten. Schnell schlüpfte sie in Gracielas Haus, wo sich, wie immer um diese Tageszeit, die alten Frauen versammelt hatten. Sie hatten so viel zu schwatzen, dass ihnen Mira gar nicht auffiel.
Die Stimmen waren einmal laut, einmal leise, und manchmal schrien sie alle durcheinander, um sich Gehör zu verschaffen. Wenn ihnen eine Geschichte mit vielen unanständigen Wörtern besonders gut gefiel, lachten sie alle laut. Das kleine Mädchen verstand wohl die Wörter, wusste aber nicht, was daran so witzig war.
Meistens jammerten die Frauen allerdings. Und fluchten. Manchmal weinten sie vor Zorn. Und das Kind dachte, dass jede der Frauen mehr als eine Frau war, eine war voller Wut und die andere voller Sehnsucht, aber jede von ihnen war auch noch voller Verzweiflung.
Manchmal schrie eine von ihnen so laut, dass man es noch jenseits der Mauern bei der Mutter des kleinen Mädchens hören konnte, die an der Nähmaschine arbeitete. Die Mutter pflegte zu sagen, der Teufel habe die Schreiende geritten.
Es war aufregend. Jedes Mal wenn Mira in Gracielas Haus in ihrer Ecke saß, wünschte sie sich inständig, das Schreckliche einmal sehen zu dürfen, wenn der Teufel eine Frau ritt.
Sie hatte oft genug zu hören bekommen, dass sie auch einen Teufel im Leib habe. Anfangs war sie darüber erschrocken, aber mit der Zeit stellte sie sich vor, er müsse ein Indianer sein. Mit Indianern konnte man ihr Angst einjagen.
Oder wenn sie in der Schule geärgert wurde. Da schlug sie mit den Armen um sich und schrie, die andern sollten sich vor ihr hüten. Denn ihr Großvater sei ein echter Mapuchekrieger. Und sie, Mira, habe echtes Indianerblut in den Adern.
Daraufhin ließen die anderen Kinder sie in Ruhe.
Es war also ein guter Teufel. Später sollte sie in der Schule lernen, dass jeder Mensch auf der Erde sieben Teufel in sich habe. Und erst wenn man ihnen allen furchtlos begegnet war, könne man seinem Schutzengel gegenübertreten.
Das hatte der Pfarrer gesagt. Und Mira, die nur einen von ihren sieben Teufeln kannte, wusste, dass sie ihrem Engel nie begegnen würde.
Und so war es dann ja auch gekommen, dachte sie und schenkte sich noch eine Tasse Kaffee ein. Dann kehrte sie in Gedanken wieder zu Gracielas Haus zurück.
Jetzt trennten sich die Frauen, die Männer waren schon auf dem Heimweg, und die Frauen mussten schnell ihre Kinder einfangen und Essen kochen.
Das kleine Mädchen fand, dass die Männer leichter zu verstehen waren. Und man konnte sich eher auf sie verlassen. Auch in ihnen steckten allerlei Teufel, aber sie waren weniger unberechenbar. Ihre Teufel steckten in einer Flasche und kamen nur frei, wenn die Männer zu viel von dem roten Wein getrunken hatten.
Wenn sie gar Aguardiente zu sich genommen hatten, diesen Branntwein, den sie mit Pflaumen rot färbten, konnte es gefährlich werden. Anders als die Frauen hatte das kleine Mädchen nie Angst davor. Es konnte sich auf seine schnellen Beine verlassen.
Nach dem Frühstück spülte Mira das Geschirr in ihrer schönen schwedischen Küche und fasste einen Beschluss. Sie würde Inge anrufen. Nicht etwa um sich zu entschuldigen. Sie wollte ihre Hilfe beim Umtopfen anbieten.
Inge Bertilsson hatte den Lehrerberuf aufgegeben und verdiente genug durch das Schreiben von Sachbüchern, in denen es im wesentlichen um Schulkinder ging. Sie brachte gute Voraussetzungen für diese Aufgabe mit, hatte sie doch Universitätsstudien in Literatur und Pädagogik absolviert. Am nützlichsten waren ihr aber die langjährigen praktischen Erfahrungen. Ihr gefiel diese Arbeit, aber sie lebte dadurch – besonders jetzt, wo ihre beiden Töchter in England Sprachen studierten – zurückgezogen.
Vielleicht war es ihrer Abgeschiedenheit zuzuschreiben, dass sie sich über die Bekanntschaft mit der undurchsichtigen Südamerikanerin so freute. Nein, das war nicht der richtige Ausdruck, es war eher deren Anziehungskraft, ihr inneres Feuer. Inge suchte nach Worten, gab es schließlich auf und ärgerte sich über ihren ständigen Bedarf an Definitionen.
Als das Telefon klingelte, hoffte sie einen Augenblick lang, es wäre eine ihrer Töchter. Dann ermahnte sie sich selbst, die beiden konnten sich ein Auslandsgespräch gar nicht leisten. Es war wohl eher der Verlag.
Als sie die tiefe Stimme und den Akzent hörte, war sie selbst erstaunt. Wie sehr sie sich freute!
Mira sagte, sie habe sich überlegt, beim Umpflanzen der Geranien und auch der Afrikaner zu helfen. Es war doch eine arge Schlepperei mit Blumenerde und Töpfen.
Dann wurde die Stimme unsicher: »Nur wenn du willst«, sagte sie.
»Ist doch klar, dass ich will«, sagte Inge.
Ihre Stimme wurde lebhafter.
Sie verabredeten sich. Inge würde mit dem Auto vor Miras Tür stehen. Samstagmorgen um zehn.
Sie nannte die Adresse, wusste sie, wo das war?
Ja, sie kannte sich dort aus.
»In Eskilsta gibt es ein Gartencenter. Die sind recht billig. Dort fahren wir hin.«
Mira lachte, sie verstand. Nie wieder die alte Gärtnerei.
Sie sagten tschüss, legten auf. Inge blieb neben dem Telefon stehen, sah den Hörer dankbar an: Mira hatte du gesagt.
Beim Treffen am Samstagmorgen ging es ein bisschen steif zu. Befangen. Inge sprach vom Wetter, wie schön, dass die Sonne schien. Mira fand das auch.