Maske des Mondes

Stephan R. Bellem

Drachenmond Verlag Drachenmond Verlag

Für alle Leser der Rusalka

Ihr seid schuld. *g*

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Nachwort und Danksagung

Kapitel 1

Montag, 7. Oktober 1895

01:42 Uhr

Das Gefühl, verfolgt zu werden, hatte sich unerbittlich in ihm eingenistet. Zuerst war es bloß ein Geräusch gewesen – das unerwartete Knacken eines Zweiges. Doch es hatte dem Gefühl der Angst Tür und Tor geöffnet. Nun war sie tief in ihm verwurzelt, trieb ihm kalten Schweiß auf Stirn und Nacken, sodass jeder Windhauch ihn wie der eisige Atem eines unbekannten Jägers streifte.

Wieso hatte er auch den Weg durch den Park genommen?

Wieder hörte er ein Geräusch, das nicht in die erwartete Stille der Nacht passen wollte. Zu groß, zu schwer musste jenes Tier sein, das sich mit solcher Gewalt einen Weg durchs Unterholz bahnte.

Die Panik gewann endlich die Oberhand über seine Beine und er rannte. Der vornehme Zylinder rutschte ihm von der Stirn und holperte über den Kiesweg. In einem letzten Geistesblitz hielt er sich an seinem Gehstock fest – die improvisierte Waffe könnte der einzige Schutz sein, bis er hoffentlich sein sicheres Zuhause erreichte.

Ich könnte sicher und warm in einer Kutsche sitzen!, zuckte es durch sein Hirn. Wie die anderen Gäste auch …

Mit schreckgeweiteten Augen bemerkte er, dass sein Weg ihn fort von den offenen Wiesen und hin zu einer düsteren Allee führte. Bäume reihten sich dicht an dicht und tauchten den Pfad in tiefes Schwarz. Nicht der kleinste Schimmer Mondlicht erreichte hier den mit Kies bestreuten Boden.

Hundert Meter, länger war der Marsch durch die Finsternis nicht.

Hundert Meter, bis er wieder freien Himmel über sich erblicken könnte.

Er schaffte vierzehn.

Aus dem Unterholz ertönte ein tiefes Grollen, und noch bevor er es Mensch oder Tier zuordnen konnte, wurde er getroffen.

Ein massiger Körper krachte hart gegen seinen, riss ihn zu Boden, und wo Klauen sich tief in sein Fleisch bohrten, erblühte sengend heißer Schmerz.

Er versuchte sich zu wehren, doch schon sein erster unbeholfener Schlag prallte wirkungslos an seinem Angreifer ab. Mit der Linken packte er ein Büschel Haare und riss sie in der irrwitzigen Hoffnung, er könnte den Angreifer dadurch stoppen, heraus.

Die einzige Antwort war ein wütender Schrei, der verzerrt an seine Ohren drang, und kurz darauf wurde seine Brust ganz taub. Er blickte aus den Augenwinkeln an sich herab und dort, wo er Mantel, Weste und Hemd erwartet hatte, sprudelte Blut aus einer klaffenden Wunde, hingen Haut, Sehnen und Muskeln in Fetzen und gaben hier und da sogar den Blick auf weiße Knochen preis.

Ein letztes »Hilfe« erstickte am roten Lebenssaft, der schon längst seine Lunge füllte, und sein Blick verschwamm.

Seine ganze Welt bestand aus Schmerz und Blut.

Bis sie plötzlich endete.

Kapitel 2

Montag, 7. Oktober 1895

08:12 Uhr

Sonnenstrahlen kitzelten Lewis’ Nase und er bemühte sich, nicht die Augen zu öffnen. Zu stark war das Verlangen in ihm, direkt in die Schublade seines Nachtschranks zu greifen und darin nach der rettenden Flasche zu suchen.

Der Flasche, die dort nicht mehr war.

Und er wusste genau, dass jenes Verlangen einzig und allein seinem Verstand entsprang. Seiner Vorstellungskraft, die ihm weismachte, dass ein Schluck jener wohlig brennenden Flüssigkeit alle seine Sorgen und Ängste vertreiben würde.

Doch genau das wollte er nicht mehr.

»Ich möchte mit offenen Augen durch die Welt gehen«, sagte er leise in die Einsamkeit seines Schlafzimmers.

»Dann hoffe ich, dass der Herr diesen Wahlspruch befolgt, bevor er das nächste Mal in Pferdemist tritt«, ermahnte ihn die scharfe Stimme seines Butlers.

»Herrgott, Dietrich, wie oft sage ich dir, du sollst dich nicht an mich anschleichen?« Lewis setzte sich kerzengerade im Bett auf und blickte direkt in das kantige Gesicht des Deutschen. Zu seiner Überraschung umspielte der Ansatz eines Lächelns dessen Mundwinkel. »Und glaubst du, ich weiß nicht, was du hier machst?«

Dietrich zog fragend eine Augenbraue hoch. »Wenn Sie damit meinen, dass ich meine Pflicht als Ihr Leibdiener mit höchst­möglicher Sorgfalt ausführe, dann ja.«

Lewis legte den Kopf leicht schief und gestattete sich ein halbes Lächeln. »Ich hätte es eher Kontrolle genannt, aber ich weiß deine Sorge um mich zu schätzen.«

Dietrichs Miene zeigte keinerlei Regung, als er antwortete: »Mitnichten. Doch wenn der Herr wieder zur Unpässlichkeit neigt, muss ich Chester ausführen. Ich möchte nur den Tagesablauf planen. Ein Hund braucht feste Strukturen.«

Lewis fuhr sich durch die vom Schlaf zerwühlten Haare. »Manchmal glaube ich, dass du ihn und mich verwechselst.«

»Wenn der Herr besser auf seine Schuhsohlen achtet als der Hund auf seine Pfoten, wird diese Gefahr minimiert.«

»Ich habe mich doch gestern schon dafür entschuldigt.«

Dietrich deutete auf die Badezimmertür, ohne auf die Erwiderung einzugehen. »Ich war so frei, die Wanne bereit zu machen. Miss Claire richtet das Frühstück wie gewünscht für halb neun an.«

»Danke.« Er stand auf und tapste ins Bad. Das dampfende Wasser duftete herrlich nach Zitrus und Zedernöl. Zudem hatte Dietrich ihm bereits Kleidung auf einem kleinen Hocker bereitgelegt.

Die Morgensonne schien sanft durch die luftigen Vorhänge und tauchte den Raum in goldenen Schein. Die Ruhe eines morgendlichen Bades – Lewis konnte noch immer kaum glauben, dass er jenen Hochgenuss so lange Zeit im Nebel des Alkohols erstickt hatte. Neben der Wanne stand ein kleiner Beistelltisch auf Rollen. Darauf befand sich eine Tasse mit einer dunklen Flüssigkeit, deren Aroma sich angenehm mit dem des Badewassers verband.

Dietrich hatte ihn auf den Geschmack von Kaffee gebracht – jenem teuflischen Getränk, das die Gemütlichkeit aus den Leben der Städter trieb, wenn man den Zeitungen Glauben schenkte. Immer wieder echauffierte sich ein Journalist darüber, dass der Kaffee dem Müßiggang und Genuss des Teetrinkens den Kampf angesagt hätte und in seiner Form für eine ungesunde Beschleunigung des täglichen Lebens sorgte.

Was schon an Ironie grenzte, wenn man bedachte, dass Kaffee­häuser eingeführt worden waren, um der arbeitenden Bevölkerung einen Ort der Entspannung ohne Alkoholausschank zu ermöglichen.

Lewis konnte solchen Gedanken nicht zustimmen. Für ihn lag ein tiefes Gefühl der Ruhe darin, morgens eine Tasse heißen Kaffee in der Badewanne zu trinken und sich ganz seinem weichen Aroma hinzugeben.

Man kann alle Dinge aus mehreren Blickwinkeln betrachten, dachte er und nahm einen ersten Schluck, während er sich tiefer ins warme Wasser gleiten ließ. Am Ende kommt es darauf an, was man daraus macht.

Genau mit jenem Satz hatte Dietrich einst einen Artikel gegen das Kaffeetrinken kommentiert, fiel ihm ein. Der Gedanke an seinen Butler zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht – ein Ausdruck, der ihm in letzter Zeit immer häufiger über die Züge huschte.

Der Deutsche mochte sich wie ein alter Miesepeter aufführen, doch Lewis wusste, dass er in dem geheimnisvollen Mittfünfziger einen wahren Freund hatte. Eine Freundschaft, die er in den letzten zwölf Jahren viel zu wenig zu schätzen gewusst hatte.

Ein tiefer Schluck aus der Tasse, und in seinem Körper breitete sich eine wohlige Wärme aus. Keine, die ihn so angenehm betäubte, wie es der Alkohol früher getan hatte, aber nichtsdestotrotz fühlte Lewis sich besser. Er hielt sich die Tasse noch ein wenig unter die Nase, um seine Sinne mit dem Kaffeeduft zu fluten.

Dietrich hatte ihm eine dunkelgraue Hose und ein weißes Hemd heraus­gesucht. Dazu eine zur Hose passende Weste, die Lewis mit einer silbernen Taschenuhr aus seiner Sammlung komplettierte. Die Kette war abwechselnd mit großen und kleinen Gliedern gearbeitet, was ihr den Anschein von nebeneinander schwebenden Ringen verlieh. Ein rotes Halstuch bildete den abrundenden farblichen Akzent.

Als Lewis den Treppenabsatz erreichte, wurde er bereits freudig von Chester begrüßt. Der große Dürrbächler hechelte ihn fröhlich an und rieb den massigen Kopf so lange an Lewis’ Hosenbein, bis dieser sich zu dem Hund hinabbeugte und ihn hinter den schwarzfelligen Schlappohren kraulte.

Erst als der Hund ein zufriedenes Seufzen von sich gab, ließ Lewis von ihm ab und ging in die Küche, wo Dietrich und Claire bereits am Tisch saßen.

Man konnte deutlich sehen, dass es ihr noch immer unangenehm war, gemeinsam mit dem Herrn des Hauses an einem Tisch zu essen. Dennoch folgte sie seinem Wunsch ohne Widerspruch.

Die letzte Zeit war nicht einfach gewesen. Vor allem für die junge Frau, die sich mit so bewundernswerter Courage wieder in ihren Alltag kämpfte. Aus diesem Grund hatte Lewis sich entschlossen, im Umgang mit Claire wieder etwas mehr Höflichkeitsabstand zu halten. Es war nur ein Gefühl, doch es schien ihr leichterzufallen, wenn sie sich in gesellschaftlich angemessener Distanz begegneten.

Der Duft frisch gebackener Scones stieg ihm in die Nase und er klatschte freudig in die Hände. »Claire, Sie haben sich mal wieder selbst übertroffen.« Er setzte sich ans Kopfende des kleinen Tisches – Lewis lehnte es ab, allein an seiner großen Tafel zu speisen – und Chester machte es sich am noch warmen Ofen gemütlich.

»D… Danke«, erwiderte Claire und errötete leicht.

Lewis entging nicht, dass sie seinem Blick noch immer auswich, wenn sie konnte. So auch an diesem Morgen. Sie reichte ihm den Korb mit den warmen Scones und deutete auf das Schälchen mit Clotted Cream, das bereits vor seinem Teller stand.

»Also«, begann Lewis schließlich nach einem Moment der Stille, »ich erwarte Lord Treville. Er möchte mich zu einer Auktion als Berater mitnehmen.«

»Der Herr nimmt also wieder am öffentlichen Leben teil, wie nett«, bemerkte Dietrich, wobei er keinen Gesichtsmuskel bewegte.

»Ganz recht, Dietrich«, überging Lewis die Spitze und lächelte ihm dabei süffisant ins Gesicht. »Vielleicht ersteigere ich sogar ein Stück.«

»Wunderbar! Mehr Staubfänger.«

Claire ließ vor Schreck ihr Messer klappernd auf den Teller fallen, was Chester dazu veranlasste, neugierig den Kopf zu heben. Lewis bewunderte den Hund für seinen Enthusiasmus, wenn es um mögliche Essensreste auf dem Boden ging. »Verzeihung«, sagte Claire im Flüsterton und lief dabei rot an.

Lewis schüttelte den Kopf. »Claire … es gibt nichts, das Ihnen peinlich sein muss.« Er machte eine kleine Verrenkung, um ihren Blick mit seinem einzufangen. »Verstehen Sie? Gar nichts.«

Sie nickte, doch aus ihren Augen sprühte die blanke Panik. »Ich … muss mich um die Wäsche kümmern. Ich wünsche Ihnen schöne Geschäfte und einen erfolgreichen Tag … oder so.« Damit stand sie überhastet auf und floh aus der Küche und die Treppe hinauf.

Lewis seufzte und blickte dann Hilfe suchend zu Dietrich. »Habe ich was Falsches gesagt?«

Das Gesicht des Deutschen war wie immer unlesbar. »Sie braucht noch Zeit.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Der Herr brauchte zwölf Jahre, ehe er seine Dämonen besiegen konnte.«

»Dann hoffen wir besser, dass sie einen stärkeren Charakter hat als ich.«

»Davon bin ich überzeugt.«

»Charmant wie immer.« Ein Lächeln zupfte an seinen Mund­winkeln. »Vermutlich hast du recht.« Chester war bereits aufgesprungen, bevor die Türklingel ertönte. »Das wird Paul sein.«

Dietrich erhob sich ergeben und verließ die Küche. Angesichts der Vergangenheit des Mannes konnte Lewis oft noch immer nicht fassen, dass er sich mit der Rolle des Butlers begnügte – und sie auch noch so perfekt ausfüllte.

»Dietrich, alter Freund!«, begrüßte Paul den Deutschen überschwänglich.

»Lord Treville, welche Ehre.«

»Ach, nicht so förmlich! Wie oft hast du mich schon besoffen in meine Kutsche getragen?« Paul lachte schallend und Lewis musste bei der Vorstellung von Dietrichs unbewegtem Gesicht ein Lächeln unterdrücken. »Also, wo ist der Herr des Hauses? Schläft er noch?«

»Ich bin in der Küche«, rief Lewis und biss in den mit Clotted Cream und Marmelade bestrichenen Scone.

»Iss schneller, wir sind spät dran!«

Mit einem Seufzen schob sich Lewis den Rest seines Scones in den Mund und spülte ihn mit dem Tee hinunter. Im Foyer reichte Diet­rich ihm bereits einen dunklen Mantel und den braunen Bowler, den Lewis fast immer trug. »Danke … Ach, könntest du …«

»Chester ausführen? Selbstverständlich.«

Er nickte dem Butler noch ein Mal dankend zu und ließ sich dann von Paul hinauszerren, wo eine zweispännige Kutsche auf sie wartete.

»King Street«, wies Paul den Kutscher, Earl, an. »Zu Christie’s.«

Die Peitsche knallte einmal laut und Pferde samt Wagen setzten sich in Bewegung.

»Woher kommt dein plötzliches Interesse an Auktionen?«, fragte Lewis, während er den Blick aus dem Fenster richtete.

Früher hatte er jeden Kontakt zu seinen Nachbarn vermieden und sich nur selten bei Tageslicht in der Öffentlichkeit gezeigt. Was sie wohl heute über mich denken? Was werden sie wohl hinter meinem Rücken tratschen? Er hätte sich gern als Mann gewusst, der nichts auf die Meinung anderer gab, doch die Wahrheit sah leider anders aus.

Nicht dass er sich von anderen seine Lebensweise diktieren lassen wollte oder würde, doch er wusste, dass sein Lebenswandel bei vielen für mehr als eine erhobene Augenbraue sorgte. Und ihn störte die bloße Tatsache, dass sich andere dafür interessierten.

»Ach, ich habe gehört, dass sie heute Ware versteigern, die am Hafen aufgebracht wurde«, riss Paul ihn aus seinen Gedanken. »Und dachte, das könnte doch ganz lustig werden, findest du nicht?«

Lewis verzog das Gesicht. »Du willst mal wieder auf Schatzsuche.«

»Und was ist daran so verwerflich?«

»Wir sind nicht mehr zwanzig«, stellte Lewis das Offensichtliche fest. »Und es hatte mehr Charme, als wir dafür tatsächlich in Afrika waren.«

Paul wedelte abwehrend mit der Hand. »Papperlapapp. Damals waren wir wilde Studenten und wollten unseren Vätern etwas beweisen …«

»Ich wollte nur verhindern, dass du dich im Dschungel umbringst.«

»… aber heute haben wir die Weitsicht …«

»Du meinst Geld.«

»… uns die schönen Dinge des Lebens zu kaufen.« Paul schenkte ihm ein entwaffnendes Lächeln. »Wieso bist du mitgekommen, wenn du es so verurteilst?«

Lewis lachte anerkennend. »Punkt für Euch, Lord Treville.«

Als er wieder aufblickte, sah er, dass Paul einen fein gekleideten Gentleman und dessen Gattin, die gemeinsam auf dem Gehweg flanierten, durch das Fenster beobachtete. Im Blick des Freundes lag eine Sehnsucht, die Lewis dort schon lange nicht mehr gesehen hatte.

»Er wird vermutlich auch da sein«, flüsterte Paul in Richtung der Glasscheibe.

Lewis seufzte. »Tu das nicht.«

»Was?« Noch immer starrte er das Paar an, das gemeinsam die Morgensonne genoss.

»Versuch nicht, dich auf diese Art mit ihm zu messen.«

Paul runzelte die Stirn. »Messen? Mit wem?«

»Wenn wir nur zu Christie’s fahren, damit du Lord Ashbourne beweisen kannst, dass du der bessere Mann bist, sag ich dir: lass es.«

Ein diebisches Grinsen stahl sich auf Pauls Lippen. »Ein kleiner Dämpfer hier und da hat noch niemandem geschadet, findest du nicht?«

»Mir hat mal ein kluger Mann gesagt, dass man einen gehörnten Ehemann nicht auch noch wie einen Bullen reizen sollte.«

»Das klingt ja schon fast poetisch! Wer war der Philosoph?«

»Du. In unserem zweiten Semester an der Universität. Damals hattest du dich für einen Fachwechsel entschieden, nur um dem Professor nicht zu begegnen, dessen Frau du … öfter getroffen hattest.«

Paul seufzte sehnsuchtsvoll. »Ach ja, die Jugend. Professor Pearsons Gattin … Sie war so schrecklich einsam, Lewis. Es war –«

»Verdammt gefährlich! Der alte Pearson hätte dich beinahe zum Duell gefordert!«

»Hat er.«

»Was?«

»Was glaubst du denn, warum ich nach Afrika wollte? Ich hatte gehofft, dass der Greis das Zeitliche segnet, bis wir wieder zurück sind.«

Lewis wollte gerade etwas erwidern, als die Kutsche anhielt und der Fahrer vollmundig verkündete, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. Bevor Paul aussteigen konnte, hielt Lewis ihn an der Schulter zurück und blickte ihm tief in die Augen. »Versprich mir, dass du dich nicht in einen kindischen Wettstreit mit ihm verrennst.«

»Wie käme ich dazu?«

»Sophia steigt dir zu Kopf.«

Paul fasste sich getroffen an die Brust. »Nein, alter Freund, sie fährt mir direkt ins Herz«, verkündete er theatralisch und wischte die Bemerkung mit einer Handbewegung beiseite. »Wir haben einfach nur ein wenig Spaß, Lewis. Und bringen Geld unter die Leute, das ist es doch, was die Gesellschaft von Männern wie uns erwartet.«

Lewis setzte den Bowler auf und folgte ihm seufzend aus der Kutsche.

»Bis in drei Stunden«, verabschiedete Paul seinen Fahrer und ging voraus.

Im Innern des Auktionshauses erwartete ihn ein nur allzu vertrauter Anblick. Menschen von Rang und Namen waren vertreten, fast so wie bei Pauls regelmäßigen Soireen, und versuchten weltmännisch zu wirken, indem sie die gedruckten Beschreibungen der Auktions­gegenstände herunterbeteten und sich mit gewichtigem »Oh ja« und wildem Kopfnicken bestärkten.

Plötzlich hatte Lewis die dumpfe Ahnung, dass die Bilder seiner Arbeit nicht der einzige Grund für seine frühere Trinkerei gewesen waren.

Paul stupste ihn unauffällig in die Seite. »Er ist hier.«

Lord Ashbourne stand ein wenig abseits der Menge und schien ein vertrauliches Gespräch mit einer älteren Dame zu führen, die Lewis als die Witwe Havisham erkannte.

Er verdrehte die Augen. Großartig. »Versuch einfach, ihm aus dem Weg zu –«

Aber da hatte Paul bereits die Hand zum Gruß erhoben. »Lord Ashbourne! Welch eine Freude, Euch hier zu sehen.«

»Treville, alter Teufel«, begrüßte dieser Paul nicht weniger überschwänglich – und nicht weniger aufgesetzt, mochte Lewis meinen. »Was führt Euch denn hierher?« Lord Harry Ashbourne war ein Mann von imposanter Statur. Breite Schultern, aufrechter Gang, und der Blick seiner steingrauen Augen wirkte bedrohlich wie die See an einem regnerischen Tag. Er hätte einen hervorragenden Henker abgegeben, aber das Schicksal hatte es gut mit ihm gemeint und ihn in angenehmen Reichtum geboren.

Paul zuckte mit den Schultern. »Ich suche noch ein paar Geschenke für meine Geschäftspartner. Außerdem hörte ich, dass von Scotland Yard aufgebrachte Schmuggelware unter den Stücken sein soll. Dem Reiz des Verbotenen konnte ich nicht widerstehen.«

Lord Ashbourne schnaubte abfällig. »Unsinn. Lady Havisham löst einen Großteil ihres Besitzes auf. Jetzt, wo Charles nicht mehr ist …«

»Und da dachte ich, Ihr interessiert Euch nur noch für Hotels. Wie viele habt Ihr schon gekauft? Fünf?«

»Neun. Mit dem St. Ermin’s werden es zehn.«

Bei der Erwähnung von Lord Havisham tauchte vor Lewis’ innerem Auge das Bild des Mannes auf. Die blanke Angst im Blick, kurz bevor er sich aus dem Fenster gestürzt hatte – gefolgt vom Anblick des auf den Pflastersteinen zerschmetterten Körpers.

Der Wunsch, sich eines der Schaumweingläser zu greifen, die von jungen Butlern durch den Saal getragen wurden, war nahezu überwältigend. Zu präsent das grausige Bild des Toten, dessen Blut die Auffahrt tränkte. Lewis konzentrierte sich mit aller Macht auf Paul und Lord Ashbourne, in der Hoffnung, dass sie rasch das Thema wechselten.

»Harry, Ihr müsst unbedingt mal wieder einer meiner Einladungen folgen. Wir vermissen Euch«, log Paul derweil charmant wie immer.

Lewis wusste, dass sein bester Freund das Spiel mit dem Feuer liebte, obwohl er sich schon mehrmals daran verbrannt hatte. Dennoch verband die beiden Männer eine beinahe freundschaftliche Rivalität, die stets von gegenseitigem Respekt gestützt war. Lewis fragte sich, wie Ashbourne wohl reagieren würde, sollte er je von Pauls und Sophias Affäre erfahren.

Lord Ashbourne zeigte ein ehrliches Lächeln. »Bestimmt sogar. Wie ich lese, hattet Ihr ein wenig Kummer mit dem Personal. Sagt, Paul, ist Euer Anwesen denn sicher genug, dass ich meine liebreizende Gattin auch weiterhin an Euren abendlichen Zerstreuungen teilhaben lassen kann? Ihr kümmert Euch immer so reizend um Sophia, sie wäre sicher untröstlich, wenn ich ihr den Umgang mit Euch unter­sagen müsste.«

Paul schenkte Lord Ashbourne ein entwaffnendes Lächeln. »Unbedingt.«

Lewis bemühte sich um einen nichtssagenden Gesichtsausdruck – eine seiner leichtesten Übungen. Während die beiden Lords noch weitere falsche Nettigkeiten austauschten, ließ er den Blick unauf­fällig durch den Saal schweifen.

Alles, was Rang und Namen hatte, war vertreten. Lewis glaubte sogar, einen der Berater der Königin persönlich zu sehen! Gut möglich, dass sich das alte Mädchen noch ein paar Schmuckstücke von Havisham holen will, sinnierte er amüsiert.

Am Ende waren Menschen doch nur bessere Geier.

Und Havishams Kadaver war gewaltig.

Lord Ashbourne verabschiedete sich alsbald mit einer nicht minder großen – wie teilweise geheuchelten – Freundschaftsbekundung. Lewis fragte sich immer wieder, wie Paul diesen ganzen Zirkus aushielt und sich Abend für Abend freiwillig ins Getümmel werfen konnte.

»Und? Was hat er gesagt?«

Paul tat die Frage mit einem Achselzucken ab. »Keine Ahnung. Hab ihm die meiste Zeit nicht zugehört.«

Des Rätsels Lösung!, dachte Lewis schmunzelnd. »Versuch trotzdem, ihn nicht zu sehr vorzuführen, versprochen?«

Pauls Antwort war ein leises Raunen und er ließ den Blick durch den Raum schweifen. Plötzlich erstarrte er. »Ich hätte nicht gedacht, dass diese Ratte sich bei Tageslicht in die Öffentlichkeit wagt.«

»Wer?« Lewis versuchte Pauls Blick zu folgen, doch im Gewimmel der anwesenden Auktionsgäste konnte er nicht mit Sicherheit sagen, wer gemeint war.

»Der liebe Mr Peck«, brachte Paul zwischen zusammenge­bissenen Zähnen hervor. »Trent Peck. New Yorker Investor. Kauft wie ich Patente von zukunftsweisenden Erfindern. Geldsack. Widerling«, schoss Paul nun im Flüsterton und wurde immer schneller. »Hat mir schon mehrmals das Geschäft versaut. Investiert in Luftschiffe – wie ich. Die Untergrundbahn – wie ich. Elektrifizierung – wie ich. Hat angeblich seine Mutter auf dem Meer über Bord geworfen, weil sie ihn beim Binokel geschlagen hat. Hat es sich zum Ziel gesetzt, London zu kaufen. Als seine Hündin unplanmäßig gedeckt wurde, hat er sie trächtig ersäuft – vermutet man. Er ist ein ekelhafter Ar… und er kommt direkt auf uns zu.«

»Lord Treville!«, rief Peck durch den halben Saal und brachte jegliche Unterhaltung in seinem Umkreis zum Erliegen. »Hätte nicht gedacht, dass Sie sich noch einmal hierhertrauen. Nicht, wo ich Sie bis auf die Unterwäsche ausgezogen habe!« Er lachte schallend, kam aber ungebremst näher, wobei sein schwerer Ledermantel mit Fellkragen – Lewis fragte sich, wann er jemals eine solche Scheußlichkeit gesehen hatte – laut knarzte. Amerikaner, dachte er abfällig. Auch Lord Ashbournes Mantel entsprach nicht gerade der neusten Mode, aber dunkles Leder und grauer Fellbesatz? Bei Harry hatte der Schneider wenigstens ein Kurzhaarfell in dezenter Farbe am Kragen angesetzt. Trent Peck wirkte wie ein ergrauter Bär, der sich fett gefressen hatte, um den Winterschlaf anzutreten.

Lewis wusste, es gehörte zum Spiel, dass Paul den Schlag erwiderte, dass er ihn geistreich konterte oder sich zumindest sonst nicht anmerken ließ, dass Peck ihm unter die Haut ging. Daher war die Überraschung groß, als er einen Seitenblick auf seinen Freund warf und sah, wie Paul mit geblähten Nasenflügeln ausatmete und zitternd die Augen schloss.

Der Amerikaner war höflich genug, nicht nachzutreten, auch wenn sein Gesichtsausdruck deutlich zeigte, dass er diesen kleinen Moment als Sieg für sich verbuchte.

Paul hatte sich wieder beruhigt und bedachte Trent Peck mit einem Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. »Wie … nett, Sie hier zu sehen. Ich wusste nicht, dass Sie sich für Auktionen interessieren.«

Peck zuckte lässig mit den Schultern, wobei ihm eine Strähne seines ergrauten Haars über die linke Augenbraue rutschte. »Ach, ich dachte, ich schau mir mal an, was der alte Havisham wert war.« Er blickte Paul tief in die Augen, und für einen kurzen Moment konnte Lewis das Raubtier hinter der jovialen Fassade erkennen. »Außerdem ist es ganz interessant, wo der Besitz von ehrwürdigen Lordschaften landet, wenn sie das Zeitliche segnen und keine Erben haben.«

Schwang da ein Hauch von Drohung in seiner Stimme mit? Lewis konnte es nicht sicher sagen, doch Paul hatte wieder zu alter Form gefunden und überspielte die Bemerkung gekonnt. »Mr Peck, Sie müssen sich doch noch keine Gedanken um Ihren Nachlass machen. Ich meine, wie alt sind sie … dreiundvierzig?«

Peck schnaubte verächtlich. »Ich weiß das Kompliment zu schätzen.« Er tippte zweimal mit dem Zeigefinger gegen die Krempe seines Huts. »Gentlemen, ich empfehle mich. Ach, und Treville … vielleicht überlegen Sie es sich ja noch einmal wegen unseres kleinen Handels. Es wäre sicher einfacher, wenn wir uns einigen.«

Ehe Paul etwas erwidern konnte, war Peck bereits in der Menge untergetaucht.

Als der Auktionator durch eine Seitentür trat und zwei Mitarbeiter des Hauses einen kleinen Tisch auf Rollen hereinschoben, auf dem ein komplettes Teeservice stand, konnte Lewis den Amerikaner gar nicht mehr im Raum ausmachen.

»Wie alt ist er wirklich?«

Paul kicherte verschlagen. »Ist letzten Sommer sechzig geworden.«

»Erinnere mich bitte daran, niemals mit dir in Streit zu geraten …«

Der Blick seines Freundes versetzte Lewis einen Stich. Sie hatten noch immer nicht über das, was geschehen war, gesprochen und Paul überspielte die damalige Kränkung, doch früher oder später würden sie sich der Sache stellen müssen.

»Worum ging es da gerade?«, versuchte Lewis das Thema zu wechseln.

Paul wedelte abwehrend mit den Händen. »Poker. Nicht mein Spiel. Unwichtig. Guck nach vorn, die Auktion geht los.«

Geschirr – Lewis spürte bereits den eisernen Griff purer Langeweile. Ein Blick zu Paul verriet ihm, dass es seinem besten Freund ähnlich erging.

»Geboten wird auf …«

Lewis schenkte dem Spektakel keinerlei Beachtung. Er hatte genug Geschirr für drei Haushalte.

»Glaubst du, Ashbourne will Sophia neue Teller kaufen?«, fragte Paul im Flüsterton, als Ashbournes Hand bei vierzehn Schilling in die Höhe schoss.

Lewis zuckte mit den Achseln. »Vielleicht. Findet sie denn Gefallen an Porzellan?«

Paul kniff die Augen zusammen und dachte einen Moment angestrengt nach. »Ich weiß es nicht«, kapitulierte er schließlich.

Ashbourne wurde derweil überboten. Der Preis für das Kuchen­geschirr lag mittlerweile bei zweiundzwanzig Schilling. Lewis versuchte, sich die Details des Teeservice aus dem zuvor ausgelegten Katalog in Erinnerung zu rufen. Ja, es handelte sich um Meißner Porzellan, aber musste man dafür gleich so viel Geld auf den Tisch legen?

»Gehörte es ursprünglich jemandem mit mehr … Klasse als Havisham?«, fragte er Paul.

»Angeblich hat der Schmierlappen es in Deutschland beim Karten­spiel mit deutschen Fürsten gewonnen.«

Lewis verzog ungläubig das Gesicht. »Havisham? Es war für ihn doch schon ein Erfolg, wenn er die Karten nicht falsch herum gehalten hat.«

Paul musste ein Lachen unterdrücken, was zu einem gekünstelten Husten verkam.

Die Dame neben Lewis, die von Kopf bis Fuß in Pelz gekleidet war, warf ihnen einen pikierten Blick zu und hob dann betont vornehm die Hand, um sechsunddreißig Schilling für das Geschirr zu bieten.

Lewis und Paul wechselten wissende Blicke, bei denen sie die Augenbrauen abfällig lüpften.

Ashbourne überbot weiterhin jeden im Saal, bis ihm das Geschirr schließlich für die stolze Summe von dreiundvierzig Schilling zugesprochen wurde.

So ging es noch eine ganze Weile. Lord Ashbourne machte sich meist einen Spaß daraus, die Leute zu überbieten und die Preise in die Höhe zu treiben.

Nicht selten beobachtete Lewis das zufriedene Grinsen auf dem Gesicht des Lords, wenn ein Konkurrent deutlich mehr bezahlt hatte, als der versteigerte Gegenstand vermutlich wert war.

Doch hin und wieder ergatterte Lord Ashbourne Stücke für sich. Überwiegend Dinge, in deren Besitz Havisham durch die von ihm finanzierten Expeditionen gekommen war. Indische Säbel, afrikanische Speere und Masken. Lord Ashbourne schien eine Vorliebe für das Martialische zu haben.

Paul hatte bisher noch nicht ein Stück ersteigern können. Wann immer er in eine Auktion einstieg, überbot Lord Ashbourne ihn mit süffisantem Grinsen.

»Bist du dir sicher, dass er das nicht mit Absicht macht?«, fragte Lewis, bevor der letzte Gegenstand für heute unter den Hammer ging.

Paul präsentierte ein entwaffnendes Lächeln. »Ich glaube, wir haben den gleichen Geschmack.«

Lewis verdrehte die Augen. »Du solltest nicht von Sophia auf alles andere schließen.«

»Und wenn schon. Ich habe letzte Woche einige schöne Stücke ersteigert. Soll er den Tand doch haben.«

»Ich verstehe eure Spielchen nicht«, gestand Lewis.

Paul blickte ihn aus großen Augen an. »Spaß, Lewis. Das ist alles. Harry und ich tragen seit Jahren diese Fehde aus, wer den anderen überbieten kann. Heute hat er wohl die besseren Karten.«

Der Auktionator, ein rundlicher Mann mit tief sitzender Brille und schütterem grauen Haar, erhob die Stimme. »Das letzte Stück. Eine Götzenstatue aus dem vorderen Orient, genaue Datierung unbekannt.«

Die beiden Gehilfen schoben eine ungefähr hüfthohe Statue auf einer Platte in den Raum. Die Figur aus gebranntem Lehm zeigte eine kniende nackte Frau, deren Haare wild in alle Richtungen abstanden. Die rechte Hand hatte sie in einer schützenden Geste von unten an den – offensichtlich schwangeren – Bauch gelegt. In der linken hielt sie etwas, was Lewis für ein Büschel Getreide hielt.

Am meisten irritierte Lewis, dass die Frau den Mund weit aufgerissen hatte, als würde sie schreien.

»Vermutlich handelt es sich hier um den Götzen eines antiken Opferkults, bei dem man um ein Wunder bat, indem man etwas in den Mund der Frau legte«, fuhr der Auktionator fort. »Dieser Fund ist bisher einzigartig, doch wir sind sicher, dass weitere Grabungen schon bald neue Aufschlüsse über jene dunklen Zeiten liefern werden. Was Sie hier sehen, Ladies and Gentlemen, ist ein Stück Geschichte. Eines, das sie heute zum Anfangsgebot von dreihundert Schilling Ihr Eigen nennen können.«

»Ziemlich … hässlich«, stellte Paul das Offensichtliche fest.

Lewis zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, irgendwie … Hast du die Augen gesehen?«

»Natürlich! Wie denn auch nicht? Die Dinger sind größer als die einer Kuh.«

Lewis deutete auf Lord Ashbourne. »Ihm scheint sie zu gefallen.«

Paul schnaubte verächtlich. »Ach, er bietet nur darauf, weil es das mit Abstand teuerste Stück heute ist.« Er tippte sich kurz gegen die Lippen. »Wird Zeit, dass ihm jemand seine Grenzen aufzeigt.«

»Paul –« Doch da ging die Hand bereits in die Höhe.

»Ich sehe dreihundertfünfzig Schilling von Lord Treville.«

»Du kennst den Mann?«

Wieder schenkte Paul ihm jenes entwaffnende Lächeln. »Wohl eher umgekehrt.«

»Vierhundert von Lord Ashbourne«, rief der Auktionator freudig.

Paul hob seine Hand, ohne überhaupt hinzusehen. »Fünftausend.«

Der wandelnde Muff neben Lewis schnappte hörbar nach Luft.

»Was tust du da, Paul?«

»Ich amüsiere mich. Solltest du auch von Zeit zu Zeit.«

Ashbournes Hand zuckte unschlüssig hin und her. Schließlich nickte er Paul anerkennend zu und verließ wortlos den Saal.

»Verkauft an Lord Treville für fünftausend Schilling!«

Paul kostete den Moment voll aus, stand auf und verbeugte sich überschwänglich im Saal, als Applaus erschallte. »Danke! Vielen Dank! Sie sind zu großzügig – oder war ich das? Vielen Dank.«

Lewis zog ihn wieder auf den Stuhl. »Du bist unmöglich.« Er warf noch einen Blick auf die Statue und schüttelte den Kopf. »So viel Geld für ein so hässliches Ding.«

Paul zuckte mit den Achseln. »Geld interessiert mich nicht. Aber Ashbournes dummes Gesicht wäre mir auch das Doppelte wert gewesen.«

»Lord Treville, dürfte ich um einen Moment Ihrer Zeit bitten? Es geht um die Formalitäten der Überstellung der Statue.« Der Auktionator hatte sich erstaunlich rasch seinen Weg durch die Menge gebahnt. Aber dann – bei fünftausend Schilling konnte man ein wenig bevorzugte Behandlung erwarten.

Paul nickte gelassen. »Aber gern. Schreiten Sie voran, ich folge.« An Lewis gewandt fügte er noch hinzu: »Würdest du draußen nachsehen, ob Earl schon bereit ist?« Er blickte auf seine Taschenuhr. »Wir waren etwas schneller als erwartet.«

»Sehr wohl, Euer Lordschaft«, säuselte Lewis und setzte zu einer gekünstelten Verbeugung an. Pauls Lachen hallte durch den ganzen Saal und begleitete ihn noch auf dem Weg zur Tür hinaus.

* * *

Claire kam sich töricht vor. Sie hatte die Devonshire Street 17 fluchtartig verlassen, als wäre sie einem Dämon begegnet. Dabei war Mr van Allington das genaue Gegenteil. Er hatte sie gerettet! Ihre Mutter hielt ihn für einen Heiligen.

Und dennoch … Es war Claire nahezu unmöglich zu vergessen, dass er sie völlig entblößt gesehen hatte. Zwar machte er kein besonderes Aufhebens darum, doch wann immer er denselben Raum betrat, spürte sie die Schamesröte im Gesicht aufsteigen.

Wenn das so weiterging, würde sie ihre Stelle wechseln müssen – doch genau das wollte Claire nicht.

Sie liebte ihre Anstellung in der Devonshire Street 17. Mr van Allington war eine ruhige Herrschaft. Keine Frauengeschichten, keine Skandale. Seit es ihm besser ging, waren auch seine Launen deutlich heiterer.

Sogar mit Herrn Dietrich hatte sie ein gutes Verhältnis. Der mürrische Deutsche mochte zwar immer abweisend wirken, doch Claire wusste, dass es sich dabei um eine sorgfältig gepflegte Fassade handelte.

Und zu guter Letzt war da noch Chester. Claire liebte den brummigen kleinen Bären, wie sie ihn gern nannte. Der Dürrbächler hatte ein selten freundliches Gemüt, und im Winter liebte sie es, sich neben ihn auf den Boden zu setzen und sein flauschiges Fell zu kraulen. Er gab dabei stets ein zufriedenes Grunzen von sich, das sie entspannte.

Unbemerkt hatte sie ihr Wohnheim erreicht, war völlig in Gedanken versunken durch Londons Straßen marschiert, bis sie an der Tür ihres eigentlichen Zuhauses angekommen war: Mrs Covingtons Haus für Dienstmädchen.

Claire läutete an der Tür und Ursula Covington persönlich öffnete sie nach einem kurzen Moment.

Sie zog die linke Augenbraue eine Winzigkeit nach oben – der einzige Ausdruck ihrer Überraschung. »Sagtest du nicht, dass du heute noch Wäsche zu machen hast?«

»Ich …« Die Worte wollten einfach nicht über ihre Lippen. »Ich …«

Mrs Covington seufzte tief, doch in ihrem Gesicht zeigte sich ehrliches Mitgefühl. »Komm erst einmal rein. Kein Grund, dass die ganze Straße uns zuhört.« Sie trat einen Schritt beiseite und Claire huschte in die Sicherheit des Hauses. »Ich habe gerade Tee aufgesetzt. Hol dir eine Tasse und setz dich dann bitte zu mir in den Salon.«

»Ich würde wirklich gern direkt auf mein Zi–«

»Das war keine Frage«, stellte Mrs Covington nachdrücklich klar, während die Haustür schwer ins Schloss fiel.

Mit einem Mal fühlte Claire sich gefangen. Bei Mr van Allington war sie Gefangene ihrer Scham und selbst hier wollte man sie nicht freigeben. Aber ein Blick in die Augen der alten Hausdame verriet ihr, dass sie keine Wahl hatte, also nickte sie ergeben und legte ihren Mantel ordentlich ab, ehe sie Mrs Covington in den Salon folgte.

Das Haus war morgens so ruhig. Alle Mädchen waren bei ihren Herrschaften und kamen erst abends zurück – wenn sie nicht hin und wieder auswärts schliefen. Wobei das nur noch äußerst selten vorkam. Und man brauchte eine sehr gute Begründung dafür. Seit Millies und Kates Tod war Mrs Covington nicht nur streng, sondern auch überaus beschützend.

Von Zeit zu Zeit ertappte Claire die alte Hausdame dabei, wie sie vor einer gerahmten Fotografie des jungen Hausmädchens stehen blieb und mit den Fingerspitzen sanft über das Gesicht auf dem Bild strich. Dabei flüsterte sie vor sich hin, doch Claire hatte nie versucht, die Worte zu verstehen oder Mrs Covington darauf anzusprechen.

»Also«, setzte Mrs Covington an, nachdem sie ihnen beiden eine Tasse schwarzen Tee eingeschenkt hatte, »ich weiß, dass du eine Menge durchgemacht hast, mein Kind. Und ich weiß, dass es dir peinlich ist, dass Mr van Allington dich entblößt gesehen hat.«

Claires Gesicht wurde brennend heiß, als die Schamesröte mit voller Wucht zurückkehrte. »Bitte.«

Mrs Covington schnaubte ungehalten. »Jetzt mach dich nicht lächerlich, Kind!«

»Wie?« Claire blickte verdutzt auf und direkt ins Gesicht der grinsenden Hausdame.

»Wir werden alle nackt geboren und unsere Haut ist das einzige Kleidungsstück, das wir nie wechseln können. Jetzt hat er dich eben gesehen – und weiter? Du musst ihn deswegen nicht heiraten.«

»Das will ich auch nicht!«, schoss Claire zurück. »Es ist nur … ich weiß nicht, wie ich ihm noch unter die Augen treten soll.«

»Vorzugsweise angezogen«, gab Mrs Covington amüsiert zurück und Claire musste ungewollt kichern. Dass die alte Dame scherzte, kam eigentlich nie vor, noch dazu in einer solchen Unterhaltung.

»Das alles ist mir so peinlich.«

»Papperlapapp! Du hast keine Schuld. Dieser kranke Mann hat dich entführt und Mr van Allington hat dich gerettet. Daran sollte dir nichts peinlich sein.« Die alte Dame seufzte tief. »Nicht auszudenken, wenn ich noch eines meiner Mädchen verloren hätte.« Sie legte ihre Hand behutsam auf die von Claire. »Es wird alles gut. Du wirst die Angst vergessen. Und dann wirst du auch wieder normal mit ihm sprechen können.«

»Wenn ich meine Anstellung dann noch habe.«

Mrs Covington wischte ihre Bemerkung mit einer energischen Handbewegung beiseite. »Darüber habe ich bereits mit Herrn Diet­rich gesprochen. Er hat mir versichert, dass du dir keine Sorgen zu machen brauchst.«

»D… Danke.«

Der Blick der alten Dame wurde weicher. »Geh nach oben und ruh dich aus, ich kümmere mich um das Geschirr. Und morgen gehst du wieder zur Arbeit.«

Claire stand ohne ein weiteres Wort auf und eilte die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Erst als sie die Tür hinter sich schloss, wagte sie es, wieder zu atmen.

Sie war Mrs Covington gegenüber nicht ganz ehrlich gewesen. Es war nicht bloß die Peinlichkeit ihrer Blöße, die sie so in Aufruhr versetzte.

Wann immer sie Mr van Allington sah, blitzte die Erinnerung jener Nacht wieder vor ihrem inneren Auge auf. Wie sie schutz- und wehrlos auf einem kalten Steinaltar gelegen hatte, in Erwartung des scheinbar Unvermeidlichen. Ihr Blick hatte sich stur auf die glühende Spitze des Stiletts gerichtet, als könne sie den Todesstoß mit ihrem bloßen Willen aufhalten. Doch die Wahrheit war, dass sie Glück gehabt hatte. Glück, dass Lewis van Allington zur rechten Zeit zur Stelle gewesen war, um sie zu retten.

Glück, das Millie und Kate nicht vergönnt war.

Und das war die traurige Wahrheit.

Sie verdankte die Tatsache, dass sie noch am Leben war, schlicht und einfach Glück. Hinter Claires Scham und Peinlichkeit regte sich ein weiteres – überaus starkes – Gefühl: Wut.

Sie war wütend auf den Mann, der ihre Freundinnen ermordet hatte. Wütend auf sich selbst, weil sie zu schwach gewesen war, um ihr eigenes Leben zu kämpfen.

Ihr Blick fiel auf eine Fotografie von Kate und ihr selbst, die sie zusammen hatten anfertigen lassen. Sie war entstanden, nachdem Kate sich die Haare hatte rot färben lassen. An jenem Nachmittag hatten sie gemeinsam London unsicher gemacht, hatten gelacht und geredet.

Kate war eine so starke junge Frau gewesen. Den Kopf voller Ideen und Ideale! Claire hatte sie so für ihren Mut bewundert und sich gewünscht, ein wenig davon würde auf sie abfärben.

Vergeblich.

Aber was konnte sie schon tun? Sie war keine furchtlose Reporterin. Sie war bloß ein einfaches Hausmädchen.

»Ich wäre gern so mutig wie du«, flüsterte sie der Fotografie zu.

Vielleicht lag der Schlüssel nicht darin, gleich alles auf einmal zu wollen, sondern mit kleinen Schritten zu beginnen. Und der erste Schritt war, dass sie wieder in die Devonshire Street 17 zurückkehrte und ihrer Arbeit nachging. Chester wartete sicherlich schon sehnsüchtig darauf, dass jemand mit ihm spazieren ging.

Claire nahm sich ein Notizbuch samt Füller und verstaute alles in ihrer Handtasche. Sie würde mit Chester ein wenig in den Park gehen, ihn – vergeblich – nach Eichhörnchen jagen lassen und ein wenig zeichnen. Sie liebte es, gewöhnliche Dinge festzuhalten. Dabei ging es ihr weniger um ein genaues Abbild der Szenerie, sondern um das Einfangen der herrschenden Stimmung. Es war ein netter Zeitvertreib und ließ sie für andere beschäftigt genug wirken, dass sie nur selten bis nie angesprochen wurde.

Sie war froh, dass Mr van Allington sie nicht in die übliche schwarze Dienstmädchenuniform steckte, die ihre Mitbewohnerinnen tragen mussten. Er selbst hielt ebenfalls nicht viel von Kleiderkonventionen, zog einen einfachen Bowler stets dem standesgemäßen Zylinder vor, auch wenn er damit in der Gesellschaft aneckte.

Sie selbst irritierte es ein wenig, dass sie durch das Fehlen einer Uniform selbst zum Gesprächsstoff wurde, dennoch genoss sie die Tatsache, dass sie bei ihren Ausflügen mit Chester nicht sofort als Dienstmädchen erkannt wurde. Menschen gingen anders mit ihr um, wenn sie sie für die Tochter eines reichen Arztes oder die junge Frau eines aufstrebenden Kaufmanns hielten.

Nicht direkt in eine Schublade gesteckt zu werden, erleichterte es ihr, sich in der Stadt zu bewegen. Sie prüfte noch einmal kurz den Sitz ihres moosgrünen Rocks und der beigefarbenen Bluse, ehe sie den dunklen Mantel anzog, der für die kühlen Herbsttage genau richtig war.

»Mrs Covington? Ich gehe wieder in die Devonshire Street«, verabschiedete sie sich von der Hausdame, die über ein Buch versunken noch immer im Teesalon saß. Die blickte kurz auf und nickte Claire aufmunternd zu.

»Sehr gut, Kind.« Und bevor Claire die Tür schloss, fügte sie hinzu: »Zögere nicht, dich mir anzuvertrauen, ja? Egal, was dich bedrückt. Das hier ist dein Zuhause.«

Claire nickte lediglich zur Antwort, da sich in ihrem Hals ein Kloß gebildet hatte, an dem sie keinen Ton vorbeibrachte. Man mochte es der alten Dame nicht ansehen, doch hinter der harten Fassade bestand sie aus reinster Puddingfüllung.

Ihr Magen erinnerte sie mit einem lauten Knurren daran, dass sie heute noch nichts gegessen hatte.