Wolfgang A. Gogolin
Französisch von Unten
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Teil 2 der Trilogie ›Französisch von unten‹
© Karina-Verlag, Wien
www.karinaverlag.at
Text: Wolfgang A. Gogolin
Lektorat: Karina Moebius
Layout und Covergestaltung: Karina Moebius
Coverbild: Pixabay/Arlouk/lilianecaliste/Glavo
© 2021, Karina Verlag, Vienna, Austria
ISBN: 9783985517572
Mittwoch
Der erste Herbststurm hatte leichtes Spiel in der regnerischen Nacht. Er umtoste die Häuser, spielte mit den Apfelbäumen und stob durch die leeren Gassen von Arnaud. Trotz Nässe wirbelte er das orangefarbene Laub empor, Dachziegel vibrierten, Fensterläden klapperten. Die kleine Stadt in der Normandie wehrte sich nach Kräften, aber die Ruhelosigkeit, die am Abend des vorherigen Tages begonnen hatte, wich auch in der Morgendämmerung nicht. Nur zaghaft löste Arnaud sich von den Fesseln der Dunkelheit, erste Helle kroch über die Häuser. Der Wind als Widersacher; er schwoll an und säuselte ein unbekanntes Lied in einem scharfen Ton. Er flüsterte der noch schlafenden Stadt zu: Erst wenn alle Schuld beglichen ist, die Mühsal endet.
Tod, Trennungen, Liebe und Lust. Arnaud und seine Bewohner hatten in den vergangenen Monaten viel erlebt; mehr als ein kaum erwähnenswerter Ort auf der Landkarte verkraften konnte. Doch nun war die Stadt ruhig geworden. Woher die Pause in der Seelenverwerfung kam, hätte niemand erklären können. Ruhe schien in jedem Fall unpassend für einen Flecken, der noch Geheimnisse aufzudecken hatte.
Ungelöste Rätsel: Wann würde das sonderbare Gleichgewicht, das Aufruhr und Emotion kanalisierte, wieder ins Wanken geraten? Oder gab es eine stabile Lage? Eine Lage, die für immer alles bedecken würde? Was würde das Schicksal sich für Arnaud wünschen? Etwas, das einen Teppich anhob, den Schmutz darunter kehrte, ihn fallen ließ und nie wieder anhob?
Nach dem Mord an Arnauds Bürgermeister hatte es Tage gegeben, in denen jeder als Mörder verdächtigt wurde und Momente, die das Gift in den Emotionen derart zu Tage förderten, dass ein weiterer Mord nicht undenkbar schien. Der mickrige Punkt in der Geografie wurde durchgeschüttelt. Es wurde ermittelt, Gendarmen suchten, Sachverständige wurden hinzugezogen. Dessen ungeachtet blieb der Mörder im Dunkeln und Arnaud begann, sich die Normalität zurück zu erkämpfen. Tag für Tag, Stunde um Stunde, ein sturer Lauf. Niemals aufgeben, so das Credo, das unausgesprochen über dem Ort schwebte. Doch in den schwebenden Leitsatz mischte sich ein säuselndes Lüftchen, das um die Häuser glitt und einschmeichelnd fragte:
Wie lange noch?
Im Garten hinter dem weiß getünchten Haus in der Rue Suffren zog der Wind eine kräftige Bahn. Dahlien, deren lange dünne Blütenblätter an einen vollendeten Seestern erinnerten, bogen sich. Die Roséfärbung der Blätter leuchtete in das erste Licht des Tages, geradezu elegant wichen die Dahlien den Böen aus. Der Duft von durchgeschüttelten Apfelbäumen durchtränkte die Atmosphäre und das Versprechen lag in der Luft, dass aus den Äpfeln ein hervorragender Calvados und ein brillanter Cidre werden würde. Alles sah aus wie der normale Beginn eines stürmischen Herbsttages. Einige Blausterne mit ihren weiß-lila Blüten hielten sich an der Böschung fest, die den Garten begrenzte und ein zerzauster Buntspecht schimpfte vor sich hin.
In der zweiten Etage des weißen Hauses wurde eine Balkontür geöffnet, eine Gardine flog ins Freie und blähte sich auf. Rasch erschien ein Unterarm und zog sie wieder zurück. Der fleischige Arm arretierte die Tür mit einem Haken und verschwand wieder. Nach einer Weile zwängte sich ein kleiner weißer Kopf durch den entstandenen Spalt, grüne Nachtaugen sondierten das Terrain. Es gab viel zu sehen. Bäume bogen sich, Blätter fielen, Regen hatte das Rasengrün in ein noch satteres Grün verwandelt und der Buntspecht pfiff.
»Sissi, komm da weg. Draußen ist Wetter!« Die Stimme gehörte zum Gardinen-Unterarm, zu dem sich auch noch ein passender Körper gesellte, der gerade eine Schürze umband und dessen Kopf ein breites Band trug. Madame Boucher bevorzugte sowohl in der Haarbandmode als auch im Schürzentrend bunte Muster, wobei bunt nicht hieß, dass die Stoffe wie aus einem Guss waren. Polyesterrock und Satinbluse schlossen sich der individuellen Stilregel an, die bei näherem Hinsehen ein Flimmern vor den Augen erzeugte, das nur durch gezieltes Wegsehen oder Mentalbeherrschung wich.
Sissis Pfote drückte sich durch den Spalt. War draußen wirklich Wetter? Und was genau bedeutete Wetter überhaupt? Die rosa lackierten Krallen spreizten sich, als würde die Kätzin sämtliche Sensoren ausfahren, um zu erahnen, welch ungeahntes Leben sich vor der Balkontür abspielte. Das Dasein als feine Wohnungskatze war nicht einfach, insbesondere dann nicht, wenn Abenteuer und Erlebnisse hinter der gläsernen Tür lockten. Die Pfote spürte Wind, wurde bepustet, zerzaust. Die rosa Krallen blieben weit gespreizt. Was für eine Wonne! Wind im Fell und Eskapaden im Kopf.
»Sissi! Hab’ ich dir nicht gesagt, dass draußen schlechtes Wetter ist?« Die Vielfarbige drückte die Kätzin beiseite, das weiße Köpfchen folgte nun erst recht der Neugier. Bot das Leben vielleicht doch noch mehr, als sich den ganzen Tag die rosa Krallen zu lecken? Was lag Wunderbares hinter dieser Tür? Zerzaustes Fell und Kühle waren doch schon interessant, aber es musste einfach noch mehr geben. Bei Erkundungsausflügen hatte sie es bislang nur bis in den Hausflur geschafft. Zwei Etagen zu beschnuppern und zu erforschen hatten ihr die Erkenntnis gebracht, dass Silberfische nicht schmeckten, dass man besser auf sein Frauchen hörte und dass ihr strafender Wischmopp nicht freundlich war. Sissi drückte die Nase an die Fensterscheibe und wurde abermals weggeschubst. Ein nasser Fleck blieb an der Scheibe kleben, das Frauchen entrastete den Riegel und knallte die Tür zu. »Wenn ich sage, dass draußen Wetter ist, dann hast du zu parieren!«
Die Kätzin starrte ihr Frauchen mit aufgerissenen Augen an. Was geschah nur Tolles da draußen? Noch mehr als Wind? War das Ding im Federkleid ein Leckerli? Auf jeden Fall lief ihr bei seinem Anblick automatisch das Wasser im Mäulchen zusammen. Dieses dumme Wetter, konnte es nicht auch hier drinnen sein? Außerdem: Was hieß ›parieren‹? Madame Boucher fuchtelte mit dem Finger, was bedeutete, dass ›parieren‹ nichts Gutes war.
»Das nächste Mal machst du gleich, was ich dir sage!«
Sissi legte die Ohren an und senkte den Blick. Hatte irgendjemand gesagt, was sie machen sollte, wann sie es machen sollte, weshalb, warum – und das in verständlicher Form? Geheimnisse waren schön und sie mussten erkundet werden. Frauchen war heute aber auch in übler Laune. Warum verstand sie das alles nicht und wurde laut? Sissi schloss die Augen zur Hälfte. Etwas, das man nicht sah, existierte auch nicht. Madame Boucher war auf die Füße reduziert. Hoffentlich würde sie nicht wieder mit dem stinkenden Wischmopp drohen.
»Du brauchst gar nicht so scheinheilig wegzusehen!«
Sissi wünschte sich nebst der Verdunkelung auch Taubheit. Für eine feine Hauskatze war lautes Schelten und Rügen ein unerträglicher Zustand. Katzenklo für die Ohren. Für lautes Keifen sollte jede Wohnung über ein gesondertes Zimmer verfügen – eines, in dem keine Katze war. Sissi strich an Madame Boucher vorbei. Lieber Schweigen im Schlafzimmer als Radau in der Stube. Mit einer gehörigen Portion Reststolz schritt sie tapfer den Flur entlang.
Sissi betrat das leere, ruhige Schlafzimmer und ganz tief im Inneren ihrer Seele rührte sich etwas; ein Geist im Geiste. Gleichzeitig heulte eine Sturmböe auf, die langen Äste des Baumes im Garten klatschten ans Haus. Nasse Blätter des Birnbaumes hatten Spuren am Fenster hinterlassen, Regennässe schlierte darüber. Das Dunkel der Nacht war in das Grau des jungen Tages übergegangen. Sechs Mal schlug die Turmuhr der Kirche Sankt Catherine an. Das ungehörte Wesen – es erwachte. Ein Kater in der Katze. Wunderlich genug.
Strecken und lang anhaltendes Gähnen. Sechs Uhr war nicht die richtige Zeit – für niemanden. Auch nicht für Kater Merlin, dem Gast in Sissis Hirn. Merlin reckte sich erneut, dabei fühlte er seinen Körper nicht, es kam ihm vor wie geistiges Gewohnheitsrecken. Dass es zu früh war, bemerkte er hingegen. Schlafen konnte er derzeit besser, als das Elend des Lebens ertragen. Ein Gast in einem Frauenkörper zu sein, war grausam. Nur ein Umstand hätte die Situation etwas erträglicher gemacht. Nur einer! Wenn es irgendwo Sardinen gegeben hätte; doch in diesem Haushalt gab es keine Sardinen. Merlin wollte endlich wieder sein eigenes Leben und die beste Speise aller Speisen genießen: fettfleischige saftige Sardinen. Nahrung konnte er derzeit nur aus zweiter Reihe durchkosten. Aber lieber dabei zusehen und das zarte Sardinenfleisch erträumen, als gänzlich ohne Genuss zu sein. Auch Geister haben Bedürfnisse.
Sar-di-nen, das unglaubliche Wort zog sich durch Sissi Leib, ohne dass es eine Reaktion hervorrief, doch der Untermieter in ihrem Körper wäre am liebsten aufgesprungen, zum Hafen gerannt und hätte den Engländer mit dem Fischerboot um diese Köstlichkeit angeschnorrt; oder Madame Galabru, die in ihrem Delikatessenladen ganz besonders zarte Exemplare des Gaumenschmaues vorrätig hielt. Der Magen des Untermieters knurrte. Vielleicht war die Gier mit Schlaf zu betäuben? Merlin versuchte zu dösen, aber ein unbestimmtes Unbehagen ließ ihn nicht schlafen. Das Unbehagen tobte weiter. Was-ist-denn-nun-schon-wieder-los?, fragte er sich biestig. Warum wurde er wachgehalten? Gab es schon wieder einen Grund für die weiße Hauskatzenziege zu schmollen? Wenn das der Fall war, zog sich die weiße Perle, aus welchem Anlass auch immer, beleidigt in irgendeinen Winkel der Wohnung zurück. Ah, ja … er war im Schlafzimmer. Schmollzeit und stundenlanges Lecken der Pfote war angesagt. Wie öde!
Außer Bockigkeit, Räkeln und die lackierten Krallen zu bewundern, hatte dieses dumme Ding nichts im Kopf. Gelegentlich ein kleines bisschen Unvernunft und eine klitzekleine Abenteuersehnsucht, das war es dann auch schon. Fast hätte er das verabscheuungswürdige Dosenfutter vergessen. Die weiße Schönheit liebte es wirklich: Pute mit Karotte, Hühnchen mit grünen Bohnen oder Ente mit Spinat. Damit waren Elend und Erbärmlichkeit gepaart. Gemüse? Wer auf sich hielt, drückte sich kein Grünzeug in den Alabasterkörper. Kernige Kater taten das auf jeden Fall nicht. Gemüse war schwul oder weiblich, für Kätzinnen war das in Ordnung, aber nicht für einen gestandenen Kerl.
Entsprechend verhielt es sich mit dem Kernstück der Sättigung: Pute, Hühnchen und Ente. Niemand, der alle Sinne beieinanderhatte und ein Ding zwischen den Beinen trug, aß etwas, das im Staub wühlte und Körner pickte. Wozu auch? Lebten nicht genügend Sardinen auf der Welt? Thunfische oder Lachse? Waren die Meere leer? Flossen die Flüsse aufwärts und hatten sich die Lachse verirrt? Nein! Also, wozu staubiges Federvieh in sich hineinquetschen, wenn es leckeren saftigen Fisch gab? Oder gar Sar-di-nen.
Genauso unmöglich wie Sissis Speisekarte, genauso leer war das feine Hauskätzinnenleben. Merlin erlebte es Tag für Tag. Er durchlitt eine Strafe von Katzengöttin Isis, die ihn dazu verdammt hatte, das Leben der Kätzin Sissi im Huckepackverfahren zu erfahren. Und das nur wegen ein paar winziger Äußerungen über Kätzinnen, die noch nicht einmal richtig schlimm gewesen waren. Eher Wahrheiten ohne Schnörkel. Isis mochte keine Wahrheit. Stattdessen liebte sie es, zu bestrafen, und diese Strafe war hart. Er erlebte nichts mehr. Jedenfalls nichts, was ihn als Streuner und echten Kater jemals interessiert hätte.
Das Nullum des Kätzinnenlebens als Strafe für die Feststellung, dass ein Kater ein Kater war und alle Kätzinnen einem einzigen Zweck in dieser Welt dienten: den Katern ein Wohlgefallen zu sein. Was war falsch an ein bisschen Wohlgefallen? Oder an der Wahrheit? Kätzinnen waren aus der Rippe eines Katers geformt. Was sollte man schon von ihnen erhoffen? Genau: nichts – außer schön, willig, rollig und lieb zu sein. Kein Kater dieses Universums würde je mehr von einer Kätzin erwarten.
Auch Sissi sah schön aus. Was wollte die Welt mehr? Sissi war ein Wohlgefallen für jeden Kater. Gut, sie war ein bisschen leichthirnlich. Aber bei dem Aussehen durfte sie sogar stockblöd sein! Deshalb fragte er sich, warum er das harte Kätzinnen-Nullum erleben musste.
Es hätte gereicht, wenn Katzengöttin Isis ihm theoretisch erläutert hätte, dass ein rattenscharfes Muschileben durchaus ein Nützliches für die Katerwelt sein konnte. Das hätte er ihr geglaubt! Aber Isis war ebenso weiblich wie ihre Geschlechtsgenossinnen. Unlogisch, launisch und ohne Geduld für echte Kerle. Isis wollte tatsächlich, dass er ein Kätzinnenversteher wurde, einer, der Weibchen als gleichrangig ansah und ihr schweres Los bemerkte. Merde! Sie hätte sich auch gleich wünschen können, dass es Puten und Hühnchen regnete.
Gut, sinnierte er, das mit dem Nullumleben war tatsächlich nicht einfach. Doch Kätzinnen verstehen lernen? All das müsste nicht sein. Er liebte Kätzinnen. Er liebte sie aufrichtig. Gerne sogar. Und nicht nur in der Nacht. Jede hatte ihren einzigartigen Charme, ob weiß, getigert oder eine rassige Rothaarige. Besonders die heißen weißen Kätzinnen hatten es ihm angetan. So wie Sissi eine war. Die weißen Perlen brachten ihn zum Glühen. Gerne etwas mollig, dann rollte es sich weicher, und mit einem schönen Hinterteil versehen. Und gut duften mussten sie auch. Konnte ein Kerl nicht einfach etwas unglaublich Süßes lieben, ohne es gleich verstehen zu müssen?
Merlin seufzte und durchblickte die Welt nicht mehr. Isis forderte Verständnis von ihm. Vermutlich sollte er bald mit Mäusen vor dem Schmaus reden und Bewusstsein für die Umwelt entwickeln, wenn er sein Reich markierte. Was passierte eigentlich, wenn er nicht gehorchte und bei dieser Prüfung durchfiel?
Er würde mit Sicherheit nicht in den Katzenhimmel kommen, in dem ein immervoller Napf mit Sardinen stand, sondern in der Wasserhölle schmoren. Schwimmend in stinkendem Nass, mit einem laufenden Duschkopf über dem Haupt und einem Pfeifton in den Ohren. Merlin schüttelte sich. Eine grauenhafte Vorstellung!
Derzeit allerdings schien es auf Erden auch nicht viel schöner; Ödnis und Gemüse konnten Folter sein! Merlins Denken durchzischte ein tiefer, gnadenflehender Wunsch: Warum konnte er nicht einfach wieder ein Kater sein? Ganz für sich allein. Die Wucht dieser Bitte traf das Herz. Er hatte es satt, in Sissis Kopf zu wohnen, er wollte wieder Merlin und ein Kerl sein und all die wundervollen Möglichkeiten eines Streuners haben. Freiheit, Luft, Liebe und Sardinen. Die aufgebaute männliche Seelenschutzwand senkte sich ab. Ich-will-wieder-ein-Kater-sein, jaulte er in das fremde Hirn, doch niemand hörte ihn. Merlins imaginärer Körper sank zusammen. Am liebsten hätte er geweint, aber das war undenkbar für einen kernigen Kater.
Sissi hingegen starrte sinnentleert in den länglichen Spiegel im Schlafzimmer, der auf dem Fußboden stand. Plötzlich wurde es ruhig. Merlin hob den Kopf, er fühlte etwas Unglaubliches nahen. Etwas, das sogar den Wunsch nach Gnade und Barmherzigkeit beiseiteschob. Es war der Vorbote einer Empfindung, die er noch nie erlebt hatte. Sissi schien ebenfalls erschrocken. Die Erregung zog sie und ihn völlig in den Bann, vereinnahmte und zerrte beide weiter, hinab in einen Strudel von Gefühlen. Heulen war keine Frage des Anstandes mehr, er sehnte sich nach Tränen. Sturzbächen von Augennass, am liebsten hätte er auch ein rosa Halsband getragen und Spinatkekse vertilgt. Was zur Hölle war das? »Oh, Boy!«, dachte er, als er die weiße Perle im Spiegel sah. »Empörend! Was für ein Luder!«
Sissi ließ sich abrupt fallen und rollte. Entsetzt riss er die Augen auf, rollte mit ihr weiter. Merlin wurde schwindelig. »Meine Güte!«, schrie er. »Das ist also Weiberlust!« Gleichzeitig drang ein kläglicher Jammerlaut durch Sissis Kehle.
***
Juste Simon, der Stadtbuchhalter von Arnaud, erwachte im eichenen Doppelbett, bevor der Wecker klingelte. Der Geruchsinn schlug als Erstes die Augen auf. Juste Simon nahm den Duft von frischem Holz und Vanille wahr. Regen prasselte auf das Dach, wohltuend umschmiegte ihn die warme Bettdecke – ein Gefühl der Geborgenheit durchströmte den Buchhalter. Einfach herrlich! Juste holte tief Luft. Angesichts dieser Wonne war er nicht bereit, seine Augen zu öffnen. All die bösen Gedanken, mit denen er in den letzten Monaten erwacht war, flohen für einen Moment, lösten sich auf und taten so, als hätte es sie niemals gegeben. Behütet im kuscheligen Bett, neben Blanche, vergaß er für Augenblicke, dass die Welt sich ständig veränderte und dass er das nicht mochte.
Die angenehme Schutzwärme bedeckte das Schicksal und hielt ihn fern vom Allerschlimmsten in der letzten Zeit; Mamie, seine Großmutter, hatte vor zwei Monaten die Welt verlassen. Ganz still und leise war sie gegangen, im Schlaf. Die Leere, die sie hinterließ, spürte er täglich. Der Wunsch, Großmutters Geist zu bewahren, hatte ihn dazu bewogen, das alte Backsteinhaus zu beziehen. Das rote Häuschen in der Nähe des Rathauses mit den gewellten schwarzen Dachpfannen, dem Fundament aus Naturstein und der Kletterrose im Garten war nun sein Heim. Er liebte das Haus, das so winzig wirkte, als würde es ins Land der Zwerge passen und er wäre darin ein Riese. Doch Großmutters Tod war nicht das einzige Desaster, das er wegzukuscheln hatte: Marguerite, seine Ex-Frau, war mit der gemeinsamen Tochter Flora ins ferne Paris gezogen. Ein Leben ohne Marguerite erschien ihm mehr als verkraftbar, aber Flora in dieser unmenschlichen Großstadt zu wissen, fernab von ihm, war eine Unerträglichkeit, die er zu erdulden hatte. Ebenso unterlag es der stillen Duldung, dass Arnaud sich wandelte. Er liebte die Stadt, in der er geboren worden war und immer noch lebte. Veränderungen waren scheußlich. Umso mehr, wenn Neues mit Verschlechterung einherging.
Arnauds Bürgermeister Laval hatte sich als Meister von Verschlimmbesserungen erwiesen. Kindergarten sowie Kirche sollten geschlossen werden; die baufällige Kirche Sainte Catherine war moralisch im Weg. Der Kindergarten dagegen stand auf interessantem Bauland. Beides sollte verschwinden, um das Bordell zu begünstigen, ein zweites zu eröffnen und viel Geld einzufahren. Laval hatte überall die schmutzigen, korrupten Hände im Spiel gehabt. Es war zum Verrücktwerden. Erstaunlicherweise gab es in letzter Minute eine gute Wendung. Die Kirche blieb – dank einer Spende. Nun wurde sie renoviert und ein neuer Kindergarten im Innenhof der Kirche war in Planung. Und Laval war eine Leiche. In jedem Bösen steckt auch ein Kern Gutes. Arnaud hatte einen Bürgermeister weniger und dafür einen Mörder mehr.
Juste Simon drehte sich schnaufend um, gab sich der Nähe seiner Gefährtin hin, von der er vermutete, dass sie noch neben ihm lag. Blanche, säuselte das Hirn. Wolken der frischen Liebe umwehten ihn und ein breites Lächeln erschien auf dem Gesicht des Schlaftrunkenen. Mit Blanche fühlte er sich gut, alles schien warm und rosarot, seitdem sie beschlossen hatten, eine Bindung einzugehen. Justes Schnauzbart zuckelte. Das heimelige Gefühl endete abrupt – der Wecker klingelte. Der Buchhalter erledigte den Quälgeist, ohne die Augen zu öffnen, mit einem Handkantenschlag. Da war es wieder: Mamie. Flora. Arnaud. Gerade noch in Morpheus‘ Armen und schon wieder in der Suppe des Bewusstseins.
Indignum est! – Es ist abscheulich!, dachte er und entschuldigte sich bei sich selbst: Das war kein Fluch, es war Latein.
Juste Simon drehte sich noch einmal um. Das neue Möbelstück knarrte. Er griff zur zweiten Betthälfte, tastete auf dem gestärkten Betttuch herum und überlegte, wo Blanche sein mochte. Er grummelte. Gelegentlich stand sie früher auf, um Warenlieferungen im Bistro anzunehmen. Vermutlich war heute wieder so ein Tag. Als Wirtin eines Bistros hatte sie es auch nicht einfach. Langsam hob Juste den Kopf, öffnete die Augen, als ob doch noch ein Fund zu machen wäre. Mitnichten! Ein leeres Bett. Unwiderruflich! Dabei wünschte er sich, dass kein Tag ohne Blanche anfangen und keiner ohne sie enden solle. Die vertrauten Momente des gemeinsamen Einschlafens und Erwachens machten ihn glücklich. Gespräche über Wichtiges oder Unwichtiges und das Lachen, welches das Schlafzimmer belebte. Und vieles mehr. Er wurde bald zweiundfünfzig und hatte noch eine neue Liebe gefunden. Das allein bedeutete schon Glück. Hinzu kam, dass Blanche wundervoll war. Liebe war wundervoll. Alles war wundervoll. Nur Aufstehen nicht.
Zeit, den Morgen zu begrüßen; ein Kaffee im Bistro, Arbeit im Rathaus und ein pflichtbewusster Stadtbuchhalter sein. Juste knurrte und hievte sich aus dem Bett. Mit Arbeit konnte man sich den ganzen Tag verderben, überlegte er völlig unbuchhalterisch.
Was für Gedanken. Bevor er mit Blanche zusammenkam, hatte er nie so frevlerisch gedacht. Früher musste er eine Familie ernähren und Pflichtbewusstsein war fester Bestandteil des Lebens. Und jetzt? Justes Gedanken durchliefen die Werteliste. Der Beruf blieb wichtig, aber nicht mehr das Zentrum des Lebens. Mit zweiundfünfzig Jahren begann er, anders zu bewerten. Beruf und Geldverdienen hingen eng miteinander zusammen. Geld war wichtig. Absolut. Dennoch besah er sich in letzter Zeit von außen und fand erstaunlich, was er für Geld alles tat: mit Zahlen jonglieren, langweilige Kassenberichte schreiben, öde Ratssitzungen ertragen und dem Staat dienen, der dies kaum wertschätzte. Die Zeit zerlief im Alltag. War Zeit nicht mehr wert als Geld?
Skurrilerweise schlug Justes Denken einen Salto. Er dachte an das Bordell in der Stadt. Absonderlich, wieso ihm gerade jetzt das Etablissement einfiel. ›Warum wird über Huren schlecht geredet und über Buchhalter gut?‹, spuckte das Gehirn als Frage aus. Er verkaufte tagtäglich seinen Kopf für wenig Geld und eine Lebedame ihren Schoß für wesentlich mehr. Ganz offensichtlich waren Freudenmädchen die besseren Buchhalter und Kaufleute. Lebensnäher war ihr Beruf auf alle Fälle. Die böse Mathematik des Lebens forderte ihn auf, Callboy werden. Der Verstand erteilte ihm eine Ohrfeige.
Juste schnaufte durch den grau melierten Schnauzbart, bis das Bärtchen vibrierte. Callboy?! Was für ein schlaftrunkener Unsinn! Er hätte einfach nur gerne mehr Zeit mit Blanche. Und es war zu früh am Tage. Krude Gedanken kamen nur vor dem ersten Grand noir. Kein Wunder, dass das Denken merkwürdig wurde.
Juste Simon wankte zum Badezimmer, öffnete die Tür. Kaum durchschritten, erwischte ihn eine Wolke aus Haarspray, Parfum, Deodorant und Namenlosem, das zweifellos krebserregend und gleichzeitig atombestrahlt war. Justes Überlebenswille sog kontrolliert den letzten Happen Luft ein. Mit Wucht riss er das kleine Fenster in der Dachschräge auf und hielt den Kopf in die Freiluft. Wind und Regen – die Natur machte vor Justes Haupt nicht halt. Er wurde nass. Bei Gott! Wie schafften Frauen es, in einem Vakuum zu existieren?
»Monsieur Simon! Juhu!«
Auch das noch! Madame Galabru, die dralle Delikatessenhändlerin im graublauen Kittel winkte ihm zu. Sie stand, mit Regenschirm in der Hand, direkt vor dem Haus.
»Was machen Sie denn da, Monsieur Simon?«, rief sie hinauf.
Justes hochroter Kopf glutete aus den schwarzen Dachziegeln hervor.
»Nichts!«, brüllte er zurück und atmete schwer gegen den Wind.
»Und warum keuchen Sie so?« Die helle Stimme von Madame Galabru wurde exzellent durch die Luft übertragen.
Justes Körper spannte an. Das grau melierte Haar stand in alle Richtungen ab und der Sauerstoffmangel hatte das Gesicht endgültig in Feuerrot getaucht. Er fühlte sogar, dass er glühte. Was sollte er ihr sagen? Es war ohnehin egal. Das weibliche Tageblatt würde alles zu einer sensationellen Nachricht drehen, die es galt, sofort zu verbreiten.
Sag der fetten Frau im Kittel, du hättest gerade eine Sexorgie hinter dir!
Justes Gesicht verknautschte. Der fiese Kerl in ihm war erwacht. Immer, wenn er es gar nicht gebrauchen konnte, meldete sich die innere Stimme der anderen Art. Ungut! Dabei war er nicht so, wie die Stimme dachte. Er war anders. Besser – ein Buchhalter. Durch und durch anständig. Denken und Handeln bildeten eine Einheit. Gutmenschlich, logisch und rational. Nur gelegentlich war er nicht Herr im eigenen Haus. Juste wurde sich bewusst, dass der innere Dialog dringend verbessert werden musste.
»Pssst! Sei still!«, flüsterte Juste dem Tyrannen zu.
»Wie bitte?« Der graublaue Kittel kam in Bewegung. Für das Tageblatt war Schlechtgehörtes unerträglich.
Das frage ich mich auch! Still sein? Ich? Kaum gibt man einen Lösungsansatz, ist es auch wieder nicht richtig. Dabei, mein liebes Buchhalterchen, hatten wir doch schon einiges gelernt. Bleibt in deinem kleinen Wuschelköpfchen so gar nichts hängen? Sag: Sexorgie. Und du wirst ein spaßiges Wunder erleben.
»Ich habe Durchfall!«, schrie Juste aus der Dachluke.
Ach!? Selten dämliche Ausrede! Steht man bei Durchfall?
»Warum stehen Sie dann?«, keifte Madame Galabru hoch.
Siehst du! Sie ist doof, aber nicht dämlich!
»Luft!« Juste hielt sich die Hände um den Hals. »Ich brauche Luft!« Regen rann das Gesicht des Buchhalters hinunter. Aus den stoppeligen Haaren war klebriger Matsch geworden. Aber die Kittelträgerin schien zu verstehen.
»Ach so!«, lärmte sie und versuchte für einen Moment, Mitgefühl zu generieren.
»Wissen Sie übrigens schon das Neueste, Monsieur Simon?« Der niedere Verstand des Tageblatts blitzte auf und freute sich, neue Kunde zu verbreiten. »Bürgermeister Lavals Mörder sitzt bald hinter Gittern und mit ihm alle Spießgesellen. Ein neuer Ermittler aus Paris kommt und das ist ein ganz Scharfer. Dann werden Dinge ans Licht kommen, von denen wir noch nicht einmal wissen, dass es sie überhaupt gibt. Ich sage Ihnen, Monsieur Simon: Es wird noch Heulen und Zähneklappern geben.«
Juste schluckte die Neuigkeit hinunter. Heulen und Zähneklappern in Arnaud? Keine schöne Vorstellung.
Naaaa, wie wirst du die alte Vettel endlich wieder los? Ich weiß – was ganz Neues. Sag: Sexorgie. Völlig leergepumpt. Muss am nächsten Schuss arbeiten.
»Keine Zeit mehr, Madame Galabru. Die Natur ruft. Au revoir. A bientôt.« Ein schneller Rückzug war die beste Strategie, bevor er aus Versehen auf Madame Galabrus Verdächtigenliste stand oder dem inneren Tyrannen nachgab.
Weichei!
Der graublaue Kittel schnappte ein. Offensichtlich war hier kein Raum für sensationelle Neuigkeiten, die es ausführlich zu erörtern galt. Mit Verve schlug sie den Weg zu ihrem Geschäft ein und stapfte davon. Juste sah dem laufenden Regenschirm hinterher. Morgens um sechs war die Welt in Arnaud nicht in Ordnung. Wie sollte dann der Tag erst werden? Juste Simon wollte das Dachfenster schließen, es blockierte. Er zerrte weiter.
»Bonjour, Juste!«
Er sah nach unten. Ein neuer Regenschirm. Neonfarben. Malo Duc, sein kleiner, flinker Kollege und Freund.
»Was machst du da?« Die schwarzen Kringellocken des Kollegen standen unter extremer Spannung.
»Was meinst du wohl? Wonach sieht es denn aus?«
Malo zuckte mit den Schultern.
»Hast du Durchfall?«
***
Die Kirchturmuhr der Sainte Catherine freute sich darauf, sogleich sieben Uhr zu verkünden, und rastete ein. Der Zeiger zitterte. Eine Taube, die auf dem Kirchendach saß, überblickte den Marktplatz. Die herbstliche Stimmung verpasste der Örtlichkeit ein flottes Grau; dagegen hielten zwei Ahornbäume in der Mitte des Platzes, die in warmen Gelb- und Ockertönen strahlten. Das dreistöckige Fachwerkhaus, das gegenüber der Kirche stand und in dem sich das mehr oder minder geduldete Bordell befand, ruhte nach nächtlicher Schwerstarbeit schon, und die angrenzenden Häuser mit den braven Bürgern der Stadt waren noch vom Schlummer eingelullt. Nur für die Bäcker, Fischer und einige andere Früharbeiter des Ortes war der Tag schon in vollem Gange. Der Duft frischer Backwaren zog durch die Gassen und mischte sich mit Apfelluft. Bald würde ganz Arnaud wach sein. War das gut?
Die meisten Bewohner hörten den leisen Singsang des Kampfliedes im Labyrinth der schmalen Kopfsteingassen nicht. Für diese Gehörlosen rastete der lange Zeiger der Kirchturmuhr auf dem maximalen Punkt ein. Die Glocke schlug an, wahrnehmbar für jedermann.
Hört ihr Leut’ und lasst euch sagen: Unsere Glocke hat sieben geschlagen. Denkt den sieben Worten nach, die der Herr am Kreuze sprach.
Und leise pfiff der Morgenwind dazu.
»Möchtest du einen Café au lait? Auch Halsabschneidern serviere ich gerne etwas Leckeres.« Blanche Martin lächelte dem Fischer Lucien Forest zu und schüttelte den Kopf. Der Engländer grinste und der Charme des sonnengebräunten Gesichts mit den hervorstechenden violetten Augen erwischte die Wirtin des ›Le Ciel‹ mit voller Wucht.
»Hörst du wohl auf, so unverschämt zu grinsen? Es nützt dir gar nichts, wenn du charmant bist. Der Loup de mer ist viel zu teuer, mein Lieber! Du nimmst mich aus, wie deine Fische.«
»Blanche, er ist vom Allerfeinsten. Vor ein paar Stunden schwamm der Wolfsbarsch noch im Wasser und er ahnte nicht im Entferntesten, dass er heute Abend deine Speisekarte bereichern würde. Glaub mir, er ist frisch, hat festes Fleisch und die Haut wird wunderbar knusprig sein. Etwas Fleur de sel dazu und du wirst dem Himmel nah sein!«
»Mein Guter, ich bin vermutlich dem Himmel nah, weil mich deine Rechnung umbringen wird!« Blanche versuchte, eine empörte Miene aufzusetzen, aber dem Seemann konnte keine Frau wirklich böse sein.
»Glaub mir, morgen wirst du mich anflehen, noch einmal so einen guten Fang bei dir abzuliefern. Ich werde dich dann schmachten lassen. Ich liebe es, wenn Frauen mich anbetteln.« Die letzten Worte bremste der Fischer aus. Mit einem Mal war Stille in das Gespräch gekommen. Lastende Stille, von der Sorte, die Magenschmerzen verursacht, wenn sie lange anhält. Das Lächeln verließ den Raum. Versehentlich hatte der Engländer auf einen Knopf gedrückt, der besser nicht hätte berührt werden sollen. Blanche schaute den Herzensbrecher, der keiner sein wollte, an. Die Augenpaare trafen einander, fragten Unaussprechliches und befanden ohne Worte, ein anderes Thema anzusteuern.
Blanche Martin drehte sich zur Kaffeemaschine. Nahm eine runde Schale, befüllte diese zur Hälfte mit warmer Milch und goss Kaffee darauf. Der Lärm des stählernen Ungetüms tötete die Stille.
»So, Seemann hier kommt deine Bol. Willst du auch ein Croissant dazu?« Die Wirtin nahm die stille Übereinkunft ernst.
Der Engländer schaute auf den Fußboden, nur langsam kroch sein Blick höher. Der dunkelblaue Strickpullover mit dem Reißverschluss umhüllte den muskulösen Oberkörper, trotzdem wirkte der kräftige Körper mit einem Mal verletzlich.
»Blanche. Das mit Nadine tut mir leid.« Der stille Pakt war gebrochen.
Die Wirtin musterte den Engländer, wischte sich die Hände mit einem Leinentuch sauber und ließ den Fischer nicht aus dem Fokus.
»Ich weiß, dass es dir leidtut, aber was in Gottes Namen ist zwischen euch beiden vorgefallen?«
»Nichts.«
»Nichts? Meine Nichte isst kaum etwas. Spricht nur auf Drängen. Wacht morgens mit verquollenen Augen auf, hat ihren Job im Rathaus verloren und seit zwei Monaten verbringt sie ihr Leben zwischen Bett und Sofa. Wegen nichts?«
»Blanche. Bitte.«
»Sie liebt dich.«
»Ich weiß«, antwortete der Seemann.
»Ich bin mir nicht im Klaren darüber, was genau los ist und mir ist bekannt, dass mich viele Dinge nichts angehen. Nadine ist erwachsen und muss ihr eigenes Leben leben – und ich will mich auch nicht einmischen. Aber langsam bekomme ich das Gefühl, dass sie mir entgleitet. Was auch immer zwischen euch geschehen ist, es gibt keinen Grund dafür, dass Nadine sich aufgibt. Willst du nicht mit ihr reden? Vielleicht kannst du ihr helfen.«
Der Engländer mahlte eine harte, nicht vorhandene Nuss im Kiefer, die Muskeln tänzelten. Gemächlich nahm er die Bol, trank einen Schluck und spülte die Nuss hinunter.
»Ich glaube, das ist eine schlechte Idee.«
»Ach, Lucien. Warum? Was soll ich nur mit ihr machen? Zut alors! Das alles bereitet mir Sorgen.«
»Bonjour!«, tönte es vom unbeachteten Eingang plötzlich. Malo Duc, der kleine Stadtangestellte, entspannte den neonfarbenen Regenschirm, schüttelte ihn nach draußen hin aus und betrat das Bistro. Mit wiegendem Schritt ging Malo die Mahagonitheke entlang, der Geruch von frischem Kaffee und Croissants war verführerisch. Der Regen lärmte immer noch.
»Einen Grand, bitte.« Der Stadtangestellte schaute Blanche an, die festgefroren schien. Der nächste Blick galt dem Engländer, der den Fußboden beobachtete.
»Störe ich?«
Die Wirtin schüttelte den Kopf, die Bewegung war automatisiert. Eine Strähne löste sich aus dem grau-brünetten Zopf und folgte der Schwerkraft.
»Nein!« Trotzdem drückte der Augenblick. Malo betrachtete instinktiv den Engländer, der hob den Kopf. Violette Augen stachen zu.
»Ja, du hast gestört«, sagte er ruhig, »aber der Moment ist vorbei.«
Malo öffnete den Mund und Blanche war überzeugt, dass man dies auch diplomatischer hätte ausdrücken können.
»Also … also, das ist … Soll ich wieder gehen?«
»Nein«, sagte der Engländer mit Bedacht und schmunzelte.
»Ich mache dir einen Grand, mein Lieber. Reg dich nicht auf.« Blanche drehte sich zum Kaffeeautomaten.
»Gut. Also dann … dann rege ich mich nicht auf. Ich habe übrigens Madame Galabru getroffen, vor ihrem Delikatessengeschäft. Sie hat mir doch tatsächlich den Faustschlag vom Juli verziehen. Hätte ich nicht gedacht. Vorbei ist halt vorbei. Und wisst ihr schon das Neueste?«
Malo Duc hüpfte auf den Barhocker. Keiner der beiden Anwesenden antwortete.
»Heute kommt ein neuer Ermittler. Direkt aus Paris. Ein ganz Scharfer. Lavals Mörder wird gefasst werden und es werden Dinge an das Licht kommen, von denen wir noch nicht einmal wissen, dass es sie überhaupt gibt. Madame Galabrus Worte. Außerdem wird es Heulen und Zähneklappern geben.«
Die lastende Stille kehrte zurück, die Nuss im Mund des Fischers auch. Blanche Martin drehte sich um.
»Malo, das nächste Mal, wenn du das Tageblatt Galabru verprügelst, solltest du sorgfältiger sein und keine halben Sachen abliefern«, zischte sie zwischen den Zähnen heraus. Nur ein völlig Unempathischer hätte nicht die Gefahrenstufe eins bemerkt, in der Malo sich gerade befand.
»Aber Blanche, ich wollte doch nur …«
»Genau. Und ich meine nur.« Blanche Martin nahm den Becher mit dem Grand und reichte ihn dem verstörten Malo.
»Hier, mein lieber Rathausangestellter, dein Grand. Trink ihn und schweige.«
Noch bevor Malo Duc sich in weiteren Fettnäpfchen verfangen konnte, tauchte die Silhouette von Juste Simon auf. Hager, im dunklen Anzug, mit kurzem Regenmantel, Aktentasche und schwarzem Regenschirm, lief er direkt in den gespannten Ballungsraum. Er schüttelte den Schirm aus.
»Salut, ma chérie! Salut, ihr zwei!« Der Buchhalter nickte den Männern zu. Er musterte sie. Stockte. Das Begrüßungslächeln bröckelte. Der Raum schien in Bruchteilen von Sekunden Dimensionen zu erreichen, die einem Höllenschlund ähnelten.
»Hey. Was ist los? Stör’ ich?«
»Ja«, zischte Blanche. »Du hast gestört, aber der Moment ist vorbei!« Warum sollte sie sich nicht einen kleinen Tick Ehrlichkeit gönnen? Klar, geradeaus, mitten durch die Eingangstür. Diplomatie war ohnehin nur die Kunst, mit vielen Worten zu verschweigen, was mit wenigen gesagt werden konnte.
***
Der Zug aus Paris-St. Lazare fuhr in den Bahnhof von Grenelle ein, dann stoppte das Schienenfahrzeug. Zeitgleich wurde auf dem zweiten Gleis ein Zug mit Trillerpfeifton und grünem Kellenzeichen verabschiedet. Der Bahnbeamte winkte dem Lokführer des frisch angekommenen Zuges zu. Hielt die Haltekelle hoch und ging anschließend zum Bahnsteighäuschen, in dem ein Kaffee auf ihn wartete. Nur wenige Fahrgäste verließen die Waggons des Zuges aus Paris. Hohes Menschenaufkommen war an einem Mittwochmittag auch nicht zu erwarten.
Als sämtliche Hoffnung auf weitere Ausstiegswillige zerstob, öffnete sich doch noch die letzte Wagentür. Ein Koffer war der erste sichtbare Beweis für den Neuankömmling. Das braune Großgepäck wurde herausgewuchtet, auf den Boden gestellt und schlidderte, kraft eines Fußtrittes, wenige Zentimeter über den Steinfußboden. Ein altmodischer Lederkoffer von der Art, die einst teuer gewesen war. Die Ecken des Koffers hatte man mit von Messingnieten gehalten Lederstücken verstärkt. Es folgte ein Regenschirm. Wenn ein Koffer etwas über seinen Besitzer aussagen konnte, was sagte dann ein Regenschirm über ihn aus? Ein Griff aus Straußenleder, schwarze Seidenbespannung und ziselierte Silberhülse. Was vermutete die Welt über diesen Menschen? Wertekonservativ, solide, edlen Gemüts? Der Mann mit den teuren Accessoires stand nun auf dem Bahnsteig und sondierte das Terrain. Beide Beine fest im Boden verankert. Es hatte aufgehört zu regnen. Nur noch ein feiner Niesel, für den es nicht lohnte, den Regenschirm aufzuspannen, tränkte die Luft. Ohne die stahlharten Augen vom Bahnhofsbereich zu lassen, zerdrückte der Neuankömmling die leere Getränkedose eines billigen Nachahmerprodukts der wohl bekanntesten amerikanischen Imperialistenbrause der Welt. Er schlug sich auf die Brust und rülpste.
So schnell kann die Seifenblase der Menschenkenntnis platzen. Vorurteile, auch positiver Art, sind unsichtbare Handschellen, in die ein jeder gerne seine Hände legt und von denen erwartet wird, dass sie einrasten. Gelegentlich bleibt der Wunsch jedoch unerfüllt. Das wird dann im Allgemeinen als seltsam empfunden.
Der seltsame Mann trug einen braunen Anzug mit gleichfarbener Weste. Er entnahm der Westentasche eine Uhr, die an einer goldenen Kette hing. Eine in sich ruhende Bewegung. Elegant oder kultiviert? Mit lähmender Genauigkeit prüfte der seltsame Mann die Uhrzeit. Zwölf Uhr mittags – High Noon. Einen besseren Zeitpunkt hätte es kaum geben können.
Inspecteur Foret fletschte die Zähne. Er ergriff den Koffer und marschierte in Richtung Ausgang.
»Inspecteur Foret! Hier!« Gendarm Gaspard lief dem Kollegen aus der Großstadt winkend entgegen. Foret blieb stehen.
»Kollege Inspecteur! Bienvenue!«, hechelte Gaspard. »Wie schön, dass Sie da sind.« Der Gendarm sah auf den schweren Koffer. »Kann ich Ihnen helfen?«
Inspecteur Foret verharrte regungslos. Die Augen kerbten sich in das Gesicht des Kollegen ein. Er sah ein Mausgesicht mit Hakennase und angegraute Haaren an den Schläfen. Gaspard kümmerte dies nicht. Er wollte nach dem Koffer greifen. Der Neuankömmling hingegen räusperte sich; eindeutig, vernehmlich, laut. Der Klang des Geräusches hallte über den Bahnsteig. Gaspard hielt an. In Erwartung einer freundlichen Anrede lächelte er.
»Wenn Sie ihren Job anständig gemacht hätten, bräuchten Sie mich jetzt nicht zu fragen, ob ich Hilfe brauche. Dann wäre ich nicht hier«, knurrte Foret.
Gendarm Gaspard schluckte. Seine Hakennase zuckte und der freundliche Blick erlosch.
***
Gendarm Gaspard fuhr mit dem Renault der Polizei in ordnungsgemäßer Geschwindigkeit auf der Hauptstraße nach Arnaud. Inspecteur Foret schaute sich schweigsam die Umgebung an. Der Herbst hatte die Bäume in ein Meer von Farben getaucht. Grelles Gelb, kräftiges Orange und nicht minder sattes Braunrot hatten die Landschaft gefärbt. Die durchnässte Vegetation wirkte trotz Vergehens kraftvoll und frisch. Wind strich über die abgeernteten Felder, verwehte die Randvegetation und ließ die Stoppelfelder in Ruhe. Strohballen, die zu großen Scheiben zusammengebunden waren, standen auf den Feldern und ließen die Umgebung einsam erscheinen. Kein Bauer, kein Traktor – nichts. Wie sollte es an einem regnerischen, stürmischen Tag zu Herbstbeginn auch anders sein; der Sommer begann im Herbst zu sterben und der Tod war das einsamste Geschäft.
Das Auto mit den schweigenden Insassen kämpfte sich vorwärts. Auch im Inneren des Wagens tobte ein Kampf, der aus Lautlosigkeit und schwebender Aversion bestand. Obwohl der Renault eine gute Größe hatte, fühlte Gendarm Gaspard die Enge. Er zog am Hemdkragen.
»Wer ist verdächtig?« Foret stach in die Stille. Knappe Worte und ein rauer Tonfall piksten. Gaspard zuckte zusammen. Dem Mienenspiel war die Erleuchtung anzusehen, dass die nächsten Tage und vielleicht sogar Wochen mit Foret kein Zuckerschlecken werden würden. Der Gendarm holte tief Luft. Aversion war die eine Sache, der Beruf eine andere. Er versuchte, sich zu beruhigen, auch das sah man ihm an, denn das zusammengebissene Kieferkonstrukt wirkte nicht wirklich entspannt.
»Viele. Zu viele. Bürgermeister Laval war unbeliebt. Selbst unser Pfarrer sah in ihm einen Teufel. Haben Sie nicht die Akten bekommen?«
»Ich will wissen, wie Sie das sehen«, blaffte Foret ihn an. Der Inspecteur fuhr fort: »Was haben Sie mitbekommen? Hinweise oder Gerüchte? Ein Dorfpolizist hört doch so einiges von den dummen Eingeborenen.«
Gaspard arretierte. Dorfpolizist? Dumme Eingeborene? Wen meinte er damit?
»Ich habe nichts Wesentliches gehört«, brachte er hervor und es hörte sich nach einem Ausweichmanöver an. Im Gesicht des bleichen Gendarmen nahm der genetische Code des Beschützers Platz, gleich daneben saß die Kränkung. Es war seine Kleinstadt, über die Foret sprach, es waren die Menschen, mit denen er lebte und mit denen er aufgewachsen war. Arnaud war kein Dorf und er war kein Dorfpolizist. Arnaud war eine aufrechte Kleinstadt mit netten Bürgern und er ein Gendarm. Und dieser unverschämte Mann aus dem fernen Paris hatte es in einer knappen halben Stunde geschafft, dass er ihn hasste.
»Nichts sehen, nichts hören, nichts reden. Sie sind also nicht einer von drei Affen – Sie sind der Affe schlechthin.« Inspecteur Forets Feststellung donnerte durch den Wagen, der gerade zum kleinsten Innenraum eines Autos geworden war, den je ein Mensch gesehen hatte.
»Affe?! Ich bin ein Affe?«, presste Gaspard heraus. Die Bremsen bremsten, die Reifen quietschten. Inspecteur Foret Körper, nicht angeschnallt, schnellte nach vorn. Der Kopf prallte auf das Armaturenbrett. Er knallte zurück, direkt an die Kopfstütze. Der Airbag wurde nicht ausgelöst, der Renault war offensichtlich parteiisch.
»Ich ein Affe! Raus! Aber sofort!«
Der benommene Inspecteur Foret bekam nicht mit, wie die Tür geöffnet wurde. Zweifellos aber fühlte er den Fall auf den Fahrbahnrandstreifen des letzten Apfelbaumhaines vor Arnaud. Möglicherweise nahm er den fliegenden Koffer wahr. Nur der Regenschirm blieb im Wagen. In Bälde würde er das erfassen.
Vor dem benebelten Inspecteur lag eine knappe Stunde Fußweg im Nieselregen, mit lädiertem Kopf und Körper.
***
»Meine Tochter, selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen. Es ist falsch, dass du deinem Kind zürnst. Wut und Zorn sind unrecht. Die Frucht von Gottes Geist ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Glaube und Sanftmut. Wenn du das in deinem Herzen trägst, wird alles gut.« Abbé Noël schloss die Augen, sog die muffige Luft der Beichtkammer ein und schlug ein Kreuz. »Deine Sünden sind dir vergeben. Geh in Frieden. Gelobt sei Jesus Christus.«
Die Frau antwortete leise »In Ewigkeit! Amen.«
Sie verließ die Kammer. Ihre Haltung zeugte davon, dass ihr eine schwere Bürde genommen worden war. Wenige Minuten später entstieg der Geistliche dem Beichtstuhl. Er streckte sich. Richtete die Wirbelsäule. Die Botschaft von Liebe und Güte zu verkünden war anstrengend.
Zur Erholung ließ er den Blick über die Sainte Catherine schweifen, sein altes Mädchen war im Umbruch. Die Kanzel hatte man abgebaut, das Rosenfenster von innen mit Tüchern, von außen mit einer Plane bedeckt; vor dem verhangenem Fenster stand ein Gerüst und an den Seiten lagen schon weitere Gerüstteile zum Aufbau bereit. Die Vorarbeiten für die Renovierung begannen, Schritt für Schritt würde die Sainte Catherine zu einer Großbaustelle mutieren. Viel Arbeit stand bevor, aber irgendwann würde das alte Mädchen wieder erstrahlen. Die Seelenrettung und die Aussicht auf eine restaurierte Catherine ließen das Gesicht des Gottesmannes lächeln. Sanftmut war ein wunderbares Gottesgeschenk.
Abbé Noël schritt den Kreuzgang entlang, erklomm die Empore und begab sich hinter den Altar. Auf dem Tisch lagen Bauzeichnungen, Auflistungen und Zahlenwerke. Ein Durcheinander von Papier. Der Gottesmann nahm ein Blatt. Las und legte es weg. Die Miene warf Schatten. Er nahm ein neues Papier, ging es durch und schob es beiseite. Das Gesicht verfinsterte sich.
Bauleiter Bonnet und zwei Architekten betraten zu diesem Zeitpunkt die Sainte Catherine. Zugluft fegte durch die Gänge. Die kleine Gruppe ging ahnungslos zum Altar.
»Warum ist das alles so teuer?« Abbé Noëls Stimme rollte donnernd durch den Kirchenraum. Die Ankommenden erhielten ohne Begrüßung die Kernfrage gestellt. »Warum?«, schmetterte der Geistliche den Männern entgegen. Die silbernen Haare des Gottesmannes standen in einem schönen Kontrast zu der schwarzen Soutane und dem Kollar. Die Falten des Zorns hingegen standen für sich allein. »Das kann doch nicht wahr sein!« Abbé Noël stieß mit dem Zeigefinger auf den Stapel Papier. »Wir haben eine großzügige Spende von einem Unbekannten erhalten; für die Restaurierung der Sainte Catherine und die Einrichtung eines Kindergartens im Waschhaus. Wir bekamen sogar zusätzlich Geld von der Diözese. Hinzu kam einiges aus dem Kollektentopf und alles zusammen ergibt eine hohe Summe. Und die soll nicht reichen?« Die Stimme des Abbé war in der Tonskala unter angriffslustig bis durchgeladen einzuordnen.
Der Mutigste von den dreien, der Ranghöchste, bekam unmerklich den Ball des Opfers zugespielt.