Langeweile im Zeitalter des Internets
Aus dem Englischen von
Andreas Simon dos Santos
Mark Kingwell, geb. 1963, ist Professor für Philosophie an der University of Toronto. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in Sozialtheorie, Politischer Philosophie, Ästhetik und Popkultur. Er ist Mitglied der Royal Society of Canada und wurde mehrfach für seine wissenschaftliche Arbeit und Lehre ausgezeichnet. Seine zahlreichen Essays und Artikel erscheinen u. a. im Harper’s Magazin und seine Monografien wurden in zehn Sprachen übersetzt, darunter Better Living (1998), The World We Want (2000). Auf Deutsch erschien zuletzt Nach der Arbeit (2018).
Andreas Simon dos Santos hat in Münster und Berlin Anglistik, Italianistik und Politologie studiert. Er arbeitet als Übersetzer, Redakteur, Texter, Korrektor und Ghostwriter.
»Es hilft nichts: Die Langeweile ist nicht einfach. Wir entgehen der Langeweile (bei einer Arbeit, einem Text) nicht mit einer Geste der Ungeduld oder Ablehnung. So wie die Lust am Text eine ganze indirekte Produktion voraussetzt, so kann die Langeweile keine wie immer geartete Spontaneität beanspruchen: Es gibt keine ehrliche Langeweile: Wenn der geschwätzige Text mich persönlich langweilt, dann weil ich in Wirklichkeit die Anforderung nicht mag. Doch was, wenn ich sie mögen würde (wenn ich irgendeinen mütterlichen Appetit darauf hätte)? Die Langeweile ist nicht weit von Glückseligkeit entfernt: Sie ist Glückseligkeit gesehen von der Küste der Lust.«
Roland Barthes, Die Lust am Text (1973)
VORBEMERKUNG:
Langeweile in Zeiten der Plage
VORWORT
TEIL 1
Der Zustand
TEIL 2
Der Kontext
TEIL 3
Die Krise
TEIL 4
Wie kann es weitergehen?
DANK
KOMMENTIERTE BIBLIOGRAFIE
INDEX
ENDNOTEN
Anfang 2020 gewöhnten wir uns alle an die neue Normalität von Covid-19, an das Abstandhalten, an Selbstisolation und Quarantäne. Inmitten des Ausnahmezustands stellte sich bei vielen neben großen Befürchtungen ein Gefühl beharrlicher, quälender Langeweile ein. Die allgemeine Sorge zog sich über das Frühjahr bis in den Sommer, und man begann sich zu fragen, ob die staatliche Seuchenbekämpfung die Bürgerrechte noch stärker mit Füßen treten würde, aber auch, ob das Virus zurückkehren würde und ob man – inmitten zunehmender Gereiztheit und Unruhe – gar selbst bereits erkrankt war oder nur in einen Zustand der Apathie verfallen war.
Bald war man es leid, von »Abflachung der Kurve«, »Eindämmung des Virus« und von Forderungen nach Ausweitung der staatlichen Maßnahmen zu hören. In den Städten sah man vor dem Fenster leere, leblose Straßen. Gassigänger, Flaschensammler und radelnde Essenslieferanten waren die einzigen Zeichen menschlichen Lebens. Sind Sie in ihrem Zimmer auf und ab gegangen und haben sich gefragt, ob es möglich ist, sich zu Tode zu langweilen? Ja, ist es.
Der verwegene Schauspieler George Sanders, am besten bekannt als zynischer Theaterkritiker Addison DeWitt in Alles über Eva (1950), hinterließ drei Abschiedsbriefe. In einem stand: »Liebe Welt, ich verlasse Dich, weil ich mich langweile. Ich habe das Gefühl, lange genug gelebt zu haben. Ich überlasse Euch in dieser süßlichen Kloake Euren Sorgen. Viel Glück.« Auf Dreharbeiten in Spanien, beendete der 65-Jährige sein Leben mit Pentobarbital.
Das war im April 1972 – der »grausamste Monat«, wie es T. S. Eliot, ein gelangweilter Bankangestellter, in seinem Gedicht Das Ödland schrieb. Heute, im April 2020, offenbart die Viruskrise die sozio-ökonomischen Bruchkanten in unseren Gesellschaften mit voller Brutalität. Kleinselbständige, die von Mini-Aufträgen aus dem Netz leben, stehen vielerorts vor dem finanziellen Abgrund, in Ländern ohne Kurzarbeitergeld wurden viele Arbeitnehmer kurzerhand auf die Straße gesetzt oder man griff trotz Verbots zu befristeten Entlassungen. Beschäftigte im Gesundheitswesen arbeiteten bis zur Erschöpfung, während Dienstpersonal, Fluglinienangestellte und Kulturschaffende um die nackte Existenz bangten – um nur ein paar Berufe zu nennen. Wie wir nun häufig gehört haben, könnte sich die Wirtschaftskrise als weit schlimmer erweisen als die Große Depression.
Und so gerieten wir in ein Wechselbad der Gefühle, Phasen lähmender Angst und bleierner Apathie wechselten mit einer eigentümlich fiebrigen Nervosität, eine der quälendsten Erscheinungsformen der Langeweile. Manchmal kommt es einem vor wie der »lange, dunkle Fünfuhrtee der Seele«, wie der englische Science-Fiction-Kultautor Douglas Adams scherzhaft die Langeweile der Unsterblichkeit nannte. Zu anderen Zeiten ist es eine stille, innere Rage, in der alles in Gang kommt, aber nichts beginnt – eine Seele, die sich selbst zerfleischt.
Vor zweihundert Jahren bezeichnete der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer mit scharfem Blick die Langeweile als einen besonderen Zustand der modernen Welt. Er meinte damit natürlich nicht, dass sich Menschen vor dem – in Europa – relativ wohlhabenden frühen 19. Jahrhundert nie gelangweilt hätten. Was ihm auffiel, waren vielmehr neue Möglichkeitsbedingungen von Langeweile: In Zeiten sicherer Unterkünfte, ausreichender Nahrung, freier Zeit, kultureller Anregung (oder ihrem Mangel) hatten die Menschen die Muße, sich mit der eigenen Identität in einem gleichgültigen Universum auseinanderzusetzen.
Für einen großen Teil der Welt haben Konsum und die Kräfte des freien Marktes um ihn herum eine Situation der Monetarisierung dessen geschaffen, was ich im Weiteren neoliberale Langeweile nenne. Dies wurde von der Technologie und ihren verschiedenen Interfaces der profitablen Kurzzeitbefriedigung enorm unterstützt. Wann immer unmittelbare Stimulation versagt, erwacht ein neues unmittelbares Verlangen, das sich nur temporär durch neue Stimulierung lindern lässt. Scrollen, Twittern, Shoppen, Liken und Posten wirken in Kombination wie eine Versklavung des Bewusstseins. Diese Erfahrung kapitalistisch ausgebeuteter temporärer Langeweile ist eine Form der Abhängigkeit und zugleich ein Luxusgut, wie es Thorstein Veblen in seiner Analyse des demonstrativen Oberschichtkonsums in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschrieb. Heute betrifft der kritische, nicht mehr ganz so demonstrative Konsum Videospiele, Streaming-Dienste und die Nutzung der sozialen Netzwerke.
Langeweile offenbart eine Art psychischen Konflikt, wo, wie es der Psychotherapeut Adam Phillips ausdrückt, der »paradoxeste Wunsch sich regt, der Wunsch nach einem Begehren«. Ein abwesender Wunsch erster Ordnung (»Ich habe nichts, was ich tun möchte«) wird mit einem Wunsch zweiter Ordnung beklagt (»Ich wünschte wirklich, ich wüsste es«). Daher rührt die seltsame Unruhe und Beklemmung der Langeweile, ein Juckreiz an Stellen, wo man sich nicht kratzen kann. Jeder Wunsch erster Ordnung, so sehr er auch aus kognitivem Junkfood bestehen mag, scheint den Reiz zu beruhigen, aber nur zeitweilig – Kartoffelchips für die Seele.
So zeichnet, wie Schopenhauer schrieb, die Langeweile »zuletzt wahre Verzweiflung auf das Gesicht«. Man denke an einen Lebenslänglichen, an Soldaten, die zur Eile angetrieben werden, nur um am Bestimmungsort wieder warten zu müssen, an einen unheilbar Schlaflosen, einen Teenager auf einem erzwungenen Familienausflug oder einen durch und durch fremdbestimmten Arbeiter. Sie alle erleben wahre Langeweile. Selbst die Glücklichsten unter uns kennen in ihren Berufen sicher Phasen, in denen sie nichts als öde Langeweile erwartet.
In diesen viralen Zeiten, wo die Arbeit, wo unsere Zwecke und sogar unsere Bewegungsfreiheit umfassend überdacht werden, ist Langeweile zu einem schleichenden Feind geworden. Und doch, sie bleibt auch eine Art von Sahnehäubchen, ein Ausweis sozioökonomischer Privilegiertheit, die Klage der Gesunden und Reichen, wenngleich nicht der Weisen. Das ist das Paradox des paradoxen Verlangens nach einem Verlangen: Es ist ein Zeichen von Erregung und gleichzeitig ihrer Abwesenheit. Es kann einen anöden, gelangweilt zu sein, und so erzeugt man eine Spirale der Aufmerksamkeitsökonomie.
Wenn wir darauf reagieren, indem wir einem Gefühl der Einsamkeit oder des Ennuis, der Acedia oder des Weltschmerzes ewig davonlaufen, bereiten wir nur einem neuen psychischen Konflikt den Weg – einem neuen Markt der Möglichkeiten. Wenn die gegenwärtige Langeweile nicht zu philosophischer Reflexion, sondern stattdessen zu neuen Formen und Momenten des Konsums führt, wäre das zugleich eine verpasste Gelegenheit und eine Kapitulation vor den gegenwärtigen Verhältnissen.
Wenn Sie das Glück haben, sich gerade zu langweilen, und nicht einfach nur abstrampeln, um über die Runden zu kommen, geben Sie sich nicht der Melancholie hin oder fliehen in einen schicken neuen Stimulus. Schauen Sie aus dem Fenster, das selbst ein Fenster zur Seele ist. Nehmen Sie die Bürde, auf der Welt zu sein, an. Sie können sich selbst nicht entkommen, aber Sie können die Bedingungen Ihrer eigenen Möglichkeit untersuchen.
Um ein weiteres Genie der existenziellen Langeweile, Samuel Beckett, zu zitieren: »Ich kann nicht weitermachen, ich werde weitermachen.« Es gibt keine andere Option – nicht einmal, bei allem gebotenen Respekt für George Sanders, der Selbstmord, den Shakespeares Hamlet ins Auge fasst. Noch einmal Beckett: »Du bist auf der Erde, dagegen gibt es kein Mittel.« Langeweile ist keine Krankheit, sondern ein aufschlussreiches Symptom in Zeiten der Corona-Krise.
»Vielleicht ist ein Schuss Langeweile ein notwendiger Bestandteil des Lebens.«
Bertrand Russell, Die Eroberung des Glücks (1930)
1999 landete der britische Künstler Martin Parr einen überraschenden Bestseller, der seinen Weg auf zahllose Wohnzimmertische fand. Boring Postcards lieferte genau das, was der Titel versprach: einen dicken Band mit 160 Bildern aus Parrs privater Sammlung der ödesten Ansichten und Sehensunwürdigkeiten des britischen Lebens. Reizlose Bahnhöfe, Fabrikgebäude mit Backsteinfassaden, leere Interieurs, Motelzimmer, Hotelfoyers, langweilige Postämter und triste Autobahnabschnitte, sie alle gaben sich bei dieser unheimlichen Feier der Fadheit und Banalität ein Stelldichein. Viele Menschen fanden das Buch lustig, manche auch traurig. Niemand schien es im Geringsten langweilig zu finden – ganz im Gegenteil.
Und doch zeigen die Bilder zwischen den Buchdeckeln natürlich wirklich trübsinnige Orte und nichtssagende Bauwerke, wie nützlich sie auch immer sein mochten zur Erfüllung alltäglicher Zwecke. Mir erging es mit dem Buch wie vielen anderen: Ich fand es zugleich aufschlussreich und vertraut. Wie andere Objets trouvés, das heißt ästhetisch umgewidmete Alltagsgegenstände, bot es das, was Arthur Danto die »Verklärung des Gewöhnlichen« nannte. Wir erkennen hier die Banalität eines so großen Teils unserer baulichen Umgebung und zugleich die Schmerzlichkeit unseres Bedürfnisses nach Verbindung und Austausch. Warum wohl sollte jemand, fragt man sich unwillkürlich, einen Parkplatz oder einen Mautposten zum Gegenstand einer Ansichtskarte machen? An manchen der Orte sind Menschen zu sehen, aber viele sind bar jeden Lebens, wie von einer Neutronenbombe entmenschte Szenerien leerer Alltäglichkeit. Sie illustrieren die Eintönigkeit des täglichen Lebens selbst dort noch, wo sie mit der modischen Vorstellung von »Alltagsfotografie« kokettieren – triviale Bilder, die, in einen anderen Kontext gesetzt, schlaglichtartig eine gewöhnliche, aber tiefe Sehnsucht zum Ausdruck bringen.1 Parr fügte keinen Kommentar oder eine Theorie hinzu, sondern ließ die Bilder schlicht für sich selbst sprechen.
Als Parr 2000 und 2001 einen Band mit amerikanischen und deutschen Postkarten folgen ließ (Boring Postcards USA und Langweilige Postkarten 2), erklomm das Projekt neue Höhen. Nun gesellten sich noch klotzigere Autobahnen, Mauthäuschen, Flughäfen, Grenzübergänge, Wohntürme, leere Swimmingpools und Vorstadtparzellen zum Aufgebot eintöniger Umgebungen. Blättert man durch diese Bücher, besonders Boring Postcards USA, wirken sie wie eine Bebilderung der Autofahrten durch die amerikanische Provinz, auf die sich Humbert Humbert in Nabokovs Roman Lolita begibt, ein unwirtlicher Katalog neonerleuchteter Schnellrestaurants, Lebensmittelfilialen, Imbissständen, Tankstellen und Motels, der zu einer Polemik gegen das Nachkriegs-Amerika mit seiner geistlosen, entnervenden Prosperität anschwillt. Parr indes enthält sich stets solcher Wertungen. Wieder vermittelt diese Sammlung eine feierliche Stimmung, in die sich doch Traurigkeit mischt. Verlebe tolle Tage, wünschte, Du wärst hier! Nein, wirklich: Ich wünschte, Du wärst hier, denn hier ohne Dich bin ich weniger ich selbst.
Postkarten begleiten uns seit Langem, doch selten schlug die Welle ihrer Beliebtheit so hoch wie vor hundert Jahren, als es der letzte Schrei war, Freunden und den Daheimgebliebenen lithografierte Postkarten von den Orten zu schicken, die man bereist hatte. Eines meiner Lieblingsstücke solcher Ephemera ist eine Postkarte des Woolworth-Hauses in New York (1912), die mir vor einigen Jahren in einer Scheune in New Hampshire in die Hände fiel. Eine mit Federhalter gezeichnete Wellenlinie markiert die Spitze des hoch aufragenden Gebäudes. »Bin letzten Winter da oben gewesen«, werden die Lieben daheim auf der Farm informiert. Selbst die Farben früher Bildpostkarten werden zu einer vertrauten Palette blasser Töne von Comicheft-Qualität, so sehr, dass spätere Ansichtskarten aus den 1970er-Jahren mit ihrer Hochglanzoptik unangebracht und irgendwie falsch wirken. Während die Leute Millionen von Groschenpostkarten verschickten, bot sich Amateuren mit preisgünstigen tragbaren Fotoausrüstungen die Möglichkeit, »Echt-Photos« zu schießen und die Ergebnisse in Kleinauflage mit einer Liebhabergemeinde zu teilen: Instagram für das Industriezeitalter. Millionen von Postkarten, viele davon so strahlend langweilig wie alles aus Parrs Sammlung, wurden zwischen 1905 und 1912, dem Höhepunkt der Postkartenmode, hergestellt.
Eine Postkarte ist jedoch nicht nur ein Bild, und das ist einer der Gründe, warum ich Postkarten als visuelle Begleitung des folgenden Textes verwende. Sie erzählen eine Geschichte des Ichs auf der Suche nach sich selbst. Postkarten sind Elemente innerhalb großer Systeme – von großen und kleinen Wohnorten und Städten, von Postdiensten und Druckereien, vom Tourismusgeschäft und Urlaub und von Familie, Freunden und Mitarbeitern. Das Bild ist eigentlich nur der Anlass oder der Träger, um ein persönliches Signal zu geben, ein winziger Knoten innerhalb des weiten Netzes kollektiven und kommunikativen Handelns. Ebenso ist die Botschaft auf der Rückseite nachrangig gegenüber der Tatsache, dass die Postkarte überhaupt geschickt wird. Wer schon einmal einen sonntäglichen Flohmarkt durchstöbert hat, dem ist vielleicht aufgefallen, dass viele alte Postkarten überhaupt keine schriftliche Botschaft trugen, sondern nur eine Adresse. Die gesuchte Verbindung war die eigentliche Fracht.
Dies ist ein Buch über unsere Suche nach solchen Verbindungen und die Gefahren und Chancen, die in diesem Netz des Begehrens enthalten sind. Die langweilige Postkarte bietet mehrere bedeutsame Einsichten. Die erste ist, dass die langweilige Postkarte gar nicht langweilig ist. Es gibt hier eine Dynamik, in der wir zuerst das triste oder nichtssagende Bild registrieren und es irgendwie unglaublich finden, um uns dann zu einer Würdigung des Bildes zu bewegen, die das Gegenteil von langweilig ist und, wie wir ebenso sagen könnten, das Gegenteil der Nostalgie, die häufig von alten Briefen geweckt wird. Dann ist da ein sich anschließender Moment der ironischen Dopplung, der die beiden vorangehenden Ideen in herrlicher Spannung hält. Lustig? Ja. Traurig? Auch das. Faszinierend? Unbedingt. Die langweilige Postkarte gibt uns in visueller Form so etwas wie einen Hinweis darauf, wie Langeweile allgemein funktionieren könnte – oder, um genauer zu sein, wie wir Langeweile auf eine Art und Weise fassen könnten, die philosophisch von Interesse ist. Ein solches Verständnis zu kultivieren ist der Hauptzweck dieses Buches.
Es gibt hier eine zweite Einsicht darüber, was ich das Interface nenne. Weil wir in einer Welt leben, die von Technologie beherrscht wird, und auch weil sich mein Augenmerk hier auf viele technologische Details richtet, könnte man den Eindruck gewinnen, dass Schnittstellen ein ausschließliches Merkmal des Computerzeitalters seien. Mehr noch, es gibt eine Tendenz, die Idee des Interface auf eine spezifische Plattform oder ein bestimmtes Programm zu verkürzen. Wie ich im Folgenden argumentieren werde, sind selbst digitale Benutzerschnittstellen mehr als das: Sie umfassen den Nutzer, die Nutzungserfahrung, sogar die taktilen Elemente der mit bestimmten Programmen verbrachten Zeit (Wischen, Klicken, Daumentippen etc.). Noch weiter gefasst gehören zum Interface soziale, politische und ökonomische Faktoren, die im spätkapitalistischen Leben alle im Spiel sind, von den materiellen Bedingungen und der laufenden Verelendung, die das Gerät in unserer Hand oder auf unserem Schreibtisch ermöglicht hat, bis zu den psychologischen und geistigen Bedingungen, die sich auf die Zeit, die wir mit ihnen verbringen, auswirken.
In einem noch weiteren Sinne ist das Interface eine geeignete Beschreibung vieler nichttechnischer Elemente der menschlichen Existenz. Ich meine damit einfache Dinge wie Türschwellen, Hauseingänge, Fenster und Durchgangsräume, die wesentlich für die je verschiedene Ausformung des Angebotscharakters (affordance) von Arbeitsstätten und Heimen sind. Ich meine darüber hinaus komplexere Merkmale der Interaktion, der Grenzbereiche und Durchgangswege wie eben Mautstationen, Abflughallen, Parkplätze und Motelzimmer, die in Parrs Katalog der Langeweile eine besondere Rolle spielen. Dies sind Zwischenräume, in denen wir nicht ganz wir selbst sind, im Schwebezustand auf dem Weg zu etwas, das die Postkarte andeutet, aber nie darstellt. Langeweile hat damit zu tun, aufgehalten zu werden, Frustration zu empfinden darüber, festzustecken, und den heftigen Wunsch zu verspüren, nie wieder in eine solche Sackgasse zu geraten. Die langweilige Postkarte gibt die Szenerie der Langeweile als Wohlergehen selbst wieder, das – zumindest auf den ersten Blick – öde ist.
Weiter unten werde ich näher auf Heideggers vielbeachtete Erörterung der Langeweile eingehen, die ihn befiel, als er einmal auf einem Bahnhof zum Warten gezwungen war. Heute könnten wir uns genauso gut einen Flughafen vorstellen, mit scheinbar endlosen Phasen der Langeweile, die trotz aller Gegenwehr, kostenlosem WLAN und ablenkenden Einkaufsstraßen irgendwie nie ganz zu lindern sind. Solche Attraktionen verlieren jeden Reiz, weil wir an jenem Ort nur sind, um irgendwo anders hinzureisen. Der Flughafen ist sozusagen der neoliberale Bahnhof der heutigen Zeit. Per Definition eine Zone des Nirgendwo, ein Utopia im wörtlichen Sinn, ist er ein Nicht-Ort, wo nichts geschieht und nichts getan werden kann. Jede Anstrengung ist fruchtlos und die Frustration nie weit entfernt. Der einzige Zweck eines Flughafens besteht darin, ihn hinter sich zu lassen.3 Mit den verstreuten Hotels und Motels des Lebens verhält es sich genauso, jene anonymen, temporären Zimmer, wo wir nur eine Nacht verweilen. Auch diese Räume, häufig deprimierend in ihrer Anonymität und Austauschbarkeit, sind Interfaces. So strukturiert und sogar komfortabel sie sind, stecken wir in ihnen ewig fest, auf dem Weg zu etwas anderem. Postkarten, die von solchen Orten geschickt werden, die solche Orte abbilden, sind besonders trübsinnig, Zwischenräume purer Ödnis.
Manchmal wird der kurzzeitige Stillstand eines Hotels permanent, so wie im Bates Motel in Alfred Hitchcocks Psycho (1960), wo die weibliche Hauptfigur (Vivien Leigh) auf der Flucht mit der Beute eines Banküberfalls von dem nervös zuckenden, von seiner Mutter besessenen Norman Bates (Anthony Perkins) unter der Dusche erstochen wird.4 Es gibt den einlullenden Song Hotel California, der größte Hit der Eagles (1976) mit seinem rosafarbenen Champagner auf Eis, wo eine reiche Lady seltsamerweise unter der Taucherkrankheit (bends) zu leiden scheint (ein Wortspiel mit Mercedes Benz), ein Etablissement, wo man jederzeit ein- und auschecken kann, und doch – es sei verraten – nie wieder wegkommt. Treffend sprechen die Kritiker sozialer Medien vom eingebauten Hotel-California-Effekt, wenn eine Plattform es durch ihr Schnittstellendesign gezielt erschwert, sie wieder zu verlassen – ein zentraler Kritikpunkt in den folgenden Ausführungen.5
Den vielleicht lebhaftesten Ausdruck findet dieses Festsitzen an einem Ort in Thomas Manns Der Zauberberg (1924), wo sich der junge Schiffbauingenieur Hans Castorp für drei Tage in ein Nobelsanatorium begibt, um dort schließlich wie gebannt sieben Jahre zu verbringen. Dies, obwohl er gar nicht unter Tuberkulose leidet, jener Krankheit, die in der Heilanstalt mithilfe der sauberen Bergluft kuriert werden soll. Während die Tage und Monate vorbeifliegen, ist Castorp nie ausdrücklich gelangweilt, trotzdem ist sein Leben auf dem Berggipfel angesichts der Sinnlosigkeit seiner behaglichen Indolenz in einem allgemeinen, vagen Sinn irgendwie öde. Warum kann er denn nicht einfach irgendetwas tun? Die Zeit selbst, legt Mann nahe, dehnt sich aus und zieht sich zusammen, je nach unseren Stimmungen und Zuständen. Was sind schließlich schon sieben Jahre? Castorp hat entdeckt, dass ihm der Zwischenraum der vorübergehenden Behausung als dauerhafter Zustand zusagt. Andere Menschen könnten dieselben äußeren Bedingungen in den Wahnsinn treiben.
Es gibt noch ein weiteres Hotel, wo dauerhafte Klausur zur Gefahr wird, und zwar in Form einer Metapher, deren sich der ungarische Marxist Georg Lukács bediente, um die Abgehobenheit anderer linker Philosophen zu geißeln. »Ein beträchtlicher Teil der führenden deutschen Intelligenz, darunter auch Adorno, hat das ›Grand Hotel Abgrund‹ bezogen«, schrieb er, »ein – wie ich bei Gelegenheit der Kritik Schopenhauers schrieb – ›schönes, mit allem Komfort ausgestattetes Hotel am Rande des Abgrunds, des Nichts, der Sinnlosigkeit. Und der tägliche Anblick des Abgrunds, zwischen behaglich genossenen Mahlzeiten oder Kunstproduktionen, kann die Freude an diesem raffinierten Komfort nur erhöhen.‹«6 Während wir uns selbst und anderen vorzugaukeln versuchen, uns in rigoroser Kritik zu üben, verlieren wir uns, so legt Lukács nahe, in selbstzufriedener Bequemlichkeit. Ich persönlich beurteile Adorno milder, doch der Hauptkritikpunkt stimmt. Der Zweck der Philosophie besteht, nach Marx’ berühmtem Ausspruch, darin, die Welt zu verändern, statt einfach neu zu interpretieren.
Bevor wir mit dem weitermachen, was, wie ich hoffe, ein kleines Beispiel einer solchen Art von Philosophie ist, noch eine Randnotiz. Lukács’ Lieblingsautor war Thomas Mann, den er in seiner umfangreichen Literaturkritik ausgiebig verteidigt. Tatsächlich soll der ungarische Philosoph als Vorbild für Leo Naphta gedient haben, den strengen jüdisch-jesuitisch-marxistischen Intellektuellen, der Castorps geistige Welt beherrscht und endlos mit dem hedonistischen Humanisten Luigi Settembrini streitet. (Naphta erschießt sich später bei einem Duell mit dem Italiener selbst.) Die Figur des Naphta ist weit ungezwungener und zynischer als Lukács, der 1956 Imre Nagys antisowjetischer Regierung als Kabinettminister beitrat und als Folge mit Exekution und Deportation nach Rumänien bedroht wurde.
Und schließlich noch ein Wort über Stimmungen. In allem Schreiben teilt sich eine Befindlichkeit mit, wie mir scheint, und manchmal verändert sie sich im Lauf eines Buches. Eine solche Befindlichkeit, erinnert uns Heidegger, ist nicht einfach ein psychologischer Zustand oder eine Art Affekt. Befindlichkeiten sind ein grundlegender Ausdruck unseres In-der-Welt-seins, der Art, wie wir in ihr leben und unterwegs sind.7 Ich bin daher ständig in dieser oder jener Weise gestimmt. Stimmungen bedingen und spiegeln zugleich die Welt, wie wir sie vorfinden, wie wir zu uns selbst und der Welt stehen. Sie gehören unabdingbar zum menschlichen Dasein, zum Verständnis unserer Existenz und unserer Aussichten. Daher werde ich auf den folgenden Seiten zu Beginn jedes Teils meine vorherrschenden Befindlichkeiten angeben. Ob diese Aktualisierungen nun für die Leser erhellend sein mögen oder nicht, ich biete sie an in dem Geist, eine der Grundbedingungen für die Möglichkeit eines jeden Buches zu teilen – eine Bedingung, deren Bedeutung zu häufig, besonders in der wissenschaftlichen Literatur, geleugnet oder überdeckt wird. Bücher werden schließlich von Menschen geschrieben. Zumindest meistens …
STIMMUNGSBERICHT
unheimlich
ruhelos
frustriert
»Das Leben, Freunde, ist langweilig.
Das darf man nicht sagen.«
John Berryman, Dream Song 14 (1969)
»Allein, noch nie ist in der Philosophie der Fall erhört worden, wo eine platte Selbstverständlichkeit nicht gerade die abgründige Schwierigkeit des Problems hinter sich versteckt hielt.«
Martin Heidegger,
Die Grundbegriffe der Metaphysik (1929–30)
Langeweile ist eine der geläufigsten menschlichen Erfahrungen, trotzdem scheint sie sich beharrlich einem vollständigen Verständnis zu entziehen. Wir alle wissen, wie es sich anfühlt, gelangweilt zu sein, doch was genau den Zustand des Gelangweiltseins auslöst, was ihn ausmacht und was aus ihm folgt, ist weit weniger klar. Ist Langeweile eine Funktion der Muße, sodass es, wie manche meinen, vor dem Zeitalter Schopenhauers so etwas wie Langeweile gar nicht gab? Oder ist die aus dem Mittelalter bekannte Sünde der Acedia – eine Art Apathie, ein Überdruss an jeder Art des Tätigseins – vielleicht ein passender Vorläufer? Stürzt uns die Langeweile in ein Wechselbad widersprüchlichen Verlangens oder konträrer Zustände oder beides? Kurz: Wenn ich mich angesichts eines gefüllten Kühlschranks darüber beklage, dass es nichts zu essen gibt, oder wenn ich in hundert Fernsehkanälen vergeblich nach etwas Gescheitem suche, wer oder was ist dann genau daran schuld?
Es überrascht daher nicht, dass es viele gelehrte Darstellungen der Langeweile oder verwandter Zustände gibt. Dazu gehört eine erlauchte kleine Traditionslinie, die (mindestens) von Schopenhauer über Kierkegaard und Heidegger bis Adorno reicht, aber auch eine jüngere psychologische Literatur, die das Augenmerk auf das »kreative Potenzial« der Langeweile richtet.1 Der aktuelle Diskurs über Technologie und Kultur greift zudem immer wieder auch die Gefahren der Langeweile auf, mit welchen Mitteln sie sich erkennen und bekämpfen lässt und aus welchen Gründen dies geboten sein könnte.
Ganz gleich, ob die Langeweile positiv oder negativ gesehen wird, ob sie als etwas erscheint, das gefürchtet und verabscheut oder gesucht und kultiviert werden sollte, so verbindet alle vorangehenden Modelle der Langeweile doch die Annahme eines beständigen, der Erfahrung zugänglichen Subjekts. Das heißt aber auch, dass der philosophische Status der gelangweilten Subjekte weitgehend opak bleibt, eben weil vorausgesetzt wird, dass er bereits verstanden wird. Besonders bei Heidegger und in der psychoanalytischen Literatur wird indes spürbar, dass dies nicht ganz ausreichen könnte: Langeweile erscheint nicht so sehr als Merkmal einer gegebenen Landschaft, sondern eher der Person, die ihr gegenübertritt oder sich schlicht in ihr befindet.
Was verrät Langeweile über die gebrochene, geisterhafte Subjektivität und ihre Beziehung zum Glücklichsein? Vor einem Jahrhundert suchten moderne Dichter und Künstler nach Wegen, das fragmentierte Subjekt, das zersplitterte Ich des Menschen im 20. Jahrhundert auszudrücken, dessen kohärente Individualität in gesellschaftlichen und politischen Umbrüchen zerrieben wurde, sodass von ihm bestenfalls Schemen blieben, zu wenig, um sich gegen den eigenen Ruin zu stemmen. Heute, wo das Ich aus wahllos verstreuten Datenfragmenten besteht – Twitterfeeds, Posts auf Instagram, Einkaufspräferenzen und Texttrends, eingefangen von Algorithmen, die uns besser zu kennen scheinen als wir uns selbst –, stellt sich die Herausforderung mit neuer Dringlichkeit. Welche Hoffnung gibt es unter solchen Bedingungen auf Integration und Beständigkeit? Und, um auf unsere Frage zurückzukommen, was hat Langeweile damit zu tun? Wir können uns auf die Suche nach einer möglichen Antwort machen, indem wir die verschiedenen Darstellungen des Zustands der Langeweile genauer kategorisieren. Oder sollte ich sagen der »Zustände«, weil eine offenkundige erste Einsicht hier darin besteht, dass die im Spiel befindliche Erfahrung ganz unterschiedlich ausfallen kann, abhängig vom theoretischen Rahmen, der verwendet wird, um sie zu kritisieren oder (weniger häufig) zu feiern. Wie stets ist dabei in Erinnerung zu behalten, dass der konzeptionelle und methodische Rahmen einer Untersuchung die Art der Ergebnisse, für deren Ermittlung er gestaltet wurde, bestimmt.
Wir alle, zumindest in den wohlhabenderen Teilen des Planeten mit ihrer Fülle an Stimuli, sind uns wohl des Problems bewusst. Ich sitze vor einem Bildschirm. Eine Netflix-Sendung läuft, die ich alle paar Minuten unterbreche, um in Reaktion auf einen kleinen Signalton, der mir eine eingehende Nachricht meldet, meine E-Mails zu checken. Zur geeigneten Tageszeit ist ein stummgeschaltetes Baseballspiel auf einem Fernseher in der Nähe zu sehen. Auf dem Schreibtisch liegt mein Handy, das unablässig Sprachnachrichten von Bekannten über triviale Alltäglichkeiten liefert. Einige davon beantworte ich. In einem anderen Tab ist ein Webbrowser geöffnet, falls ich irgendwelche Fakten überprüfen möchte, ohne mein nachlassendes Gedächtnis zu bemühen, bei Amazon ein Buch bestellen will, das ich fast vergessen hätte, oder plötzlich Lust bekomme, mich auf einem Surfpfad von dürftiger und sicherlich flüchtiger Relevanz zu dem durchzuklicken, was ich noch immer mein Leben nenne. Ich kann mich auf nichts festlegen, ganz zu schweigen abwenden von dem Licht, das von den Bildschirmen in eine andere Realität geworfen wird. Ich bin aufgewühlt, ruhelos, überstimuliert. Die Aufmerksamkeit, die ich schenke, verzehrt mich. Ich bin ein Zombie-Ich, ein Geist, der durch ein riesiges Gebilde aus Technologie und Kapital schwebt, angeblich geschaffen für meinen Komfort und meine Unterhaltung. Und doch kann ich mich hier nicht finden.
Vielleicht sollte ich anmerken, auch als faire Warnung vor tendenziösen Positionen in den nachfolgenden Ausführungen, dass ich trotz gelegentlicher Anfälle von üppigem Medienkonsum eine Art moderner Maschinenstürmer bin. Ich bin nicht auf Facebook, Twitter oder Instagram. Ich habe ein Twitter-Konto, aber noch keinen einzigen Tweet verschickt. Ich texte nicht. Mit Herman Melvilles Figur des Bartleby sage ich: »Ich möchte lieber nicht.« Ich habe ein denkbar primitives Klapphandy, das keiner außer einem Kind der 60er-Jahre als »smart« bezeichnen würde, obwohl ich es selbst schick finde – smart im Sinne der Modezeitschriften. Selbst meine Eltern verbringen mehr Zeit online als ich. Mir ist klar, dass die meisten Menschen heute nicht so leben oder leben möchten. Doch darum kreist meine Argumentation. Es liegt natürlich keine besondere Tugend in meinen kleinen Verweigerungen. Es sind lediglich Marotten, Äußerungen akademischer Exzentrizität in einer im 21. Jahrhundert sanktionierten Form. Die Entscheidung für den Lebensstil eines modernen Maschinenstürmers offenbart sich stets als umgepoltes Luxusgut in einer allgemeinen Luxusgut-Ökonomie von ausufernder Fülle.
Wie stark Langeweile empfunden wird, besonders jene Spielform, die ich als »neoliberal« bezeichne, hängt von den Mechanismen der Aufmerksamkeitsökonomie ab, an der wir meist willig teilnehmen. Solche Mechanismen ernten unsere Aufmerksamkeit, indem sie uns allenthalben Zerstreuung, Verbindungen und Kommunikation über soziale Medien feilbieten. Webseiten werden nach Menge der Aufrufe oder Verweildauer der Nutzer bewertet, während jene, deren Aufmerksamkeit geerntet wird, sich selbst mit Likes, Retweets und hohen Freundes- und Follower-Zahlen dazu beglückwünschen. In all diesen Akten verrichten wir die Arbeit der Aufmerksamkeitsökonomie. Doch an der Wurzel dieser unheimlichen Ökonomie, die uns dazu bringt, uns selbst zu verzehren und unser Begehren und unsere Aufmerksamkeit selbst in Waren zu verwandeln, die wir umsonst fortgeben, liegt nicht eine spezifische Plattform oder das Medium. Vielmehr ist es die Schnittstelle, das Interface: die komplexe, häufig unsichtbare Serie von Beziehungen, die unsere Individualität und Sehnsucht mit Technologie und strukturellen Interessen verknüpft. Nicht alle Schnittstellen sind mit Bildschirmen verbunden, aber alle mit Subjekten und ihrem Begehren. Unsere »Selbst-Kommodifizierung«, mit der wir uns in der Aufmerksamkeitsökonomie selbst zur Ware machen, verwandelt uns in nichtsahnende Arbeiter für das Kapital. Sie macht uns auch reihenweise zu Opfern der Langeweile, allzu oft süchtig nach Mitteln, die fälschlicherweise Linderung versprechen, aber nur Wiederholung liefern. Da sitzen wir, Schatten-Ichs, von innen ausgehöhlt durch Entfremdung von unserer eigenen Aufmerksamkeit.
Diese Kritik des Interface und der neoliberalen Langeweile ist keine übliche Kulturkritik*. Ich behaupte zwar, dass einige der Merkmale des Interface für uns unsichtbar sind und daher eine genaue kritische Prüfung erfordern, doch eines der auffälligsten Merkmale der Aufmerksamkeitsökonomie besteht darin, dass sie zwar ideologisch ist, aber nicht im Verborgenen wirkt. Soziale Medien und Internetgiganten machen kein Geheimnis daraus, dass sie unsere Daten sammeln, indem sie mit unserer Lust zu schauen, zu sprechen und zu tippen spielen. Überraschungen gibt es nur dort, wo Daten heimlich verkauft werden – wie die Millionen von Nutzerdaten, die Facebook an den britischen Datenauswerter Cambridge Analytica weitergab. Doch selbst hier trug Facebook den ökonomischen Sieg davon, da die Senatsanhörungen zur Aufklärung der Logik folgten, dass der Konzern zu groß zum Scheitern sei, gestützt durch ein gerüttelt Maß an Unverständnis des Internets vonseiten der älteren Kongressmitglieder.2 Für Leute mit altbackenem Wirtschaftswissen ist es schließlich überraschend, wie sich ein milliardenschweres Unternehmen wie Facebook ohne Mitgliederbeiträge finanziert. Das liegt daran, dass Mitgliederbeiträge nicht in Dollar oder Euro bezahlt werden, sondern mit der Zeit der Nutzer, ihrer seelischen Energie und ihrem Selbst. Wir glauben, dass wir die Werkzeuge des Interface benutzen; tatsächlich benutzen die Werkzeuge uns. Langeweile ist das Symptom, nicht die Krankheit. Die Metapher hinkt, ist aber trotzdem nützlich: Psychische Rastlosigkeit ist ein Virus im Ruhezustand; Langeweile ist die symptomatisch gewordene Krankheit; die Kontakte mit dem Interface markieren das Infektionsstadium. Um von einer medizinischen zu einer mythischen Metapher überzugehen: Es ist die Langeweile, die wir wie einen Dämon exorzieren wollen. Sie ist das Leiden, das wir lindern müssen, und doch bringen unsere üblichen Methoden keine Abhilfe, außer die Verderbnis einer Seele, die im Krieg mit sich selbst liegt, weiter zu nähren.
Neue Wirtschaftsformen schaffen neue Typen von Arbeitskräften, neue Waren und neue Ungerechtigkeit. Die sozialen Kosten der Aufmerksamkeitsökonomie sind belegt: eine Zunahme von ungelernten Berufen wie Paketpacker bei Amazon, die bald systematisch durch Automatisierung, Roboter und Drohnen wieder abgewickelt werden; die Dominanz kurzfristiger Dienstleistungsjobs ohne soziale Absicherung und Infrastruktur; die signifikanten Kosten eines inaktiven, von Bildschirmen bestimmten Lebens (Fettleibigkeit, Analphabetentum etc.). Aber der eigentliche Schaden ist vielleicht weniger offensichtlich. Ich werde in einem späteren Abschnitt noch auf die sich wandelnde Beziehung zwischen Arbeit und Glück zurückkommen; hier mag die Anmerkung genügen, dass Langeweile nie das alleinige Vorrecht fantasieloser Teenager oder einfallsloser Philosophen ist. Wenn wir selbst das Produkt werden, das wir verbrauchen, hat sich die Vorstellung von Arbeit entschieden verschoben. In der Vergangenheit wurde die kolonisierende Kraft der Arbeit erkannt, die sich ausdehnte, um die Zeit selbst zu füllen und zu beherrschen, sodass es keine klare Grenze mehr zwischen Arbeitsstunden und freier Zeit geben konnte. Das Interface, das sich die Langeweile zunutze macht, verwandelt uns alle in unbezahlte Arbeiter für die Werbeindustrie, die jene scheinbar kostenlosen Plattformen tragen. Wir sollten uns daran erinnern, dass es so etwas wie eine kostenlose Transaktion nicht gibt. Diese Art der Transaktion zahlt man mit der eigenen Individualität, der eigenen Freiheit und dem eigenen Glück.
Ein Kollege erzählte mir einmal, es habe in der Berliner U-Bahn ein Plakat gegeben, das einen jungen Mann mit stumpfem Gesichtsausdruck zeigte, das Inbild eines entleerten Geistes. Darunter habe der – möglicherweise ironisch gemeinte – Satz gestanden: »Langeweile ist der Ursprung des Philosophierens.«
Ich konnte die Geschichte nicht verifizieren, aber Langeweile* hat im Deutschen natürlich eine lange Tradition als ein Zustand des Ennuis mit besonderer Bedeutung: nicht nur verstanden als eine entnervende Erfahrung oder anödende Begegnung, sondern als eine Befindlichkeit, die tief in einen legitimerweise als existenziell zu bezeichnenden Zustand hinabreicht. Es fragt sich allerdings, ob es angemessen ist, diesen Zustand mit dem Ursprung der philosophischen Reflexion in Zusammenhang zu bringen oder mit dem, was in der Phänomenologie als »Einklammerung der natürlichen Haltung« bezeichnet wird, um die Struktur des Bewusstseins selbst aufzudecken. Eine abweichende Darstellung des »Ursprungs« würde tiefe Langeweile hier als eine notwendige Bedingung der Reflexion postulieren, nicht über die Bürde und Gabe des Bewusstseins, sondern auch über die damit verbundene Frage nach dem Sinn des Lebens. Sind wir, wenn uns tiefe Langeweile befällt, besonders empfänglich für die großen »philosophischen« Fragen über Bewusstsein, Leben und Tod?
Ein solches Postulat würde verlangen, nicht nur den Status der Langeweile als philosophieanregende Erfahrung zu verteidigen, sondern sie mit anderen Aspiranten auf den Platz als »Ursprung der Philosophie« zu vergleichen. Traditionell gehören dazu das Staunen (der griechische Begriff thaumazein, wie er sich in den Platonischen Dialogen findet, besonders im Theaitetos und Menon3) und die unmittelbarere Konfrontation mit der Aussicht auf den Tod (wie in Ciceros sokratisch gefärbtem Ausspruch, »Philosophieren heißt nichts anderes, als sich auf den Tod vorzubereiten«). Kann die Langeweile mit diesen kanonischen und scheinbar respektableren Stammbäumen der philosophischen Haltung konkurrieren? Wenn ja, um welche Art der Langeweile geht es hier? Unterscheidet sie sich von dem, was wir »übliche« oder nicht-philosophische Langeweile nennen könnten? Wenn ja, inwiefern? Des Weiteren: Kann die Philosophie induzierende Art der Langeweile aktiv herbeigeführt werden oder überkommt sie uns stets unverhofft? Gibt es spezifische Reflexionsmethoden, mit denen sich die Langeweile in aktivere und explizitere Formen des philosophischen Denkens heben lässt?
Doch was, wenn die Langeweile, die philosophische Reflexion anstößt, tatsächlich in vertrautere Formen philosophischer Antriebe eingehüllt oder unentwirrbar mit ihnen verbunden wäre? Platon lässt Sokrates die altbekannte Geschichte von Thales von Milet erzählen, dem hochtalentierten Astronomen und Naturphilosophen, der, als er hinauf zu den Wundern des Sternenhimmels schaute, in einen Brunnen stürzte. Blickte er zu den Gestirnen hinauf, weil ihn das gewöhnliche Leben um ihn herum anödete? Tatsächlich war Thales von alltäglichen Phänomenen fasziniert, doch was ihn schier überwältigte, waren die fernen Mysterien der Sterne und das vertraute Gefühl unserer Bedeutungslosigkeit in den Weiten des Universums – ein früher Vorschein von Kants Idee des Erhabenen. Dieses unvermittelte Gefühl der Nichtigkeit unserer Existenz ist nicht Langeweile als solche, fühlt sich jedoch dennoch verwandt an, so wie Aufschub und Abhängigkeit, wie wir noch sehen werden, benachbarte psychologische Zustände sind. Der Sinn entweicht der Szenerie, ausradiert von der Gewaltigkeit des Realen. Wir schrumpfen zu einem winzigen Punkt zusammen, und das übliche Denken – ganz zu schweigen von der gewohnten Sorgfalt, wohin wir unseren Fuß setzen – wird ausgelöscht. Das Staunen wird üblicherweise als erhebend betrachtet, während die Langeweile als entnervend gilt, aber vielleicht gibt es hier eine größere Affinität, als es auf den ersten Blick erscheint.
Gestützt wird diese Vermutung durch Platons Verständnis der Philosophie als Vorbereitung auf den Tod, als »Lernen zu sterben«, die Aufforderung, die harte Erkenntnis unserer Sterblichkeit nicht als schreckliche Last zu schultern, sondern unverzagt als Aufgabe anzugehen. Die optimistische Version dieser scheinbaren Neigung zum Todeskult im sokratischen Denken ist die stoische Akzeptanz dessen, was nicht anders sein kann, die Annahme der frostigen, aber rationalen Schlussfolgerung, dass der Tod, wie die Zeit vor der Geburt, schlicht ein Zustand des Nicht-Seins ist. Wittgenstein drückt es so aus: »Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht. Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt.«4 Das hier relevante »Lernen« ist nicht im gewöhnlichen Sinn des »Wie« gemeint, sondern der Tod soll aus der richtigen Perspektive betrachtet werden. Wittgensteins Betonung des Zeitlichen fängt, vielleicht ungewollt, die Affinität zur Langeweile ein. Selbst wenn wir uns die Unsterblichkeit als »unendliche zeitliche Dauer« vorstellen könnten – vermeintlich eine gute Sache –, lehrt uns die Langeweile, dass eine Ahnung davon im täglichen Leben nur allzu verbreitet ist. Was sonst ist Langeweile schließlich als das Gefühl, dass sich die Zeit wie ein endloses Feld ausdehnt: nicht die göttliche Transzendenz der ewigen Gegenwart, William Blakes »Ewigkeit in einer Stunde«, sondern die elende Abfolge von Augenblicken, die sich wie Falltüren öffnen, und die endlos weiterzugehen scheint, ohne Atempause oder Rettung. Das wird euch lehren, wie man stirbt, meine Freunde, und zwar in einer Weise, dass das Nicht-Ereignis des Todes, der Tod als Vergessen, langsam höchst willkommen erscheinen könnte. Das ist die Verzweiflung der Langeweile, die einen Menschen zweifellos in eine nachdenkliche Stimmung über die drohende Leere des Lebens versetzen muss – die Zerbrechlichkeit unserer üblichen Gründe, weiterzumachen.
Es ist jedoch allzu einfach, die Langeweile als philosophisch interessant zu kennzeichnen und dann mit unseren sterblichen Geschäften fortzufahren wie zuvor. Hier sind weitere Nachforschungen nötig, die ich im Folgenden unternehmen will. Wir müssen die Idee ernst nehmen, dass die Langeweile ein Quell der Philosophie sein könnte, den zugrunde liegenden Behauptungen zugunsten philosophischer Langeweile aber auch mit gebotener Skepsis begegnen. Wir müssen, mit anderen Worten, versuchen, jeden möglichen Übergang von einem Zustand der alltäglichen Langeweile, die beinahe immer als unangenehm oder sogar höllisch erfahren wird, zu einem (mutmaßlich wertvollen) Zustand aktiver philosophischer Reflexion phänomenologisch zu rekonstruieren. Die Folgen eines solchen Perspektivwechsels sind offenkundig: Wenn es sich tatsächlich lohnt, philosophisches Denken zu kultivieren, dann hat die Langeweile vielleicht einen besonderen und bislang nicht hinreichend gewürdigten Platz im Spektrum des alltäglichen menschlichen Bewusstseins.
Aber lassen wir uns bei unserer Untersuchung von Vorsicht leiten. Vielleicht ist der geistige Zustand, den wir »Reflexion« nennen, bei genauerer Betrachtung gar nicht wertvoll. Diese letzte gedankliche Wendung hinsichtlich des Denkens könnte dann die Möglichkeit eröffnen, dass die Langweile nicht als willkommene, wenn auch ungewöhnliche Einladung zur Erkenntnis dient, sondern als eine Art Frühwarnsystem vor den Gefahren des sich seiner selbst zu sehr gewahr werdenden Bewusstseins. Während die Philosophie versucht, den besonderen Status der Langeweile in ihren Beziehungen zum Begehren zu klären, ist die Zeit (und der Zustand, der Diskurs der Philosophie, das spitze Ende des Stocks, der das Sortieren übernimmt) anfällig für alle möglichen Bedrohungen, die sie auf Langeweile reduzieren. Der Beginn der Philosophie ist sonderbarerweise auch ihr Ende. Das ist, was ich den Teufelskreis der philosophischen Langeweile nennen würde.
Es gibt kein Entkommen aus diesem Zirkel, aber ich werde nahelegen, dass es mehr oder weniger kreative und glückliche Wege gibt, wie wir unseren ewigen Verstrickungen in die sich allzeit erneuernden Windungen des Bewusstseins begegnen können.
Der Psychoanalytiker Adam Phillips beginnt einen seiner besten Essays mit den Worten: »Jeder Erwachsene erinnert sich der Öde seiner Kindheit, und das Leben jedes Kindes ist durchsetzt mit Anfällen von Langeweile, jenes Zustands gespannter Erwartung, in dem etwas in Gang gesetzt wird und nichts beginnt, einer unklaren Unruhe, in der der absurdeste und paradoxeste Wunsch sich regt, der Wunsch nach einem Begehren.«5 Im »Wunsch nach einem Begehren« klingt Tolstois ganz ähnliche Formulierung »das Verlangen nach einem Verlangen« an.6 Dieser verquere Zustand ist nicht auf Kinder beschränkt, und obwohl er als absurd und paradox betrachtet werden könnte, ist er nichtsdestoweniger verbreitet und dringlich. Der Stillstand des Verlangens, das gegen sich selbst arbeitet, ist der Anfang, aber nicht das Ende der Langeweile. Und so ist die Langeweile, verstanden im Sinne von Verlangen, der erste Schlüssel zur besonderen Fähigkeit der Langeweile, philosophische Reflexion anzustoßen, aber es gibt noch weitere Hinweise, die es zu entschlüsseln gilt, und eine noch komplexere Lösung hinsichtlich des Geheimnisses des Bewusstseins.