Einbruch in die Freiheit

Krishnamurti


ISBN: 978-3-96861-239-3
1. Auflage 2021
© Aquamarin Verlag GmbH



Titel der Originalausgabe: Freedom from the Known
First published by Victor Gollancz, London

© Krishnamurti Foundation Trust, Ltd.
Brockwood Park, Bramdean, Hampshire, SO24 0lQ, England
E-mail: info@kfoundation.org
Website: www.kfoundation.org
Dt. Übersetzung von Erich Schmidt
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Ullstein Verlages
© 2010 Aquamarin Verlag • Voglherd 1 • D-85567 Grafing

Umschlaggestaltung unter Verwendung von
Fotolia 177150 ©Thomas Ruppel: Annette Wagner

Aquamarin Verlag GmbH, Voglherd 1, 85567 Grafing, www.aquamarin-verlag.de

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

Inhalt

Dieses Buch ist auf Anregung und mit Genehmigung Krishnamurtis geschrieben worden. Der Text wurde aus einer Anzahl seiner letzten Reden (in Englisch), die er vor Zuhörern in verschiedenen Teilen der Welt gehalten hat, ausgewählt; es handelt sich um Bandaufnahmen, deren Texte zuvor nicht veröffentlicht wurden. Für die Auswahl und Reihenfolge trage ich die Verantwortung.

 

Mary Lutyens

 

Vorwort

 

Krishnamurti wurde 1895 als achter Sohn einer Brahmanenfamilie in Indien geboren. Sein Name ist von Sri Krishna abgeleitet, einer göttlichen Inkarnation im Hinduismus Hinduglaubens. Krishna war selbst der Achtgeborene seiner Eltern.

Krishnamurti kam schon sehr jung nach Adyar, dem Hauptsitz der Theosophischen Gesellschaft. Er wurde dort im theosophischen Sinne erzogen. Seine persönliche Ausstrahlung und sein verhaltenes Wesen beeindruckten seine Lehrmeister so stark, dass sie bereits 1911 für ihn den »Order of the Star of the East« gründeten und den Sechzehnjährigen zum Haupt dieses Ordens machten.

Die Jahre vergingen für ihn lernend, reisend, lehrend bis zu jenen Tagen der Stille, da eine innere Verwandlung ihn von jeder Bindung löste und er folgerichtig den Orden am 3. August 1929 auflöste. Es war für die Theosophen ein Erdrutsch, eine Katastrophe. Was sie in Jahren in begeisterter Hoffnung aufgebaut hatten, brach mit einem Schlag zusammen. Welche gewaltigen Kräfte müssen Krishnamurti zu diesem Schritt bewogen haben und welche Erkenntnis und tiefe Einsicht muss dieser Entscheidung vorausgegangen sein.

Er verkündete damals der Welt, dass die Wahrheit ein pfadloses Land sei, grenzenlos, dem man sich nicht durch irgendeine festgelegte Religion nähern könne. »Mein einziges Interesse«, so sagte er, »besteht darin, den Menschen absolut, bedingungslos frei zu machen«. Damit war das Grundthema angeschlagen. Seit jenem Tage bereiste Krishnamurti unermüdlich den Erdball und sprach zu den Menschen aller Nationen. Es war sein leidenschaftlicher Wunsch, den Menschen zu dieser inneren Freiheit zu verhelfen. Er fand für dieses ewige Thema immer neue Formulierungen, mit denen er die grenzenlose Fülle des Lebens von vielen Seiten beleuchtete.

Der Mensch und die Welt

– Nichts Ursprüngliches ist am Menschen, der blind der Tradition folgt

– Wir sind der konventionellen Ehrbarkeit verfallen

– Jeder ist für den Krieg verantwortlich

– Nur der Einzelne kann sich aus den Fesseln der Umwelt befreien

– Nur der Furchtlose ist großer Liebe fähig

– Jeder Tag muss sein wie der einzige Tag

 

Der Mensch hat zu allen Zeiten etwas gesucht, das über ihn und sein materielles Wohl hinausgeht – etwas, das wir Wahrheit oder Gott oder Realität nennen, einen zeitlosen Zustand – etwas, das nicht durch Umstände, durch Gedanken oder durch menschliche Verderbtheit beeinträchtigt werden kann.

Der Mensch hat ständig die Frage gestellt: Worum geht es eigentlich? Hat das Leben überhaupt einen Sinn? Er hat die heillose Unordnung des Lebens vor Augen, die Rohheiten, die Revolten, die Kriege, die religiösen, ideologischen und nationalen Spaltungen, die nie aufhören, und mit einem Gefühl tiefer Enttäuschung fragt er, was er tun soll, was denn das ist, was wir Leben nennen, und ob es etwas gibt, das darüber hinausgeht.

Und da er dieses Unbeschreibliche, das tausend Namen trägt und das er immer gesucht hat, nicht finden konnte, hat er den Glauben entwickelt – den Glauben an einen Erlöser oder an ein Ideal –, und jeder Glaube erzeugt unabänderlich Gewaltsamkeit.

In diesem ständigen Kampf, den wir Leben nennen, versuchen wir einen Kodex des Verhaltens aufzustellen, der der Gesellschaft entspricht, in der wir aufgewachsen sind, ganz gleich, ob es sich dabei um eine kommunistische oder sogenannte freie Gesellschaft handelt. Wir akzeptieren eine genormte Lebenshaltung als Be­standteil einer Tradition, der wir als Hindus, Moslems oder Chris­ten, oder was wir sonst zufällig sein mögen, angehören. Wir schauen nach jemandem aus, der uns sagt, was rechtes oder falsches Betragen, was rechtes oder falsches Denken ist, und indem wir uns nach dieser Norm ausrichten, wird unser Verhalten, unser Denken mechanisch, werden unsere Reaktionen automatisch. Wir können das sehr leicht an uns beobachten.

Seit Jahrhunderten sind wir durch unsere Lehrer, durch unsere Autoritäten, durch unsere Bücher und unsere Heiligen gegängelt worden. Wir erwarten, dass sie uns alles offenbaren, was hinter den Hügeln, den Bergen und der Erde liegt. Und wir sind mit ihrer Darstellung zufrieden. Das bedeutet, dass wir von Worten leben und unser Leben hohl und leer ist. Wir sind Menschen aus zweiter Hand. Wir haben von dem gezehrt, was man uns gesagt hat, und ließen uns entweder durch unsere Neigungen und Absichten leiten oder durch das, was uns durch die Umstände und die Umwelt aufgezwungen wurde. Wir sind das Resultat aller möglichen Einflüsse. In uns ist nichts Neues, nichts, das wir selbst entdeckt haben, nichts Ursprüngliches, Urtümliches, Leuchtendes.

Während der ganzen theologischen Vergangenheit ist uns von religiösen Lehrern versichert worden, dass wir, wenn wir bestimmte Riten verrichten, bestimmte Gebete oder Mantras wiederholen, uns gewissen Normen anpassen, unsere Wünsche unterdrücken, unsere Gedanken kontrollieren, unsere Leidenschaften sublimieren, unsere Triebe eindämmen und uns sexueller Ausschweifungen enthalten, dass wir – wenn Geist und Körper ausreichend gefoltert sind – dann etwas jenseits dieses bedeutungslosen Lebens finden werden. Und das haben Millionen sogenannter religiöser Menschen Jahrhunderte hindurch getan, entweder in der Abgeschiedenheit, indem sie in die Wüste oder in die Berge oder in eine Höhle gingen oder mit der Bettelschale von Dorf zu Dorf wanderten oder sich in einem Kloster als Gruppe zusammenfanden und ihren Geist zwangen, sich einem festgelegten Vorbild anzupassen. Aber ein gequälter Mensch mit einem zerbrochenen Geist, ein Mensch, der diesem ganzen Tumult zu entrinnen trachtet, der der äußeren Welt entsagt hat und durch Disziplin und Anpassung abgestumpft wurde, solch ein Mensch, wie lange er auch suchen mag, wird nur fin­den, was seinem irregeleiteten Geist entspricht.

 

Um nun zu entdecken, ob es tatsächlich etwas jenseits dieses un­ruhigen, schuldvollen, furchterfüllten, ehrgeizigen Daseins gibt oder nicht, scheint es mir, dass man einen ganz anderen Weg gehen muss. Nach der traditionellen Einstellung geht man von der Peripherie nach innen, um im Laufe der Zeit durch Übung und Verzicht allmählich zu jenem inneren Erblühen, jener inneren Schönheit und Liebe zu kommen – in Wirklichkeit aber tut man alles, um engherzig, unbedeutend und minderwertig zu werden. Man löst Schicht um Schicht ab, man lässt sich Zeit, man erwartet alles vom Morgen, vom nächsten Leben – und wenn man schließlich zum Zentrum gelangt, entdeckt man, dass dort nichts ist, weil unser Geist unfähig, stumpf und unempfindlich gemacht worden ist.

Wenn man diesen Prozess wahrgenommen hat, fragt man sich, ob es nicht einen ganz anderen Weg gibt, ob es nicht möglich ist, vom Zentrum her durchzubrechen.

Die Welt akzeptiert den traditionellen Weg und folgt ihm. Die eigentliche Ursache der Unordnung in uns ist das Suchen nach einer Realität, die uns von einem anderen versprochen wurde. Wir folgen mechanisch dem, der uns ein wohltuendes spirituelles Leben zusichert. Es ist höchst seltsam, dass, obgleich wir uns der politischen Tyrannei und Diktatur widersetzen, wir innerlich die Autorität, die Tyrannei eines anderen hinnehmen, die unseren Geist und unser Leben verwirrt. Wenn wir nun jede sogenannte spirituelle Autorität mitsamt allen Zeremonien, Riten und Dogmen verwerfen, nicht intellektuell, sondern tatsächlich, bedeutet das, dass wir allein stehen und uns damit bereits in Konflikt mit der Gesellschaft befinden. Für die Gesellschaft hören wir auf, geachtete Menschen zu sein. Doch ein von der Gesellschaft geschätzter Mensch kann unmöglich dieser unendlichen, unermesslichen Realität näherkommen.

Sie haben nun damit begonnen, etwas absolut Falsches zu verneinen, den traditionellen Weg. Doch wenn diese Ablehnung eine Reaktion ist, werden Sie eine andere Schablone geschaffen haben, in der Sie wie in einer Falle festgehalten werden. Wenn Ihnen Ihr Verstand sagt, dass diese Ablehnung ein guter Gedanke ist, Sie aber nichts daraus machen, kommen Sie nicht weiter. Wenn Sie das Falsche jedoch verneinen, weil Sie den Stumpfsinn, die Unreife der gesellschaftlichen Konvention verstehen, wenn Sie sie aus tiefer Einsicht verwerfen, weil Sie frei sind und sich nicht fürchten, werden Sie eine große Unruhe in sich und um sich hervorrufen; aber Sie werden aus der Falle konventioneller Ehrbarkeit herauskommen. Dann werden Sie entdecken, dass Sie nicht länger suchen.

Und das ist das Erste, das zu lernen ist: nicht zu suchen! Solange Sie suchen, machen Sie nur einen Schaufensterbummel.

 

Die Frage, ob es einen Gott gibt oder die Wahrheit oder die Realität oder wie Sie es sonst benennen mögen, kann niemals durch Bücher, Priester, Philosophen oder Erlöser beantwortet werden. Niemand und nichts kann diese Frage beantworten als Sie selbst; und darum müssen Sie sich kennen. Wenn man sich selbst nicht kennt, ist man unreif; sich selbst zu verstehen, ist der Anfang der Weisheit.

Und was ist dieses Selbst, das individuelle Wesen? Ich glaube, es besteht ein Unterschied zwischen dem Menschen an sich und dem Individuum. Das Individuum ist örtlich gebunden, lebt in einem bestimmten Land, gehört einer bestimmten Kultur, Gesellschaft und Religion an. Der Mensch als solcher ist jedoch keine lokal gebundene Einheit. Er ist überall. Die Handlung des Individuums, das nur in einem begrenzten Winkel des weiten Lebensgebietes wirkt, ist ohne jede Beziehung zum Ganzen. Darum müssen wir daran denken, dass wir von dem Ganzen und nicht von einem Teil sprechen, weil sich im Größeren das Geringere findet, aber im Ge­ringeren nicht das Größere. Das Individuum ist das unbedeu­tende, eingeengte, elende, enttäuschte Wesen, zufrieden mit seinen kleinen Göttern und seiner engen Tradition, während ein wahrer Mensch am Wohlergehen, dem Elend und der Verwirrung der ganzen Menschheit Anteil hat.

 

Wir Menschen sind geblieben, wie wir seit Millionen von Jahren waren – im höchsten Maße gierig, neidisch, aggressiv, eifersüchtig, ängstlich und verzweifelt, mit gelegentlichen Ausbrüchen der Freude und der Zuneigung. Wir sind eine seltsame Mischung von Hass, Furcht und Freundlichkeit. Wir sind gewalttätig und auch friedfertig. Der äußere Fortschritt hat uns vom Ochsenkarren bis zum Düsenflugzeug geführt; aber innerlich hat sich das Individuum überhaupt nicht geändert, und dieses Individuum hat die Struktur der Gesellschaft in der ganzen Welt geschaffen. Das äußere soziale Gefüge ist das Ergebnis der inneren psychologischen Struktur unserer menschlichen Beziehungen, denn das Individuum ist das Resultat der gesamten Erfahrungen, des gesamten Wissens und Verhaltens des Menschen. Jeder von uns ist das Lagerhaus der ganzen Vergangenheit. Das Individuum ist das Wesen, das die ganze Menschheit in sich trägt. Die gesamte Geschichte des Menschen ist in uns niedergeschrieben.

Beobachten Sie, was sich wirklich in Ihnen und in der Außenwelt abspielt – in dieser Wettbewerbskultur, in der Sie leben, mit ihrem Verlangen nach Macht, Position, Einfluss, Namen, Erfolg und allem Drum und Dran. Betrachten Sie die Leistungen, auf die Sie so stolz sind, den ganzen Bereich, den Sie Leben nennen, in dem alle Beziehungen voller Konflikte sind, die Hass, Widerstreit, Brutalität und endlose Kriege erzeugen. Dieser Bereich, dieses Leben ist alles, was wir kennen, und da wir unfähig sind, den gewaltigen Daseinskampf zu begreifen, fürchten wir uns natürlich davor und spüren die verborgensten Möglichkeiten auf, um zu entrinnen. Wir fürchten uns auch vor dem Unbekannten, fürchten uns vor dem Tod, fürchten uns vor dem, was hinter dem Morgen liegt. Wir fürch­ten uns vor dem Bekannten und fürchten uns vor dem Unbekann­ten. Das ist unser tägliches Leben, in dem es keine Hoffnung gibt. Darum ist jede Philosophie, sind theologische Begriffe jeder Art nur eine Flucht vor der eigentlichen Wirklichkeit, vor dem, was ist.

 

Alle äußeren Veränderungen, die durch Kriege, Revolutionen, Reformationen, Gesetze und Ideologien veranlasst wurden, haben es nicht vermocht, die Natur des Menschen und damit die Gesellschaft grundlegend zu verwandeln. Als menschliche Wesen, die in dieser monströs hässlichen Welt leben, müssen wir uns fragen, ob diese Gesellschaft, die auf Wettbewerb, Brutalität und Furcht gegründet ist, zu einem Ende kommen kann – nicht in der begrifflichen Vorstellung, nicht als eine Hoffnung, sondern in Wirklichkeit, so dass der Geist frisch, neu und unschuldig ist und eine gänzlich andere Welt hervorbringen kann.

Ich glaube, das kann nur geschehen, wenn jeder von uns die we­­sent­lichste Tatsache anerkennt, dass wir als Individuen, als menschliche Wesen, in welchem Teil der Welt wir auch zufällig leben oder welcher Kultur wir auch zufällig angehören mögen, voll und ganz für den Gesamtzustand der Welt verantwortlich sind.

Jeder von uns ist für jeden Krieg verantwortlich, denn unser Leben ist voller Aggressivität. Wir haben unseren Nationalismus, wir sind voller Selbstsucht, haben unsere Götter, unsere Vorurteile, unsere Ideale – und das alles trennt uns voneinander. Und nur wenn wir klar erkennen – nicht intellektuell, sondern so wirklich, wie wir unseren Hunger oder unsere Schmerzen empfinden – dass Sie und ich für das bestehende Chaos verantwortlich sind, für das Elend in der ganzen Welt – denn wir haben durch unser tägliches Leben dazu beigetragen und sind Teil dieser monströsen Gesellschaft mit ihren Kriegen, Einteilungen, ihrer Hässlichkeit, Brutalität und Gier –, nur dann werden wir wirklich handeln.

Aber was kann ein Mensch tun, was können Sie und ich tun, um eine völlig andere Welt aufzubauen?

Wir stellen uns damit eine sehr ernst zu nehmende Frage. Kann überhaupt etwas getan werden? Was können wir tun? Wird es uns jemand sagen?

Man hat es uns gesagt. Die sogenannten spirituellen Führer, von denen man annimmt, dass sie diese Dinge besser verstehen als wir, haben es uns gesagt, indem sie versuchten, uns in eine neue Schablone hineinzubiegen und hineinzupressen, und das hat uns nicht sehr weit gebracht. Weltkluge und gelehrte Männer haben es uns gesagt, und das hat uns auch nicht weitergeführt. Uns wurde gesagt, dass alle Wege zur Wahrheit führen: Der eine geht auf seinem Pfad als Hindu, ein anderer folgt seinem Pfad als Christ und wieder ein anderer als Moslem, und sie alle begegnen sich an derselben Tür, und das ist, wenn Sie es richtig betrachten, offensichtlich völlig unsinnig.

Zur Wahrheit führt kein Pfad, und darin liegt ihre Schönheit; die Wahrheit ist etwas Lebendiges. Eine tote Sache hat einen Pfad, der zu ihr führt, weil alles Tote statisch ist. Wenn Sie aber erkennen, dass die Wahrheit etwas Lebendiges ist, das in Bewegung ist, das keine bleibende Stätte hat, das in keinem Tempel, keiner Moschee oder Kirche zu finden ist, wohin Sie keine Religion, kein Lehrer, kein Philosoph führen kann – dann werden Sie auch erkennen, dass dieses Lebendige das ist, was Sie in Wirklichkeit selbst sind – Ihr Ärger, Ihre Rohheit, Ihre Heftigkeit, Ihre Verzweiflung, die Trübsal und das Leid, in dem Sie leben. Im Verstehen all dieser Dinge liegt die Wahrheit; doch Sie können nur verstehen, wenn Sie wissen, wie Sie auf diese Dinge, die zu Ihrem Leben gehören, zu schauen haben. Sie können nicht von einer Ideologie aus schauen, nicht durch einen Schleier von Worten, nicht mit Hoffnungen und Ängsten.

Sie sehen also ein, dass Sie von niemandem abhängig sein dürfen. Es gibt keinen Führer, keinen Lehrer, keine Autorität. Es gibt nur Sie – Ihre Beziehung zu anderen und zur Welt –, nichts sonst ist da. Wenn Sie das erkennen, mögen Sie in tiefe Verzweiflung geraten, aus der Zynismus und Bitterkeit erwachsen. Doch wenn Sie der Tatsache ins Auge sehen, dass Sie und niemand sonst für die Welt und für sich selbst verantwortlich sind, für alles, was Sie denken, was Sie fühlen, wie Sie handeln, dann verschwindet alle Selbstbemitleidung. Normalerweise gedeihen wir dadurch, dass wir andere tadeln, was eine Form der Selbstbemitleidung ist.

 

Können Sie und ich nun ohne äußeren Einfluss, ohne jeden Zwang, ohne Furcht vor Bestrafung – können wir im Kern unseres Wesens eine totale Revolution, eine psychologische Umwandlung her­­vorbringen? Dann wären wir nicht länger brutal, heftig, wetteifernd, unruhig, furchtsam, gierig, neidisch und was sonst noch zu den Ausdrucksformen unserer Natur gehört, womit wir diese ver­­­rottete Gesellschaft aufgebaut haben, in der sich unser tägliches Leben abspielt.

Es ist wichtig, von Anfang an zu verstehen, dass ich keine Philosophie, kein theologisches Gebäude von Ideen oder Begriffen formuliere. Mir scheinen alle Ideologien äußerst töricht zu sein. Wichtig ist nicht eine Lebensphilosophie, sondern dass wir beobachten, was tatsächlich in unserem täglichen Leben geschieht – innen und außen. Wenn Sie genau beobachten, was vor sich geht, und es prüfen, werden Sie sehen, dass alles auf einer verstandesmäßigen Vorstellung beruht. Der Verstand umfasst aber nicht das Dasein in seinem ganzen Umfang; er ist ein Stück davon, und Bruchstücke, wie klug sie auch zusammengesetzt sein mögen, wie ehrwürdig und traditionell sie auch sein mögen, sind nur ein geringer Teil des Lebens, während wir uns mit seiner Ganzheit befassen müssen. Wenn wir sehen, was in der Welt vor sich geht, beginnen wir zu verstehen, dass es keinen äußeren und inneren Prozess, sondern nur einen einheitlichen Prozess gibt, eine alles umfassende Bewegung, wobei die innere Bewegung sich im Äußeren darstellt und die äußere wiederum auf das Innere zurückwirkt. Fähig zu sein, darauf hinzuschauen – das allein scheint mir notwendig zu sein; denn wenn wir wissen, wie zu schauen ist, dann wird alles ganz klar, und zum Hinsehen bedarf es keiner Philosophie, keines Lehrers, niemand braucht Ihnen zu sagen, wie Sie schauen sollen. Sie schauen eben.

Wenn Sie nun das ganze Bild vor Augen haben, es wirklich sehen – nicht nur sagen, dass Sie es sehen –, können Sie sich dann mühelos und spontan verwandeln? Das ist das eigentliche Problem. Ist es möglich, eine vollkommene Revolution in der Seele hervorzubringen?

 

jede

Aber wenn Sie sie abgeschüttelt haben und damit die Energie besitzen, in der es keinerlei Furcht mehr gibt – keine Furcht davor, einen Fehler zu machen, richtig oder falsch zu handeln – ist nicht dann diese Energie selbst die Umwandlung? Wir brauchen ein gewaltiges Ausmaß an Energie, und wir verschwenden sie durch die Furcht. Doch wenn die Energie vorhanden ist, die dadurch entsteht, dass jede Furcht abgeworfen wurde, bringt diese Energie selbst die radikale innere Revolution hervor. Wir haben dazu nichts zu tun.

Sie sind sich also selbst überlassen. In diesem Zustand befindet sich tatsächlich der Mensch, dem es ernsthaft um diese Dinge zu tun ist. Und da Sie nicht länger von irgendjemandem oder irgendetwas Hilfe erwarten, sind Sie bereits frei, um zu entdecken. Und wo Freiheit ist, ist Energie, wo Freiheit ist, kann nichts mehr falsch getan werden. Freiheit ist etwas ganz anderes als Revolte. In der Freiheit gibt es kein rechtes oder unrechtes Tun mehr. Sie sind frei, und von diesem Zentrum aus handeln Sie; daher gibt es keine Furcht mehr, und ein Mensch, der keine Furcht hat, ist großer Liebe fähig. Der wahrhaft Liebende kann tun, was er will.

Als Nächstes werden wir darum uns selbst kennenlernen, nicht durch den Sprecher oder einen Analytiker oder einen Philosophen, denn wenn wir von einem anderen etwas über uns lernen, lernen wir im Grunde etwas über ihn, nicht über uns. Wir sind hier dabei zu lernen, was wir tatsächlich sind.

Nachdem wir klar erkannt haben, dass wir, um eine totale Revolution in unserem Seelengefüge hervorzubringen, von keiner äußeren Autorität abhängig sein dürfen, stehen wir vor der weit größeren Schwierigkeit, unsere eigene innere Autorität zu verwerfen, die Autorität unserer persönlichen belanglosen Erfahrungen und angesammelten Ansichten, Kenntnisse, Ideen und Ideale. Sie hatten gestern ein Erlebnis, das Sie etwas gelehrt hat, und was Sie da gelernt haben, wird zu einer neuen Autorität. Diese Autorität von gestern wirkt ebenso zerstörerisch wie eine tausendjährige Autorität. Um uns selbst zu verstehen, bedarf es weder der gestrigen noch der tausendjährigen Autorität, weil wir etwas Lebendiges sind, in ständiger Bewegung, fließend, niemals ruhend. Wenn wir mit der toten Autorität von gestern auf uns schauen, wird es uns nicht gelingen, diese lebendige Bewegung und die Schönheit, die darin liegt, zu verstehen.

Frei zu sein von aller Autorität, von der eigenen und der eines anderen, bedeutet, sich von allem, was gestern war, loszusagen, so dass der Geist immer frisch, immer jung, unschuldig, voller Kraft und Leidenschaft ist. Nur in diesem Zustand kann man lernen und beobachten, und das bedarf einer umfassenden Bewusstheit, eines unmittelbaren Gewahrseins des inneren Lebensprozesses, ohne ihn zu korrigieren, ohne vorzuschreiben, was er sein sollte oder nicht sein sollte. Denn in dem Augenblick, da Sie korrigieren, haben Sie eine andere Autorität, einen Zensor eingesetzt.

Wir werden uns nun zusammen erforschen – nicht indem einer erläutert, während Sie mitlesen und ihm zustimmen oder ihn ablehnen. Wir werden vielmehr gemeinsam eine Reise machen, eine Entdeckungsreise in die verborgensten Winkel unseres Geistes. Für eine solche Reise müssen wir unbeschwert sein. Wir dürfen nicht mit Meinungen, Vorurteilen und gedanklichen Festlegungen belastet sein, diesem alten Hausrat, den wir während der letzten zweitausend Jahre und länger gesammelt haben. Vergessen Sie alles, was Sie über sich wissen. Vergessen Sie alles, was Sie je von sich gedacht haben. Wir werden beginnen, als ob wir nichts wissen.

Es hat in der letzten Nacht heftig geregnet, und nun beginnt der Himmel sich aufzuklären. Ein neuer, frischer Tag ist erwacht. Lassen Sie uns diesem neuen Tag begegnen, als gäbe es nur diesen einen Tag. Wir wollen gemeinsam zu unserer Reise aufbrechen und alle gestrigen Erinnerungen hinter uns lassen – fangen wir an, uns erstmalig zu verstehen!