MARY MACLANE (1881–1929) wurde als 19-Jährige mit ihrem ersten Buch Ich erwarte die Ankunft des Teufels schlagartig berühmt, weitere autobiographische Texte folgten. Sie schrieb den Stummfilm Men Who Have Made Love to Me (1918), in dem sie selbst die Hauptrolle spielte. MacLane, deren bohemehafter Lebensstil und Bisexualität immer wieder für Skandale sorgten, starb im Alter von 48 Jahren in Chicago.
Zwei Frauen erzählen einander alles, was sie bewegt: Sie sprechen über Freundschaft und Liebe, über die Schönheit des Alltäglichen, die Einsamkeit und die Anonymität der Großstadt. Doch wer ist Annabel Lee, die Freundin der Ich-Erzählerin, eigentlich? Ist es ihre Geliebte? Oder doch nur eine japanische Porzellanfigur, benannt nach der Heldin des schwermütigen Gedichts von Edgar Allan Poe? Oder handelt es sich am Ende um ein Selbstgespräch?
Mary MacLanes Roman lässt all das elegant in der Schwebe. Das literarische Können der Autorin, die 1902 mit ihrem ungestümen Debüt Ich erwarte die Ankunft des Teufels für Furore sorgte, zeigt sich hier von einer zarten und melancholischen Tonart.
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Für
Lucy Gray in Chicago
dieses Buch
und einen Fuchsschwanz, lila wie Lavendel
Montreal
Juli 1903
Und doch ist die einzige Person in ganz Boston, die mich am Reichtum ihres Herzens, am Reichtum ihrer Gedanken und an der freundschaftlichen Berührung ihrer holden Hand hat teilhaben lassen, Annabel Lee.
Da ich in Boston nach keiner wie auch immer gearteten Freundschaft suchte, überkommt mich diese Freundschaft mit der Sanftheit sonniger Augenblicke, in die sich Kirschblüten mischen, während etwas Menschliches in der Luft liegt, das aus der bitteren salzigen See aufsteigt.
Vor Jahren gab es einmal jemanden, der ein Gedicht über Annabel Lee schrieb – womöglich über eine andere Dame als diese, vielleicht ist es aber dieselbe –, und deshalb sind mir jetzt dieses Gedicht und diese Dame stets nah.
Wenn Poe auch bestimmt nicht diese Annabel Lee vor sich sah, als er seinen so berückenden Herzensaufschrei niederschrieb, werde doch ich immer diese Annabel Lee vor mir sehen, sobald mir Poes berückender Herzensaufschrei durch den Sinn geht.
Fürwahr ist Poes Annabel Lee nie so berückend gewesen wie diese Annabel Lee.
Ich denke dies, während ich zu ihrer anmutigen kleinen Gestalt aufblicke, die auf meinem Bord steht … zu ihrem wunderbar ausdrucksvollen kleinen Gesicht … ihren seltsam weißen Händen … ihrem zu funkelnden schwarzen Zöpfen geflochtenen, fest um den Kopf gewundenen Haar.
Wenn ihr sie sehen könntet, würdet ihr sagen, Annabel Lee sei nichts weiter als eine sehr hübsche, kleine schwarze, weiße und terrakottafarbene Figur einer Japanerin. Und sogleich wärt ihr auf dem Holzweg.
Wahr ist, dass sie monatelang, ehe ich sie fand, im schmachvollen Staubkerker eines japanischen Ladens in der Boylston Street gestanden hatte. Wahr ist auch, dass ich mich auf den ersten Blick in sie verliebte, sie nach einer Zahlung von ein paar fragwürdigen Dollars an den Ladenbesitzer aus ihrer Umgebung erlöste und sie ins Freie schaffte, dorthin, wo ich lebe, ans Meer – das Meer, über das in einem fort diese wundervollen, mächtigen, grünen Wellen rollen, rollen, nichts als rollen. Annabel Lee hört diese Wellen, und ich höre sie, während wir immer wieder den Atem anhalten und lauschen, bis uns vor Lauschen und in die Glieder fahrendem Schrecken die Augen vergehen und das leise Rauschen in unsere zwei bleichen Seelen dringt.
Obwohl also meine Freundin Annabel Lee stumm und staubbedeckt monatelang in dem Laden in der Boylston Street lebte, als wäre sie tatsächlich nur eine Porzellanfigur, und obwohl ein Preis für sie zu zahlen war, ist meine Freundin Annabel Lee dennoch wunderbar menschlich.
An manchen Tagen füllt nichts als sie mein Leben aus.
Sie bringt mannigfaltige Empfindungen hervor, die mich nicht zur Ruhe kommen lassen.
Nicht ich habe sie Annabel Lee genannt. Das war schon immer ihr Name – er sagt, wer sie ist. Sicher, ein japanischer Name ist das nicht … und sie stammt doch auf jeden Fall aus Japan. Unter den unzähligen Namen, die es gibt, passt zu ihr jedoch nur dieser eine – und unter den unzähligen Mädchen auf der Welt ist sie das einzige, das ihn trägt.
Sie trägt ihn auf unvergleichliche Art.
Annabel Lees Freundschaft ist mir sicher; doch was ihre Liebe betrifft, ist es anders.
Annabel Lee gleicht niemandem, den ihr je gekannt habt. Sie ist so ziemlich niemandem ähnlich. Manchmal kann ich eine feine, bewusste Liebe, die von ihren Fingerspitzen auf meine Stirn übergeht, fast spüren. Und dann bin ich, mit meinen einundzwanzig Jahren, einfach nur hin und weg.
Wahrlich, mit einundzwanzig Jahren und trotz Boston und allem gibt es Augenblicke, in denen ist man doch bloß hin und weg.
Aber dann wieder blicke ich auf und weiß, gleich werden ihre Augen den meinen mit einem Blick begegnen, der kalt und durchdringend ist, verächtlich und verwirrend.
Dann wieder blicke ich auf und sehe in ihren Augen nichts als Gleichgültigkeit, nichts als Abwarten, nichts als dumpfes, abgrundtiefes Schweigen.
Da kam sie, Annabel Lee aus der Boylston Street in Boston. Und siehe da, sie war so anbetungswürdig, so faszinierend, so liebenswert, dass ich sie auf der Stelle anbetete; ich war fasziniert von ihr; ich liebte sie.
Ich liebe sie zärtlich. Wieso, weiß ich nicht. Weshalb auch begründen, wohin die Liebe fällt?
Manchmal ist meine Freundin Annabel Lee negativ eingestellt und manchmal positiv.
Manchmal, wenn meine Gedanken unendlich weit entfernt von ihr umherzustreifen scheinen, wird mir plötzlich klar, dass sie es ist, die mich fesselt. Was auch immer ich in Boston oder meiner Vorstellung von der weiten Welt sehe – meine Auffassung davon wird unablässig beeinflusst durch das Vorhandensein meiner Freundin Annabel Lee, umso mehr, da es ein zumeist unbewusster Einfluss ist.
Annabel Lee ist eine schillernde Persönlichkeit – man begegnet schillernden Persönlichkeiten ja hin und wieder, sei es in Kindern oder in Bulldoggen oder in Personen wie meiner Freundin Annabel Lee.
Und nie werde ich es müde, Annabel Lee anzusehen, nie werde ich es müde, ihr zuzuhören, und nie werde ich es müde, über sie nachzudenken.
Ja, an sie zu denken ist es, was meine Gedanken nachdenklich macht.
»Es gibt Augenblicke«, sagte meine Freundin Annabel Lee, »in denen müssen sie, ob sie wollen oder nicht, alle hinauskommen auf die glatten Oberflächen der Dinge.
Wenn die Sonne untergeht, blicken sie tief ins grüne Wasser und sind wehmütig. Sie weinen nicht, ist ihnen auch schwer ums Herz. Wenn die Sonne aufgeht, blicken sie über die glitzernden Wellen, dann ist ihnen leicht ums Herz und sie genießen den Augenblick. Oder aber es wird ihnen schwer ums Herz bei Sonnenaufgang und leicht bei Sonnenuntergang. Aber ob es nun so ist oder andersherum, immer gibt es nichtssagende Augenblicke, in denen sie nichts als glatte Oberflächen sehen. Falls sie urplötzlich durch einen kleinen Zufall entdecken, dass der ihnen allerliebste Mensch ein Verräter ist, und wenn sie sich dann bei Sonnenuntergang aufmachen, um tief ins grüne Wasser zu blicken, wo alles so dunkel ist und so tot, wie nur ein über alles geliebter Verräter es machen kann, packt sie eine große Wehmut – und dennoch kommt ein nichtssagender Augenblick, in dem ihr Magen ihnen mitteilt, dass sie Hunger haben, und sie auf ihn hören. Das ist die glatte Oberfläche. Nach Wochen, oder vielleicht schon Tagen, je nachdem, wer sie sind, ist ihre Wehmut vergangen – noch immer aber wird ihnen ihr Magen mitteilen, dass sie Hunger haben, und sie werden darauf hören. Falls ihr Herzensmensch das Zeitliche segnet, aus heiterem Himmel … so ist das schlimm für sie, oh, sogar furchtbar schlimm. Sie leiden, es dauert Wochen, bis sie sich erholen, und die Narbe der Wunde bleibt für immer sichtbar. Doch aufmunternd hilft die Zeit ihnen darüber hinweg. Sollte aber«, sagte meine Freundin Annabel Lee, »ihr Magen das Zeitliche segnen, würden sie nicht bloß leiden – sie würden sterben – und dahinwelken. Auch das: eine glatte Oberfläche und außerdem sehr wahr. Und wenn sie das bedenken – einen nichtssagenden Augenblick lang –, lachen sie sanft, und von nun an haben sie endgültig keinen liebsten Menschen mehr; ihre Adern sind nicht länger voller rotem, tiefrotem Blut; sie werden wie Mäuse – Mäuse mit langen, dünnen Schwänzen.
Einen nichtssagenden Augenblick lang.
Und doch ist der nichtssagende Augenblick lang genug für sie, um sich ruhig und voller Wonne, wenn auch unbewusst, dankbar dafür zu fühlen, dass es diese glatten Oberflächen der Dinge gibt und dass sie beizeiten darauf hinausschwanken können.
Sie schwanken ganz so über die glatten Oberflächen wie ein Pferd über die flache Prärie, wo immerzu Wind ist.
Und wenn sie sich zum ersten Mal verlieben und ihr Gürtel ihnen zu eng ist, wird ein nichtssagender Augenblick kommen, in dem ihnen bewusst wird, dass ihr Gürtel so eng ist – und viel mehr wird ihnen dann nicht bewusst sein.
In diesem nichtssagenden Augenblick werden sie ihren Gürtel lockern.
Sie waren acht oder neun Jahre alt, als sie einen Flecken mit köstlich reifen, herrlich saftigen Pflaumen fanden, und während sie Pflaumen pflückten und auf einmal ein Ballon über ihren Köpfen auftauchte, war ihr erster rauschhafter Impuls, alles stehen und liegen zu lassen und dem Ballon über Hügel und Tal nachzulaufen bis ans Ende der Welt.
Aber obwohl ein echter leibhaftiger Ballon über ihre Köpfe dahinsegelte, ging ihnen ein Gedanke durch den Sinn, nämlich: Ein paar andere Kinder könnten die Pflaumen kriegen, die wir gefunden haben. Ein Ballon war prachtvoll – ein Ballon war göttlich –, und trotzdem war da ein nichtssagender Augenblick, in dem ihnen der Gedanke an ein paar gemeine, flachsköpfige Schwedenkinder von jenseits des Hügels, die über die Pflaumen herfallen würden, gerade noch rechtzeitig in den Sinn kam, um ihnen den Ballon zu vergällen.
Aber«, sagte meine Freundin Annabel Lee, »noch während sie über den Ballon sprechen würden, nachdem der am Himmel verschwunden wäre, käme eben deshalb ein weiterer nichtssagender Augenblick, der ihnen auch die Pflaumen vergällen würde – so vollkommen vergällen, dass sie in ihren Augen nur noch abscheulich wären, da sie sie von der Freude abgehalten hatten, dem göttlichen Ballon nachzulaufen. Auch daran erkennt man die glatten Oberflächen der Dinge. Und alle müssen sie hinauskommen auf die glatten Oberflächen, ob sie wollen oder nicht.
Und«, sagte Annabel Lee und blickte mich durchdringend an, während sich meine Gedanken nachdenklich verdunkelten, »nicht nur sie müssen hinauskommen auf die glatten Oberflächen der Dinge, auch Sie und ich müssen hinauskommen, ob wir wollen oder nicht.
Und da wir das müssen, ob wir wollen oder nicht«, fügte die Dame an, »wieso sollten wir dann nicht gleich draußen auf den glatten Oberflächen bleiben? Auf jeden Fall würde man sich das nächste Mal die Mühe mit dem Hinauskommen sparen. Doch wer weiß, vielleicht dreht sich ja alles bloß ums Hinauskommen.«
Meine Freundin Annabel Lee schafft es immer, mich zugleich zu faszinieren und zu verwirren.
So viel sie auch gibt, so unendlich viel mehr erwartet einen in ihr.
Mein Verhältnis zu ihr macht nie Fortschritte, so wenig wie es Rückschritte macht. Es führt nirgendwohin. Sie und ich bleiben gemeinsam mitten in unserer jeweiligen Situation stehen und blicken uns um. Und was wir sehen, während wir uns umblicken, ist alles und ist genug, um es zu bedenken.
Und indem ich es bedenke, schreibe ich davon.
Gestern war die Dame in liebenswürdigster Stimmung, und wir unterhielten uns – zufälligerweise über Boston.
»Mögen Sie Boston?«, fragte sie mich.
»Ja«, erwiderte ich, »Boston gefällt mir. Es fasziniert mich.«
»Gefällt Ihnen aber nicht mehr als Butte, in Montana?«
»O nein«, sagte ich rasch. »Butte in Montana ist meine erste Liebe. Es gibt lauter öde Berge dort – die sind immer bei mir. Boston berührt mein Herz nicht im Geringsten, doch ich mag es sehr. Ich lebe gern hier.«
»Ich liebe Boston – manchmal zumindest«, meinte Annabel Lee. »Hier am Meer ist ja eigentlich nicht Boston. Hier ist alles. Dasselbe Meer strömt an verwunschenen Purpurinseln vorbei und brandet an die Küste von Spanien. Aber wenn man mal nur für einen Moment die Augen davon lassen kann, dann ist Boston eine schöne, gute und interessante Sache.«
»Das denke ich auch – in mehrfacher Hinsicht«, stimmte ich zu.
»Erzählen Sie mir, was Sie an Boston interessant finden«, sagte meine Freundin Annabel Lee.
»Da gibt es vieles«, erwiderte ich. »Ich habe eine kleine Nische unten an der East-Boston-Werft entdeckt, in der ich an kalten Tagen oft sitze. Die Sonne scheint hell und warm auf eine schmale hölzerne Plattform zwischen zwei großen Speicherfässern, dort kann mich keiner sehen, aber ich das Treiben der Menge beobachten. Die Leute sind ja ziemlich wuselig da unten in der Gegend rund um East Boston. Und mir fehlt es nie an Gesellschaft – manchmal trauen sich mutig und scharfzähnig ein paar Ratten heraus auf die Planken unter mir. Das Gewusel der Leute können sie nicht sehen, aber sie können den Sonnenschein genießen und im Müll nach Mäusen jagen.
Die Einwohner von East Boston – sie sind die Armen, die wir immer bei uns haben. Sie sind nicht die sanftmütigen, die würdevollen, die rechtschaffenen Armen. Sie sind die teuflischen, die boshaften – eins mit den Werftratten, die nach Mäusen jagen. Außer darin, dass die Ratten gelegentlich ihren weichen, grauen Pelz zu putzen versuchen, indem sie ihn mit ihren kleinen roten Zungen ablecken; wohingegen die Armen … Aber weshalb sollten die Armen sich waschen? Sind sie nicht die Armen?
Wenn ich mich zwischen meinen zwei großen Fässern ausruhe und dieses grausige Schauspiel verfolge, denke ich: Arm zu sein in Boston scheint eine ziemlich verzweifelte Sache zu sein, denn Boston wird nachgesagt, es habe die vorzüglichsten Kenntnisse und trage einen Eisklumpen im Herzen. Zwischen meinen zwei Fässern in East Boston sitzend habe ich erlebt, wie Menschen sind – oh, so brutal, oh, so barbarisch, wie sie es im glücklichen England unter dem guten alten Heinrich VIII. schlimmer nicht hätten sein können.
Und das halte ich für schon sehr interessant.«
»Das ist es in der Tat«, sagte meine Freundin Annabel Lee. »Boston ist schön, sogar sehr schön. Erzählen Sie mir mehr.«
»Und manchmal«, sagte ich, »sitze ich an einem der Fensterplätze an der Treppe zur Öffentlichen Bücherhalle. Und ich blicke die Wände an. Ein Franzose mit wundersamer Erfindungsgabe und großer Fingerfertigkeit hat diese Wände gestaltet. Was es zu allen Zeiten an großen materiellen Dingen überall auf der Welt gab, hat er dort in Sinnbildern gemalt. Und darüber malte er einen dünnen grauen Schleier aus jenen Dingen, die nicht materiell sind, die aus keiner Zeit stammen, die stets mit uns, um uns, über uns sind – so wie sie das für die Kinder von Israel, für die Leute von Pompeij, für die schönen Städte Griechenlands und ihre Bewohner waren.
Ich sah mir die Wandbilder an und war geblendet und hingerissen. Was ist dort auf diesen Wänden nicht alles zu sehen!
Ich sah wahrhaftig ›die Vision der Welt und all des Wundersamen, das geschehen wird‹.
Ich sah das Ringen der verpuppten Seele und ihr Hineinplatzen ins Licht; ich sah die Erde einst beschützt von Göttlichkeit; ich blickte auf ein Konzept von Poesie und hörte die dünnen, rhythmischen Klänge von Schalmeien und Saiteninstrumenten; und ich hörte leise, wollüstige Musik aus dem Innern des Tempels – menschliche Stimmen wie süßer Jasmin; ich sah die faszinierende Götzenanbetung der Heiden – und fahl im Lichtschein eines Sterns am Abend die hölzerne Gestalt am Kreuz; ich beugte mich über den Rand eines Abgrunds und erblickte die graue Vorzeit – Hannibals Armee vor Karthago – die mit ihren Schiffen untergehenden Norsen – die zwecklosen, wilden Kämpfe der Goten und Vandalen; ich sah Wissenschaft und Kunst in ummauerten Städten, und ich sah zittrige Lämmchen am Bachufer umhertollen; ich sah nächtliche Schatten sich über geheime Werke beugen und sah an einem schönen Sommermorgen Bienen schwer beladen zu ihren Stöcken fliegen; ich hörte, wie an einer winzigen Stromschnelle auf einer Laute gespielt wurde und wie sich Pans Flötenklänge mischten mit den sprudelnden Tönen eines Rotkehlchens in Feldern voller Pfefferminze; ich sah Seiten über Seiten voller gedruckter Zeilen, die von einem Ende der Welt bis zum anderen reichten; ich sah tiefsinnige Worte, vor Jahrhunderten niedergeschrieben in vielfarbigen Tinten; das alles sah ich und war überwältigt von den Wunderwerken technischer Errungenschaften, die nur so strotzen vor präzisen Kenntnissen, die ich nie erlangen werde – in alldem sah ich die völlige Gleichmut des Antlitzes der Welt, so wie der Pinsel des Franzosen Chavannes sie darstellt.
Und über allem die nebelartige Vorstellung vom langen Schweigen der Unwissenheit.
Was ist dort auf diesen wundervollen Wänden nicht alles zu sehen!
Da sitze ich auf diesem kleinen Fensterplatz, und was ich halb träumend wahrnehme, verschwimmt mir vor den grauen Augen. Meine Gedanken sind erfüllt vom Anblick murmelnden, pulsierenden Lebens.
Was aber ist das alles, verglichen mit dem wahren Leben – denn so wundersam diese Bilder sind … was ich manchmal dort unten sah, wo die Ratten im Müll nach Nahrung suchen, ist doch viel wundersamer.«
»Stimmt«, sagte meine Freundin Annabel Lee, »es gibt viel, viel zu sehen in Boston. Erzählen Sie mir mehr.«
»Tja, und es gibt die South Station«, fuhr ich fort. »O ja, bevor man nicht tausend Stunden herumgeschlendert ist und vertrödelt hat an diesem Ort für Züge und Leute aller Art, hat man keine Ahnung davon, was in seinen Wartesälen wirklich zu finden ist.
Ich habe Massachusetts dort gefunden – nicht das Massachusetts, von dem ich immer gelesen hatte, sondern das Massachusetts, das mit einer Einkaufstasche für Boston angefahren kommt aus Braintree, Plymouth und Middleboro; das Massachusetts, das gebildet ist und den Zeigefinger durch den Henkel seiner Teetasse steckt; das Massachusetts, das Suppe von seiner Löffelspitze isst; das Massachusetts, das herzensgut ist und dabei einen komischen Gang hat; das Massachusetts, das alle Kinder nimmt und für einen Tag runter nach Providence fährt – jedes Kind mit einer dicken gelben Banane in der Hand; das Massachusetts, das es gibt, weil die Welt Schuhe trägt – denn es ist gebildet und weiß Schuhe herzustellen.
Und an der South Station gibt es außerdem Leute aus der weiten Welt ringsum. Schauspieler und Schriftsteller und Künstler sieht man ankommen und abreisen und wartend in den Wartesälen sitzen. Einige reichlich prächtige und sonderbare Personen haben dort in diesen Wartesälen gesessen, aber auch schmuddelige Italiener mit Perlenketten um den Hals.
Und an der South Station gibt es so viele, viele Leute, dass einem dort ab und an etwas von den Winzigkeiten begegnen kann, auf die man seit Jahrhunderten gewartet hat. In einer Vielzahl von Gesichtern gibt es so vielleicht ein junges mit zugleich erschöpften und lebhaften Zügen, mit wachsamen Augen, die viel gesehen haben, und mit weichem, stumpfem Haar darüber. Blitzschnell erkennt man es, und ebenso blitzschnell ist es verschwunden. Es ist ein Gesicht, das Schönes verheißt und das man seit langer, langer Zeit ebenso kennt wie seine Göttlichkeit. Und hier an der Bostoner South Station erhaschte man davon den einen, goldenen Anblick.
Außerdem atmet man an der South Station so gut wie irgendwo die Bostoner Luft.
Ist man zivilisiert und eher konventionell, so kennt und atmet man diese Luft. Ist man’s nicht … tja, dann kann man zumindest stehen bleiben und darüber nachdenken. Und auf jeden Fall kann man ja auf den richtigen Moment warten.
Die Bostoner Luft ist eine Mixtur aus sehr alten und sehr modernen Dingen und Denkweisen, die anschaulich sind und hin und wieder sogar zu etwas führen. Die alten Dinge gehen zurück auf Konfuzius und seinesgleichen – und die modernen haben mit Lilian Whiting, mit Zeitungen und dem Theater zu tun.
Zelte von Kedar
Musik liegt in der Bostoner Luft. Sie strömt ins Herz wie Feuer und Flut … sie erweckt die Seele aus ihrem Träumen … sie sendet das menschliche Wesen aus auf die vielfarbigen Pfade, die zu sehen, womöglich zu erleiden sind – ja, bestimmt zu erleiden – doch ebenso zu erleben, oh, zu erleben!
Meine Geliebte ist hinunter in ihren Garten gegangen
Doch was davon diesmal zutraf, erzählte sie nicht.