Einer der Kerntexte des Daoismus: Zhuangzi (Dschuang Dsi) soll im 4. Jahrhundert v. Chr. gelebt, sich allen Ämtern verweigert und lieber als Gärtner gearbeitet haben. In seinen Gleichnissen will er zurücklenken auf das Eigentliche, das Einfache: auf die Freiheit, nichts Besonderes zu tun, die Freiheit, sich selbst zu folgen, die Freiheit, mit der Natur zu leben.
Das Buch Zhuangzi bildet zusammen mit Laozis (Laotses) Daodejing den wichtigsten Text des chinesischen Daoismus. Aus den 300 Texten der vorbildlichen wissenschaftlichen Übersetzung von Viktor Kalinke wurden hier die besten Stücke ausgewählt.
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Zhuangzi war ein Mann aus Meng (heutiges Anhui), sein Rufname war Zhou. Er bekleidete in Meng ein Amt im Lackgarten (Qiyuan) und war ein Zeitgenosse von König Hui von Liang (reg. 369–335) und König Xuan von Qi (reg. 369–301). Es gab kein Gebiet, auf dem er sich nicht auskannte, in der Hauptsache aber berief er sich auf die Sprüche von Laozi. So schrieb er ein Buch mit mehr als 100 000 Wörtern, die überwiegend Gleichnisse darstellen. Er war ein begnadeter Dichter und Wortkünstler, schilderte Tatsachen und entdeckte Zusammenhänge; all dies nutzte er, um die Konfuzianer und Mohisten bloßzustellen, selbst die größten Gelehrten seiner Zeit vermochten es nicht, ihn zu widerlegen. Die Worte flossen und sprudelten aus ihm hervor und trafen unvermittelt den Kern. Daher gelang es weder den Königen und Fürsten noch sonstigen großen Männern, ihn an sich zu binden.
(Biographie des Zhuangzi von Sima Qian, Historiker am Hof der Westlichen Han-Dynastie, 2. Jahrhundert v. u. Z.)
[1.1] Im dunklen Nordmeer lebt ein Fisch, der Kun genannt wird. Kun ist groß, und niemand weiß, wie viele Li (Meilen) er lang ist. Er verwandelt sich in einen Vogel, der Peng genannt wird. Pengs Rücken ist breit, und niemand weiß, wie viele Li er sich erstreckt. Schwingt er sich auf und fliegt durch die Lüfte, sind seine Flügel groß wie Wolken, die den Himmel bedecken. Ist die See bewegt, zieht der Vogel zum Südmeer. Das Südmeer ist der See des Himmels. In den Fabeln von Qi sind merkwürdige Geschichten aufgezeichnet, in ihnen heißt es: »Wenn Peng zum Südmeer fliegt, schlagen die Wellen dreitausend Li hoch, der Wirbelwind hebt ihn auf eine Höhe von neunzigtausend Li. So fliegt er sechs Monate lang.«
Wolken türmen sich wie Wildpferde, Staub wirbelt auf, die Lebewesen hauchen einander Atemluft zu – der Himmel wölbt sich blau darüber; ist es seine wirkliche Farbe oder scheint es nur so, weil er so weit und endlos ist? […] Ist der Wind nicht stark genug, kann er große Flügel nicht tragen. Daher: Erst wenn Peng neunzigtausend Li emporfliegt und den Wind unter sich hat, dann reitet er auf dem Wind, trägt den blauen Himmel auf seinem Rücken, und nichts steht ihm im Weg, und dann erst fasst er den Süden ins Auge.
Eine Zikade und ein Täubchen lachen darüber und sagen: »Wenn wir uns aufraffen zu fliegen, dann landen wir auf den Zweigen einer Ulme oder eines Sandelholzbaums; manchmal, wenn wir sie nicht erreichen, purzeln wir auf die Erde, und das war’s. Wozu neunzigtausend Li in die Höhe aufsteigen und nach Süden ziehen?«
Wer ins üppige Grün hinausgeht, findet seine drei Mahlzeiten; wenn er zurückkehrt, ist der Bauch gefüllt wie zuvor. Wer hundert Li hinausgeht, stampft in der Nacht zuvor Körner, um sich zu verpflegen. Wer tausend Li hinauszieht, sammelt drei Monate zuvor Getreide als Verpflegung.
Was wissen diese beiden Wichte schon! Wenig Wissen reicht an großes Wissen nicht heran; wenige Jahre reichen nicht an viele Jahre heran. Woher weiß ich, dass es so ist? Ein Pilz, der morgens sprießt und abends welkt, weiß nichts vom Wechsel zwischen Tag und Nacht. Eine Zikade, die nur im Sommer lebt, weiß nichts von Frühling und Herbst. Beide leben zu kurz.
[1.2] Ein Sperling lacht darüber und spricht: »Wohin zieht es ihn? Ich hüpfe herum und steige nicht mehr als ein paar Meter auf, dann lande ich wieder unten. Im Gebüsch und in den Hecken herumzuflattern, das ist doch die schönste Art zu fliegen. Und wohin zieht es ihn?« Das ist der Unterschied zwischen klein und groß.
[1.7] Huizi sprach zu Zhuangzi: »Ich habe einen großen Baum, den die Leute Götterbaum nennen. Sein riesiger Stamm ist bedeckt von Schwielen, und es lässt sich keine Richtschnur anlegen; die kleinen Zweige sind so verdreht und gekrümmt, dass sie für Zirkel und Winkelmaß nicht geeignet sind; auch wenn er an einer Straße stehen würde, würde ein Zimmermann ihn nicht beachten. Nun, Meister, du drechselst große und nutzlose Worte, daher wendet sich die Menge einmütig von dir ab.«
Zhuangzi antwortete: »Bist du der Einzige, der noch keinen Marder oder Wiesel gesehen hat? Sie ducken sich flach auf den Boden und lauern, ob jemand vorbeikommt. Sie springen hierhin und dorthin, nach oben, nach unten, bis sie in die Falle gehen und im Netz sterben. Das Gleiche gilt für Grunzochsen, die groß sind wie Wolken, die den Himmel bedecken. Groß sind sie, aber können keine Mäuse fangen. Wenn du schon einen großen Baum hast, dessen Nutzlosigkeit dir Sorgen macht, warum pflanzt du ihn nicht außerhalb des Dorfes auf freiem Feld oder im leeren Ödland? Da kannst du, wenn du nichts zu tun hast, um ihn herumspazieren oder dich unbekümmert zum Ausruhen bei ihm niederlegen. Weder Axt noch Beil setzen ihm ein frühes Ende. Nichts kann ihm Leid zufügen. Wenn etwas nutzlos ist, warum sollte es dir Sorgen bereiten?«
[2.1] Nanguo Ziqi (Meister Verstecktes Bunt von der Südmauer) kauerte auf seinem Stuhl, blickte zum Himmel auf, seufzte gedankenverloren, trauernd um den Verlust seines Gefährten. Sein Schüler Yancheng Ziyou (Meister Sich Wandelnder Wandersmann) stand ihm bei und sprach: »Wie geht das? Vermagst du wirklich dem Körper die Form von dürrem Holz und dem Herz-Geist die Form von toter Asche zu geben? Jetzt ist der Mann, der auf dem Stuhl kauert, nicht derselbe, der vorhin auf dem Stuhl kauerte!« Meister Qi sprach: »Yan, hast du nicht eine gute Frage gestellt? Gerade habe ich mich selbst verloren, verstehst du das? Du hörst die Klangwelt der Menschen, aber du hörst nicht die Klangwelt der Erde; du hörst die Klangwelt der Erde, aber du hörst nicht die Klangwelt des Himmels. […]
Die Atemluft des großen Erdballs wird ›Wind‹ genannt. Solange er nicht da ist, geschieht nichts. Sobald er da ist, pfeift es heulend durch zahllose Öffnungen. Hast du dieses Windheulen noch nie gehört? In den schönen Bergwäldern mit hundert Fuß hohen Bäumen gibt es Höhlen und Kuhlen: wie Nasen, wie Münder, wie Ohren, wie Weinschalen, Reisschüsseln und Mörser, wie Brunnenlöcher, wie Pfützen. Er faucht, haucht, röhrt, pfeift, brüllt, lacht, zerstört; anfangs ein dünnes Singen, dann ein Keuchen und Klingen. Sanfter Wind hat nur wenig Wirkung, Wirbelwind hat große Wirkung; legt sich der Sturm, so sind alle Öffnungen leer. Hast du die Raffinesse dieser Klänge noch nie vernommen?«
[2.2] Wer viel weiß, hat Schwierigkeiten; wer wenig weiß, hat Muße. Wer viel redet, entfacht Feuer; wer wenig spricht, hat etwas zu sagen. Wessen Seele im Schlaf verbunden ist, dessen Körper öffnet sich beim Aufwachen, Geben und Nehmen schaffen ihm Halt, damit am Tag sein Herz-Geist die Kämpfe besteht. Flach sind sie, tief sind sie, nahe gehen sie. Kleine Ängste beunruhigen, große Ängste lähmen.
[2.3] Dass sich die Lebewesen gegenseitig zerteilen und einander zerfleischen, dass sie sich hetzen wie im Galopp und dass sie dabei nichts aufzuhalten vermag – ist das nicht schade? Am Ende ist der Körper abgekämpft und gelangt nicht in den Genuss seiner Verdienste, so müde, so ausgelaugt ist er, dass wir nicht wissen, wie wir innehalten können – ist das nicht traurig? Wenn die Leute davon sprechen, sie seien ja noch nicht tot – welchen Nutzen hat das? Sobald der Körper verfällt, folgt der Verfall des Herz-Geistes – ist das nicht ungeheuer traurig? Des Menschen Leben, es schwankt wie ein Grashalm! Bin ich der Einzige, der schwankt wie ein Grashalm, sind die anderen nicht ebensolche Gräser?
[2.4] Worte sind nicht bloß Luft, Worte sagen etwas. Wenn jemand unklar daherredet, hat er dann etwas zu sagen? Oder sagt er nichts? Wir glauben, sie seien etwas anderes als das Piepsen eines Kükens. Gibt es einen Unterschied oder gibt es keinen Unterschied? Wo ist das Dao verborgen, wenn es um »Wahrhaftigkeit« und »Heuchelei« geht? Was verbergen die Worte, wenn es um »wahr« und »falsch« geht? Kann das Dao verschwinden und aufhören zu existieren? Kann es Worte geben, die es nicht geben soll? Das Dao ist verborgen in winzigen Wandlungen, Worte verbergen sich in blumiger Rede. Daher streiten Konfuzianer und Mohisten über »richtig« und »falsch«: Was die einen für richtig halten, ist für die anderen falsch; was die einen für falsch halten, ist für die anderen richtig. Wer richtigstellen will, was verneint wird, und verneinen will, was für richtig gehalten wird, für den gibt es nichts Nützlicheres als Klarheit.
[2.12] Qu Quezi (Meister Ängstliche Elster) fragte Chang Wuzi (Meister Hochgewachsener Ölbaum): »Ich habe von Konfuzius gehört, ein Weiser gebe sich nicht mit Geschäften ab, strebe nicht nach Gewinn, meide Schmerz nicht, finde keine Freude daran, irgendetwas zu erkunden, folge nicht dem Dao; wenn er nichts sagt, sage er dennoch etwas, wenn er etwas sagt, sage er dennoch nichts; und er wandle jenseits vom Staub und Schmutz der äußeren Welt. Konfuzius betrachtete diese Worte als achtlos hingeworfene Rede, ich aber glaube, dass damit das geheimnisvolle Wirken des Dao gemeint ist. Was hältst du davon?«
Chang Wuzi sprach: »Wenn der Gelbe Kaiser (Huangdi) dies gehört hätte, wäre er verwirrt; wie sollte es dann Konfuzius verstehen? Nun, auch du bist etwas vorschnell in deinem Urteil, siehst ein Ei und fragst nach dem Hahn, dessen Krähen die Nacht beendet; siehst eine Schleuder und fragst nach der gebratenen Eule. Ich werde versuchen, dir etwas Widersinniges zu sagen, damit du etwas Widersinniges hören kannst.
Wie wäre das? Lehn dich seitlich an Sonne und Mond, klemm den Kosmos unter den Arm, schließe die Lippen und stifte Chaos, damit die Untertanen einander achten.Die meisten Menschen mühen sich mit Arbeit ab; der Weise ist töricht und gibt sich der Einfalt hin, im Laufe zahlloser Jahre wird er eins mit der Einfachheit. Die zahllosen Lebewesen erschöpfen sich darin, so zu sein, wie sie sind, und sich auf diese Weise gegenseitig zu ergänzen.
Woher weiß ich, dass die Freude am Leben keine Täuschung ist? Woher weiß ich, dass die Furcht vor dem Tod nicht einem jungen Wandergesellen gleicht, der nicht heimkehren will? […] Woher weiß ich, ob ein Toter seine frühere Sehnsucht nach dem Leben nicht bereut?
Wer im Traum Wein trinkt, jammert und schluchzt am Morgen; wer im Traum jammert und schluchzt, geht am Morgen ackern und jagen. Wer träumt, weiß nicht, dass er träumt. Während des Traums kann er versuchen zu
Einst träumte Zhuang Zhou, ein Schmetterling zu sein, ein lebhaft flatternder Schmetterling, glücklich mit sich selbst, nur seinem Willen folgend. Er wusste nicht, dass er Zhuang Zhou war. Wie freute er sich, als er kurz darauf erwachte und feststellte: »Da ist Zhuang Zhou!« Doch er wusste nicht, war er Zhuang Zhou, der geträumt hatte, ein Schmetterling zu sein, oder war er ein Schmetterling, der geträumt hatte, Zhuang Zhou zu sein? Zwischen Zhuang Zhou und dem Schmetterling muss es doch einen Unterschied geben! Das ist damit gemeint, dass sich die Lebewesen wandeln.