Februarflut

Historischer Kriminalroman aus dem Alten Land

Annelie Schlobohm


ISBN: 978-3-96045-098-6
1. Auflage 2021
© 2009 Verlag Atelier im Bauernhaus, 28870 Fischerhude

Lektorat und Gestaltung: Mareike Kaden
Umschlagfoto: Willi Rolfes
Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt

 

für den Menschen, der mich vor dem Ertrinken gerettet hat

 

Herr, meiner Hoffnung Wecker,

Herr, meiner Schuld Bedecker!

Bewahre mich in dieser Nacht vor Stürmen und Getösen

Vorm Bösen, das auf Erden wacht,

Was in mir schläft, vorm Bösen.

 

Nachdichtung von Friedrich Rückert

 

1. Kapitel

 

Das Wasser reichte ihm bis an die Schultern, eine eiskalte schmutzige Brühe. Garleff Wulft merkte, dass er vor sich hin murmelte, aber da es ihn ein wenig ruhiger machte, hörte er nicht damit auf. „Nee auch doch, so kaltes Wasser. Ist ja Februar. Und dabei gehe ich noch nicht mal im Sommer in die Elbe, die ganzen Strömungen, wenn man nicht schwimmen kann … Ich muss nur zusehen, dass ich immer Boden unter den Füßen habe, da geht das um.“

Der Sturm heulte und rüttelte am Reetdach, doch es schien zu halten. Durch die tiefschwarze Nacht arbeitete sich Garleff vorwärts, gelegentlich stieß er an schwimmende Holzkisten, Stroh, Heu, Körbe, einmal sogar an eine schwere Holztruhe. Er wusste, dass er eigentlich auf dem Heuboden sein sollte bei seiner Schwester Gesche, aber er wollte unbedingt noch ein Schriftstück retten aus der obersten Schublade des Schranks. Der würde bestimmt noch dastehen, massig wie er war, den konnte das Wasser nicht hochheben. Garleff rechnete sich aus, dass die Schublade noch im Trockenen liegen musste, weil er normalerweise nur an sie herankam, wenn er auf einen Stuhl kletterte. Aber wenn das Wasser weiter so schnell stieg, würde es bald bis zur Decke reichen, dann war auch der Schrank gänzlich unter Wasser und die Papiere verloren, die Tinte verwischt.

Mühsam bahnte er sich seinen Weg durch treibende Obstkisten, Kartoffeln und Rüben, das Wasser reichte ihm nun schon bis an den Hals, er ging auf Zehenspitzen. Fieberhaft überlegte er, ob er noch etwas Wichtiges vergessen hatte. Er hörte die Kuh muhen. „Du musst unbedingt auf den Strohballen stehen bleiben, Else“, murmelte er. „Ein Schritt ins Wasser und du kommst nicht wieder hoch aufs Stroh, denn bist du hinüber. Du bist hier nötig, Kuh deckt den Tisch, sagt man. Sonst gibt das nur trocknes Brot, keine Butter drauf, kein Käse, keine Milchsuppe.“ Prustend spuckte er schmutziges Wasser aus, das in seinen Mund geschwappt war. „Und das Schwein natürlich auch, wenn das absäuft, sieht das schlecht aus ohne dem seinen Speck und Karbonade. Das Pferd erst recht, ich kann ja den Pflug nicht selber ziehen. Hoffentlich dass die Strohballen so gut fest gezurrt sind, dass man nicht einige weg treiben, denn wird das da oben zu wenig Platz für das Vieh. Man gut, dass wir dafür noch just Zeit hatten, bevor das losging.“

Eigentlich hatte niemand in dieser Nacht des 4. Februar 1825 mit einer Sturmflut gerechnet. Am Vortag hatte zwar ein starker Wind aus Nordwest geblasen, so dass das Elbwasser nicht zurückfließen konnte in die Nordsee, aber das Wasser stand nicht besorgniserregend hoch am Deich. Der Wind flaute ab, und sie dachten, sie hätten das Hochwasser schon hinter sich. Aber mitten in der Nacht wurde Garleff geweckt, als jemand wie wild an sein Fenster hämmerte. Der Nachbar Claas Butendiek schrie von draußen:

„Garleff, man schnell, schnell, das Wasser ist da. Das läuft über den Deich, und der hat auch man schon ein Loch! Ich muss schnell weiter!“

Garleff war aus dem Alkoven gesprungen und hatte seine Hose, Hemd und den Arbeitskittel übergeworfen. In seinen Holzschuhen hastete er zur Diele, um als Erstes nach dem Vieh zu sehen. Da kam auch schon das Wasser unter der großen Dielentür hindurch. Garleff eilte auf den Heuboden und warf Strohballen hinunter, die er dann zusammenschob und zuletzt mit einem Seil umwand.

Gerade als er die Kuh, das Pferd und das Schwein auf die Strohinsel gezogen hatte, wurde der Druck des Wassers stärker. Es drückte die Dielentür auf und die Seitentüren, es strömte herein und stieg in Windeseile.

Kopflos watete Garleff durch die Flut, die ihm schon bald bis zu den Knien reichte, er wusste nicht, was das Wichtigste war, das er nun in Sicherheit bringen sollte. Seine Schwester Gesche fiel ihm ein, doch die war schon wach geworden durch die Unruhe, sie brachte trockene Kleidungsstücke und Decken auf den Heuboden.

Danach schafften sie gemeinsam Wasser, Brote und eine Mettwurst nach oben. Dort saß Gesche nun allein.

Garleff zitterte vor Kälte, er hörte das Wasser gegen die Wände schwappen von außen und von innen. „Die Flut spült den Lehmmörtel weg, und denn nach und nach die Steine im Fachwerk. Denn steht nur noch das Gerüst vom Fachwerk da, und ich kann durch mein eigenes Haus kucken.“ Gedankenfetzen flogen durch seinen Kopf. „Wie lange das wohl dauert, bis man das alles wieder repariert und auf die Reihe gekriegt hat? Ob im Deich wohl schon mehrere Löcher sind? Zuerst müssen die Schleusen repariert werden, das ist klar, weil damit wir das überhaupt irgendwann mal alles wieder trocken kriegen, das Land. Die Felder, das dauert, aber das

Haus liegt ja man höher, vielleicht fällt das schon morgen früh wieder trocken mit der Ebbe. Und kann ja sein, dass der Wind wieder abflaut, denn fließt das Wasser schnell wieder ab, da wo das hingehört. Aber das dauert, bis der Deich repariert ist und der Paster da seinen Dankgottesdienst hält. Nützt doch nichts, das Beten, sieht man mal wieder.“

Garleff erkannte die Umrisse des Schranks, er konnte ihn schon fast anfassen.

Diese Flut war anders als die, die er erlebt hatte, als seine Eltern noch lebten. Damals war das Wasser ganz langsam gestiegen, sie hatten Zeit, alles Wichtige auf den Boden zu bringen.

„Kommt drauf an, wie lange das Wasser im Haus ist“, murmelte er. „Das Holz von den Möbeln, das saugt sich sonst voll, wenn das denn wieder trocken wird, fallen die zusammen die Möbel, der Schrank, die Truhe, der Tisch, die Stühle. Alles neu bauen, das schaff ich nicht alleine, Tischler kann ich nicht bezahlen, was wird nu?“

Er versuchte, die Schranktür zu öffnen, doch der Druck des Wassers war zu stark. Es reichte ihm inzwischen bis zum Kinn.

„Dammi noch mal, ich brauch das Beil. Wo ist mein Kahn? Mit dem Kahn muss ich durch mein eigenes Haus schippern, sonst sauf ich ab. Aber der liegt im Graben, da kann ich jetzt nicht hin, ist wohl sowieso weggetrieben. Nee, nützt nichts, ich muss auf den Heuboden.“

Er merkte, dass er den Boden unter den Füßen verlor. Panisch stieß er sich vom Steinfußboden ab und kam prustend wieder an die Oberfläche.

„Gesche!“, schrie er. „Gesche, ich sauf ab! Helf mir!“

Wieder versank er in der eisigen Flut. Mit den Armen versuchte er, sich nach oben zu rudern, aber seine Kräfte ließen schnell nach, das kalte Wasser hatte ihn geschwächt. Seine Hände suchten den Schrank, damit er sich an ihm festhalten und hochziehen konnte, aber er griff ins Leere. Er versuchte, sich an einem der umhertreibenden Gegenstände festzuhalten, aber alle gingen mit ihm unter. Seine Bewegungen wurden langsamer, und schließlich überließ er sich ganz dem Wasser, das ihn hin und her trieb wie die Kartoffeln und Äpfel, das ihn nicht mehr los ließ. Die ganze Welt bestand nur noch aus Wasser.

Doch plötzlich fühlte er sich hochgehoben, und es wurde ganz hell und warm um ihn. Er sah seine Eltern, die ihn so nett anlächelten, wie sie das nie getan hatten, solange sie noch lebten. „Komm man her, mein Junge“, sagte seine Mutter leise. „Komm man nach Hause.“

„Mudder, Vadder! Ich bin ja so ein Dösbaddel! Ich habe da doch zwei Stück von, eins im Baumversteck, das liegt so weit oben, dass das Wasser da gar nicht hinkommen kann. Das war doch überhaupts nicht nötig, dass ich das Papier aus dem Schrank hole. So’n Schiet auch, dass ich nu absaufen muss wegen gar nichts!“

2. Kapitel

 

Als es endlich hell wurde, war Gesche todmüde, weil sie überhaupt nicht geschlafen hatte. Immer wieder war sie auf Knien zur Luke des Heu- und Kornbodens gekrochen, um hinunter in die finstere Wasserflut im Haus zu schauen. Nachdem die Elbe sich zunächst recht laut ihren Weg durchs Haus gebahnt, alles mit sich gerissen und umgeworfen hatte, schwappte das Wasser nach einigen Stunden nur noch leise gegen die Wände. Gesche hatte den Eindruck, dass die Flut im Laufe der Nacht wieder gesunken war, aber es war so dunkel, dass sie sich keine Gewissheit verschaffen konnte.

Sie hatte sich nicht getraut, einen brennenden Kienspan mit nach oben zu nehmen, aus Furcht, dass das Heu Feuer fangen würde. Dann war alles verloren, um einen herum Feuer und unter einem das Wasser. So saß sie im Dunkeln im Heu, eine Wolldecke um die Schultern, und hörte die Kirchturmuhr jede volle Stunde schlagen, erst zweimal, dann immer einmal mehr. Die Zeit dazwischen schien überhaupt nicht zu vergehen. Als Gesche endlich acht Schläge zählte, wurde es langsam hell.

Sie zitterte vor Kälte trotz des dicken Wollrocks und der Wolljoppe, auch die Wolldecke wärmte nicht genug, ihre Zähne klapperten aufeinander. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie vielleicht ihre gestreifte Schürze nicht mit nach oben genommen hatte, die sie jeden Morgen umband. Ohne die konnte sie doch nicht ihren Tag beginnen. Sie tastete danach in dem Haufen Kleidung, der im Heu neben ihr lag, die Schürze war nicht da. Fast hätte sie geweint, sie wollte unbedingt ihre Schürze tragen, wenn sie nach unten ging. Verzweifelt dachte sie, dass sie doch die Schürze brauchte zum Aufräumen, damit der Rock nicht schmutzig würde.

Doch dann richtete sie sich auf und schüttelte den Kopf, sie merkte, dass ihr heute ganz andere Schwierigkeiten bevorstanden als eine fehlende Schürze. Garleff war weg, sie stand ganz allein vor dem Durcheinander da unten, das sie am liebsten gar nicht sehen würde.

Die Kuh muhte laut. Das musste Gesche als Erstes machen, die Kuh melken. Die schrie natürlich vor Schmerzen, weil ihr Euter voll war, und das tat ihr weh. Normal melkte Gesche ja schon, wenn die Kirchturmuhr fünf schlug.

Auf Händen und Knien bewegte sich Gesche von ihrem Lager aus Stroh zur Bodenluke, um zu schauen, ob sie sich hinunter wagen konnte. Wenn nur das Zittern nicht wäre, das war nicht nur vor Kälte, das war auch vor Angst. Angst vor der Zerstörung und Verwüstung, die sie sehen würde, Angst vor dem Anblick ihres toten Bruders, mit blauen Lippen, leichenblasser Haut, die blonden Haare ganz dunkel vor Nässe. Oder vielleicht waren die Haare auch schon wieder trocken, konnte ja sein.

Und füttern musste sie die Kuh, nicht nur melken. Sie selbst brauchte ja auch etwas zu essen. Die Würste und der Schinken würden wohl noch im Schinkenhimmel hängen, die hingen ja höher als das Wasser gekommen war. Aber die Fettnäpfchen darunter, mit denen das tropfende Fett aufgefangen wurde, die waren bestimmt weggeschwommen. Das ganze Fett auf dem Fußboden, was sie da schrubben musste. Aber vielleicht tropfte ja heute gar nichts, weil das Feuer in der Feuerstelle nun aus war, dann gab das keinen Rauch. Das musste man sehen, wie das war mit dem Fett, ob es trotzdem heruntertropfte.

Sie öffnete die Augen und sah, dass das Wasser abgeflossen war und der gesamte Boden der Diele voller Unrat lag. Alles war bedeckt mit einer graubraunen Schlammschicht, die an einigen Stellen heller war als an anderen, je nachdem, ob sie schon trocknete. Gesche schloss sie die Augen schnell wieder, sie konnte den Anblick nicht länger als ein paar Sekunden ertragen, den Schlamm auf dem Steinfußboden, die umgestürzten Möbel, die Kartoffeln, Rüben und Äpfel, die aus ihren Kisten getrieben waren.

Doch schließlich wurde das Muhen der Kuh so laut, dass Gesche Heu auf die Diele warf, das sie an die Kuh verfüttern wollte. Sie stieg mit geschlossenen Augen die Leiter hinunter, dabei Gebete vor sich hin murmelnd: „Komm, Herr Jesus, sei unser Gast, und segne, was du uns bescheret hast. Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein. Jesu, geh voran auf der Lebensbahn … Ordne unsern Gang, Liebster, lebenslang. Führst du uns durch raue Wege, gib uns auch die nötge Pflege. Tu uns nach dem Lauf deine Türe auf. O Herr, behüte mich in dieser Nacht vor Stürmen und Getösen, vorm Bösen, das auf Erden wacht, was in mir schläft vorm Bösen.“ Sie hatte im Konfirmandenunterricht ein Gebet gelernt, das man bei Sturmflut beten sollte, aber das fiel ihr nicht ein, sie betete und sang alles, was ihr in den Kopf kam.

Als sie unten war, schaute sie nur geradeaus wie mit Scheuklappen auf die Schwarzbunte, die immer noch auf ihrer Insel aus Strohballen stand. Richtig gehen konnte Gesche nicht, sie rutschte vorsichtig mit ihren Holzschuhen auf dem Schlick entlang. Aus der Milchkammer neben der Diele holte sie den Melkschemel und den Melkeimer, die sie erst unter dem umgestürzten Butterfass, dem Waschtrog und zerbrochenen Kruken und Schüsseln hervorziehen musste. Die Fässer lagen alle auf dem Fußboden, viele davon zerbrochen. Nur der Backtrog stand noch.

Gesche ließ alles so liegen, wie es war. Mit geschlossenen Augen molk sie, den Kopf gegen den warmen Leib der Kuh gelehnt, die wurde nun ganz ruhig.

Das Pferd stand nicht mehr auf der Strohballeninsel, es war wohl weggelaufen. Aber bestimmt kam es zurück, oder ein Nachbar würde es bringen, man kannte ja die Pferde von den anderen Bauern. Gesche hörte das Schwein in seinem Stall rumoren, bestimmt musste sie es nicht füttern heute, es hatte sich wohl selbst bedient an den Äpfeln und durchgeweichtem Schwarzbrot, das herumlag. Das Schwein grunzte.

„Du kannst dich heute so viel im Schlamm suhlen, wie noch nie nicht vorher“, murmelte Gesche.

Sie trank ein bisschen von der warmen blassgelben Milch, direkt aus dem Eimer. Es schmeckte ihr. Was der liebe Gott wohl mit ihr vorhatte, überlegte sie. Er konnte sie doch nicht alleinlassen in dem ganzen Durcheinander, so komisch war der Herr doch nicht. Alles aufräumen und die sonstige Arbeit, die noch zu tun war, das ging doch gar nicht, dass sie da allein vor saß. Das Korn war noch nicht alles gedroschen und überhaupt.

„Ich bin bange!“, rief sie. Furcht stieg in ihr hoch, dass sie verrückt wurde.

Nach einer Weile versuchte sie, vernünftig zu überlegen, ob es etwas Wichtiges zu tun gab. Das hing davon ab, ob der Deich gebrochen war, was bedeuten würde, dass das Wasser wieder kam mit der nächsten Flut. Eigentlich lohnte es sich noch gar nicht, ans Aufräumen zu denken. Zwar war es jetzt völlig windstill, und wie immer bei Ebbe floss das Wasser ab, aber auch normales Hochwasser überschwemmte das Land, wenn der Deich es nicht aufhielt. In sechseinhalb Stunden, wie immer, sechseinhalb Stunden ablaufendes Wasser, sechseinhalb Stunden auflaufendes.

Noch war sie nicht gerettet, das wusste sie. Zwanzig Jahre war sie erst alt, da wollte sie doch noch nicht sterben. Wo Garleffs Leiche wohl lag?

Wenn kein Wind aus Nordwest kam, war das Wasser auf jeden Fall niedriger als gestern, wahrscheinlich kam das gar nicht ins Haus, sondern überschwemmte bloß die Felder, Wiesen und Weiden, schlimm genug, wenn das da lange stand, konnte man die nächste Ernte vergessen. Und auch die Obstbäume, wenn das Wasser nicht abfloss und die wochenlang nasse Füße hatten, verfaulten die und gingen ein. Oder stürzten um, weil sie nicht mehr genug Halt in der Erde bekamen. Das hatte Gesche schon miterlebt. Sie lauschte, kein Wind war von draußen zu hören.

Der Deichgräfe würde dafür sorgen, dass die Schleusen schnell wieder repariert wurden und die Löcher im Deich gestopft, wenn es denn überhaupt welche gab. Vielleicht war das Wasser ja nur über den Deich gelaufen? Das konnte aber eigentlich nicht sein, dann kam das nicht so schnell herangebraust und stieg nicht so rasch so hoch.

Gesche zog die Kuh in ihren kleinen Stall neben der Diele und fütterte sie mit Heu. Sie sah nach dem Schwein, es lag auf dem nassen Stroh, über und über mit Schlamm bedeckt.

„Puttfarken! Nee auch doch, so schietig habe ich dich ja noch nie gesehen!“, rief Gesche.

Dann nahm sie allen Mut zusammen und ging mit offenen Augen durchs Haus. Sie bahnte sich ihren Weg auf dem schlammbedeckten Fußboden durch den Unrat hindurch, es war auch Mist vom Misthaufen hereingetrieben, der stank entsetzlich.

Rechts und links von der Diele lagen die Ställe und die Kammern, die gemauerten, weiß gekalkten Wände waren noch an ihrem Platz, die braunen Eichenbalken und die meisten Türen auch, nur die Tür zur Werkkammer war aus ihren Angeln gerissen. Gesche warf einen Blick hinein. Normalerweise hatte Garleff alle seine Werkzeuge immer ordentlich auf den Borden und an den Haken dort untergebracht, nun lagen die Sägen, die Mistgabeln, die Schaufeln und Spaten, die Heugabeln, die Sensen und die Pflanzstöcke alle durcheinander auf dem aus Lehm gestampften Fußboden.

Gesche wandte sich schnell wieder ab und schlitterte weiter. Ohne Zwischenwand ging die Diele in das Küchenfach über mit der offenen Feuerstelle an der Stirnseite und dem Essplatz unter dem kleinen Fenster neben der linken Seitentür. Die grob gezimmerten Bänke ohne Lehne waren umgekippt, die beiden Stühle auch, Gesche richtete sie wieder auf. Sie wischte ihre Hände am Rock ab. Überall hatte das Wasser seine schlammbedeckte Fracht abgeladen. Im Küchenfach stand ihre grüne Aussteuertruhe, die eigentlich in die Kofferkammer gehörte, die hatte wohl das Wasser hochgehoben und hier wieder abgesetzt. Gesche traute sich nicht, sie zu öffnen, aus Angst, dass nichts vom Inhalt zu retten war.

Sie glitt auf dem Kopfsteinfußboden aus, weinend kam sie wieder auf die Füße.

„Ich hab mich schmutzig gemacht“, schluchzte sie. „Ich muss mich umziehen und meine Schürze finden.“

Sie hob das Pletteisen auf, das vom Bord heruntergespült worden war.

Dann glitt Gesche weinend zur Dönz, der Wohnstube, die man mit einer Tür verschließen konnte. Doch trotz der geschlossenen Tür war auch hier das Wasser gewesen, die Stühle mit den geraden, gedrechselten Stollen waren umgekippt. Gesche stellte sie wieder hin. Der schwere Tisch stand noch, auch der Kachelofen hatte wohl keinen Schaden genommen.

Mitten auf dem Holzfußboden lag ein umgestürzter Nachttopf aus Steingut.

„Zustände sind das!“, rief Gesche.

Sie öffnete die Holzläden zu den beiden Alkoven, in dem einen hatte sie geschlafen, in dem anderen Garleff, und holte das nasse Heu heraus, das als Matratze diente, auch die tropfende Daunendecke mit dem blau karierten Bettbezug und das Kopfkissen nahm sie aus dem Alkoven. Das Heu warf sie aus dem Fenster. Schneidende Februarkälte kam von draußen herein, schnell schloss sie das Fenster wieder. Es fiel ihr keine trockene Stelle ein, wo sie das Bettzeug zum Trocknen hinhängen konnte, so legte sie es wieder zurück in den Alkoven.

Die dunkelblau-weiß gemusterten Leinenvorhänge, die als Sichtschutz vor den Eingängen zu den Alkhoven hingen, falls man die Holzläden nicht schließen wollte, hingen schlaff herunter. Gesche hoffte, sie würden von selbst trocknen.

Die Alkoven hatten außer von der Dönz aus auch Zugänge von der Kofferkammer, von dort aus gingen sie meistens ins Bett. Gesche kletterte einmal durch ihr Bett und kam in der Kofferkammer wieder heraus. Doch es war sinnlos, dort eine trockene Schürze oder Bettwäsche zu suchen, alles war nass und schmutzig. So stieg sie schnell wieder zurück in die Dönz, die gute Stube, die eigentlich nie benutzt wurde.

Nur an Weihnachten heizten sie den Kachelofen, und im Sommer ging man nur hinein, wenn offizieller Besuch kam oder für eine kleine Feier, Geburtstag und Hochzeitstag. Das war selten, trotzdem musste der Raum immer pieksauber sein, da hatte die Mutter drauf bestanden, kein Staubkorn sollte da lange bleiben. Gesche hatte das so beibehalten, nach dem Tod der Mutter.

Die würde sich im Grabe umdrehen, wenn sie sehen müsste, wie nun alles mit einer Schlammschicht überzogen war, am schlimmsten der Holzfußboden. Auch die in Ziermustern gemauerten nackten Backsteinwände starrten vor Schmutz.

Gesche schüttelte den Kopf. „Ob ich das je wieder sauber kriege, Mudder, das weiß ich wirklich und wahrhaftig nicht“, sagte sie, als sie die Fenster mit den kleinen Bleiglasscheiben öffnete. Sie hakte sie mit den Sturmhaken fest und verließ rasch den Raum.

Vor der kalten Feuerstelle brach sie wieder in Tränen aus. Immer hatte sie darauf geachtet, dass das Feuer nicht verlosch, aber nun war nicht einmal mehr Asche auf dem gemauerten Sockel, auf dem normalerweise das Herdfeuer brannte.

Sie konnte es nicht wieder anzünden, kein Kienspan brannte mehr im ganzen Haus, das Feuerholz und der Torf waren entweder weggetrieben oder lagen nass auf dem Fußboden. Das würde nicht brennen. Im Winter würde sie doch erfrieren ohne Feuer.

Doch dann gab sie sich einen Ruck und hörte auf zu weinen. Ihre Tränen würden jedenfalls kein Feuer anzünden. Sie ging hinüber zur Kofferkammer, der Eichenschrank stand noch da. Ganz vorsichtig rutschte sie über die glatten Ziegelsteine des Fußbodens und suchte zwischen den Truhen nach Garleff. Sie hob das umgestürzte Spinnrad auf und schaute an die Decke. Auf den Eichenbalken dort hatte sich auch Mist und Stroh abgesetzt, der gesamte Raum war also überflutet gewesen. Gesche ließ den Kopf sinken. Garleff musste ertrunken sein, und wahrscheinlich hatte das Wasser ihn mitgenommen, als es wieder abfloss.

Die Schranktüren hatten sich verzogen und ließen sich schwer öffnen, aber Gesche schaffte es schließlich. Der gesamte Inhalt war durchgeweicht, die Papiere in den beiden oberen Fächern troffen vor Nässe, als Gesche sie herausnahm. Die Schrift war nicht mehr zu lesen. Sie fragte sich, was Garleff so Wichtiges noch von dort hatte holen wollen, als das Wasser gestern hereingerauscht kam. Die Eigentumsurkunde für den Hof und das Testament lagen doch immer auf dem Dachboden.

In dem Fach unter den Papieren stapelten sich alte Kleidungsstücke ihrer Mutter, Gesche nahm eine nasse Schürze heraus und band sie um.

So gekleidet war sie noch nie aus dem Haus gegangen, aber sie wollte am liebsten sofort zu den Nachbarn Butendiek laufen und Feuer holen. Schließlich war es ihre Pflicht, das Mittagessen zu kochen, das wie immer um elf Uhr auf dem Tisch stehen sollte.

Dann fiel ihr ein, dass sie heute allein vor dem Essen sitzen würde. Aber sie wollte alles beibehalten, wie sie es gewohnt war. Auch heute gab es keine Ausnahme, Garleff brauchte sein Essen, er arbeitete immer schwer. Sie überlegte, ob sie weniger Kartoffeln kochen sollte als sonst, natürlich mussten auch welche übrig bleiben für die Bratkartoffeln zum Abendbrot. Garleff war ein guter Esser. Sie dachte kurz nach und beschloss dann, doch lieber für ihn auch Kartoffeln zu schälen, vielleicht lebte er ja noch und kam zum Essen. Sie konnte ihn doch nicht einfach so für tot halten. Er würde ärgerlich werden, wenn er nicht satt wurde. Und falls er heute nicht kam, würde eben das Schwein seine Kartoffeln kriegen.

Gesche senkte den Kopf. Sie konnte nicht verstehen, an was für komische Dinge sie dachte anstatt aufzuräumen oder Feuer zu holen.

3. Kapitel

 

Bevor sie zu Butendieks ging, machte sie sich so gut es ging hübsch. Sie holte frische Kleidung vom Dachboden und zog sich um. Dann löste sie den dicken hellblonden Zopf, der ihr bis zur Taille den Rücken hinunterhing, kämmte die Haare mit den Fingern und flocht ihn neu, den Zopf rollte sie im Nacken zu einem Dutt zusammen und steckte ihn fest.

So oft hatte sie auf den Tanzfesten von den jungen Burschen gehört, dass sie hübsch war, die waren ins Schwärmen geraten über ihre dunkelblauen Augen und den schönen Mund. Aber das war ihr egal, sie wollte nur einem gefallen, Claas Butendiek. Ihr Leben war ihr nur etwas wert, wenn sie ein Paar würden. Claas hatte nichts dagegen, wenn sie sich im Außendeich heimlich trafen bei den Pappeln, dann nahm er sie in den Arm und küsste sie und sagte, dass er sie leiden mochte, und er wollte mehr von ihr. Sie fühlte sich so nahe bei ihm ganz schwach, wie ein Kalb, wenn das zum Schlachter gebracht wurde, sie konnte ihn nicht fragen, ob er sie denn heiraten würde, wenn sie was Lüttes kriegen würde.

Sie hoffte, er war zu Hause und ihm war nichts passiert. Durch die kleine Seitentür ging sie nach draußen zum Brunnen, um sich Gesicht und Hände zu waschen. Er hatte eine Abdeckung aus Holz, war aber trotzdem vollgelaufen, das schmutzige Elbwasser starrte ihr entgegen.

Zum Glück hatte sie gestern zwei Eimer voll mit Wasser auf den Boden geschafft. Vorsichtig balancierte sie die die Leiter hinunter. Sie wusch sich die Hände und das Gesicht darin, für mehr reichte es nicht, fand sie.

Die Wolldecke um die Schulter gelegt, schlitterte sie ohne nach rechts und links zu sehen den durchgeweichten Weg zum Nachbarhof entlang. Zwar wäre es schneller gewesen, über den hölzernen Steg über den Graben zwischen ihren beiden Grundstücken zu gehen, aber der war weggetrieben.

Sie gab sich einen Ruck und schaute um sich. Die Gräben waren bis zum Rand voll mit Wasser, die Obsthöfe überspült, die dunkelbraune Flüssigkeit, in der Zweige, Stroh und Heu schwammen, schwappte gegen die Baumstämme. Man konnte noch sehen, wie hoch das Wasser in der Nacht gewesen war, bis dorthin hatten sich in den Ästen Stroh und anderes kleine Treibgut verfangen.

Mühsam bahnte sie sich ihren Weg, kletterte über Bretter, abgebrochene Äste und zerfetzte Körbe. Der ungepflasterte Weg war an einigen niedrigen Stellen überflutet, an den Rändern der Oberflächen hatte sich dünnes Eis gebildet, Gesche musste mitten hindurch, ihre Füße in den Holzschuhen waren bald nass.